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Andrea De Carlo – „Techniken der Verführung“

Dienstag, 19. September 2023

(Diogenes, 424 S., HC) 
Ähnlich wie sein französischer Kollege Philippe Djian weiß auch der aus Mailand stammende Andrea De Carlo, die Schwierigkeiten des künstlerischen Schaffensprozesses zu beschreiben und diesen geschickt mit den Wirren des Künstlerlebens zu verknüpfen. Ein besonders prominentes Beispiel stellt De Carlos - im Original 1991 veröffentlichter - Roman „Techniken der Verführung“ dar. 
Der Mailänder Journalist Roberto Bata hat es satt, als Redakteur mit einem Praktikantenvertrag bei Prospettiva zu arbeiten und sich vom Chefredakteur Tevigati auf übelste Weise herumkommandieren zu lassen. Entsprechend widerwillig nimmt er den Auftrag an, zu einem Theaterstück nach einem Text von Marco Polidori, „Der Traumaktivator – Konzertantes Schauspiel in zwei Akten“, zu besuchen, um die Schauspielerin Maria Blini zu interviewen. Dass er dafür das geplante Abendessen mit seiner Freundin Caterina absagen muss, ist der ohnehin angeschlagenen Beziehung nicht gerade förderlich. Viel lieber würde sich Roberto um die Fertigstellung seines ersten Romans kümmern, doch da er Caterina, die ihren Vertretungsdienst als Augenärztin absolvierte, finanziell unterstützen muss, ist er weiterhin gezwungen, öde Interviews zu führen. 
Doch dann ist er von der Schauspielerin, die er für dreißig Zeilen interviewen soll, ganz hingerissen und begleitet sie zu einem Empfang, wo er nicht nur die Gelegenheit für das geplante Interview findet, sondern auch den berühmten Schriftsteller Marco Polidori kennenlernt. Roberto lässt Polidori sein Manuskript zukommen; der zeigt sich offen begeistert davon und öffnet dem angehenden Schriftsteller einige Türen: Polidori drängt Marco dazu, sich ganz auf seinen Roman zu konzentrieren, und verschafft ihm einen Job bei dem Magazin 360° in Rom, das vom Ministerium für Fremdenverkehr und Veranstaltungswesen finanziert wird. Hier hat Marco genügend Raum und Zeit, um sich ganz auf die Fertigstellung seines Romans zu konzentrieren, doch dann begegnet er zufällig Maria wieder und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihr, die allerdings komplizierter verläuft als erhofft. Und schließlich gibt es für Marco noch die Beziehung zu Caterina zu klären… 
„Mir war, als hätte ich jahrelang vor einem verschlossenen Garten voller unterschiedlicher Farben und Empfindungen und Möglichkeiten gestanden, bis Polidori mir, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, das Tor geöffnet hatte. Ich wollte nur möglichst schnell dorthin zurückkehren: in die reiche, noch unbekannte Vegetation eindringen, der duftenden Spur Maria Blinis folgen.“ (S. 159) 
Andrea De Carlo nutzt die interessante Ausgangssituation, dass ein junger, talentierter Autor von einer bereits fest im Literaturbetrieb verankerten Kulturinstitution protegiert wird, vor allem dazu, die vorhersehbaren Abhängigkeiten nicht nur im kulturellen Leben in Italien zu sezieren, sondern auch die Korruption in der Politik und die Verlogenheiten in persönlichen Beziehungen. 
Polidoris Monologe sind wunderbar ätzend wie präzise, wenn sie die Gesetze der Literaturszene demaskieren, die unverfrorene Gier der Politiker offenbaren. 
Dass der rasante Aufstieg von Roberto nicht ohne Folgen bleibt, enthüllt De Carlo auf ebenso genüssliche, aber leider auch sehr vorhersehbare Weise. Doch von dem plakativen Finale abgesehen, erweist sich der Autor als versierter Erzähler mit sprachgewaltigen Beschreibungen der offenbar erbärmlichen Zustände im italienischen Kulturbetrieb, teilt er doch durch Polidori immer wieder bissige Kommentare dazu aus. Die Liebe und das Geflecht unterschiedlichster Beziehungen kommen auch nicht zu kurz.  
„Techniken der Verführung“ erweist sich als kurzweiliger Ausflug in die letztlich verlogene, abgekartete, von Eigennutz und Abhängigkeit geprägte Welt von Politikern und Kulturschaffenden, unter der letztlich auch die persönlichen Beziehungen zu leiden haben. 

 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 6) „Joe Country“

Dienstag, 5. September 2023

(Diogenes, 480 S., Pb.) 
Zwar hat Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studiert hat und dann als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift gearbeitet hat, bereits ab 2003 vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm veröffentlicht, doch erst mit der 2010 begonnenen Reihe um Jackson Lamb und seine beim MI5 in Ungnade gefallenen „Slow Horses“ erreichte der englische Schriftsteller auch ein internationales Publikum. 2018 fing der Diogenes Verlag an, die Reihe auch der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen. Mit „Joe Country“ ist bereits der sechste Roman der Slough-House-Reihe erschienen, die seit 2022 mit Gary Oldman in der Hauptrolle als Fernsehserie bei Apple TV+ ausgestrahlt wird. 
Slough House, die abrissreife, verschimmelte Bruchbude, in der der unter Flatulenz und Abneigung gegen jegliche Höflichkeitsformen leidende Jackson Lamb seine liebevoll und sarkastisch als „Slow Horses“ bezeichnete Agenten führt, bekommt Zuwachs. Lech Wicinski wurde mit Kinderpornographie auf seinem dienstlichen Laptop erwischt und muss bis zur Aufklärung der Sachlage Dienst in Slough House schieben. Dort versucht Louisa Guy noch immer, über den Tod ihres Kollegen und Liebhabers Min Harper hinwegzukommen, als sie einen Anruf von Harpers Frau Clare erhält, die ihren Sohn Lucas vermisst und um Louisas Mithilfe bei der Suche bittet. 
Während River Cartwright seinen Großvater „O.B.“ (Old Bastard) beerdigen muss und dabei mal wieder Kontakt zu seiner egomanischen Mutter bekommt, versammelt sich auf dem Friedhof eine Reihe illustrer Gäste, darunter die neue MI5-Chefin Diana Taverner. Die Zeremonie wird allerdings empfindlich gestört, als unerwartet Rivers Vater, der in Ungnade gefallene Ex-CIA-Agent Frank Harkness, auftaucht und River zu einer ungewohnten Verfolgungsjagd animiert. 
Wie sich herausstellt, ist Harkness mit einem Team von drei Söldnern eingereist Während Louisa mit Hilfe der attraktiven Ex-Polizistin und Ex-Agentin Emma Flyte und ihrem Kollegen Roddy Ho Lucas‘ Handy in Wales ausfindig macht, wo der junge Mann mal als Kellner ausgeholfen hat, erfährt die Alkoholikerin Catherine Standish von ihrem Chef Jackson Lamb, wie und vor allem warum dieser seinen Vorgänger Charles Partner ausgeschaltet hat. 
Im verschneiten Wales spitzen sich die Ereignisse zu, als Louisa und Emma unfreiwillige Bekanntschaft mit Rivers Vater und seiner Crew machen. Die Sache entwickelt sich zu einem brisanten Politikum, bei dem nicht nur der Name eines Royals geschützt werden muss, sondern auch die Beziehung zwischen Lamb und Taverner einmal mehr auf dem Prüfstein steht… 
„Di Taverner hatte der Beerdigung beigewohnt und würde von Lamb genauso wenig vermuten, dass er Harkness‘ Anwesenheit ignorierte, wie sie damit rechnete, dass er sich in die Luft erhob oder die Zähne putzte. Aber das war nicht anders zu erwarten; ein Großteil des Lebens in Slough House wurde durch das ständige Tauziehen zwischen den beiden bestimmt. River hatte mal vorgeschlagen, sie sollten sich ein Zimmer nehmen – am besten schalldicht, abgeriegelt und mit einem Krokodil drin.“ (S. 152) 
Mick Herron hat mit der „Slough House“-Reihe fraglos die amüsanteste Variante des modernen Spionage-Romanes hoffähig gemacht. Während die von Herrons Landsmann Ian Fleming in den 1950er Jahren initiierte Reihe um den MI6-Agenten James Bond immerhin mit einigen pointierten Sprüchen aufwarten konnte, fiel die ebenfalls erfolgreich verfilmten „Jason Bourne“-Romane von Robert Ludlum recht humorlos aus. Da wirken Mick Herrons Plots weitaus erfrischender, die Figuren skurriler, der Humor derber. 
„Joe Country“ wartet nicht nur mit einem spannenden Fall für die lahmen Gäule auf, sondern beleuchtet auch die Beziehungen in Slough House etwas näher. Dabei kommt die Beziehung von River Cartwright zu seiner bislang durch Abwesenheit glänzende Mutter allerdings etwas kurz, wohingegen Jackson Lamb und Catherine Standish ihr Verhältnis ebenso neu definieren wie Di Taverner ihre Stellung beim MI5 durch einen geschickten Schachzug zu zementieren versucht. Die Action spielt sich dagegen in Wales mit allerlei Beteiligten verschiedener Lager ab und sorgt für die spannenden Momente in „Joe Country“. Vergnüglicher lassen sich Spionage-Romane wohl kaum lesen. Mit „Slough House“ und „Bad Actors“ hat Herron bereits zwei weitere Jackson-Lamb-Romane veröffentlicht, so dass wir uns auch hierzulande darauf freuen dürfen, die ungewöhnlichen Abenteuer von Lamb, Cartwright, Taverner & Co. weiter zu verfolgen.


 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 7) „Playback“

Donnerstag, 31. August 2023

(Diogenes, 236 S., HC) 
Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, für einen Hungerlohn ihre Geschichten in zehn Cents teuren Pulp-Zeitschriften zu veröffentlichen, hat es Raymond Chandler (1888-1959) geschafft, ab 1939 auch Romane zu veröffentlichen und mit seiner Figur des moralischen Privatdetektives Philip Marlowe eine Gallionsfigur des von ihm stark mitgeprägten Genres des Hardboiled-Krimis zu schaffen. 1958, fünf Jahre nach „Der lange Abschied“, erschien mit „Playback“ der siebte und letzte Marlowe-Roman. Der einzige nicht verfilmte Marlowe-Roman erschien nun in einer Neuübersetzung von Ulrich Blumenbach und mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
Philip Marlowe soll im Auftrag des Rechtsanwalts Clyde Umney aus L.A., der wiederum für eine einflussreiche Kanzlei in Washington tätig ist, in einem Zug eine junge Frau identifizieren, ihr unauffällig folgen, bis sie sich irgendwo ein Zimmer genommen hat, und dann Bericht erstatten. Angesichts der spärlichen Informationen, die ihm von Umneys Sekretärin Miss Vermilyea übermittelt werden, ist Marlowe fast abgeneigt, den Auftrag nicht anzunehmen, doch sowohl die Sekretärin als auch die zu beschattende Person sehen attraktiv genug aus, um sein Interesse zu wecken. Es handelt sich um die 1,62m große, rothaarige und nicht mal dreißigjährige Eleanor King, der Marlowe bis in ein Hotel nach Esmeralda folgt, wo sie unter dem Namen Betty Mayfield eingecheckt hat. 
Marlowe bekommt jedoch nicht nur das Gefühl, dass ihm wesentliche Informationen vorenthalten worden sind, sondern bekommt es auch noch mit zwei undurchsichtigen Typen zu tun: Larry Mitchell drängt sich Betty Mayfield auf so sichtlich unangenehme Weise auf, dass sie kurzerhand Reißaus nimmt. Und dann scheint Marlowes Berufskollege Ross Goble aus Kansas City ebenfalls auf die junge Frau angesetzt worden zu sein. Marlowe kann die Mayfield zwar in Del Mar ausfindig machen, hat es aber nach seiner Rückkehr nach Esmeralda mit einem weiteren Problem zu tun. Auf dem Balkon der jungen Frau liegt der verhasste Mitchell, mit Mayfields Pistole erschossen. Mayfield macht Marlowe schöne Augen und ein verheißungsvolles Angebot, wenn er sich um die Leiche kümmert. 
Dann findet Marlowe einen weiteren Mann tot vor…
„Ich musste zur Polizei und den Erhängten melden. Nur hatte ich keine Ahnung, was ich ihnen sagen sollte. Warum war ich zu seinem Haus gegangen? Weil er, wenn er die Wahrheit gesagt hatte, Mitchells Aufbruch am Morgen mitbekommen hatte. Und warum hatte das eine Bedeutung? Weil ich hinter Mitchell her war. Ich wollte ein vertrauliches Gespräch mit ihm führen. Worüber? Und von da an hatte ich nur noch Antworten, die zu Betty Mayfield führten…“ (S. 169) 
„Playback“, Raymond Chandlers letzter Philip-Marlowe-Roman, hatte eine schwierige Geburt hinter sich, musste der Autor doch mitten im Schreibprozess den Tod seiner über alles geliebten Frau Cissy verarbeiten, u.a. in einem teuren Privatsanatorium. Dass „Playback“ letztlich nicht ganz die Intensität und komplexe Spannungsdramaturgie aufweist wie beispielsweise „Der tiefe Schlaf“ und „Der lange Abschied“, kann daher kaum überraschen. Aber auch wenn „Playback“ weniger Tote und weniger Spannung aufweist, hat der Roman seine starken Momente, fährt einige interessante Figuren auf, zu denen neben der obligatorischen, unberechenbaren Femme fatale auch der sympathische Polizeicaptain Alessandro und der charismatische Henry Clarendon IV. zählen, und unterhält immer wieder mit einigen knisternd erotischen Momenten, pointierten Dialogen und treffenden Milieubeschreibungen. 
Das macht zwar noch kein Meisterwerk aus, stellt aber einen würdigen Abgang für eine Ikone unter den Privatdetektiven dar. 

 

Dennis Lehane – „Sekunden der Gnade“

Sonntag, 27. August 2023

(Diogenes, 400 S., HC) 
Dennis Lehane weiß, wie man filmreife Geschichten schreibt. Sein 2001 veröffentlichter Roman „Mystic River“ wurde von Clint Eastwood verfilmt, „Shutter Island“ von Martin Scorsese, „Gone Baby Gone“ und „Live by Night“ von Ben Affleck. Dazu schrieb der in Boston geborene und lebende Schriftsteller die Drehbücher zu einigen Folgen von „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“. Mit seinem neuen Roman lässt Lehane eigene Kindheitserinnerungen aufleben, nämlich die Unruhen, die sich im Zuge kontroverser Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung im Jahr 1974 ereigneten. 
Obwohl die 42-jährige Krankenhaushelferin Mary Pat Fennessy Extraschichten in dem Lager der Schuhfabrik eingelegt hat, in dem sie ihrem Zweitjob nachgeht, reicht es nicht, um die Gasrechnung zu bezahlen. Doch mehr Sorgen bereitet ihr der Umstand, dass ihre 17-jährige Tochter Jules eines Nachts nicht nach Hause zurückgekommen ist. Nachdem sie bereits ihren Sohn nach seiner Rückkehr aus Vietnam durch eine Überdosis Drogen verloren hat, ist Jules noch alles, was der Alleinerziehenden im Leben geblieben ist. Mary Pat grast ihre Nachbarschaft in Commonwealth ab, verfolgt nebenbei die geplanten Protestaktionen gegen die richterliche Anordnung, dass im kommenden Schuljahr Kinder aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel gebracht werden sollen. Das betrifft vor allem die beiden Schulen mit der größten afroamerikanischen (Roxbury High School) und mit der größten weißen Schülerschaft (South Boston High School). 
Die Proteste werden von dem Tod des 20-jährigen schwarzen Jungen Augustus Williamson überschattet, dessen Wagen in dem falschen Viertel liegengeblieben war, worauf er in der Columbia Station von einer U-Bahn erfasst worden ist. Als Mary Pat Jules‘ Freunde über den Verbleib ihrer Tochter ausfragt, bekommt sie nur ausweichende Antworten, bis sie erfährt, dass Jules ein Verhältnis mit dem verheirateten Gangster Frank „Tombstone“ Toomey hatte, was ihr offensichtlich am Ende das Leben kostete. 
Nachdem Mary Pat nichts mehr zu verlieren hat, macht sie Jagd auf die Mörder ihrer Tochter und schreckt vor nichts zurück. Selbst der ihr wohlgesinnte Cop Bobby Coyne vermag den Rachefeldzug der verzweifelten Mutter nicht stoppen, zweifelt auch er an der Gerechtigkeit in der Welt. 
„Vier schwarze Jugendliche, die einen weißen vor einen Zug treiben, müssten mit Lebenslänglich rechnen. Bekannten sie sich schuldig, würden bestenfalls zwanzig Jahre strenger Haft daraus. Aber den Kids, die Auggie Williamson vor den Zug gehetzt hatten, drohten nicht mehr als fünf Jahre. Höchstens. Und manchmal schlaucht es, an diese Diskrepanz zu denken.“ (S. 155) 
Dennis Lehane hat im Alter von neun Jahren miterlebt, wie sein Vater auf der Heimfahrt nach Dorchester in South Boston eine falsche Abzweigung genommen und auf Southies Hauptgeschäftsstraße in eine Protestaktion gegen die Einführung von Schultransporten zur Aufhebung der Rassentrennung gekommen war. Dieser Moment erfüllte den jungen Lehane mit so viel Angst, dass er nun passend zum 60. Jahrestag der berühmten „I Have a Dream“-Rede von Bürgerrechtler Martin Luther King einen bewegenden Kriminalroman über den leider nach wie vor nicht aus der Welt geschafften Rassismus und seinen Folgen geschrieben hat. 
Vor dem Hintergrund der sehr plastisch beschriebenen Protestaktion inszeniert der Autor einen filmreifen Plot, bei dem zwar die Morde an einem jungen Schwarzen und einer noch jüngeren Weißen im Mittelpunkt stehen, doch Lehane nutzt dieses Szenario geschickt, um die Ressentiments sowohl der Weißen als auch der Schwarzen gegeneinander zu thematisieren, ohne selbst explizit Stellung zu beziehen. „Sekunden der Gnade“ erzählt von den Folgen einer fehlgeleiteten Erziehung, bei der die „Anderen“ aus Gewohnheit diffamiert werden. Er erzählt von Hass, Gewalt, Drogen- und Waffengeschäften. 
Mit Mary Pat hat er eine komplexe Protagonistin erschaffen, die selbst von Kindheit an mit Gewalt konfrontiert gewesen ist und mittlerweile selbst hart zuzuschlagen versteht. Sie kann sich selbst nicht von rassistischen Ressentiments freisprechen und ist voller ambivalenter Gefühle wie Hass und Mitgefühl, was die Figur so interessant macht. 
Im nachfolgenden Interview sagt Lehane: „Ich fühle mich vom Bösen in den guten Menschen und vom Guten in den schlechten Menschen angezogen, weil die wenigsten von uns etwas anderes sind als ein kompliziertes Sammelsurium von Motiven und Begierden.“ 
Diese Vielschichtigkeit macht auch „Sekunden der Gnade“ aus, der sich als fesselndes Kriminaldrama ebenso gut liest wie als profunde Milieu- und Gesellschaftsstudie mit nach wie vor erschreckend aktuellem Bezug. 

 

Andrea De Carlo – „Das Traumtheater“

Montag, 26. Juni 2023

(Diogenes, 464 S., HC) 
In den 1980er und 1990er Jahren avancierte Andrea De Carlo mit (zumindest in seiner italienischen Heimat) preisgekrönten Romanen wie seinem Debüt „Creamtrain“ und den Folgewerken „Vögel in Käfigen und Volieren“, „Macno“, „Yucatan“ und „Zwei von zwei“ zum absoluten Kultautor. An diese Erfolge kann der aus Mailand stammende ehemalige Fotograf, Rockmusiker und Regieassistent von Federico Fellini zwar längst nicht mehr anknüpfen, doch für kurzweilige Unterhaltungsliteratur ist De Carlo noch immer gut, wie sein neuer Roman „Das Traumtheater“ zeigt. 
Veronica Del Muciaro ist nicht nur eine populäre Journalistin, die mit ihren Live-Reportagen für die Sendung „Tutto qui!“ für hohe Einschaltquoten sorgt, sondern präsentiert ihren Followern in den sozialen Medien mit unzähligen Selfies auch nahezu jeden Aspekt ihres Alltags. Dieser Tick wird ihr allerdings fast zum Verhängnis, als sie im ältesten Café von Suverso beim Fotografieren fast an einer Brioche erstickt. Während die meisten Gäste den Überlebenskampf der Fernsehfrau eher neugierig als besorgt verfolgen, packt ein Unbekannter beherzt zu und lässt das festgesetzte Stück Brioche im hohen Bogen aus ihrem Mund fliegen. 
Die Reporterin fällt zunächst in das verhasste Stottern aus ihrer Kindheit zurück, sammelt sich aber schnell und beginnt, das Gespräch mit ihrem Retter zu filmen. Offensichtlich ist der Mann namens Guiscardo Guidarini ein Archäologe, der seine jüngste Entdeckung in der hiesigen Provinz gemacht haben will. Diese Nachricht verbreitet sich in Windeseile über die Grenzen der Kleinstadt Cosmarate hinaus und entfacht einen mit allen Bandagen ausgetragenen Machtkampf zwischen Massimo Bozzolao, dem der Wende® angehörende Bürgermeister von Cosmarate, Annalisa Sarmani, der zuständigen Stadträtin für Kultur und Tourismus der Gemeinde Suverso, und den übergeordneten Parteivorsitzenden, die das von Guidarini freigelegte antike Theater für ihre Zwecke ausschlachten wollen. 
Aber auch Veronica Del Muciaro hat alle Hände voll zu tun, den Schwung, den sie durch die Erstberichterstattung mitgenommen hat, für die weitere Story-Entwicklung auszubauen. Je mehr Personen des öffentlichen Lebens auf der Bildfläche in Cosmarate auftreten, desto größer wird das Spektakel und die Hemmungslosigkeit, mit der sich die einzelnen Parteien bekämpfen. 
„… wie sollte sie bloß mit diesem merkwürdigen Marchese und Archäologen umgehen? Sollte sie sich mit ihm verbünden oder ihn lieber entmachten? Aber der machte nun wahrlich nicht den Eindruck, als ließe er sich das ohne Weiteres gefallen, und die Tatsache, dass er das Theater aus eigener Kraft in nur drei Jahren ausgegraben hatte, sagte ja wohl alles über seine Entschlossenheit. Aber wieso hatte er alles geheim gehalten, was waren wohl seine wahren Gründe? Extreme Ungeduld? Mangelndes Vertrauen in die zuständigen Behörden? Oder vielleicht beides und wer weiß was noch?“ (S. 147) 
In seinem neuen Roman kommt kaum einer ungeschoren davon. Vor dem Hintergrund einer vermeintlich sagenhaften historischen Entdeckung nutzt De Carlo die Profilierungssucht der Protagonisten gnadenlos aus, um die für Italien berühmt-berüchtigte Trägheit, Oberflächlichkeit und Korruption der Lächerlichkeit preiszugeben. Das fängt mit der geschwätzigen, sensationssüchtigen, geltungssüchtigen, aber auch unerschrockenen Reporterin Veronica Del Muciaro und ihrer zuständigen Studio-Chefin in Rom an und setzt sich in einem munteren Reigen fort, bei dem sich immer prominentere Politiker in den Vordergrund drängen, um das Theater als Aushängeschild für ihre öffentlichkeitswirksame Agenda zu vereinnahmen. Allein der Marchese bleibt bei dem wilden Treiben recht ruhig, sorgt durch seine auch körperliche Nähe zu Suversos Stadträtin Sarmani für eine leicht romantische Note in dem Plot. Die beiden stellen letztlich auch die einzigen Sympathieträger in „Das Traumtheater“ dar, wohingegen beim eskalierenden politischen Gemetzel zum Finale hin De Carlo genüsslich die Schwächen in der politischen und medialen Landschaft in Italien freilegt. Die interessante Ausgangslage, die lebendige Sprache und die zwar an sich klischeehaft wirkenden, letztlich durchaus vielschichtig angelegten Figuren machen „Das Traumtheater“ zu einem durchweg humorvollen Lesevergnügen.  

Kent Haruf – „Das Band, das uns hält“

Dienstag, 6. Juni 2023

(Diogenes, 310 S., HC) 
Der aus Pueblo, Colorado stammende Kent Haruf war bereits 41 Jahre alt, als er 1984 mit „The Tie That Binds“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Es war der erste von insgesamt sechs Romanen, die allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados angesiedelt sind. Berühmt wurde er durch seinen letzten, 2015 – posthum - veröffentlichten Roman „Our Souls at Night“, der hierzulande als „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen und 2017 mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt worden ist. Nun erscheint mit „Das Band, das uns hält“ endlich die deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kent Haruf, der 2014 verstarb. 
Kurz vor ihrem achtzigjährigen Geburtstag liegt Edith Goodnough im Krankenhaus und wartet darauf, dass ihr der Prozess gemacht wird. Ihr Nachbar Sanders Roscoe scheint der einzige in Holt, Colorado, zu sein, der die Geschichte hinter dem mutmaßlichen Verbrechen kennt, doch lässt er auch einen Reporter von der Denver Post abblitzen. Stattdessen erzählt Roscoe dem in der Stadt weilenden Leser die wahre Geschichte, die im Jahr 1895 mit der Heirat des 25-jährigen eigenbrötlerischen und raubeinigen Roy Goodnough und der zwei Jahre älteren Ada Twamley beginnt, mit einer Reise von Iowa nach Colorado, wo Roy ein Stück Land erwirbt, das er bewirtschaften kann, und seiner Frau ein Holzhaus baut. Wenig später bringt die zarte Ada erst Edith und dann Lyman zur Welt. 
Als Ada 1914 stirbt und Lyman Haus und Hof verlässt, um die Welt kennenzulernen, ist es an Edith, sich um den Haushalt und das Melken der Kühe zu kümmern. Eine Beziehung zu ihrem Nachbarn John Roscoe unterbindet der griesgrämige Roy, der bei einem Unfall fast alle Finger verliert und Edith noch mehr terrorisiert. Den einzigen Trost findet sie in den Postkarten, die Lyman ihr aus all den Städten schickt, die er besucht. Als er nach zwanzig Jahren zurückkehrt, nimmt das Drama seinen Lauf… 
„Egal, wie sehr man es sich wünschte, dass sie mal für eine Weile losließ, wenn auch nur für eine Woche, sagen wir, oder einen Tag oder bloß eine Stunde, sie tat es nicht. Sie tat es einfach nicht. Ich glaube, sie hätte auch gar nicht gewusst, wie man das macht. Es war, als hielte sie die Zügel der Welt mit beiden Händen fest und hätte genug Alte-Männer-Finger gesehen, verstümmelt und mit Spreu bedeckt in den Stoppeln hinter der Mähmaschine, genug Krankenhäuser mit toten Babys, Fehlgeburten nach einem Autounfall, und hätte einfach Angst loszulassen, wenn auch nur für eine Minute.“ (S. 260) 
Bereits mit seinem Romanerstling bewies Haruf Mitte der 1980er Jahre ein ausgeprägtes Gespür für die seelischen Befindlichkeiten seiner Landsleute im ländlichen Colorado. Aus der Perspektive eines Nachbarn, der in der Rolle des Ich-Erzählers von allen Außenstehenden die Lebensgeschichte der Goodnough-Familie am besten kennt, entfaltet der Autor die zermürbende Eintönigkeit eines fremdbestimmten Lebens, das unter durchaus vorstellbaren anderen Umständen einen glücklicheren Verlauf hätte nehmen können. Mit einfühlsamer Präzision schildert Haruf das Psychogramm eines narzisstischen Patriarchen, der nicht nur seine Frau frühzeitig unter die Erde gebracht hat, sondern auch das Leben seiner Kinder zur Tortur werden ließ. In vielen kleinen, lebensnah inszenierten Episoden wird nach Lymans Weggang deutlich, wie Ediths Lebenskraft unter dem ständigen Druck, die Farm am Laufen zu halten und sich um den psychisch wie physisch angeschlagenen Vater zu kümmern, dahinwelkt, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, dem Leid ein Ende zu bereiten. 
Auch wenn Haruf und sein Ich-Erzähler früh erkennen lassen, welchen Verlauf die Geschichte nimmt, entfaltet die Erzählung einen packenden Sog um Themen wie Pflichtbewusstsein, zerstörerische Familienbande, aufgegebene Träume und tödliche Verzweiflung, die aus jahrzehntelanger Entbehrung erwächst.  

Jim Thompson – „Der King-Clan“

Donnerstag, 25. Mai 2023

(Diogenes, 272 S., Tb.) 
Obwohl James Myers „Jim“ Thompson bereits 1942 seinen ersten, hierzulande erst 2011 unter dem Titel „Jetzt und auf Erden“ erschienenen Roman veröffentlichte, zumindest in Literaturkreisen einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen und in Hollywood auch als Drehbuchautor (für Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“) arbeiten konnte, wurde er erst posthum auch international für seine rabenschwarzen Noir-Romane geschätzt. Als Sam Peckinpah 1972 mit „Getaway“ die erste Verfilmung eines Thompson-Romans vorlegte, stand der aus Oklahoma stammende Autor bereits am Ende seiner Karriere und veröffentlichte 1973 mit „King Blood“ seinen letzten Roman, bevor er verarmt, von Alkoholsucht und diversen Schlaganfällen dahingerafft, 1977 verstarb. 
Critchfield „Critch“ King hat vor dreizehn Jahren mit seiner Mutter die Ranch seines Vaters Isaac „Ike“ King verlassen und wurde von Raymond Chance, dem Liebhaber seiner Mutter, in die Welt des Betrugs und Verrats eingeweiht. Doch da es an der Zeit ist, dass der alte Ike einen Erben für seine riesigen Ländereien in Oklahoma sucht, ist es für Critch an der Zeit, nicht nur nach Hause zurückzukehren, sondern auch einen so guten Eindruck bei seinem Dad zu hinterlassen, dass dieser nur ihn als rechtmäßigen Erben bestimmen kann. Doch dazu benötigt Critch noch etwas mehr Geld, als er dem Anwalt Dying Horse abgenommen hatte. 
Um seine beiden älteren Brüder Arlington („Arlie“) und Bosworth („Boz“) auszustechen, die auf der Ranch King’s Junction lebten und arbeiteten, muss Critch schon ein anderes Kaliber auffahren. Da kommt ihm die Bekanntschaft einer allein reisenden Frau im Bahnhof von Tulsa gerade recht. Durch einen Trick nimmt er ihr, als sie seinem Vorschlag nachkommt, sich auf der Toilette frisch zu machen, die beiden Koffer ab und versetzt sie beim Pfandleiher. 
Wie sich herausstellt, kommt Critch so in den Besitz von zweiundsiebzigtausend Dollar. Er weiß allerdings nicht, dass die Dame, die er um ihr Geld erleichtert hat, die professionelle Mörderin Anne-Emma ist, die mit ihrer Schwester mehr als vierzig gutbetuchte Männer auf ihrem Gewissen hat. Auf der Ranch angekommen, sieht sich Critch im Nu als Teil eines durchaus blutigen Wettkampfs zwischen den Brüdern, bei denen auch Arlies und Boz‘ Indianer-Frauen Joshie und Kay munter mitmischen… 
„Vorläufig musste er sich zurückhalten. Musste Arlie Zeit lassen, damit dessen Wachsamkeit nachließ und er unvorsichtig wurde; musste sich bei Old Ike noch mehr einschmeicheln; musste sich jeden zum Freund machen, der ihm später vielleicht nützlich sein konnte. Er brauchte nichts weiter zu tun als das, was er die ganze Zeit getan hatte. Arbeiten – und auf eine günstige Gelegenheit warten. Und für zweiundsiebzigtausend Dollar war er bereit, unbegrenzt zu warten.“ (S. 147) 
Mit seinem letzten Roman holt Thompson noch einmal zum großen Schlag aus und präsentiert eine bunte Schar an Dieben, Betrügern, Verrätern und Mördern, wobei er kein Blatt vor den Mund nimmt. Ausgiebig lässt der Autor seine durchweg unsympathischen Protagonisten über ihre kriminellen Pläne und Gewaltfantasien schwadronieren. Vor seinem eigenen biografischen Hintergrund entfesselt Thompson eine wilde Odyssee, bei der nicht nur die drei King-Brüder sich für das anstehende Erbe ihres Vaters in die beste Ausgangsposition manövrieren wollen, sondern die beiden Killer-Schwestern auch die von Critch gestohlenen zweiundsiebzigtausend Dollar zurückholen wollen. 
Beim Sex geht es dabei ebenso derb und unverblümt zu wie bei den immer mal wieder tödlichen oder doch zumindest blutigen Auseinandersetzungen. Im Gegensatz zu den eher subtil agierenden Femmes fatale des Noir-Genres sind Thompsons Weibsbilder in „Der King-Clan“ um keine Anmache und brutalen Attacken verlegen, sie stehen den Männern in nichts nach. Wer also auf bitterbösen, derben und kompromisslosen Thriller-Klamauk steht, ist mit „Der King-Clan“ gut bedient.


Andrea De Carlo – „Als Durante kam“

Donnerstag, 18. Mai 2023

(Diogenes, 468 S., HC) 
Mit Romanen wie „Creamtrain“, „Vögel in Käfigen und Volieren“ und „Zwei von zwei“ avancierte der aus Mailand stammende Fotograf, Maler, Filmemacher, Rockmusiker und Schriftsteller in den 1980er Jahren zum internationalen Bestseller-Autor, der hierzulande mit dem Diogenes Verlag seine literarische Heimat gefunden hat. 2010 erschien mit „Als Durante kam“ De Carlos bereits 15. Roman, der fraglos zu den besten Werken des Schriftstellers zählt. 
Pietro und seine österreichische Freundin Astrid haben dem städtischen Treiben den Rücken gekehrt und sich im Val del Poggio, dem östlichen Teil des Apennins, niedergelassen, das von rauem Klima und Menschen geprägt wird, die meist über einen zurückhaltenden und ernsten Charakter verfügen. Hier weben sie Stoffe aus Wolle, Baumwolle und Seide von eigener Hand und verkaufen sie an kleine Geschäfte und Privatkunden. Eines Tages hält ein Mann mit Cowboyhut aus Stroh bei ihnen und fragt nach einem Reitstall im benachbarten Tal. Während Astrid von Durante sogleich fasziniert ist und ihm bereitwillig die Webstühle im Haus zeigt, keimt in Pietro bereits die Eifersucht. Durante heuert bei Ugo und Tiziana Morlacchi als Reitlehrer an, bietet an, die baufälligen Boxen und Paddocks instand zu setzen, und verzückt vor allem die Frauen in der Gegend. Als Durante mit seiner unverblümt offenen, manchmal naiv wirkenden Art auch noch den britischen Historiker Tom Fennymore nach einem Autounfall wie durch ein Wunder aus dem Koma holt, macht sich Durante aber nicht nur Freunde. Besonders Pietro beobachtet ihn mit skeptischem Blick und ist entsetzt, dass Durante nicht nur Astrid in den Bann schlägt, sondern vor allem deren attraktive Schwester Ingrid, in die Pietro verliebt ist, seit er sie – leider erst nach Astrid – kennengelernt hat. Als sich Pietro und Astrid zunehmend entfremden, nimmt sich Astrid eine Auszeit, fährt zurück nach Graz. Durante bietet Pietro an, ihn nach Graz zu fahren, schiebt unterwegs aber unangekündigt immer wieder einen Halt bei einer seiner Teilzeit-Familien an, wo die verschiedenen Mütter seiner Kinder gar nicht so erfreut über den spontanen Besuch sind. Der Road Trip öffnet aber bei Pietro den Blick auf bislang unentdeckte Charaktereigenschaften und Lebensauffassungen… 
„Bald hörte ich auf, mich zu fragen, ob seine Geschichte ganz oder nur teilweise der Wahrheit entsprach, ich war zu fasziniert von seiner Art, etwas Normales überraschend und etwas Überraschendes ganz normal zu finden. Ich verstand einfach nicht, ob seine Haltung gesucht oder schlicht die Äußerung einer Lebenseinstellung war; auch hier änderte ich meine Meinung beinahe von Sekunde zu Sekunde.“ (S. 239) 
Andrea De Carlo entführt seine Leser mit „Als Durante kam“ in eine fiktive Gegend östlich des Apennins und damit in eine nicht nur klimatisch raue Welt. Die Menschen leben hier mehr für sich, die Nachbarn sind meist weiter entfernt, man trifft sich gelegentlich, ohne sich wirklich zu kennen. Mit Pietro hat De Carlo einen Ich-Erzähler etabliert, der stellvertretend für das Wesen der hier lebenden Menschen steht, die sich mehr oder weniger bewusst für ein Leben abseits der Metropolen und der dort herrschenden hektischen Betriebsamkeit entschieden haben. Doch Pietro und Astrid leben und arbeiten eher aus Gewohnheiten miteinander. Als der weltoffene, kommunikationsfreudige Durante auftaucht, hinterfragen nicht nur Pietro und Astrid ihre Beziehung, sondern werden mit einer ungewohnten Sicht auf die Welt konfrontiert, die sie ihre eigene zumindest stark hinterfragen lässt. 
De Carlo gelingt es auf gewohnt sprachlich virtuose Weise, unterschiedlichste Charaktere aufeinandertreffen zu lassen, wobei die lebendigen, mal witzigen, mal nachdenklich stimmenden Dialoge auch voller Lebensweisheiten stecken, die Pietro während der gemeinsamen Autofahrt über Genua nach Graz allmählich zu verstehen lernt. Wie die beiden anfangs so unterschiedlichen Männer zu Freunden werden, wie sie die Probleme des Alltags, aber auch die Fallstricke von Freundschaften und Liebschaften zu meistern lernen, beschreibt De Carlo auf so authentische, lebensnahe Weise, dass man meint, mit den Protagonisten im Wagen zu sitzen. Dabei ist „Als Durante kam“ so leichtfüßig, humorvoll und tiefsinnig geschrieben, dass man hofft, die Reise würde nie zu Ende gehen.


Anthony McCarten – „Going Zero“

Sonntag, 7. Mai 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Der 1961 geborene Neuseeländer Anthony McCarten hatte in den 1980er und 1990er Jahren schon etliche Theaterstücke (u.a. das preisgekrönte „Ladies‘ Night“ und das später als „Familienglück oder andere Katastrophen“ verfilmte „Via Satellite“) aufzuweisen, bevor er 1999 mit „Spinners“ (2011 als „Liebe am Ende der Welt“ in deutscher Übersetzung erschienen) sein Romandebüt vorlegte. Zwar folgten mit „Englischer Harem“, „Superhero“, „Hand aufs Herz“, „Ganz normale Helden“, „Funny Girl“ und den beiden Biopics „Licht“ (über die beiden Erfinder Thomas Edison und J.P. Morgan) und „Jack“ (über das Beatnik-Idol Jack Kerouac) noch weitere Romane, doch in den letzten Jahren fokussierte sich McCarten eher auf die Filmwelt, schrieb die Drehbücher zu den Biopics „Die dunkelste Stunde: Churchill – Als England am Abgrund stand“ und „Die zwei Päpste“ sowie zu den Musikfilmen „Bohemian Rhapsody“ und „Whitney Houston: I Wanna Dance with Somebody“. Auch mit seinem neuen Roman „Going Zero“ legt McCarten, der 2016 in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen worden ist, eine filmreife Geschichte vor. 
Die unscheinbare Bibliothekarin Kaitlyn Day zählt zu den zehn auserwählten Personen, die am „Going Zero“-Betatest der Fusion-Initiative teilnehmen dürfen, einem gemeinschaftlichen Projekt von WorldShare und der Bundesregierung, namentlich der CIA. Kaitlyn und ihre neun Mitstreiter:innen müssen ab dem 1. Mai um 12 Uhr mittags genau dreißig Tage völlig unter dem Radar bleiben, so dass sie nicht mal von den hochspezialisierten Geheimdiensten aufgespürt werden können. Cy Baxter, der einst durch die Erfindung eines Computer-Spiels zum Multimilliardär geworden ist und mit seiner Partnerin Erika Coogan die Fusion-Muttergesellschaft WorldShare gegründet hat, wettet mit der Regierung, dass sein Unternehmen mit seiner neuesten technischen Entwicklung in der Lage ist, jeden Menschen aufzuspüren. 
Sollte ihm das gelingen, winkt ihm ein neunzig Milliarden Dollar schwerer Auftrag, die Geheimdienste zukünftig dabei zu unterstützen, Terroristen und andere Verbrecher möglichst vor geplanten schweren Gewaltakten zu identifizieren und festzusetzen. Schlägt das Experiment fehl, winken jedem der „Going Zero“-Teilnehmer, der am Ende der 30 Tage unentdeckt bleibt, eine Prämie von drei Millionen Dollar. Nach dem Startschuss gelingt es dem Heer von WorldShare-Mitarbeitern recht schnell, anhand von Biografien, Bewegungsprofilen, Kameraüberwachungen, persönlichen Beziehungen und schwer abzulegenden Gewohnheiten viele der Teilnehmer ausfindig zu machen, darunter auch die fünf Kandidaten, die aus dem Umfeld der Geheimdienste stammen und eigentlich bessere Voraussetzungen gehabt haben, länger unter dem Radar zu bleiben. Doch ausgerechnet die unauffällige Bibliothekarin entpuppt sich als harte Nuss für Baxter, der nicht davor zurückscheut, auch illegale Mittel einzusetzen, um Kaitlyn auf die Spur zu kommen. Die verfolgt derweil eine ganz eigene Mission durch ihre Teilnahme an „Going Zero“… 
„Sie ist müde, hat Schmerzen, macht Fehler, kann sich nicht mehr konzentrieren. Sie wird schwächer, aber ihr Gegner behält seine Kraft, ja er wird, je mehr Informationen er sammelt, vermutlich immer stärker. Die Waagschale senkt sich immer mehr zugunsten der anderen. Aber sie hat sie nun, den Probelauf in Boston mitgezählt, schon zum dritten Mal überlistet, und das wird auch ihnen zu denken geben. Die Lösung liegt auf der Hand: Da ihre körperlichen Kräfte schwinden, muss sie die Entschlossenheit erhöhen.“ (S. 165f.) 
Es ist kein allzu futuristisches Szenario, das Anthony McCarten mit „Going Zero“ entfesselt, George Orwells „1984“ und Dave Eggers‘ „The Circle“ lassen grüßen. Schließlich dürfte mittlerweile jedem bekannt sein, welch immensen Daten Google, Facebook & Co. über uns sammeln. Was für die Betreiber sozialer Medien ein wahrer (Geld-)Segen ist, führt bei den Usern schon mal zu mehr als nur leichter Besorgnis. McCarten nutzt dieses Potential, um anschaulich vorzuführen, wie mit Gesichtserkennungssoftware, umfänglichen Recherche-Tools und Analysen vom Nutzungsverhalten der betreffenden Personen ein nahezu vollständiges Persönlichkeitsprofil von nahezu jedem Menschen erstellt werden kann. Der Autor hält sich allerdings wenig mit der Charakterisierung seiner Figuren auf, außer Kaitlyn Day gewinnt kaum eine der Figuren wirklich Profil, nicht mal der skrupellose Cy Baxter, der wie eine überzeichnete Karikatur eines Bösewichts daherkommt und sogar das Klischee erfüllt, mit einer ihm unterstellten, viel jüngeren Mitarbeiterin zu schlafen. 
Was „Going Zero“ an psychologischer Tiefe fehlt, macht der Roman an Tempo wett, aber die teils recht konstruiert wirkenden Wendungen und der nicht gerade originelle Plot lassen „Going Zero“ weit schwächer erscheinen als McCartens vorangegangenen Werke. Fast scheint es, als hätte der Autor schon zu viel Zeit in Hollywood verbracht und darüber vergessen, überraschende Geschichten mit faszinierenden Figuren zu schreiben.  

John Irving – „Der letzte Sessellift“

(Diogenes, 1088 S., HC) 
Der US-amerikanisch-kanadische Schriftsteller John Irving zählte noch nie zu den Bestseller-Autoren, die im Jahrestakt einen Roman veröffentlichen. So sind seit seinem 1968, hierzulande erst 1985 unter dem Titel „Lasst die Bären los!“ veröffentlichten Debüt meist im Abstand von drei bis vier Jahren bis 2015 insgesamt vierzehn Romane erschienen, einige davon sogar sehr erfolgreich verfilmt (u.a. „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“). Mittlerweile ist der Romancier 81 Jahre alt und legt sieben Jahre nach „Straße der Wunder“ mit „Der letzte Sessellift“ sein fast 1100 Seiten umfassendes Opus Magnum vor, ein Generationen und Präsidenten wie Ronald Reagan, Bill Clinton, Barack Obama und Donald Trump übergreifendes Werk, das im vertrauten Ton ebenso vertraute Themen wie Sport, Film, Sex, Gewalt und Tod miteinander vereint. 
Da seine ledige Mutter Rachel „Little Ray“ Brewster als Skilehrerin gerade in den Wintermonaten oft abwesend ist, wächst der am 18. Dezember 1941 und damit, wie seine Mutter immer wieder betont, zehn Tage zu spät geborene Adam bei seinen Großeltern in Exeter, New Hampshire, auf. Für Adam hat der Spruch, das Leben sei ein Film, deshalb eine besondere Bedeutung, weil sein Leben als Drehbuchautor für ihn tatsächlich ein Film ist, wenn auch ein nicht gedrehter. Während seine Mutter zusammen mit der Skiretterin Molly im gut zweihundert Meilen entfernten Stowe lebt, treibt Adam vor allem die Frage nach seinem ihm unbekannten Vater um. Alles, was er darüber weiß, lässt sich auf eine Nacht im Hotel „Jerome“ zurückführen, die seine Mutter dort mit Adams Erzeuger verbracht hat. 
Doch auch ohne die Identität seines Vaters zu kennen, gestalten sich Adams Familienverhältnisse unterhaltsam. Sein Großvater Lewis war einst Rektor an der Phillips Exeter Academy, spricht aber nicht, so dass der Junge früh den Eindruck gewann, sein Grandpa sei schon als Schuldirektor im Ruhestand auf die Welt gekommen. Adams wichtigtuerische Tanten Martha und Abigail haben ständig etwas zu nörgeln und wachen mit Argusaugen über das uneheliche Kind, während ihre Ehemänner, die beiden norwegischen Brüder Johan und Martin Vinter, letztlich dafür verantwortlich waren, dass die Brewster-Mädchen überhaupt erst zum Skifahren gekommen sind. Adam konnte sich allerdings nie fürs Skifahren begeistern und ließ sich stattdessen lieber von seiner Großmutter und Winter-Mom Mildred aus Melvilles „Moby-Dick“ vorlesen. Seine Mutter heiratet schließlich den kleinen Englischlehrer und Wrestling-Coach Elliot Barlow, der eine Geschlechtsumwandlung vollzieht und für Adam zum Ersatzvater wird. Seine lesbische ältere Cousine und Seelenverwandte Nora avanciert mit ihrer Freundin Emily „Em“ MacPherson, die sich zu sprechen weigert, in New York zum erfolgreichen Nischen-Comedy-Duo „Zwei Lesben, eine spricht“. Ein Attentat in der Gallows Lounge verändert das Leben aller Beteiligten für immer. Adam und Em verfolgen ihre Schriftstellerkarrieren und beobachten entsetzt, wie ihr Land erst unter republikanischen Präsidenten und Kardinal O’Connor vor die Hunde geht. 
„In den folgenden Jahren kamen harte Zeiten auf jede Art von Comedy zu. Für Em und mich als Schriftsteller wie für Nora und Em im Gallows würde es immer schwieriger werden, uns über irgendetwas lustig zu machen, egal, was. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie wollten sich heutzutage Zwei Lesben, eine spricht nennen. Heute kann man keine Witze mehr über Hass machen. Ich sage Ihnen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, als der Hass von heute noch in den Kinderschuhen steckte, war die Gegenreaktion schon da.“ (S. 581) 
John Irving hat in seiner langen Schriftstellerkarriere schon einige sehr umfangreiche Romane veröffentlicht. Sowohl „Garp und wie er die Welt sah“ „Owen Meany“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ als auch „Zirkuskind“ und „Bis ich dich finde“ kommen locker über 800 Seiten. 
Nun soll „Der letzte Sessellift“ der letzte „große“ Roman des Bestseller-Autors sein, der einmal mehr eine interessante Sammlung skurriler Persönlichkeiten und ihre Leidenschaften wie Literatur, den Ski- und Ringer-Sport, den Film noir und das Leben an sich vereint. 
Irvings Ich-Erzähler Adam Brewster erweist sich als das große Verbindungsglied zwischen all den Figuren, die sich durch ihre sexuelle Orientierung ebenso auszeichnen wie durch ihren respektvollen, wertschätzenden Umgang miteinander. Natürlich stattet Irving seine Figuren traditionell mit bemerkenswerten Eigenschaften aus, so wird Em nicht nur durch ihre selbstauferlegte Sprachlosigkeit, sondern auch durch ihre ohrenbetäubend lauten Orgasmen beschrieben, Adams Freundinnen scheißen sich entweder ein, bluten ständig oder sind so schwer verletzt, dass der Sex zu einer schwierigen Akrobatik-Nummer wird. 
Irving nutzt die Lebensgeschichten seiner Figuren aber auch, um die gesellschaftlichen Zustände in den USA unter die Lupe zu nehmen. Hier stechen vor allem Präsident Reagan mit seiner Ignoranz zur AIDS-Pandemie heraus, aber generell wird an Republikanern und der katholischen Kirche, aber auch an Demokraten, die die Wahl Trumps (der vor allem als „Mösengrapscher“ tituliert wird) ermöglicht haben, kein gutes Wort gelassen. 
„Der letzte Sessellift“ thematisiert immer wieder das Filmemachen und die Botschaft, dass nicht realisierte Drehbücher besonders lange nachwirken. Irvings Spätwerk wirkt dagegen wie eine erfolgreiche Fernsehserie, die sich über mehrere Staffeln ausführlich mit den Problemen, Herausforderungen, Schlüsselerlebnissen und Reifeprozessen der Figuren beschäftigen kann. Zwar weist der Roman auch einige Längen auf, doch die Figuren schließt man schnell ins Herz, und es ist spannend zu verfolgen, wie sich die Art der Beziehungen zwischen ihnen verändert. Vor allem stellt „Der letzte Sessellift“ ein feinfühliges Plädoyer für mehr Toleranz in Bezug auf sexuelle Orientierungen und Meinungen dar. 

Jim Thompson – „Muttersöhnchen“

Samstag, 22. April 2023

(Diogenes, 230 S., Tb.) 
Seit seinem 1942 erschienenen Debütroman „Now and on Earth“, der erst 2011 in deutscher Übersetzung als „Jetzt und auf Erden“ in der Heyne-Hardcore-Reihe erschienen ist, hat sich Jim Thompson zu einem der renommiertesten Noir-Autoren entwickelt, dem aber trotz seiner Arbeit in Hollywood, wo er in den 1950er Jahren die Drehbücher für Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ ablieferte, und der 1972 einsetzenden Verfilmung seiner Romane (beginnend mit Sam Peckinpahs Klassiker „Getaway“) der verdiente Erfolg versagt geblieben ist. 
Nach mehreren, durch seinen exzessiven Alkoholkonsum verursachten Schlaganfällen starb Thompson verarmt und verbittert 1977 in Hollywood. Sein 1963, vier Jahre nach „The Getaway“ veröffentlichter Roman „The Grifters“ wurde zwar 1990 unter der Regie von Stephen Frears mit Anjelica Huston, John Cusack und Annette Bening verfilmt, zählt aber zu den eher schwächeren Romanen des längst zum Kult-Autor avancierten Thompson
Roy Dillon verdient sich seinen Lebensunterhalt als kleiner Trickbetrüger in Los Angeles, wo in einer Suite im Hotel Grosvenor-Carlton lebt. Seine Freundin Moira Langtry, eine geschiedene Frau in den Dreißigern, drängt darauf, dass er sich beruflich weiterentwickelt, um mit ihr ein gemeinsames Leben aufbauen zu können, doch Roys Mutter Lilly, die gerade mal vierzehn Jahre älter als ihr Sohn ist und mehr als nur mütterliche Gefühle für ihn zu hegen scheint und selbst in der Betrugsbranche für den Buchmacher Bobo Justus tätig ist, verfolgt andere Pläne für ihren Liebling, zumal sie selbst langsam zu alt für das Geschäft wird. 
Nachdem sie einen Einsatz auf der Rennbahn La Jolla verpasst hat und ihrem Chef so ein dickes Loch in der Kasse beschert hat, revanchiert er sich mit der Verbrennung ihrer Hand durch eine Zigarette. Als Roy ebenfalls bei einem Betrugsversuch erwischt und verprügelt wird, lässt Lilly ihren Sohn im Krankenhaus durch die Krankenschwester Carol aufpeppeln und sorgt dafür, dass die ihr verhasste Moira Roy nicht zu sehen bekommt. Obwohl Roy nach einigen Woche wieder genesen ist, lässt Lilly ihren Sohn in ihr Apartment am Sunset Strip östlich der Stadtgrenze von Beverly Hills verfrachten und verlängert die Fürsorge durch Carol, in die sich Roy – wie von Lilly geplant - schließlich verliebt. Doch als Moira versucht, die Dreieinigkeit zwischen Carol, Roy und Lilly zu zerstören, kommt es zur Katastrophe… 
„Vielleicht hatte sie ihn zu hart angefasst; kein Mann ließ sich gern herumkommandieren. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich so sehr für Lilly Dillon zu interessieren; jeder Mann war empfindlich, wenn es um seine Mutter ging. Aber wie auch immer, ihr Vorschlag war richtig und vernünftig. Sie würden beide davon profitieren. Es musste einfach so sein. Und wehe, wenn er nicht…!“ (S. 189) 
Nachdem „The Grifters“ zunächst in der Übersetzung von Jürgen Behrens 1983 bei Ullstein unter dem Titel „Die Abzocker“ veröffentlicht und dann in der gleichen Übersetzung zur Verfilmung des Romans als „Grfiters“ neu aufgelegt worden ist, erschien der Titel 1995 bei Diogenes als „Muttersöhnchen“ – diesmal von André Simonoviescz übersetzt. 
Wieder einmal stammen Thompsons Protagonisten aus eher ärmlichen Verhältnissen, die sich durch Betrügereien über Wasser halten. Insofern bietet „Muttersöhnchen“ wenig Neues. Interessant ist vor allem die Viererkonstellation, in der sich der intelligente, aber wenig ehrgeizige Roy Dillon durch die Hingabe gleich dreier Frauen manövrieren muss, wobei diese teilweise nicht die geringsten Skrupel besitzen, ihre Ansprüche an Roy und seine Ersparnisse durchzusetzen. Im Gegensatz zu Thompsons besseren Werken fehlt es bei diesem Werk an dem psychologischen Einfühlungsvermögen. Dass sich in „Muttersöhnchen“ einmal mehr keine wirklichen Sympathieträger ausmachen lassen, verwundert nicht, aber die überraschungsarme Dramaturgie der Story schon. 

 

Philippe Djian – „Kriminelle“

Freitag, 7. April 2023

(Diogenes, 244 S., HC) 
In den 1980er Jahren avancierte der französische Schriftsteller Philippe Djian zum Liebling der Literaturszene. In Romanen wie „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ ließ Djian seinen Ich-Erzähler als sein Alter ego auf erfrischend frivole wie leichtfüßige und humorvolle Weise über Sex, Gefühlschaos und Schreibblockaden schwadronieren, dass es eine Freude war, sich in die turbulenten Stories zu stürzen. Ende der 1990er Jahre war von diesem schwungvollen Flair nur noch wenig übrig geblieben. 
1994 legte er mit „Assassins“ (dt. „Mörder“ bzw. „Ich arbeite für einen Mörder“) den Auftakt einer Trilogie vor, die er zwei Jahre später mit „Kriminelle“ fortsetzte. 
Francis hat es nicht leicht. Er hat keinen Job, einen scheinbar kaputten Rücken, und das Verhältnis zu seiner fünfundvierzigjährigen Freundin Élisabeth gestaltet sich ebenso kompliziert wie das zu seinem Bruder Marc oder seinem Sohn Patrick, der sich in Théos Frau Nicole verguckt hat, was Francis gut nachvollziehen kann, hat er sich, bevor er mit Élisabeth zusammengekommen ist, doch selbst gut ein Dutzend Mal sich auf Nicole einen runtergeholt. Nun will seine Ex-Frau Christine Patrick mit ihrem neuen Mann Robert, der im Zuckerrohrgeschäft tätig ist, nach Guatemala auswandern. 
Zu allem Überfluss muss sich Francis entscheiden, was er mit seinem Vater anstellen soll, der zu einem Pflegefall geworden ist. Mit seinem Bruder, der als Schriftsteller arbeitet, hat er sich immer wieder über den Tod ihrer Mutter in die Haare bekommen, nachdem sie in ihrer Badewanne ertrunken war. Da für Marc seine Mutter sein Ein und Alles gewesen ist, lässt er sich nicht von seiner Überzeugung abbringen, dass sie von dem zur Gewalt neigenden Vater der beiden Brüder umgebracht worden sei. Die befreundeten Paare haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Während Monique verzweifelt ist, dass sie keinen Orgasmus mehr bekommt, ist ihr Mann Ralph nur noch an seinem Rennpferd interessiert. Bei einem Picknick an der Sainte-Bob im Mai treten die Konflikte zwischen den Paaren offen zutage… 
„Ich habe die Abenteuer meiner Ex, Patricks Mutter, nie verkraftet. Ich musste älter als fünfzig werden, um mir einen blasen zu lassen, ohne deshalb alle Frauen zum Kotzen zu finden. Aber man wird diese Sachen nie ganz los. Mit Élisabeth würde ich mich gern im Schlamm wälzen und in weißen Laken wach werden. Ich lebe damit, und ich wüsste nicht, was ich anderes tun könnte. Ich glaube, dass ich mich nicht mehr ändere.“ (S. 102) 
Veränderung ist das große Thema in Djians „Kriminelle“. Insofern passt das dem Roman vorangestellte Zitat „Im Grunde könnte jeder irgendein anderer sein. Man muss sich entscheiden.“ von Richard Ford wie die Faust aufs Auge. Allerdings leidet nicht nur Philippe Djians Ich-Erzähler unter dem Mangel am nötigen Willen dazu, auch Francis‘ Mitmenschen verspüren zwar den Drang zu einer Veränderung in ihrem Leben, werden aber nicht glücklich bei dem Versuch, wenigstens mit kleinen Schritten zu einer Verbesserung ihres Lebensgefühls beitragen zu wollen. 
An Handlung ist „Kriminelle“ so arm wie sonst kaum einer von Djians Romanen. Stattdessen beschränkt sich der einst gefeierte Autor darin, die unterschiedlichen Gefühlswelten seiner Figuren in recht substanzlosen, aber ausufernden Dialogen zum Ausdruck zu bringen, ohne dass sich an der Situation der Beteiligten etwas ändert. Zum Ende hin kommt Francis zur Erkenntnis, dass doch alles ganz einfach sei, worauf Élisabeth entgegnet: „Meine Güte, das sagst du, Francis. So einfach nun doch wieder nicht.“ Diese wenigen Zeilen sind bezeichnend für „Kriminelle“, denn es sind keine wirklich schwerwiegenden Probleme, die Francis & Co. hier zu lösen haben. Sie kreisen einfach um sich selbst, dramatisieren unnötig, kommen nicht voran. Diesen Stillstand vermag Djian zwar wie gewohnt sprachlich brillant einzufangen, doch außer den einfallsreichen Beschreibungen einiger erotischer Momente langweilt „Kriminelle“ einfach nur. 

 

Jim Thompson – „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“

Mittwoch, 5. April 2023

(Diogenes, 268 S., Tb.) 
Die Karriere von Jim Thompson kam erst spät in Gang. Obwohl er seine ersten Romane bereits in den 1940er Jahren veröffentlicht und vergeblich versucht hatte, in Hollywood Fuß zu fassen, blieb er in der Literaturszene ein Geheimtipp und bekam kaum noch seine Alkoholprobleme in den Griff, bevor er in den 1950er Jahren nicht nur eine Flut von Romanen schrieb, sondern auch von Stanley Kubrick beauftragt wurde, die Drehbücher zu seinen beiden Filmen „Die Rechnung ging nicht auf“ (1956) und „Wege zum Ruhm“ (1957) zu schreiben. Doch erst in den 1970er Jahren wurde Thompson so richtig bekannt, als erst Sam Peckinpah „Getaway“ (1972) verfilmte und dann andere Filmemacher nachzogen. So nahm sich der französische Regisseur Bertrand Tavernier 1981 mit „Der Saustall“ des 1964 erschienenen Romans „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“ an, der zu den witzigsten Werken des 1977 verstorbenen Autors zählt. 
Nick Corey ist Sheriff im Potts County und lebt mit seiner anstrengenden, ewig schimpfenden und respektlosen Frau Myra und ihrem leicht debilen Bruder Lennie im 1280-Seelen-Kaff Pottsville. Für seine zweitausend Dollar im Jahr macht Nick eigentlich nichts, außer den Status quo zu erhalten, allerdings beschleicht ihn vor der anstehenden Wahl das mulmige Gefühl, dass die Bürger in dem Bezirk nicht mehr so zufrieden mit ihm sein könnten. 
Wenn er wirkliche Probleme zu lösen hat – wie zum Beispiel die Beseitigung eines öffentlichen Aborts oder die Eliminierung zweier unbequemer Zuhälter -, reist Nick in den Nachbarbezirk zu seinem Kollegen Ken Lacey, der ihm stets mit Rat und Tat zur Seite steht. Doch die wahren Probleme bereiten ihm die Frauen, denn neben seiner pöbelnden Ehefrau haben auch Rose Hauks und die Prostituierte Amy Mason Ansprüche auf den Sheriff angemeldet. Um sich durch diese kniffligen Herausforderungen zu manövrieren, lässt Corey nicht nur Amys Zuhälter und Roses prügelnden Ehemann Tom über die Klinge springen, sondern lenkt die Ermittlungen in den Mordfällen geschickt in die von ihm gewünschte Richtung, so dass andere Verdächtige in den Fokus rücken… 
„Ich war fast soweit gewesen, hatte fast einen Plan gehabt, wie ich mit einem Schlag nicht nur Rose loswerden konnte, ohne sie mehr als einmal zu sehen, sondern auch gleichzeitig noch das Problem mit Myra und Lennie lösen würde. Und dann hatte Amy gesprochen, und Teile des Plans waren in alle Himmelsrichtungen verweht worden. Ich wusste, dass es mir verdammt schwerfallen würde, sie alle wieder zusammenzubringen – wenn es mir überhaupt jemals wieder gelingen würde.“ (S. 186) 
Auch wenn Jim Thompson gemeinhin dem Noir-Genre zugerechnet und mit Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Robert B. Parker in einem Atemzug genannt wird, stechen seine Werke doch in ihrer einzigartigen Konzeption und Figurenzeichnung besonders heraus. „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“ stellt dabei ein Paradebeispiel für Thompsons zutiefst schwarzen, herrlich lakonischen Humor dar. Sein Protagonist, der ebenso faule wie geile Sheriff Nick Carey, tritt als Ich-Erzähler auf und macht nie einen Hehl daraus, dass er eigentlich nur seine Ruhe haben will, dass er dabei aber alle Mühe hat, die sexuellen Avancen seiner Frauen zu befriedigen und sie glauben zu lassen, dass er ihnen allein gehöre. Zwar wirkt Carey zunächst etwas beschränkt, doch bei der Verschleierung seiner Verbrechen stellt er eine gewitzte Bauernschläue unter Beweis, die Kollegen wie Kontrahenten in arge Bedrängnis bringt. 
Bei aller humorvollen Ausrichtung präsentiert sich „1280 schwarze Seelen“ aber auch als faszinierende Milieustudie der Unterschicht im US-amerikanischen Süden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier werden noch keine raffinierten Beweisführungen verlangt und auch keine rasenden Verkehrssünder zur Rechenschaft gezogen. In Pottsville geht alles seinen langsamen Weg, wird das Miteinander noch von Hörensagen und Rassismus geprägt. Identifikationsfiguren bietet der Roman natürlich nicht, dazu sind sowohl der Ich-Erzähler als auch seine Mitmenschen zu dumpfbackig, zu verdorben oder zu gerissen, aber Spaß macht es natürlich trotzdem. 
Lesenswert ist auch das ausführliche Nachwort von Wolfram Knorr, der nicht nur die eigenartige Natur von Thompsons Helden unter die Lupe nimmt, sondern auch das Werk des heute so gefeierten Schriftstellers mit seinem starken Bezug zur amerikanischen Provinz als „wütende Reflexe eigener Erfahrungen“ beschreibt. 

 

Andrea De Carlo – „Yucatan“

Samstag, 11. März 2023

(Diogenes, 260 S., HC) 
Mit seinen Anfang der 1980er veröffentlichten Romanen „Creamtrain“, „Vögel in Käfigen und Volieren“ und „Macno“ avancierte der 1952 in Mailand geborene Schriftsteller, Musiker und Gelegenheitsfilmemacher Andrea De Carlo zum Sprachrohr einer ganzen Generation und durch die Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum durch Diogenes auch hierzulande zum Bestseller-Autor. Mit seinem vierten, im Original 1986 veröffentlichten Roman „Yucatan“ konnte De Carlo allerdings nicht an die Qualität seiner Frühwerke anknüpfen. 
Der jugoslawische Filmemacher Dru Resnik träumt seit Jahren davon, ein Buch des berühmten mexikanischen Schriftstellers Astor Camado zu verfilmen, um den sich etliche Legenden ranken, von dem niemand weiß, wer er wirklich ist, da es noch niemandem gelungen ist, ihn zu fotografieren oder zu interviewen. Es kursierten sogar Gerüchte, dass Camado durch übermäßigen Konsum von Peyotl und Mescalin in den Wahnsinn getrieben worden sei und wie ein Zombie irgendwo im kolumbianischen Urwald lebe. 
Durch den neureichen amerikanischen Produzenten Jack Nesbitt bekommt Resnik nun die Möglichkeit, nicht nur an die Filmrechte für die Bücher seines verehrten Schriftstellers zu erwerben, sondern auch in Mexiko die Orte zu besuchen, an denen seine Bücher spielen. Zusammen mit seinem Assistenten Dave Hollis macht sich Resnik auf den Weg nach Los Angeles, wo sie sich mit dem Schriftsteller und seinen beiden Begleiterinnen Kate und Mirabel treffen. Doch schon die Weiterreise entwickelt sich zu einem Abenteuer. Statt gemeinsam ein Flugzeug zu nehmen, beharrt Camado darauf, getrennt in zwei Autos zu fahren. 
Dann sorgen verstörende anonyme Telefonanrufe und in Hotelzimmer geschmuggelte Nachrichten für ein wachsendes Unbehagen unter der Reisegruppe, der sich schließlich noch ein „spiritual girl“ und ein „physical girl“ anschließen, doch nützlichen Erkenntnissen für den geplanten Film kommen Dru, Nesbitt und Dave nicht wirklich näher… 
„Und es ist völlig unklar, welchem Zweck das Ganze dienen soll, wenn es überhaupt einen hat, es ist völlig unklar, ob wir hier an einer Schnitzeljagd teilnehmen oder an einer spiritistischen Exkursion, oder ob es vielmehr eine Geschäftsreise ist, die mich dazu bewegen soll, bei meiner Arbeit andere Ingredienzien zu verwenden, als ich es bisher gewohnt war. Ich habe mich niemals dazu berufen gefühlt, Botschaften von anderen zu übersetzen und zu verbreiten, kann mir nicht vorstellen, dass ich der ideale Regisseur bin, um einen missionarischen Film zu machen… (S. 192f.) 
Aus der Perspektive des Assistenten, den De Carlo als Ich-Erzähler einsetzt, schildert „Yucatan“ die eigentlich interessante Geschichte eines außergewöhnlichen Filmprojekts. Schließlich kommen ein geheimnisumwitterter, an Carlos Castaneda erinnernder Erfolgsautor, ein ambitionierter Produzent und ein europäischer Filmemacher zusammen, der bei den Cineasten hoch angesehen wird. 
Doch aus der vielversprechenden Idee entwickelt De Carlo tatsächlich nur eine Schnitzeljagd, wie der Filmemacher (dessen Eindrücke immer wieder in kurzen Kapiteln ebenfalls in der Ich-Form eingefügt werden) die Reise von Europa über Los Angeles nach Mexiko und zurück nach Los Angeles empfindet, einzig angetrieben von den mysteriösen Nachrichten, die von einer höheren Macht namens Tu zu kommen scheinen, auf jeden Fall aber ein höheres Verständnis der Gesamtsituation erkennen lassen, so dass Dru, Nesbitt und Dave mit ihrem wechselnden weiblichen Anhang den Hinweisen und Anweisungen auch Folge leisten, was zu den mitunter komischen Szenen führt, dass die Beteiligten Jacken in bestimmten Farben besorgen müssen. 
„Yucatan“ ist allerdings weder witzig noch interessant. De Carlo gelingt es nicht, seinen Figuren ein überzeugendes Profil zu verleihen. Der Roman soll angeblich von der Konfrontation amerikanischer „Technologie-Euphorie“ mit der mythologisch geprägten Welt Mittelamerikas handeln, doch bleibt dieser Anspruch zu abstrakt, um eine fesselnde Geschichte mit interessanten Figuren zu ergeben, die durch die Begegnung mit dem Übernatürlichen nicht mal eine Entwicklung durchmachen. Selbst die punktuell eingestreuten amourösen Abenteuer, die De Carlo eigentlich sinnlich zu inszenieren versteht, verkommen hier zu uninspirierten Begegnungen, die dann auch den gelangweilten Leser erfassen. 
„Yucatan“ plätschert nach einer vielversprechenden Exposition nur noch in gleichmäßig behäbigem Tempo ziellos und ohne Auflösung dahin, so als hätte De Carlo nach wenigen Seiten selbst das Interesse an dem Buch verloren.  

Valerie Wilson Wesley – (Tamara Hayle: 2) „Der Exlover“

Sonntag, 6. November 2022

(Diogenes, 282 S., Pb.) 
Die 1947 in New Jersey geborene Afroamerikanerin Valerie Wilson Wesley war Chefredakteurin der Zeitschrift „Essence“ und hat ihre fiktionalen wie nicht-fiktionalen Geschichten in so unterschiedlichen Publikationen wie „Family Circle“, „TV Guide“, „Ms.“, „The New York Times“ und dem Schweizer Wochenmagazin „Die Weltwoche“ veröffentlicht. Am bekanntesten ist die Autorin allerdings für ihre Romane um die schwarze Detektivin Tamara Hayle, die nun in einer Neuübersetzung bei Diogenes erscheinen. Der nun vorliegende zweite von insgesamt acht Bänden ist bereits 1998 unter dem Titel „In Teufels Küche“ veröffentlicht worden. 
Der schwarze Investmentbanker Lincoln E. Storey ist eine lebende Legende in Newark, Essex County. Er beauftragt die ebenfalls schwarze Privatdetektivin Tamara Hayle damit, den Lover seiner 23-jährigen Stieftochter Alexa zu beschatten, da er vermutet, dass dieser eher an Storeys Geld als an Alexa interessiert sei. 
Als Storey ihr den Namen von Alexas Freund nennt, muss Tamara erst einmal schlucken, denn bei Brandon Pike handelt es sich um einen Dokumentarfilmer, mit dem sie selbst vor drei Jahren eine Beziehung hatte. Eine erste Gelegenheit, ihren Exlover wiederzusehen, ergibt sich auf einer Party anlässlich der Kandidatur der stellvertretenden Staatsanwältin Stella Pharr für einen Sitz im Parlament von New Jersey. 
Auf der Party im „Tate’s“ bricht Lincoln Storey jedoch an seinem Tisch zusammen. Was zunächst wie ein Herzinfarkt aussieht, entpuppt sich schließlich als tödliche Reaktion auf eine Erdnussallergie. Die temperamentvolle Tasha Green, die den entsprechenden Bohnendip zubereitet hat, wird festgenommen, nachdem mehrere Zeugen gehört haben wollen, wie Tasha den Mann auf genau diese Art umzubringen wollte. Tashas Schwester Wyvetta engagiert Tamara nun damit, innerhalb einer Woche Tashas Unschuld zu beweisen. Bei der Befragung der Zeugen erfährt die ehemalige Polizistin nicht nur, dass es bereits einen ähnlichen Vorfall in dem Restaurant gegeben hat, sondern dass neben all den Frauen, mit denen der Tote offensichtlich ein Verhältnis hatte, auch Tamaras Exlover ein Motiv für den Mord an Storey hatte… 
„Wer immer Lincoln Storey umgebracht hatte, war an dem Abend in Tates Restaurant gewesen, als Lincoln Storeys Allergie gegen Erdnüsse offenkundig wurde. Tate könnte mir Tashas Angaben darüber bestätigen, wer an dem Abend dabei gewesen war, und mich darüber aufklären, was da zwischen Tasha und Storey abgelaufen war. Vielleicht wusste er noch ein bisschen Tratsch über den Rest der Mannschaft, womöglich gar etwas über die ,kleine Geschichte‘, die Tasha nebenher laufen hatte.“ (S. 106 f.) 
Im ersten Tamara-Hayle-Band „Ein Engel über deinem Grab“ hatte die Titelheldin nicht zuletzt durch das rassistische Umfeld ihren Job bei der Polizei an den Nagel gehängt, ihrem Ehemann DeWayne den Laufpass gegeben und um das Leben ihres aus dieser Beziehung geborenen Sohnes Jamal gekämpft. Als Privatdetektivin schlägt sie sich ebenso wie viele andere Schwarze in Newark, New Jersey, gerade so durch. 
Valerie Wilson Wesley braucht nicht viele Worte, um die eklatanten Unterschiede zwischen der Welt der hart arbeitenden Normalbevölkerung und der schillernden Welt eines Mannes, der wie sie auf den schäbigen Straßen der übelsten Gegend aufgewachsen ist, es aber durch Fleiß und Pflichterfüllung zu etwas gebracht hatte und nun als leuchtendes Vorbild präsentiert wird, aber natürlich auch den Neid seiner Mitmenschen auf sich zieht. In leicht verständlicher Sprache führt die Autorin ihre Leser sowohl durch Tamaras Ermittlungen als auch in das Dickicht heimlicher Affären und hinterhältiger Geschäfte, so dass sich die Verdächtigen wie Perlen auf einer Kette aufreihen, bis natürlich erst im Finale der Mord an Lincoln Storey aufgeklärt wird, woran sich in bester Detektivroman-Manier ein ausführliches „Geständnis“ anschließt. 
„Der Exlover“ bietet leicht bekömmliche und unterhaltsame Krimikost aus der Perspektive einer schwarzen Protagonistin, die sich ihrer Stellung in der Gesellschaft und den damit verbundenen Vorurteilen und Ressentiments durchaus bewusst ist und ihre Meinung über diese Zustände auch immer mal wieder kundtut. 
Damit bietet „Der Exlover“ eine erfrischende Abwechslung zur konventionellen Private-Eye-Literatur und leistet der hervorragenden Reihe um den schwarzen Detektiv Lew Griffin von James Sallis Gesellschaft.