James Lee Burke – (Billy Bob Holland: 1) „Dunkler Strom“

Donnerstag, 26. November 2015

(Edel:eBooks, 349 S., eBook)
Vernon Smothers, der vierzig Hektar des Landes von Rechtsanwalt Billy Bob Holland außerhalb von Deaf Smith auf Pachtbasis bewirtschaftet, beauftragt Holland damit, seinen 19-jährigen Sohn Lucas aus dem Gefängnis zu holen. Er soll das Mädchen Roseanne Hazlitt geschlagen und vergewaltigt haben, doch der Junge behauptet, betrunken gewesen zu sein und sich an nichts erinnern zu können. Außerdem seien da noch andere Jungs gewesen, mit denen Roseanne zu tun hatte.
Das Mädchen erliegt wenig später ihren Verletzungen im Krankenhaus, und Lucas muss sich auch wegen Totschlags vor Gericht verantworten. Als Holland und Deputy Sheriff Mary Beth Sweeney die Ermittlungen aufnehmen, drängt die Zeit, denn der Gefängnisschließer Harley Sweet ist für seine schikanöse Art, mit den Gefangenen umzugehen, bekannt. Dieser wird allerdings eines Tages von dem Insassen Jimmy Cole erdrosselt, der unerkannt aus dem Gefängnis spazieren kann und die Zeugin ermordet, die seinen Zellennachbarn Garland T. Moon belastet hat.
Nun muss auch Lucas um sein Leben bangen, denn er kann mit seiner Aussage Moon ebenfalls schaden. Und Holland als Lucas‘ Anwalt kann sich seines Lebens auch nicht mehr sicher sein …
„Moon hatte gesagt, manche Menschen seien von Geburt an anders. Hatte er damit nur sich gemeint, oder bezog sich das auch auf Menschen wie mich und Urgroßpapa Sam? Oder Darl Vanzandt?“ (Pos. 2221) 
Billy Bob Holland muss feststellen, wie verzwickt sich der Fall gestaltet. Da spielen nicht nur die Differenzen zwischen Arm und Reich eine Rolle und die Angelegenheiten der DEA, sondern ganz persönliche Verwicklungen, die bis in die Geschichte von Billy Bob Hollands Vorfahren zurückreichen.
Nach seiner Kultfigur Dave Robicheaux hat der amerikanische Schriftsteller James Lee Burke mit Billy Bob Holland einen weiteren charismatischen Protagonisten kreiert, der wie Robicheaux als Polizist angefangen hat, aber nicht in Mississippi, sondern in Texas sein Amt ausführt und mittlerweile als Rechtsanwalt praktiziert. Und wie Robicheaux hat Holland eine bewegte Vergangenheit mit einem gewalttätigen Vater und Großvater im Stammbaum und seinem Kollegen L.Q. Navarro in der schmerzlichen Erinnerung, dass er für dessen Tod verantwortlich gewesen ist.
Außerdem hat er seinem Pächter Vernon in Houston die Frau ausgespannt, bis er sie zurückholte und Holland sie nie wieder zu Gesicht bekam. Aus diesem Gerüst hat Burke einen faszinierenden Thriller kreiert, der nur stellenweise einen Justiz-Thriller darstellt, vor allem aber eine differenzierte Milieustudie mit einem vielschichtigen Plot und undurchschaubaren wie faszinierenden Figuren.
Leseprobe James Lee Burke - "Dunkler Strom"

Graham Masterton – „Grauer Teufel“

Dienstag, 24. November 2015

(Festa, 414 S., Pb.)
Jerry Maitland ist gerade zum Teilhaber bei Shockoe Immobilien befördert worden und hat mit seiner schwangeren Frau Alison ein großes, schmales Haus im historischen Church-Hill-Viertel von Richmond bezogen, als das zunächst Jerry auf unerklärliche Weise schwer verletzt wird und Alison gerade, als sie den Notruf alarmiert, mit einer Art Schwert zerstückelt wird.
Als Lieutenant Decker Martin und sein junger Kollege Hicks die Ermittlungen aufnehmen, will niemand einen Täter gesehen haben. Auch lassen sich in dem Blutbad überhaupt keine Beweise finden, weder die Tatwaffe noch Fußspuren oder Fingerabdrücke.
Allein das unter dem Downsyndrom leidende Mädchen Sandra konnte mit ihrer besonderen Gabe einen ganz in Grau gekleideten Mann in einem schweren Mantel mit Flügeln und einem Schwert sehen, von dem sie einen Tag später eine erstaunlich akkurate Zeichnung abliefert.
Wenig später häufen sich die Todesfälle, die auf scheinbar unsichtbare Täter hinweisen. Davon abgesehen gibt es keine offensichtlichen Verbindungen zwischen den Morden.
Allerdings scheint die legendäre Teufelsbrigade, die im Bürgerkrieg eine Schlacht entschieden hat, im Stammbaum der Toten eine Rolle gespielt zu haben. Und als Decker seine vor zwei Jahren verstorbene Freundin Cathy immer wieder zu sehen beginnt und dabei der Name der heiligen Barbara auftaucht, beginnt der zunächst skeptische Lieutenant auch an den Einfluss der Santería-Religion zu glauben.
„Vor seinem geistigen Auge sah Decker Cathys Kopf wieder und wieder explodieren. Die Vorstellung, dass sie diese Szene in einer Endlosschleife ertragen musste, war mehr, als er ertragen konnte. Er hatte inzwischen genug gesehen und gehört, um daran zu glauben, dass es so etwas wie ein Leben nach dem Tod tatsächlich gab. Die Geister der Verstorbenen wandelten weiterhin über die Erde, auch wenn sie sich nur in bestimmten Momenten zu erkennen gaben.“ (S. 215) 
Decker bekommt von mehreren Seiten die Warnung zu hören, dass sich die heilige Barbara an ihm rächen will, und setzt den Santero Moses Adebolu darauf an, einen Gegenzauber zu erwirken. Mittlerweile häufen sich die Anzeichen, dass Decker selbst in höchster Lebensgefahr schwebt… Nachdem die Autoren-Karriere des Briten Graham Masterton bei „Penthouse“ und mit dem Verfassen von Sex-Ratgebern begonnen hatte, ist er mittlerweile neben Clive Barker, Ramsey Campbell und James Herbert einer der bekanntesten Horror-Schriftsteller von der Insel, dessen Werke früher bei Bastei Lübbe, Goldmann und Heyne erschienen sind und der seine deutsche Verlagsheimat nun bei Festa gefunden hat.
Mit „Grauer Teufel“ ist Masterton ein thematisch vielschichtiger, atmosphärisch stimmiger und spannender Horror-Thriller klassischer Ausprägung gelungen, der Besonderheiten des amerikanischen Bürgerkriegs, der katholischen Heiligen und der aus Afrika eingeführten Santería-Religion miteinander verbindet. Dabei hat er vor allem mit Decker Martin einen starken und empathischen Protagonisten kreiert, den der Leser gleich sympathisch findet, aber auch die Nebenfiguren sind Masterton glaubwürdig gelungen. Wer Freude an einem atmosphärisch dichten Voodoo-Thriller hat, ist mit „Grauer Teufel“ bestens bedient.
Leseprobe Graham Masterton - "Grauer Teufel"

David Baldacci – (John Puller: 3) „Escape“

Donnerstag, 19. November 2015

(Heyne, 606 S., HC)
Die United States Disciplinary Barracks in Fort Leavenworth galten bislang als das bestgesicherte militärische Hochsicherheitsgefängnis in den USA. Und doch gelingt dem wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilten Robert „Bobby“ Puller nach dem Ausfall sowohl der Strom- als auch der Notstromversorgung eine spektakuläre Flucht. Kurz nach dem Vorfall wird ausgerechnet Pullers Bruder, Spezialagent der Criminal Investigation Division (CID), der Militärstrafverfolgungsbehörde derArmy, ins Pentagon geladen, wo er von Drei-Sterne-General Aaron Rinehart, Air-Force-General Timothy Daughtrey und James Schindler vom National Security Council damit beauftragt wird, seinen Bruder wiederzufinden und festzunehmen.
Für den Auftrag wird ihm die ebenso attraktive wie undurchsichtige Veronica Knox von Inscom zur Seite gestellt, der den militärischen Nachrichtendienst der US Army darstellt. Mit ihren Fragen wirbeln die beiden Ermittler viel Staub auf. Zunächst wird Daughtrey erschossen in Pullers Motelzimmer aufgefunden, dann verschwinden die Transformatoren, an denen man hätte feststellen können, ob ein Sprengstoffsatz für den Stromausfall verantwortlich gewesen war, und schließlich wird Puller entführt und kann sich nur mit Not befreien.
Je mehr Puller und Knox ihre Ermittlungen vorantreiben, desto deutlicher zeichnet sich ab, dass Bobby unschuldig ins Gefängnis gewandert ist und hochrangige Militärangehörige als Spione dafür gesorgt haben, Massenvernichtungswaffen in die falschen Hände gelangen zu lassen …
Und über allem hängt die Frage, wie sich Puller verhalten würde, wenn er seinen Bruder tatsächlich in seine Gewalt bringt.
Könnte ich auf Bobby schießen? Oder er auf mich? Nein. Nie und nimmer. Das war die Antwort, die ihm sofort in den Sinn kam. Andererseits hatte Bobby zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Er hatte auf der Flucht höchstwahrscheinlich einen Menschen getötet. Falls man ihn wieder fasste, würde man ihn möglicherweise wegen Mordes zum Tode verurteilen, auch wenn es Hinweise darauf gab, dass er in Selbstverteidigung gehandelt hatte. Unter diesen Umständen würde Bobby vielleicht lieber kämpfend untergehen. Oder er würde zulassen, dass sein Bruder ihn tötete. Puller wusste nicht, welche Möglichkeit die schlimmere war.“ (S. 221) 
Mit „Zero Day“ und „Am Limit“ hat der amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci eine neue Reihe ins Leben gerufen, in der der militärische CID-Agent John Puller heikle Ermittlungsaufträge innerhalb seiner eigenen Reihen zu erledigen hat. Dabei kamen sein hochdekorierter, aber an Demenz erkrankter Vater, Drei-Sterne-General John „Durchbruch“ Puller, und sein wegen Hochverrats verurteilter Bruder Bobby eher am Rande vor.
In seinem neuen Roman „Escape“ wird nicht nur die Familiengeschichte der Pullers etwas gelichtet, sondern bildet auch das Zentrum von John Pullers neuem Auftrag. Geschickt gewährt Baldacci nicht nur weitere Einblicke in die unüberschaubaren Strukturen der militärischen Behörden und Einheiten, sondern entwickelt ein ebenso undurchdringlich erscheinendes Geflecht aus militärischen Geheimnissen, Spionage-Verdächtigungen, Lügen und Morden, dass der Leser kaum Zeit zum Luftholen bekommt.
Das Finale überrascht mit etlichen Wendungen und bringt einen hochklassigen Thriller zum Abschluss, der Lust auf weitere Puller-Abenteuer macht.
 Leseprobe David Baldacci - "Escape"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 17) „Der Untergrundmann“

Dienstag, 17. November 2015

(Diogenes, 363 S., Pb.)
An einem strahlenden Septembermorgen füttert Privatdetektiv Lew Archer gerade seine Buschhäher mit Erdnüssen, als er den Nachbarsjungen Ronny Broadhurst kennenlernt, der mit seiner Mutter vorübergehend in die Wohnung der Wallers eingezogen ist, nachdem sich Jean Broadhurst von ihrem Mann Stanley getrennt hat. Dieser holt Ronny gerade ab, um mit ihm zu Oma Nell nach Santa Teresa zu fahren, mit einer Blondine auf dem Beifahrersitz. Doch bei Ronnys Oma kommen sie nie an.
Als Jean und Lew sich auf die Suche nach Ronny machen, erfährt Archer, dass sich Stanleys Leben ganz um die Suche nach seinem Vater Leo dreht, der vor fünfzehn Jahren mit der Frau eines anderen durchgebrannt sein soll, aber die gebuchte Schiffspassage nach San Francisco nie angetreten hat.
Als auch Stanley ermordet aufgefunden wird, ermittelt Archer auf einmal nicht nur in der Entführung des Braodhurst-Jungen, für die ein halbwüchsiges Paar verantwortlich zu sein scheint, sondern auch in der Mordsache, deren Wurzeln in einem Verbrechen liegen, das bereits vor fünfzehn Jahren begangen worden ist. Je mehr sich Archer mit dieser Geschichte aus Leidenschaften, Lügen, Erpressung und Affären auseinandersetzt, desto verworrener präsentiert sich das Beziehungsgeflecht zwischen allen Beteiligten.
„Ich begann zu ahnen, wo das Problem lag. Ein gar nicht mal seltenes Problem, das entsteht, wenn Familien sich in eine so fade und erstickende Traumwelt einspinnen, dass die Kinder schließlich ausbrechen, um sich an den scharfen Kanten der erstbesten sich bietenden Realität zu wetzen. Oder sich mit Hilfe von Drogen ihre eigene Traumwelt schaffen.“ (S. 135) 
Neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zählt Ross Macdonald (1915 – 1983) zu den großen Autoren der amerikanischen Kriminalliteratur, und die Neuübersetzung von Karsten Singelmann des im Original 1971 erschienenen Klassikers „Der Untergrundmann“ bei Diogenes zeigt auch eindrucksvoll, warum Macdonald nicht nur ein begnadeter Krimiautor, sondern einfach ein grandioser Erzähler gewesen ist.
Bereits mit der Einführung der klassischen Dreieckskonstellation einer einsamen Frau, des eifersüchtigen Ehemanns und des gut beobachtenden Außenseiters, der unversehens zwischen die Fronten gerät, hat Macdonald einen Konflikt initialisiert, der sich im Verlauf der weiteren Geschichte immer weiter fein verästelt, bis alle Beteiligten irgendwie ihre Wunden zu lecken und lange verborgene Geheimnisse preiszugeben haben.
Mit Lew Archer schuf Macdonald dabei einen sympathischen Protagonisten, der ebenso wie die Menschen, mit denen er in dieser Geschichte zu tun hat, unter großer Einsamkeit leidet, der aber im Gegensatz zu den meisten von ihnen zu großer Empathie fähig ist und vor allem den Frauen stets mit Respekt und oft sogar großer Sympathie begegnet, was für die Kriminalliteratur jener Zeit absolut außergewöhnlich gewesen ist, wie auch Donna Leon in ihrem für die Neuübersetzung extra verfassten Nachwort bemerkt.
„Der Untergrundmann“ zeichnet sich bei allen vertrackten Wendungen, die die Geschichte im Verlauf von zwei ereignisreichen und durch einen verheerenden Waldbrand überschatteten Tagen nimmt, durch eine geschliffene Sprache und großartige Figurenzeichnung aus, wobei die Flammen des Waldbrands nicht nur das Zuhause der Menschen bedrohen, sondern gleichsam als Metapher für die Zerstörung menschlicher Schicksale stehen. Auf die weiteren Neuübersetzungen klassischer Lew-Archer-Romane darf der Krimi- und Literaturfreund deshalb mehr als gespannt sein.

Jussi Adler-Olsen – „Takeover – Und sie dankte den Göttern …“

Sonntag, 8. November 2015

(dtv, 592 S., HC)
Nach siebenundzwanzig Jahren, die die Halbindonesierin Nicky Landsaat auf der Schattenseite von Amsterdam verbracht hat, sind ihre Examensnoten von der Handelshochschule so gut, dass sie ihrem tyrannischen Vater und ihren bereits vom rechten Weg abgekommenen Geschwistern Bea und Henk entfliehen kann. Als sie im August 1996 die Einladung zu einem Traineekursus bei der Investmentfirma Christie N.V. erhält, gelingt es ihr tatsächlich, trotz der verspäteten Anmeldung einen der begehrten Trainee-Plätze zu ergattern und das Vertrauen des Geschäftsführers Peter de Boer zu gewinnen.
Der hat nicht nur mit einer Anklage durch die Eltern seiner Frau Kelly mit kämpfen, die ihm vorwerfen, Kelly in den Selbstmord getrieben zu haben, sondern bekommt es auch mit dem undurchsichtigen wie skrupellosen Marc de Vires zu tun. Dieser unterhält Kontakte zur CIA unterhält und beauftragt de Boer mit einem heiklen Auftrag im Irak, den er nicht ablehnen kann. Um herauszufinden, was de Vires vorhat, schleust sich Nicky als Kindermädchen für dessen Neffen Dennis ein …
„Als sie de Vires‘ Korrespondenz entdeckte, überlegte Nicky einen Augenblick lang, den Computer auszuschalten. In diesem sehr kurzen Moment beschlich sie nicht nur eine ungute Ahnung von Unglück, Blut und Gewalt. Ihr wurde plötzlich auch das Ausmaß ihrer Neugier bewusst, ihr Ehrgeiz und besonders die von Liebe kaum noch zu unterscheidende Hingabe, die sie für Peter de Boer empfand und für alles, was er repräsentierte. Nicky feuchtete ihre Fingerspitzen an, rieb sie aneinander und ließ sie dann über die Tastatur gleiten, als zöge eine übernatürliche Kraft sie an einen vom Schicksal bestimmten Ort.“ (S. 308) 
Seit der norwegische Thriller-Autor Jussi Adler-Olsen mit seiner Reihe um Carl Mørck vom Sonderdezernat Q die internationalen Bestsellerlisten gestürmt hat, erscheinen zwischenzeitlich auch Adler-Olsens ältere Werke, die bislang aber nicht an die Qualität seiner Erfolgsreihe anschließen konnten. Das trifft auch auf „Takeover“ zu. Dabei beginnt der Roman vielversprechend: Eine junge Frau bekommt die Chance, dem Elend, in dem ihre Familie lebt, mit ihrer hervorragenden Ausbildung zu entkommen, und lässt sich auf eine gefährliche Beziehung mit ihrem Gönner Peter de Boer ein, die weit über berufliches Engagement hinausgeht. Doch auch wenn Adler-Olsen die schwierigen Familienverhältnisse sowohl bei den Landsaats als auch bei den de Boers und den de Vires‘ herauszuarbeiten versucht, wirken die Charakterisierungen nur skizziert, so dass der Leser kaum Identifikationsmöglichkeiten mit den Figuren bekommt, am ehesten wohl mit der taffen Protagonistin Nicky Landsaat.
Was dem Roman allerdings fast zum Verhängnis wird, sind die irgendwann unüberschaubaren politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Verwicklungen, die den Lauf der Geschichte immer wieder ins Stocken geraten lassen. Adler-Olsen macht in „Takeover“ viele Fässer auf. Es geht um wirtschaftlichen Konkurrenzkampf, bei dem jedes noch so unlautere Mittel recht ist, es geht um familiäre Tragödien und schließlich um den Krieg um Öl, in den nicht nur der Irak und Kuwait verwickelt sind, sondern natürlich auch die USA, so dass die CIA auch ihre Finger im Spiel hat.
So bietet der komplexe Plot viele Möglichkeiten für Verrat, Intrigen, Gewalt, Folter und Mord, aber auch für ebenso viele Wendungen, Nebenhandlungen und Ablenkungsmanöver.
Immerhin gelingt es dem Autor, bei der zerfaserten Dramaturgie dennoch Spannung aufzubauen. Mørck-Fans werden mit diesem hochpolitischen und komplexen Thriller nicht unbedingt was anfangen können, aber lesenswert ist dieses Frühwerk aus dem Jahr 2003 (und neu aufgelegt im Jahr 2008) allemal. Schließlich sind die hier angerissenen Themen nach wie vor hochaktuell.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Takeover"

Dennis Lehane – „Am Ende einer Welt“

Freitag, 30. Oktober 2015

(Diogenes, 394 S., HC)
Mit seinen zwei Destillerien, einer Phosphatmine und Anteilen an verschiedenen Firmen in seiner Heimatstadt Boston zählt Joe Coughlin Anfang der 1940er Jahre in seiner Wahlheimat Ybor City nicht nur als einer größten Arbeitgeber und Investoren, sondern auch gütiger Spender und Wohltäter. Seine von ihm veranstalteten Partys sind legendär und vereinen wie selbstverständlich die prominenten Größen der halblegalen und legalen Gesellschaft.
Seit seine Frau verstorben ist, agiert Joe nur noch im Hintergrund als consigliere der Familie Bartolo, stellt aber so den Mittelsmann für das gesamte Verbrechersyndikat Floridas dar und kontrolliert darüber hinaus mit Meyer Lansky Kuba und den Transportweg für Rauschgift von Südamerika bis nach Maine.
Doch sein Leben als anerkannter Geschäftsmann und Vater des kleinen Tomas gerät in starke Turbulenzen, als er durch die wegen Mordes an ihrem Mann inhaftierte Theresa Del Fresco die Botschaft übermittelt bekommt, dass ein Killer auf ihn angesetzt ist. Da sich Joe überhaupt nicht vorstellen kann, wer ein Interesse daran haben könnte, sein Licht auszublasen, beginnt eine zermürbende Suche nach dem Killer …
„Natürlich hatte man schon früher versucht, ihn umzubringen, aber damals hatte es gute Gründe gegeben – ein Mentor war zu dem Schluss gekommen, dass Joe größenwahnsinnig geworden sei; davor waren es Mitglieder des Klan gewesen, denen es nicht besonders gefiel, dass ein bleicher Yankee ihnen im eigenen Revier zeigte, wie man richtig Geld machte; und davor war es ein Gangster gewesen, in dessen Freundin er sich verliebt hatte. All das waren gute Gründe gewesen.
Warum ich?“ (S. 138) 
Nach „In der Nacht“ erzählt der amerikanische Bestseller-Autor Dennis Lehane mit „Am Ende einer Welt“ die Geschichte der Coughlin-Familie, die in „Im Aufruhr jener Tage“ ihren Anfang nahm, weiter. Während es im Auftakt der Coughlin-Reihe um den aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Thomas Coughlin ging, der sein Glück in Hollywood versuchte, thematisierte „In der Nacht“ den Aufstieg seine jüngeren Bruders Joe zur Unterweltgröße in Lehanes Heimatstadt Boston.
In dem neuen Werk ist es nicht mehr Coughlin, der die Fäden in der Unterwelt zieht, sondern Dion Bartolo, aber in dem existentiellen Drama steht Coughlin einmal mehr ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Wie Lehane die Fallstricke der mächtigen italienischen Familien knüpft, bietet einmal mehr ganz großes Kino, wie Lehanes Hollywood-Vorlagen „Gone, Baby, Gone“, „Mystic River“, „Shutter Island“ und die Drehbücher zu drei Folgen der gefeierten Serie „The Wire“ bereits dokumentiert haben.
Der preisgekrönte Bestseller-Autor trifft auch in „Am Ende einer Welt“ immer den richtigen Ton, beschreibt die unheilschwangere Atmosphäre der bleigetränkten Unterwelt von Ybor City so eindrücklich, als wäre man mittendrin. Das liegt nicht nur an der packenden Handlung, die ohne überflüssige Nebenplots auskommt, sondern auch an der feinen Charakterisierung der Figuren und der engen Familienbindungen, die im Ehrenkodex der Italiener tief verwurzelt sind.
Fortsetzung folgt – hoffentlich …
Leseprobe Dennis Lehane - "Am Ende einer Welt"

Jason Starr – „Phantasien“

Sonntag, 25. Oktober 2015

(Diogenes, 393 S., Pb.)
Auf der Dinnerparty im neuen, 2,6 Millionen Dollar teuren Haus der Lerners in Bedford Hills beobachtet Deb Berman, wie ihr Mann Mark – wenn auch nur kurz – die Hand ihrer gemeinsamen Nachbarin Karen Daily hält. Auf der Heimfahrt nach South Salem macht sie ihm eine Szene, verlangt, dass er sich von der geschiedenen Frau, die bereits durch ihre verschiedenen Internet-Bekanntschaften einen gewissen Ruf genießt, fernhalten soll, obwohl sie eine gemeinsame Freundin ist und ihre Kinder Elana und Matthew mit ihren eigenen, Riley und Justin, ebenfalls miteinander befreundet sind.
Unausgesprochen zwischen beiden bleibt, dass Mark sich tatsächlich nichts sehnlicher wünscht, als mit Karen zusammen zu sein, und auch fest davon überzeugt ist, dass Karen seine Gefühle erwidert. Deb wiederum unterhält eine Affäre mit dem 18-jährigen Highschool-Abbrecher Owen Harrison, der in dem örtlichen Country Club jobbt, wo die Bermans und Karen natürlich auch Mitglied sind.
Als Deb dort wenige Tage nach dem Streit Mark wieder mit Karen sieht, fliegen diesmal zwischen Karen und Deb die Fetzen. Auf einmal wird sich Deb aber auch bewusst, dass sie die Scheidung will und dass es keine gute Idee gewesen ist, eine Affäre mit Owen anzufangen …
„Zum ersten Mal, wurde ihr klar, sah sie ihn so, wie Riley und wahrscheinlich alle anderen ihn sahen – er hatte eindeutig etwas Abseitiges an sich. Er studierte nicht, wohnte bei seinen Eltern und hatte einen Aushilfsjob ohne Aufstiegschancen. Schlimmer noch, er hatte weder echte Interessen noch Ehrgeiz, und seine Persönlichkeit war nicht sonderlich interessant. Er war weder witzig noch klug, noch ein amüsanter Gesprächspartner. Aus ihrer neuen Perspektive als getrennte Frau konnte sie nichts besonders Faszinierendes an ihm erkennen.“ (S. 119) 
Der 1966 in Brooklyn geborene, immer noch in New York lebende Autor Jason Starr („Panik“, „Dumm gelaufen“) blickt mit seinem neuen, sehr humorvollen Thriller-Drama „Phantasien“ hinter die schillernden Kulissen eines wohlhabenden Vororts in New York, wo keine freundschaftliche wie amouröse Beziehung das ist, wonach sie aussieht.
Hinter den leuchtenden Statussymbolen schicker Häuser, teurer Autos, exklusiver Club-Mitgliedschaften und traditioneller familiärer Bindungen tobt in der Savage Lane nicht nur ein Zickenkrieg. Hier werden vor allem verbotene und gefährliche Begierden geweckt, verwirklicht, verheimlicht und abgetan, schließlich auch mit tödlicher Gewalt beendet.
Starr beschreibt die liebestollen Verwicklungen zwischen Teenagern und Erwachsenen in lockerem Ton, lässt zwischen den Zeilen aber jede Menge Sarkasmus durchsickern, der die großen Lebens- und Liebes-Lügen als zerstörerischen Selbstbetrug enttarnt.
Dass am Ende kaum jemand ohne Schaden aus dieser liebestollen Geschichte herauskommt, ist da nur konsequent.
Leseprobe Jason Starr - "Phantasien"