John Irving – „Straße der Wunder“

Sonntag, 10. April 2016

(Diogenes, 776 S., HC)
Juan Diego hat zwei gänzlich voneinander getrennte und völlig unterschiedliche Leben geführt, wie er sagt - eines als Müllkippenkind in Mexiko, das andere nach seinem Umzug nach Iowa in der amerikanischen Erfahrungswelt. Man könnte auch sagen, ein Leben sei real gewesen, das andere erfunden, eines in der Erinnerung, das andere in seinen Träumen …
Juan wächst mit seiner unverständlich sprechenden Schwester Lupe auf einer Mülldeponie im mexikanischen Oaxaca auf. Die als Prostituierte arbeitende Mutter hat die beiden Kinder früh im Stich gelassen und sie in die Obhut des von jesuitischen Priestern und Nonnen geführten Waisenhauses gegeben. Sie sind eine von nur zehn Familien, die in der Siedlung Guerrero leben und auf der Deponie das Sammeln und Sortieren von Glas, Aluminium und Kupfer übernehmen. Da Juan sich aber auch das Lesen selbst beigebracht hat, wird er von den beiden alten Jesuitenpriestern Alfonso und Octavio auch der „Müllkippenleser“ genannt, und Bruder Pepe fühlt sich als Lehrer an der Jesuitenschule dafür zuständig, Juan mit geeignetem Lesestoff zu versorgen.
Aber auch seine Schwester Lupe ist mit einer besonderen Gabe gesegnet. Sie kann in den Gedanken anderer Menschen lesen und – etwas weniger zuverlässig – die Zukunft vorhersagen. Ihr gemeinsames Leben nimmt eine schicksalhafte Wende, als sie eine Anstellung im Zirkus Circo las Maravillas finden, Juan, der seit einem Unfall im Alter von vierzehn Jahren hinkt, als Hochseilartist und Lupe als Wahrsagerin.

Vierzig Jahre später ist aus Juan Diego ein bekannter Schriftsteller geworden. Er unternimmt eine Reise auf die Philippinen, die sein ehemaliger Student und in Manila mit seinen erbaulichen Romanen recht bekannte Autor Clark French organisiert hat, und erinnert sich an seine Kindheit auf der Deponie, die Zeit im Zirkus und seine Begegnung mit Miriam und ihrer Tochter Dorothy, die ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchen.

„Miriam und Dorothy waren so sehr mit seinen Träumen verwoben, dass er sich sogar fragte, ob die beiden Frauen etwa nur in seinen Träumen existierten. Nur – existieren mussten sie, denn schließlich hatten andere sie ja auch gesehen!“ (S. 484) 

Der amerikanische Bestseller-Autor John Irving, dessen Romane „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ auch erfolgreich verfilmt worden sind, hat schon immer ein feines Gespür dafür gehabt, außergewöhnliche Figuren zu kreieren, die in ihrem ganz eigenen Universum leben und fast schon berauschend magische Geschichten erleben. Im Mittelpunkt seines neuen Romans steht vor allem der auf einer Müllkippe aufgewachsene Schriftsteller Juan Diego Guerrero, der sich während seiner Philippinen-Reise an die Geschichte seines Lebens erinnert, das untrennbar mit seiner außergewöhnlichen Schwester, dem Deponiechef el jefe, den Jesuitenpriestern und einigen Frauen verbunden ist.

Da Juan Diego aber ein geborener Geschichtenerzähler ist, wird gerade im späteren Verlauf des Romans nicht ganz klar, was er tatsächlich erlebt oder vielleicht nur erfunden oder geträumt hat, zumal er unter dem wechselnden Einfluss von Betablockern und Viagra steht. Interessant herausgearbeitet ist dabei vor allem das Verhältnis von Juan und seiner Schwester Lupe. Dadurch, dass nur er versteht, was Lupe für die meisten anderen unverständlich von sich gibt, entsteht zwischen den beiden Waisen eine so innige Bindung, dass Lupe eine folgenschwere Entscheidung trifft, um ihrem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen.

Aber auch die Beziehung zwischen dem autodidaktisch gebildeten Juan und seinen jesuitischen Lehrern bietet viel Raum für die Auseinandersetzung mit dem Glauben an sich, dem Glauben an Wunder, dem Tod und der Literatur. In letzter Hinsicht wird auch die Beziehung zwischen Juan und Clark, zwischen Lehrer und ehemaligem Studenten interessant, wenn es um die Qualität und die Wurzeln der Literatur geht. Kann gute Literatur nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz des Schriftstellers gedeihen, oder ist es eher die Phantasie, die Autoren zu großen Werken inspiriert?

Und schließlich thematisiert Irving in seinem umfangreichen Roman auch den Umgang mit der eigenen Biografie. Was macht das Individuum aus? Sind es seine Taten, seine Erinnerungen, seine Träume, seine Erfahrungen? All diese Fragen und Themen verwebt Irving zu einem schillernden, in jeder Hinsicht Grenzen sprengenden Roman, dessen einzige Schwäche darin besteht, dass er seine sympathischen Hauptfiguren nie wirklich zur Ruhe kommen lässt und die Geschichte(n) stellenweise unnötig ausschweifend erzählt, so dass hin und wieder der Faden verloren geht. Zum Ende hin bekommt Irving wieder die Kurve und zu alter Stärke zurück, führt die losen Enden gekonnt zusammen. „Straße der Wunder“ ist ein Roman über das Wunder des Lebens und die grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie im Glauben und in der Literatur, in Träumen und Erzählungen zum Ausdruck kommen. Es geht aber auch um Liebe und Tod, Sex, Opfer und Verlust, die Heimat und das Fremde.  Irving erweist sich einmal mehr als Meister, all diese großen Themen in einem bunten Fabulierkunstwerk zu vereinen und den Leser mit Figuren bekannt zu machen, die man so schnell nicht vergisst.


Benedict Wells – „Spinner“

Freitag, 1. April 2016

(Diogenes, 309 S., HC)
Mit seinen zwanzig Jahren fühlt sich Jesper Lier nicht wirklich wohl in seiner Haut. Als er von München nach Berlin gezogen ist, hatte er erst zweihundert Seiten seines ambitionierten Romans „Der Leidensgenosse“ geschrieben, im vergangenen Jahr ist das Werk unter dem Einfluss von Schwindelanfällen, Alkohol und jeder Menge Schlaftabletten zu einem Monstrum von über tausend Seiten mutiert. Er verdient kein Geld, bekommt bei Frauen nichts geregelt und verlässt seine abgeranzte Wohnung am Prenzlauer Berg mit der Dusche, die exakt anderthalb Minuten lang warmes Wasser von sich gibt, nur für sein Praktikum beim „Berliner Boten“ und um sich etwas zu essen zu kaufen.
Auf dem Weg zur Uni, wo er sich regelmäßig pro forma immatrikuliert, um weiterhin Kindergeld beziehen und den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, trifft er die Philosophiestudentin Miriam Schmidt und verliebt sich in sie. Während er auf der einen Seite versucht, ihr seine Liebe zu gestehen, bemühen sich seine Freunde Gustav und Frank massiv darum, Jesper die Bundeshauptstadt schmackhaft zu machen. Inmitten von beruflicher Desorientierung, Versagensängsten als Schriftsteller und unglücklicher Verliebtheit bekommt es Jesper auch noch mit zwei russischen Ganoven zu tun, die aus seinem eigenen Roman entsprungen zu sein scheinen und ihm das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist …
„Wie einfach war alles mal gewesen, und was hatte ich nur daraus gemacht. Ich kam nicht mehr raus aus diesem Alptraum. Schon seit Jahren kam ich nicht mehr raus. Ich wollte dieses Leben hier doch gar nicht, ich wollte, dass alles wieder so fehlerlos und neu war wie früher.“ (S. 236) 
Seit seinem erfolgreich bei Diogenes im Jahre 2008 veröffentlichten und im vergangenen Jahr mit Christian Ulmen in der Hauptrolle verfilmten Debütroman „Becks letzter Sommer“ zählt der 1984 in München geborene Schriftsteller Benedict Wells zu den interessanten jungen Autoren hierzulande, so dass der Züricher Verlag Wells‘ eigentliches Debüt, „Spinner“, 2009 nachfolgen ließ.
Der Romantitel ist dabei sympathisches Programm. Mit dem Ich-Erzähler Jesper Lier hat Wells mit heftigem Augenzwinkern ein gleichaltriges Alter Ego geschaffen, das etwas überfordert scheint, sein neues Leben in einer anderen Großstadt auf die Reihe zu kriegen, worunter nicht nur die Arbeit an seinem großen Roman zählt, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen jeglicher Art und die zu Frauen im ganz Besonderen.
Herausgekommen ist eine luftig-leicht geschriebene Großstadt-Odyssee, in der die Angst vor dem Scheitern auf verschiedenen Ebenen den jungerwachsenen Lebensmut zu erdrücken droht und den Protagonisten aber nur von einer misslichen Lage in die nächsten katapultiert. Wells beschreibt diese durchaus verständlichen Ängste meist mit einem so erfrischenden und warmherzigen Humor, dass der Leser stets mit Jesper mitfühlt, leidet und hofft. Allerdings fällt der Ton manchmal auch etwas zu lakonisch und salopp aus, was zu dem ambitionierten Schriftsteller Jesper so gar nicht passt.
Leseprobe Benedict Wells - "Spinner"

John Grisham – „Der Gerechte“

Dienstag, 29. März 2016

(Heyne, 415 S., HC)
Sebastian Rudd ist ein unabhängiger Strafverteidiger, der weder über eine herkömmliche Kanzlei noch über einen Telefonbucheintrag verfügt. Stattdessen stellt ein umgebauter und zweckmäßig möblierter Van das fahrende Büro des prominenten Mannes dar, mit dem er und sein bulliger Chauffeur Partner von einem Gerichtsort zum nächsten fährt. Rudd trägt legal eine Waffe, weil er immer wieder von Leuten bedroht wird, die nicht billigen, welchen Abschaum er verteidigt. Momentan sitzt Rudd in dem Provinzkaff Milo fest, wo er die Pflichtverteidigung von Gardy Baker übernommen hat, einem achtzehnjährigen Schulversager, der angeklagt worden ist, zwei kleine Mädchen umgebracht zu haben.
Rudd ist sich durchaus im Klaren darüber, dass die meisten seiner Mandanten schuldig sind, doch in diesem Fall ist er sich sicher, dass Gardy praktisch schon am Tag seiner Verhaftung verurteilt wurde und die Polizei alle Anklagepunkte erfunden und Beweismittel gefälscht hat. Der Anwalt macht allerdings bald den richtigen Täter ausfindig und benutzt den Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Tadeo Zapate, an dessen Karriere Rudd mit fünfundzwanzig Prozent beteiligt ist, dazu, DNA-Spuren des eigentlichen Mörders zu besorgen. Doch der Staatsanwalt Huver glaubt nach wie vor an seinen Fall …
„Wie so oft geht es bei diesem Prozess nicht um die Wahrheit, sondern ums Gewinnen. Und da Huver gewinnen will, ohne Beweise in der Hand zu haben, muss er lügen und betrügen, als wäre die Wahrheit sein schlimmster Feind. Ich habe sechs Zeugen, die unter Eid aussagen, dass mein Mandant zur Tatzeit weit vom Tatort entfernt war, doch keiner davon wird ernst genommen. Huver hat fast zwei Dutzend Zeugen antreten lassen, die bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter als Lügner bekannt sind. Dennoch saugen die Geschworenen ihre Lügen auf, als wäre es die Heilige Schrift.“ (S. 75) 
Außerdem hat Rudd den Kriminellen Link Scanlon verteidigt, der wegen des Mordes an einem Richter vor sechs Jahren einstimmig zum Tode verurteilt wurde. Scanlons ursprünglicher Verteidiger wurde kurz nach Scanlons Verlegung in die Todeszelle erhängt vorgefunden. Seitdem führt Scanlon seine Geschäfte aus dem Gefängnis weiter. Kurz vor der Vollstreckung des Urteils gelingt Scanlon aber eine spektakuläre Flucht.
Und schließlich hat es Rudd mit dem abgebrühten Arch Sanger zu tun, der beschuldigt wird, vor neun Monaten eine junge Frau namens Jiliana Kemp entführt zu haben. Daneben trifft er sich jeden dritten Freitag im Monat mit seiner 39-jährigen Ex-Frau Judith Whitly, die kurz vor der Trennung von Rudd schwanger wurde und mittlerweile mit Frauen verkehrt. Um ihren gemeinsamen Sohn Starcher, für den Judith das alleinige Sorgerecht besitzt, streiten sich die beiden regelmäßig. Die Lage spitzt sich zu, als Starcher in einem von Rudds Fällen als Druckmittel eingesetzt wird …
Im Klappentext zu seinem neuen Roman macht John Grisham seine Leser mit dem Umstand vertraut, dass er selbst zehn Jahre lang als unabhängiger Anwalt tätig gewesen ist, sich aber nur mit so langweiligen Angelegenheiten wie Testamenten und notariellen Urkunden befassen musste. Wie die bemerkenswertesten Helden seiner Bestseller-Romane hätte Grisham gern jemanden verteidigt, der ein Kapitalverbrechen begangen hat.
Sebastian Rudd, der Ich-Erzähler in „Der Gerechte“, stellt insofern das Möchte-gern-Alter-Ego von John Grisham dar, doch ein wirklicher Sympathieträger ist Rudd nun auch nicht. Seine ätzenden Kommentare auf voreingenommene Jurys, korrupte Polizisten und erfolgshungrige Staatsanwälte wirken diesmal dermaßen überzogen und moralinsauer, dass die zu verhandelnden Fälle in „Der Gerechte“ fast zur Nebensache werden.
Zwar sind einige von ihnen durchaus interessant, aber echte Spannung stellt sich nie ein. Dazu lässt auch die persönliche Komponente – hier vor allem in dem wenig überzeugenden Erziehungsstreit thematisiert – an emotionaler Tiefe zu wünschen übrig. Rudd ist ein durch und durch zynischer Vertreter seiner Zunft, der selbst mit harten Bandagen kämpft, sobald die Gegenseite damit angefangen hat, bleibt aber seinen Prinzipien treu. Das ist zwar durchaus unterhaltsam, aber durch die stete Übertreibung verlieren die Geschichten an Spannung.
Leseprobe John Grisham "Der Gerechte"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 2) „Schwarzes Eis“

Sonntag, 27. März 2016

(Knaur, 364 S., eBook)
Harry Bosch schiebt gerade Bereitschaftsdienst an Weihnachten und bereitet sich bei Coltranes „Song of the Underground Railroad“ sein Weihnachtsmenü zu, als der Polizeiscanner nach einem Deputy Chief in einem Motel in Hollywood verlangte. Kaum hat sich Bosch gefragt, warum man ihn als Bereitschaftsdetective von Hollywood nicht als erstes benachrichtigt hat, macht er sich schon auf den Weg. Offensichtlich hat sich Boschs Kollege Calexico Moore mit einer doppelläufigen Schrotflinte den Kopf weggeschossen, der Fall wurde an das Raub-Mord-Dezernat abgegeben. In seiner rechten Hosentasche finden die Ermittler einen Zettel, auf der nur eine Zeile geschrieben steht: „Ich fand heraus, wer ich war“.
Moore leitete die Einheit, die im Bezirk den Straßenhandel mit Drogen bekämpfte, war von seiner Frau getrennt und in das Visier des Dezernats für interne Ermittlungen geraten. Bosch hatte sich vor einigen Wochen mit Moore getroffen, um Hintergrundinformationen zu einem ermordeten Drogenkurier zu bekommen, der mit einer Superdroge zu tun hatte, die als Schwarzes Eis bezeichnet wird und eine Mixtur aus Kokain, Heroin und PCP darstellt.
Statt sich weiter mit dem Fall zu beschäftigen, bekommt Bosch von seinem Chief Pounds den Auftrag, einige Fälle des ausgebrannten Kollegen Lou Porter zu übernehmen und vor Jahresende einige davon zum Abschluss zu bringen, um die Statistik zu verbessern. Als er sich Porters jüngste Fälle ansieht, stößt er auf ein unbekanntes Opfer, das in den Akten als Juan Doe #67 geführt wird. Der ungefähr 55-jährige Lateinamerikaner wies eine Tätowierung auf und wurde von Moore hinter einem Restaurant gefunden, einen Tag, bevor er sich in einem Motel das Gesicht zerfetzte. Doch Bosch glaubt nicht an die Selbstmordtheorie macht sich auf nach Mexiko, um den Verbindungen zwischen Juan Doe, Moore und dem Drogenbaron Humberto Zorillo nachzugehen.
„Vor zwei Nächten hatte Bosch in einem heruntergekommenen Hotelzimmer gestanden und aus dem, was er gesehen hatte, auf Selbstmord eines Polizisten geschlossen. Es war ein Irrtum gewesen. Er ließ die Fakten zusammen mit den neuen Informationen Revue passieren und wusste, er hatte es mit der Ermordung eines Cops zu tun, die mit den anderen Morden zusammenhing. Wenn Mexicali die Nabe des Rads war, dann war Moore der Bolzen, der das Rad festhielt.“ (Pos. 2271) 
Auch in seinem zweiten Fall erweist sich Harry Bosch als unbequemer Detective, der sich immer wieder querstellt, wenn sich seine Vorgesetzten als sture Bürokraten erweisen, denen es nicht um Gerechtigkeit, sondern gute Aufklärungsquoten geht. Auch wenn Bosch in den eigenen Reihen wenig Freunde hat, findet er bei seinen Ermittlungen immer wieder Verbündete, diesmal vor allem in Mexico, wo es zum Ende hin zu einem furiosen Showdown mit halbwegs überraschendem Ende kommt.
Schon mit seinem zweiten Bosch-Roman „Schwarzes Eis“ hat Michael Connelly 1993 einen sympathischen Antihelden geschaffen, der mit seiner geradlinigen und ehrlichen Art aber auch einen Schlag bei den Frauen hat und so ein wenig Abwechslung vom rauen Polizeialltag genießen kann.
Leseprobe Michael Connelly - "Schwarzes Eis"

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 1) „Wilder Winter“

Mittwoch, 23. März 2016

(Shayol, 190 S., Pb.)
An einem Nachmittag, als Hap Collins und sein bester Kumpel Leonard Pine mit einer zwölfkalibrigen Flinte auf Tontauben schießen, taucht unvermittelt Haps Ex-Frau Trudy auf. Nachdem die beiden ihr Wiedersehen im Schlafzimmer ausgiebig zelebriert haben, rückt Trudy mit ihrem eigentlichen Anliegen heraus: Ihr Ex-Mann Howard, der sich in der Antiatombewegung engagierte, wurde zu zwei Jahren in Leavenworth verurteilt, wo er den Gangster Softboy McCall kennenlernte. Softboy hatte an dem Tag seiner Festnahme eine osttexanische Bank ausgeraubt, doch auf der Flucht wurde das Auto in den Bottoms versenkt.
Das Geld konnte in ein Boot umgeladen werden, doch wurde dieses von einem Baumstamm gerammt, Softboy rettete sich ans Ufer und halluzinierte drei Tage lang bei hohem Fieber vor sich hin. Nun soll Hap als Bottoms-Kenner mit dabei helfen, das Geld zu bergen, als Belohnung winken zweihunderttausend Dollar.
Hap lässt sich auf den Deal ein, aber nur mit Leonards Beteiligung. Doch kaum bringt Trudy die beiden Freunde mit Howard und seiner Truppe zusammen, braut sich echter Ärger zusammen, wie es Leonard seinem Freund im Vorfeld prophezeit hatte und nun auch Howards Kumpel Paco feststellen muss.
„Ich vermute mal, sie ist nicht der Typ für längere Geschichten. Sie sammelt gern Zweige und Zunder fürs Feuer, sie entfacht es auch gern, aber sie will nicht dabei sein, wenn es richtig heiß wird und kräftig raucht. Bis dahin ist sie längst über alle Berge und sammelt neue Zweige, entzündet neue Feuer und läuft schon wieder fort, bevor es richtig losgeht.“ (S. 69) 
Mit „Wilder Winter“ hat der texanische Autor Joe R. Lansdale 1990 den Auftakt für seine bis heute sehr populäre Buddy-Reihe um den weißen, heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap Collins und den schwarzen, schwulen Vietnamveteranen Leonard Pine abgeliefert. Dabei gelingt ihm eine Mischung aus atmosphärisch stimmigen Südstaaten-Roman und packender Gauner-Story, wobei der besondere Dialogwitz zum Markenzeichen der Hap-&-Leonard-Reihe geworden ist.
Wie sich die beiden Gelegenheitsarbeiter, die sich auf den texanischen Rosenfeldern durchschlagen, über ihre sexuellen Beziehungen, Rassismus und mehr oder weniger sinnvolle Entscheidungen in ihrem Leben streiten, ist einfach wunderbar zu lesen und macht Lust auf die Fortsetzungen, die zunächst bei Rowohlt und nun teilweise im Dumont- und im Golkonda-Verlag erschienen sind.

Fabio Volo – „Einfach losfahren“

Dienstag, 22. März 2016

(Diogenes, 286 S., Tb.)
Der fünfunddreißigjährige Michele lebt mit seiner Frau Francesca in einer italienischen Kleinstadt und wartet im Krankenhaus auf die Geburt seiner Tochter. Die Wartezeit nutzt er dazu, niederzuschreiben, wie er zu dem Mensch geworden ist, der jetzt neben dem Kreißsaal auf das neue Leben wartet, das ihm seine Frau schenkt. Bevor er Francesca kennenlernte, arbeitete Michele als Journalist in der Redaktion einer Wochenzeitschrift. Zu der Zeit suchte er nach der Frau seines Lebens, weil er im Grunde genommen gar kein Leben hatte. Allein die seit der Mittelschule andauernde Freundschaft mit Federico hat dazu geführt, sich darüber klar zu werden, was jeder vom Leben erwartet. Bis dahin haben die beiden Freunde ihr Leben nach dem immer gleichen Muster gelebt, das aus Arbeit und Ausgehen, mittwochabendlichen Tippkick-Spielen, alkoholischer Selbstzerstörung am Wochenende und sonntäglicher Erholung von diesen Exzessen bestand.
Mit achtundzwanzig begann Fede dann das Gefühl zu entwickeln, sein Leben wegzuwerfen und nicht etwas Bedeutendes zu tun. Wenig später trennten sich Federicos und Micheles Wege. Während Federico ohne große Abschiedsgesten davonzog, lernte Michele in einer Bar die dort arbeitende Francesca kennen und führte mit ihr eine Beziehung, deren Feuer nach wenigen Monaten wieder erloschen war.
„Ich hätte nie meine Arbeit aufgegeben wie Federico. Undenkbar. Wegen dieser Angst führte ich ein Leben, das nicht mein eigenes war. Ich lebte nicht meine Bestimmung. Möglich, dass nur ganz wenige Menschen wirklich ihrer Bestimmung gemäß leben, aber ich gehöre mit Sicherheit nicht zu ihnen. Ich lebte ein Leben, das mir praktisch zugestoßen war. Ich hatte mich darin eingenäht wie in ein Kleid und war mit der Zeit zu der Überzeugung gelangt, es wäre meins. Obwohl mir ab und zu bewusst wurde, dass es an einigen Stellen ein bisschen zwickte. Aber man gewöhnte sich an alles. An eine Arbeit, die einem keinen Spaß macht, an eine Liebe, die erloschen ist, an die eigene Mittelmäßigkeit.“ (S. 36) 
Erst die Nachricht vom Tod seines besten Freundes hat Michele wachgerüttelt. Er besuchte Federicos Freundin Sophie auf den kapverdischen Inseln und verbrachte dort neun Monate, die aus ihm einen neuen Menschen machten, bereit für einen neuen Anlauf mit Francesca …
Mit „Einfach losfahren“ hat der in Mailand, Rom, Paris und New York lebende Schriftsteller und Schauspieler Fabio Volo einen wunderbaren Selbstfindungsroman geschrieben. Indem er von den Routinen des alltäglichen Lebens und Liebens nachsinnt, weil sein bester Freund den Status quo seines eigenen Lebens in Frage stellt, malt sich der Ich-Erzähler Möglichkeiten und Träume aus, die nach der Verwirklichung des ersten Traums zu Projekten werden.
Die Einstellungen zu Freunden, Familie und Geliebten verändern sich ebenso wer Prozess zur Erkenntnis, dass es nicht darum geht, glücklich zu sein, sondern sich mit etwas Geheimnisvollen verbunden zu fühlen, das einen niemals verlässt.
Fabio Volos „Einfach losfahren“ regt zum Nachdenken über die elementarsten Themen im Leben eines Menschen an und bleibt trotz der philosophischen Tiefe, die gelegentlich an Paulo Coelhos esoterisch durchwirkten Geschichten erinnert, immer bei seinen Figuren und führt diese zu einer ermutigenden Selbsterkenntnis, die sie neue Wege beschreiten lässt.
Leseprobe Fabio Volo - "Einfach losfahren"

Richard Laymon – „Das Haus“

(Heyne, 272 S., Tb.)
Als Clara Hayes eines Abends Geräusche im verlassenen Nachbarhaus hört, ruft sie Chief Dexter Boyanski in Ashburg an, damit er dort nach dem Rechten sieht. Er hatte vor Jahren in dem Haus die brutal zugerichtete Leiche von Hester Sherwood gefunden, mit der er einmal getanzt hatte. Seit dem Massaker an der Sherwood-Familie vor fünfzehn Jahren steht das Sherwood-Haus zum Verkauf. Als Dexter am nächsten Morgen nicht zum Dienst erscheint und sein Kollege Sam Wyatt ihn in Stücke zerhackt in dessen Wohnung findet, macht sich der Cop auf die Suche nach Dexters Ex-Frau Thelma, die vor Jahren nach Milwaukee gezogen ist und offenbar wieder in der Stadt ist. Doch der entsetzliche Mord an Dexter bildet erst den Auftakt weiterer unheimlicher Ereignisse in der Kleinstadt.
Ein Unbekannter lädt zu einer Halloween-Party in dem Sherwood-Haus ein, dessen Nachbarhaus am Vorabend niederbrennt, während die darin lebende Horner-Familie spurlos verschwunden ist.
„Obwohl Sam nicht viel über Hank Horner wusste, glaubte er nicht wirklich daran, dass er etwas damit zu tun hatte. Der Hausbrand und das Verschwinden seiner Familie waren ganz sicher kein ausreichender Beweis. Allerdings fand er es merkwürdig, dass das Feuer ausgerechnet am Tag nach Dexters Ermordung ausgebrochen war. Vielleicht gab es da wirklich einen Zusammenhang, wenn auch nicht den, auf den Barney hoffte. Vielleicht hatten die Männer ja den gleichen Feind gehabt. Wer auch immer Dexter in Stücke gehackt hatte …“ (S. 165) 
Und schließlich hat sich Sam Wyatt geschworen, in seiner noch recht frischen Beziehung zur alleinerziehenden Cynthia alles richtig zu machen, doch ihr zorniger Teenager-Sohn Eric macht es ihm alles andere als leicht …
Die Lücken in Richard Laymons Oeuvre in deutscher Sprache schließen sich allmählich. Während der 2001 verstorbene amerikanische Horror-Autor schon zu Lebzeiten in seiner Heimat zu den beliebtesten Genre-Vertretern zählte, sind hierzulande im Goldmann-Verlag nur zwei Titel veröffentlicht worden, erst in den letzten Jahren haben es sich der Festa Verlag und vor allem Heyne Hardcore zur Aufgabe gemacht, sein umfangreiches Werk auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.
Mit dem 1985 im Original unter dem Titel „Allhallow’s Eve“ veröffentlichten „Das Haus“ hat Laymon eine fast schon klassische Halloween-Geschichte geschrieben, sie mit Motiven des Geisterhaus-Spuks verwoben und schließlich in eine recht oberflächliche Kriminalgeschichte gegossen, die durch Sams problematischen Frauen-Geschichten und den Neckereien der Teenager an der örtlichen Highschool ein paar persönliche und die bei Laymon obligatorischen erotische Akzente bekommt.
Besonders gelungen ist diese Mischung in diesem Fall aber nicht. Zwar führt Laymon eine ganze Reihe von Figuren ein, charakterisiert diese aber meist nur oberflächlich. Einzig die Beziehung zwischen Sam, Cynthia und Eric auf der einen Seite und zwischen Sam und der sexy Motel-Besitzerin Melody auf der anderen Seite werden etwas näher ausgeführt, ansonsten begnügt sich der Autor damit, die sexuellen Phantasien der männlichen Jugendlichen auszuführen und den wenig inspirierten Horror im Sherwood-Haus zu beschreiben.
Leseprobe Richard Laymon - "Das Haus"