Joey Goebel – „Heartland“

Donnerstag, 13. Juli 2017

(Diogenes, 714 S., Tb.)
Blue Gene ist das schwarze Schaf der superreichen Mapother-Familie, die ihren Reichtum dem florierenden Tabakunternehmen in dem beschaulichen Bashford zu verdanken hat. Statt den geplanten Weg einer Ausbildung an einer privaten Elite-Uni einzuschlagen, zog es der mittlerweile 27-Jährige vor, den Kontakt zu seiner Familie abzubrechen, sein millionenschweres Erbe nicht anzurühren und eine Karriere als einfacher Verkäufer im örtlichen Wal-Mart zu verfolgen. Mittlerweile lebt er in einem Trailer-Park und verkauft (oder verschenkt) seine in der Kindheit gesammelten Spielzeuge – vor allem Action-Figuren – auf dem Flohmarkt.
Als seine Mutter Elisabeth ihn dort aufsucht, ahnt Blue Gene, dass sie nicht ohne Grund aufgekreuzt ist: Blue Gene möchte sich doch mit seinem Bruder John und seinem Vater Henry wieder versöhnen und vor allem John dabei unterstützen, ihn in dem kommenden Wahlkampf zu unterstützen, wo John gegen seinen Konkurrenten Frick als Kongressabgeordneter kandidiert.
Um sich die Stimmen des einfachen Volkes zu sichern, soll Blue Gene demonstrieren, dass John tatsächlich das Wohl seiner Angestellten und Wähler im Sinn hat und nicht nur hohle Sprüche klopft. Der Plan scheint aufzugehen, denn John Mapother liegt bald in den Umfragen vorn, doch dann sorgt durch ein Missgeschick die Aufdeckung eines dunklen Familiengeheimnisses für Turbulenzen. Blue Gene fängt wieder an, sein eigenes Ding durchzuziehen.
Mit der Sängerin Jackie Stepchild, für die Blue Gene mehr als freundschaftliche Gefühle empfindet, verwendet er nun sein Erbe dazu, das leerstehende Gebäude des alten Wal-Marts zu kaufen und armen Menschen zu helfen, wie z.B. seinem alten Kindermädchen Bernice. Doch diese Gemeinnützigkeit können John und Henry in ihrem Wahlkampf überhaupt nicht gebrauchen, und Blue Gene muss sich fragen, was der traditionelle Begriff Familie für ihn überhaupt noch bedeutet.
„Diese Wörter haben immer Vorrang, weil sie die Ideen verkörpern, die man sein Leben lang wertschätzen soll, so hat man es uns gelehrt. Und das alles ist gut und schön, aber was macht man, wenn man herausfindet, dass Wörter wie Mom, Dad, Bruder und Familie eigentlich gar nicht in das Bild passen, das man ein Vierteljahrhundert für richtig hielt?“ (S. 450) 
Der 1980 in Henderson, Kentucky, geborene und lebende Joey Goebel hat schon mit seinen ersten Romanen „Vincent“ und „Freaks“ eindrucksvoll bewiesen, dass er eine interessante neue Stimme in der amerikanischen Literatur darstellt. Mit dem 2008 und hierzulande ein Jahr später veröffentlichten Epos „Heartland“ dringt Goebel tief in die Psyche der amerikanischen Gesellschaft ein und seziert im Mikrokosmos einer elitären Familie und eines atypischen Wahlkampfs die traditionellen Werte, die in jedem Wahlkampf thematisiert werden.
Dabei entlarvt der Autor auf ebenso kluge wie humorvolle Weise die Doppelmoral konservativer Politiker und ihrer proklamierten Werte. Besonders in den Diskussionen zwischen Familienoberhaupt Henry und seinen Söhnen John und Eugene, aber auch im späteren Wahlkampf, in dem die Punkrockerin Jackie auch eine Rolle spielt, wird deutlich, wie sehr Freiheit mit Geld und Macht einhergeht. Goebel portraitiert das überschaubare Figuren-Ensemble mit viel Liebe zum Detail und psychologischem Feingefühl. Seine klare Sprache und sein Sinn für humorvolle Pointen machen „Heartland“ zu einer erfrischenden Lektüre, bei der kritisch die Mechanismen der Macht hinterfragt werden dürfen.

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 2) „Dunkelheit, nimm meine Hand“

Dienstag, 11. Juli 2017

(Diogenes, 511 S., Pb.)
Kaum haben Angie Gennaro & Patrick Kenzie einen spektakulären Fall zu den Akten gelegt, erhalten sie einen Anruf von Eric Gault, der an der Bryce University Kriminologie unterrichtet und bei dem Kenzie damals an der University of Massachusetts ein paar Kurse belegt hatte. Erics Freundin, die renommierte Bostoner Psychologin Diandra Warren, will das Ermittler-Duo engagieren, weil sie vor einiger Zeit Besuch von einer jungen Frau bekam, die sich als Moira Kenzie und Freundin von Kevin Hurlihy vorstellte, der sie allerdings zu bedrohen schien und vor drei Wochen auch Diandra anrief, um ihr Angst einzujagen.
Gestern erhielt sie dann einen Brief mit dem Foto ihres Sohnes Jason. Kennzie und Gennaro willigen ein, Jason für einige Zeit zu beschatten, und ermitteln im Dunstkreis von Fat Freddy Constantine, dem Paten der Bostoner Mafia. Als mit Kara Rider eine alte Bekannte von Kenzie verstümmelt und gekreuzigt aufgefunden wird, führt die Spur zu einem Serienkiller, der allerdings seit Jahren im Gefängnis sitzt.
Je mehr Gennaro & Kenzie mit ihrem Aufpasser Bubba im Dreck wühlen, umso mehr häufen sich die bestialischen Morde, und Kenzie selbst gerät ins Visier des skrupellosen Killers, der in den Briefen, die er an den Ermittler adressiert hat, seine kranke Psyche offenbart.
„Ein ganz normaler Mensch, der jeden Morgen aufsteht, zur Arbeit geht und sich im Grunde für einen guten Kerl hält, hat mehr als genug Böses in sich. Vielleicht betrügt er seine Frau, vielleicht behandelt er seine Kollegen schäbig, vielleicht glaubt er insgeheim, dass es den einen oder anderen Menschenschlag gibt, der ihm unterlegen ist.
Meistens muss er sich damit nicht auseinandersetzen, dafür sorgt schon unsere Fähigkeit, uns vor uns selbst zu rechtfertigen (…)
Doch der Mann, der diesen Brief geschrieben hatte, hatte sich dem Bösen hingegeben. Er ergötzte sich am Leid anderer. Er versuchte nicht, Herr über seinen Hass zu werden. Er schwelgte darin.“ (S. 345f.) 
Bevor Dennis Lehane zu Beginn der 2000er Jahre mit seinen (erfolgreich von Clint Eastwood und Martin Scorsese verfilmten) Romanen „Mystic River“ und „Shutter Island“ zum internationalen Bestseller-Autoren avancierte, veröffentlichte er eine Reihe von fünf Romanen um die beiden Bostoner Ermittler Kenzie & Gennaro (2010 folgte mit „Moonlight Mile“ ein sechster und der bislang letzte Band der Reihe), die glücklicherweise nach und nach durch den Schweizer Diogenes-Verlag in neuer Übersetzung wiederveröffentlicht werden.
In „Dunkelheit, nimm meine Hand“ hat es das sympathische Duo, das sich auch persönlich sehr nahesteht, mit einer Reihe von besonders grausamen Morden zu tun, bei denen auch das FBI nicht recht weiterkommt. Lehane arbeitet nicht nur den Plot sehr detailliert aus, sondern taucht vor allem auch tief in das Leben und die Vergangenheit des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, in die Beziehungen zu seinem Vater, zu seiner Kollegin und Freundin Angie Gennaro und schließlich zu seiner aktuellen Lebensgefährtin Grace und deren Tochter Mae.
Am Ende des packenden Thriller-Dramas, das auf komplexe Weise Polizei-Korruption, Mafia-Verbrechen und persönliche Schicksale miteinander verknüpft, haben sich dunkle Geheimnisse ans Tageslicht begeben, sind Überzeugungen verloren gegangen und Menschen und ihre Beziehungen zueinander nicht mehr so, wie sie vorher waren. Und Dennis Lehane ist fraglos ein Meister darin, die Gründe für diese tiefgreifenden Veränderungen glaubwürdig zu inszenieren. Auf die nächsten – neu übersetzten - Fälle von Kenzie & Gennaro darf sich der Krimi-Freund mehr als freuen! 
Leseprobe Dennis Lehane - "Dunkelheit, nimm meine Hand"

Lee Child – (Jack Reacher: 16) „Der letzte Befehl“

Sonntag, 2. Juli 2017

(Blanvalet, 448 S., HC)
Der Elite-Militärpolizist Jack Reacher wird von seinem Kommandeur Leon Garber im März 1997 nach Mississippi in die Kleinstadt Carter Crossing geschickt, wo er den Mord an der siebenundzwanzigjährigen Zivilistin Janice May Chapman untersuchen soll. Das Pentagon interessiert sich deshalb für den Fall, weil es durch Fort Kelham auch ein Army-Standort ist, wo nicht nur Ranger ausgebildet werden, sondern auch zwei Kompanien aus dem 75th Ranger Regiment stationiert sind, die sich bei heimlichen einmonatigen Einsätzen im Kosovo abwechseln.
Da Chapman drei Tage nach Rückkehr von Kompanie Bravo aus dem Kosovo vergewaltigt und verstümmelt worden ist, als die heimgekehrten Ranger ihren einwöchigen Urlaub angetreten haben, liegt der Verdacht nahe, dass ein Ranger für ihren Tod verantwortlich sein könnte.
Während Reachers Kollege Duncan Munro in Fort Kelham ermittelt, soll Reacher selbst verdeckt auf der zivilen Seite auf Spurensuche gehen, allerdings wird er nach seiner Ankunft gleich vom County Sheriff, der attraktiven Elizabeth Devereux, enttarnt, die sechzehn Jahre bei den Marines gedient hat. Reacher erfährt, dass vor Chapman zwei weitere schöne Frauen auf ähnliche Weise ermordet worden sind und dass alle drei Frauen ein Verhältnis mit dem Senatorensohn Reed Riley gehabt haben, der in Fort Kelham stationiert ist.
Doch bei ihren gemeinsamen Nachforschungen, während der sich die beiden Ermittler auch persönlich näherkommen, werden ihnen durch das Pentagon zunehmend Steine in den Weg gelegt, so dass Reacher den Verdacht nicht loswird, dass in Carter Crossing etwas von höchster Stelle aus vertuscht werden soll. Schließlich scheint Reacher selbst zur Zielscheibe zu werden …
„Diese Leute wussten genau, wann ich wohin wollte.
Was bedeutete, dass sie mir um zwölf Uhr oder kurz davor im Pentagon oder schon davor auflauern würden. Im Bauch des Ungeheuers. Viel gefährlicher als hier. Keine drei Meilen entfernt, aber eine völlig andere Welt in Bezug auf die Methoden, mit denen sie dort arbeiten würden.“ (S. 327) 
Mit seinem 16. Roman um den taffen Militärpolizisten Jack Reacher unternimmt Bestseller-Autor Lee Child eine interessante Reise in die Vergangenheit seines Helden, nämlich in das Jahr 1997, als Reacher durch die Vorfälle im Militärstandort Carter Crossing seine Karriere bei der Army beenden muss. Nach so vielen erfolgreichen, packenden und auch zweimal verfilmten Romanen, in denen wir Jack Reacher nur als Ex-Militärpolizisten kennengelernt haben, der fortan ohne festen Wohnsitz und nennenswerte Habe durch die USA reist und immer wieder in heikle Situationen gerät, erfährt der Leser endlich etwas aus Reachers aktiven Dienstzeit.
Davon abgesehen bietet „Der letzte Befehl“ alle Qualitäten, die die Jack-Reacher-Romane international so beliebt gemacht haben, einen charismatischen Protagonisten, der als Ich-Erzähler messerscharf Informationen sammelt, sie in Zusammenhänge stellt und schnell, aber überlegt darauf reagiert. Durch die kurzen Sätze, die knackig-präzise Sprache, die auf den Punkt brillanten Analysen und die schnörkellos effektiv inszenierte Action fesselt der Thriller von der ersten Seite an und bietet neben kluger Ermittlungsarbeit auch würzige Zutaten wie Misstrauen, Korruption und Erotik.
Leseprobe Lee Child - "Der letzte Befehl"

Don Winslow – „Corruption“

Montag, 26. Juni 2017

(Droemer, 541 S., HC)
Zusammen mit seinen Kollegen Phil Russo, Billy O‘Neill und Big Monty, die ihm wie Brüder sind, kämpft der altgediente und allseits hochgeachtete Detective Denny Malone in der Manhattan North Special Taskforce, der gefeierten Elitetruppe des NYPD, an allen möglichen Fronten gegen Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, gegen sexuelle Gewalt, Einbrüche und Überfälle, doch vor allem gegen Drogen und Waffen, die die meisten Toten fordern.
Sie müssen sich nicht rechtfertigen, wie sie die Stadt sauber halten, nur sollte die sorgsam geschmierte Allianz zwischen staatlichen Stellen und organisiertem Verbrechen nicht in Mitleidenschaft geraten.
In seinen achtzehn Dienstjahren ist auch Malone vom rechten Weg abgekommen, schließlich muss das Haus abbezahlt und die College-Ausbildung der Kinder finanziert werden. Als er bei einer Razzia jedoch den Drogenboss Peña erschießt und sich die siebzig Kilo mexikanisches Black Tar Heroin unter den Nagel reißt, herrscht Ausnahmezustand im nördlichen Manhattan, zumal ein Cop angeklagt wird, einen schwarzen Dealer einfach erschossen zu haben.
Malones Truppe hat alle Hände voll zu tun, einen Waffendeal zu stoppen, den DeVon Carter eingefädelt hat, um Krieg gegen die Dominikaner zu führen, was Malones Vorgesetzter Captain Sykes unbedingt verhindern will, und die Gangstermeute zur Ruhe anzuhalten – schließlich verdient jeder an den Verbrechen mit. Doch dann unterläuft Malone ein Fehler und er gerät in die Fänge des FBI. Um einen annehmbaren Deal zu bekommen, muss er nicht nur Richter, die sich kaufen lassen, verraten, sondern auch seine Kollegen und Freunde …
„Du hast die Korruption eingeatmet, seit deinem ersten Streifengang. So wie du den Tod eingeatmet hast, damals im September. Die Korruption liegt nicht nur in der Luft. Sie gehört zur DNA dieser Stadt.
Auch zu deiner.
Ja, schieb’s nur auf die City. Schieb es auf New York.
Schieb es auf den Job.
Drück dich um die harte Frage: Wie bist du dahin gekommen?
Ganz normal. Schritt für Schritt.“ (S. 393f.)
Mit Romanen wie „Tage der Toten“, „Zeit des Zorns“ und „Das Kartell“ hat sich der amerikanische Autor Don Winslow als Meister des gut recherchierten Thrillers, vor allem im Drogenmilieu, etabliert. Mit „Corruption“ legt er nun den ultimativen Cop-Thriller vor, eine bitterböse Abrechnung mit einer allumfassenden Korruption, bei der Gangster, Richter, Cops, Anwälte und Bürgermeister gemeinsame Sache machen, um jeweils ein schönes Stück vom Kuchen abzubekommen und seine Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Die Gesetzmäßigkeiten dieser Praxis beschreibt Winslow ebenso detailliert wie einleuchtend. Dazu beschreibt er seinen Antihelden Denny Malone als charismatische Mischung aus Hero-Cop und dirty Cop, als liebenden Familienvater, von dem seine Frau Sheila aber nichts mehr wissen will und der eine Affäre mit der schwarzen Krankenschwester Claudette unterhält; als verantwortungsvollen Vorgesetzten, der darauf achtet, dass die Frauen und Familien versorgt sind, wenn den Männern etwas zustößt.
Eindringlich und actionreich beschreibt Winslow die Gefahren, in die sich die Elite-Cops bei ihren Einsätzen begeben; den Zusammenhalt des Teams, das bei besonderen Gelegenheiten einen von Malone verordneten Bowling-Abend verbringt und es dabei ordentlich krachen lässt; die Verlockungen des Geldes, das den Familien eine bessere Zukunft verspricht; den Rassismus, der immer wieder für Unruhen auf den Straßen sorgt.
Ebenso überzeugend stellt der Autor den schmalen Grat dar, den Malones Truppe in Ausübung ihres Dienstes beschreitet, wenn Geldumschläge entgegengenommen und verteilt werden, damit die Geschäfte weiter ihren geregelten Gang gehen können.
„Corruption“ ist ein unwiderstehlicher Pageturner, der geradezu nach einer Verfilmung schreit. Es ist ein harter und kompromissloser Cop-Thriller, der in knackiger Sprache gnadenlos aufdeckt, wie eng staatliche Stellen auf jeder Ebene und das Gangster-Milieu miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig stützen. Im großartigen Finale wirft Winslow noch mal eine gehörige Portion moralische Komplexität, geschickte Wendungen und einen actionreichen Showdown in die Waage, dass es eine helle Lesefreude ist.

Stewart O’Nan – „Ganz alltägliche Leute“

Freitag, 23. Juni 2017

(Rowohlt, 320 S., Pb.)
East Liberty ist sicher kein Vorzeigeviertel in Pittsburgh, und anno 1998 schon gar kein sicheres. Als bei einer Graffitiaktion Bean und sein Freund Chris von der Brücke fallen, überlebt Chris schwerverletzt, muss aber fortan im Rollstuhl sitzen, während Bean bei dem Unfall ums Leben kommt, in den Zeitungen aber nur als vierter Jugendlicher erwähnt wird, der in einer Woche in East Liberty ums Leben kam, als sei er nur ein weiteres Opfer der Drogenkriminalität.
Chris hat aber auch damit zu kämpfen, dass in sexueller Hinsicht laut ärztlicher Auskunft organisch alles bei ihm in Ordnung sein soll, das Liebesleben mit seiner Freundin Vanessa trotzdem zum Erliegen gekommen ist. Vanessa wiederum strebt nach einem besseren Leben, arbeitet im Pancake House, belegt stundenweise einen Kurs an der Uni, wo sie Amerikaner afrikanischer Herkunft zu seinen Erfahrungen befragen soll, und gibt ihren Sohn Rashaan in die Obhut von Miss Fisk, die offensichtlich manchmal verqueres Zeugs erzählt.
Chris‘ Mutter vermutet derweil, dass ihr Mann Harold eine Affäre mit einer Jüngeren hat und ist voller Selbstzweifel …
„Sie hatte seine Lügen lange hingenommen, auch als sie gespürt hatte, dass er sich von ihr entfernte, sich ihrer Ehe entzog und zu einer anderen Frau flüchtete. Sie hatte sich etwas vorgemacht, hatte erst so getan, als ob es nicht wirklich passierte, und dann, als ob er bald klar sehen und zu ihr zurückkehren würde. Jetzt sah sie deutlich, dass er keinen Grund hatte, zu ihr zurückzukehren, dass sein Leben ohne sie viel einfacher war, und da begriff sie, warum er angefangen hatte fremdzugehen.“ (S. 288) 
Auf diese Weise erzählt Stewart O’Nan („Engel im Schnee“, „Emily, allein“) vom Leben so einiger Einwohner des Schwarzenviertels East Liberty in Pittsburgh, von Knastkarrieren und der viel diskutierten Martin-Robinson-Express-Busspur, die für die Pendler von Penn Hills gedacht ist, aber letztlich die Ansiedlung wichtiger Industriezweige und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert. O’Nan schreibt wie gewohnt sehr einfühlsam von den Gedanken und Empfindungen seiner Figuren, dieser „ganz alltäglichen Leute“ mit ihren so gewöhnlichen Träumen und Sorgen und Ängsten. Allerdings gelingt es ihm nicht, all diese Einzelschicksale zu einer interessanten Geschichte zusammenzufügen. Dazu springt er zu oft von einer Person zur anderen, lässt eine stimmige Dramaturgie und sinnvolle Handlungen und Entwicklungen vermissen.
Am Ende hat der Leser zwar durchaus Einblicke in die alltäglichen Sorgen und Nöte von weniger privilegierten Schwarzen gewonnen, aber keine lesenswerte Geschichte präsentiert bekommen, die Anteilnahme oder Sympathie für die Charaktere hervorruft.

Cormac McCarthy – „Die Straße“

Dienstag, 20. Juni 2017

(Rowohlt, 253 S., Tb.)
Seit Monaten, vielleicht Jahren schon bewegen sich Vater und Sohn durch eine völlig zerstörte Welt. Die Ursache der Apokalypse ist unbekannt, wird zumindest nicht thematisiert. Gewiss ist nur das allgegenwärtige Zelt aus Asche, das selbst den Schnee schwarz färbt. Vater und Sohn sind auf dem Weg nach Süden, zur Küste, wo es nur besser sein kann als in der kalten Gegend, durch die sie so lange Zeit schon wandern, einen Einkaufswagen mit ihren immer spärlicher werdenden Vorräten vor sich herschiebend. Unterwegs begegnen sie nur sporadisch Menschen, die der Mann in die „Guten“ – wie sie selbst – und die „Bösen“ einteilt, die anderen Menschen ihre Vorräte stehlen und sogar vor Kannibalismus nicht zurückschrecken.
Als der Sohn einmal in die Hände einer Kannibalenhorde gelangt, kann sein Vater ihn mit einem Kopfschuss aus der Waffe des Kannibalen befreien, und so lässt sie die Angst vor weiteren unliebsamen Begegnungen mit den „Bösen“ sehr vorsichtig vorangehen, doch einzelnen Wanderern, denen es offenbar schlechter als ihnen geht, wird auch – zumindest vorübergehend - geholfen. Schließlich muss das „Feuer bewahrt“ werden, der moralische Kompass im Inneren. Doch der Weg in den Süden gestaltet sich bei der Kälte und Nässe schwierig und ermüdend, die ersehnte Küste dann doch nicht als das heilsbringende Paradies.
„Im grauen Licht ging er hinaus, blieb stehen und erkannte einen Moment lang die absolute Wahrheit der Welt. Das kalte, unerbittliche Kreisen der hinterlassenschaftslosen Erde. Erbarmungslose Dunkelheit. Die blinden Hunde der Sonne in ihrem Lauf. Das alles vernichtende Vakuum des Universums. Und irgendwo zwei gehetzte Tiere, die zitterten wie Füchse in ihrem Bau. Geliehene Zeit, geliehene Welt und geliehene Augen, um sie zu betrauern.“ (S. 118) 
Als der Mann mit einem Pfeil angeschossen wird, entzündet sich das Bein. Der Tod ist nur noch eine Frage der Zeit, das Schicksal des Jungen ungewiss …
„Die Straße“ ist der bislang letzte Roman des amerikanischen Autors Cormac McCarthy („Kein Land für alte Männer“, „All die schönen Pferde“) und wurde 2007 u.a. mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Einmal mehr erweist sich der großartige Stilist und Chronist der menschlichen Abgründe als brillanter Erzähler, dessen Geschichte vom Überlebenskampf eines Mannes mit seinem Sohn wirklich zu Herzen geht. Die spärlich eingestreuten Dialoge zeugen von dem Grundvertrauen, das der gutmütige Sohn in seinen aufrichtigen Vater setzt, immer wieder müssen jedoch beide einander vergewissern, ob ihre Gedanken, Träume und Geschichten okay sind.
Nur schwach erinnert sich der Mann an seine Frau, die sich zu Beginn der Katastrophe das Leben genommen und die Verantwortung für die Rettung ihres Sohnes in die Hände des Vaters abgegeben hat. Wie die beiden monatelang durch die Schlangen von rostigen und verkohlten Autos und aschebedeckte, vereinsamte Landstriche wandern, zeugt von einem starken Überlebenswillen und ist rührend inszeniert, aber auch von alttestamentarischer Wucht.
McCarthy beschränkt sich bei seinem eindringlichen Werk auf die Beschreibung der dystopischen Welt, durch die seine beiden Protagonisten streifen und verliert kein Wert über die Ursache für die Katastrophe. Der Leser kann sich denken, dass der Mensch dafür verantwortlich ist, ob durch einen Atomkrieg oder die Umweltzerstörung oder einen terroristischen Anschlag, ist schließlich nebensächlich und ändert nichts am Ergebnis.
So wie McCarthy die Apokalypse beschreibt, kann dem Leser nur angst und bange werden, denn die Reduzierung des Figuren-Ensembles auf nahezu ein Vater-Sohn-Gespann macht die Geschichte sehr persönlich und emotional, dass jeder für sich angeregt sein sollte, sein Bestes zu tun, um die Menschheit nicht vor die Hunde gehen zu lassen.

Cormac McCarthy – „Ein Kind Gottes“

Montag, 19. Juni 2017

(Rowohlt, 192 S., Pb.)
Sevier County, Tennessee, in den 1960er Jahren. Der 27-jährige Lester Ballard, ein kleiner, unsauberer, unrasierter und verbissen wirkender Mann mit sächsischem und keltischem Blut, sieht vom Scheunentor aus zu, wie die Farm, auf der er aufgewachsen ist und immer noch lebt, versteigert wird. Als er den Auktionator beschimpft, wird Lester niedergeschlagen. Er kommt in einem verwahrlosten Zwei-Zimmer-Häuschen unter, doch als er dieses versehentlich niederbrennt, ist Lester obdachlos und wandert ziellos durch die Wälder.
Einzig zum Whiskeybrenner Fred Kirby und dem Müllhaldenbesitzer Reubel pflegt er gelegentlich Kontakt. Sobald er jedoch junge Frauen – in Begleitung oder ohne – in abgeschiedener Umgebung entdeckt, wird Lester zum Tier. Erregt vom Sex, dessen Zeuge er ist, ejakuliert er und bringt dann die ahnungslosen Opfer um, wobei er zu den toten Frauen eine besondere Beziehung pflegt. Doch sein Tun bleibt nicht unentdeckt, und Lester ist gezwungen, sich noch tiefer in den Wäldern und Höhlen zu verstecken.
„Er beobachtete die ins Winzige verkleinerten Vorgänge im Tal, die grauen, sich unterm Pflug mit schwarzen Rippenmustern überziehenden Felder, die grüne Decke, die die Bäume langsam über alles breiteten. Während er da hockte, ließ er den Kopf zwischen die Knie sinken und begann zu weinen.“ (S. 165) 
Nach „Der Feldhüter“ (1965) und „Draußen im Dunkel“ (1968) ist „Ein Kind Gottes“ (1974) der erst dritte Roman des mittlerweile mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und schließlich für „Die Straße“ auch mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy, und doch sind in diesem Werk schon die sprachliche Brillanz und das finstere Menschenbild angelegt, das sich vor allem in „Kein Land für alte Männer“ wiederfindet, das durch die Oscar-prämierte Verfilmung der Coen-Brüder berühmt geworden ist.
„Ein Kind Gottes“ wirkt wie ein düsteres Vorspielt zu dem späteren Meisterwerk, denn auch hier scheint das Wesen eines Mannes ganz darauf ausgerichtet zu sein, abscheuliche Taten zu vollbringen. McCarthy verurteilt aber weder dieses abseitige Verhalten, noch psychologisiert er es. Als einzige Hintergrundinfo zur Lebensgeschichte von Lester Ballard bekommt der Leser die Tatsache präsentiert, dass Lester seinen Vater vom Strick schneiden musste, nachdem sich dieser erhängt und somit den Verkauf der Farm initiiert hatte. Ansonsten weist nichts darauf hin, warum Lester die Neigungen verspürt, die er so ungehemmt auslebt und die McCarthy mit gnadenloser Präzision beschreibt.
Kein Wunder also, dass die Verfilmung von und mit James Franco eine FSK-18-Einstufung erhielt. Von einem „Kind Gottes“, wie der Titel suggeriert, kann bei Lester Ballard also kaum die Rede sein, hier kommt dem Leser eher der Teufel in den Sinn. Wie McCarthy auf der einen Seite die prachtvolle Natur beschreibt und im Gegensatz dazu das schändliche Treiben seines Antihelden inszeniert, fesselt ungemein. Die Geschichte fasziniert ebenso wie sie abstößt – das ist einfach große Literatur.
Leseprobe Cormac McCarthy - "Ein Kind Gottes"

Paul Auster – „Die Erfindung der Einsamkeit“

Sonntag, 18. Juni 2017

(Rowohlt, 248 S., Tb.)
Bevor Paul Auster mit seiner experimentellen Krimi-Trilogie „Die New-York-Trilogie“ weltweit für Aufsehen sorgte, veröffentlichte er bereits einige Lyrik-Bände und auch das aus zwei Essays bestehende Buch „Die Erfindung der Einsamkeit“, mit dem der Autor vor allem den Tod seines Vaters verarbeitet und dabei ausführlich Themen wie Erinnerung, Einsamkeit, Leben und Tod und Zufall beleuchtet.
In „Portrait eines Unsichtbaren“ versucht Auster den Spuren seines Vaters zu folgen, den er Zeit seines Lebens eigentlich nicht gekannt, der sich seinem Sohn immer irgendwie entzogen hat. Drei Wochen nach dem plötzlichen Tod seines Vaters beginnt Auster, seine Erinnerungen niederzuschreiben, beginnend mit der telefonischen Nachricht, die ihn an einem Sonntagmorgen um 8 Uhr erreichte, der dreistündigen Fahrt nach New Jersey, dem Wissen, dass er über seinen Vater schreiben müsse. Was Auster dabei rückblickend irritiert, ist die Erkenntnis, dass sein Vater keine Spuren hinterlassen hatte, weder Frau noch Familie, die auf ihn angewiesen wäre.
„Seine Lebensweise hatte die Welt auf seinen Tod vorbereitet – war eine Art vorweggenommener Tod gewesen -, und falls und wenn man sich seiner erinnerte, dann nur undeutlich, allenfalls undeutlich.“ (S. 13) 
Er empfand keine Leidenschaft und war eigentlich unsichtbar, für andere ebenso wie für sich selbst wahrscheinlich auch. Nachdem Auster ständig versucht hatte, den abwesenden Vater zu finden, glaubt er, ihn auch nach dessen Tod suchen zu müssen. In den Schubladen der Schränke in dem Haus, das der Vater kurz vor seinem Tod noch verkauft hatte, stößt Auster auf Dinge, die er zwar nicht sehen oder wissen will, die aber nichtsdestotrotz für ihn Überbleibsel von Gedanken und Bewusstsein und Entscheidungen darstellen, darunter auch Schnappschüsse von den Flitterwochen seiner Eltern, ein Aktenschrank voller ungültiger Schecks aus dem Jahr 1953. Auster räumt das Haus für den künftigen Besitzer und ist als Möbelhändler, Spediteur und Überbringer schlechter Nachrichten tätig. Wie der Zufall es will, stößt Auster bei seinen Nachforschungen auf die Geschichte, wie sein Großvater Harry von dessen Ehefrau erschossen wurde. Am Ende eignet sich Auster zwar einige Gegenstände seines Vaters an, doch erzeugen auch sie nur die Illusion, mit seinem Vater vertraut zu sein, hat dieser doch nichts mehr damit zu tun. Und so bleibt dem Autor nur eins, nämlich über das Sterben nachzudenken und die Erinnerung an die Toten lebendig zu halten.
In „Das Buch der Erinnerung“ bezeichnet sich Auster kurz als A. und beginnt in der dritten Person über seine Arbeit als Übersetzer von französischen Autoren wie Blanchot und Mallarmé zu schreiben, über klassische Erinnerungstechniken, es folgen durchnummerierte Bücher der Erinnerung, in denen er beispielsweise über Heiligabend 1979 schreibt, über die karge Einrichtung seiner Wohnung, das Schnarchen seines Nachbarn.
Um in dieser Umgebung Frieden zu finden, muss er sich tiefer in sich selbst vergraben, aber je mehr er gräbt, umso mehr braucht er sich selbst auf. Interessant sind vor allem die Überlegungen zur Einsamkeit in Zusammenhang mit Jonas Aufenthalt im Wal und parallel dazu der von Gepetto im Bauch des Haifischs und die Frage, ob man seinen Vater retten muss, um ein richtiger Junge werden zu können. Weitere Exkurse führen zu Emily Dickinson, über die Natur des Zufalls, wie er als Übersetzer Worte zu anderen Worten werden und in seinem Innern ein unermessliches Babel entstehen lässt.  
Auster äußert in „Die Erfindung der Einsamkeit“ kluge Gedanken zu Themen, die seinen Lesern auch in den meisten der späteren Werke immer wiederbegegnen. Wie er dabei mit Ideen und Worten jongliert, Zufall und Sinn miteinander verknüpft, ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, regt aber stets zum Nachsinnen an.

Ernst Hofacker – „1967 – Als Pop unsere Welt für immer veränderte“

Montag, 12. Juni 2017

(Reclam, 272 S., HC)
Die 1960er Jahre waren ein turbulentes wie wegweisendes Jahrzehnt. Ein halbes Jahrhundert später sind der Vietnamkrieg, die Studentenunruhen, die Morde an John F. Kennedy und Martin Luther King, die Kuba-Krise und die Bürgerrechtsbewegung der USA nach wie vor immer wieder Thema in gesellschaftspolitischen Diskursen. Warum gerade das Jahr 1967 aus diesem bewegenden Jahrzehnt so heraussticht, macht der renommierte Musikjournalist Ernst Hofacker („Rolling Stone“, „Musikexpress“) in seinem kurzweilig zu lesenden, fachkundig recherchierten und klug geschriebenen Buch „1967 – Als Pop unsere Welt für immer veränderte“ ebenso ausführlich wie kontextuell deutlich.
Natürlich gehört das legendäre Monterey International Pop Festival ebenso zu den Eckpunkten in Hofackers kulturhistorischen Rückblick wie die Karriere der Beatles, die 1967 ihr gefeiertes Meisterwerk „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ veröffentlichten, der Rolling Stones, Bob Dylan und Jimi Hendrix.
Es war das Jahr, in dem laut Branchenmagazin „Billboard“ erstmals mehr LPs als Singles verkauft wurden, die Beatles mit ihrem programmatischen Hit „All you need is Love“ den sprichwörtlichen „Summer of Love“ einläuteten und die erste Ausgabe des „Rolling Stone“-Magazins erschien. Der Autor beschreibt eindrücklich, wie eine zunehmend kritische Studentengeneration heranwuchs, die sich von staubtrockenen gesellschaftlichen Normen zu emanzipieren begann und auf eine revolutionäre Umgestaltung der Machtverhältnisse hinarbeitete. Bei dem Monterey-Festival, das unter dem Motto „Music, Love & Flowers“ stand, erlebten die 50000 bis 90000 Zuschauer nicht nur Stars wie Otis Redding, Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who und Ravi Shankar, sondern auch einen Paradigmenwechsel.
„Es ebnete einer neuen musikalischen Sprache den Weg in den Mainstream und forcierte damit den ganz gewöhnlichen Professionalisierungsprozess einer Subkultur, ihrer Strukturen und Akteure. Dass diese Subkultur fortan mit schicken Verkaufslabels versehen und zur tragenden Säule eines umsatzstarken Marktsegments entwickelt wurde, war ebenso wenig zu vermeiden wie die damit einhergehende allmähliche Verwässerung ihrer Inhalte.“ (S. 79) 
In der Folge setzt sich Hofacker besonders mit der Rolle der Schwarzen Musik und Künstlern wie dem erwähnten Otis Redding, James Brown und Aretha Franklin auseinander, geht dem Mythos von „Big Pink“ nach, jenem legendären Haus, in dessen Keller Bob Dylan und The Band das Fundament für das legten, was als Alternative Country und Americana Einzug in die Musikgeschichte halten sollte.
Ausführlich werden die besonderen Beiträge von The Velvet Underground, Jimi Hendrix und The Beatles zur Musikkultur jener Zeit gewürdigt, die wechselseitige Inspiration zwischen Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson und den Beatles, bevor auch die bis dato von der Beat Generation kaum berührte Bundesrepublik auf die Einflüsse aus den USA und London reagierte.
Die künstlich arrangierte Gruppe Monks nimmt laut Hofacker eine Schlüsselstellung ein und wird als Wegbereiter für den Krautrock ebenso wie für den Industrial, Punk und Indie-Rock gepriesen. Das Magical Mystery Year 1967 wird abschließend ausführlich in den kulturhistorischen Kontext gestellt, als Aufbäumen einer ganzen Generation gegen das Establishment, auch wenn ab 1968 die zuvor von dort ausgebrochenen Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeführt wurden.
All das beschreibt Hofacker mit fundierten Hintergrundverweisen und geradezu leidenschaftlich in seiner Liebe zur Musik und ihren Schöpfern, wobei jede musikalische Neuerung in ihren gesellschaftspolitischen Kontext gestellt wird, ob es sich um die Pop-Art bei Andy Warhol und seinen Einfluss als Mentor auf die Velvet Underground oder den Bauhaus-Stil auf die deutsche Band Monks handelt.
Viele schöne Fotos und ein ausführliches Literaturverzeichnis runden diesen schmuck gestalteten Hochglanzband wunderbar ab. 
Leseprobe Ernst Hofacker - "1967 - Als Pop unsere Welt für immer veränderte"

Annie Proulx – „Aus hartem Holz“

Mittwoch, 7. Juni 2017

(Luchterhand, 894 S., HC)
Im Jahre 1693 machen sich die beiden Franzosen René Sel und Charles Duquet auf die abenteuerliche Reise nach Neufrankreich, dem heutigen östlichen Kanada, wo sie von einem besseren Leben träumen. Fasziniert von den endlosen Wäldern voller Baumriesen und undurchdringlicher Wildnis, schlagen sie sich als Holzfäller durch. Nach drei Jahren bei ihrem Dienstherrn Claude Trépagny steht ihnen dann eigenes Land zu.
Während Sel sich geduldig abmüht und schließlich mit Mari die indianische Geliebte seines Herrn heiratet, macht sich Duquet frühzeitig aus dem Staub, handelt zunächst mit Pelzen und Fellen, die er den Indianern für gepanschten Rum und Whiskey abgekauft hat und gründet in Boston seine eigene Holzhandlung. Bald unterhält Duke & Sons geschäftliche Beziehungen nach Europa, China und Neuseeland. Während Maris – und teilweise auch Sels - Kinder Elphège, Theotiste, Achille, Noë und Zoë die Tradition der Mi’kmaq fortführen, führen Duquet und seine beiden Brüder das Abholzen der nordamerikanischen Wälder in großem Stil fort …
„Armenius Breitsprecher starrte schweigend ins Feuer. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass Duke & Sons gierig genug war, um den gesamten Kontinent abzuholzen. Und er half ihnen dabei. Er verabscheute die amerikanische Kahlschlagpolitik, die aberwitzige Verschwendung von gesundem, wertvollem Holz, die Zerstörung des Bodens, die unweigerlich folgende Erosion, die Vernichtung des Lebens in den Wäldern ohne einen Gedanken an die Zukunft.“ (S. 580) 
Bereits mit ihrem ersten Roman „Postkarten“ (1992) erhielt die heute 82-jährige Annie Proulx den renommierten PEN/Faulkner Award, für das von Lasse Halmström erfolgreich verfilmte Nachfolgewerk „Schiffsmeldungen“ sogar den Pulitzer Preis und den National Book Award. Seither ist Proulx aus der nordamerikanischen Literaturszene nicht mehr wegzudenken. Allerdings hat es mehr als zehn Jahre gebraucht, dass sie nach „Mitten in Amerika“ mit „Aus hartem Holz“ einen neuen Roman vorlegt, der es wahrlich in sich hat.
Auf knapp 900 Seiten entwickelt die in Seattle lebende Autorin gleich zwei Familiengeschichten, die sie über drei Jahrhunderte begleitet. Während die Sels auf der einen Seite durch die Heirat auch immer ihre indianischen Wurzeln pflegen und sich der Natur nur zur Befriedigung ihrer eigenen überschaubaren Bedürfnisse bedienen, sehen Charles Duke, seine beiden Brüder und all ihre Nachfahren in dem unerschöpflich erscheinenden Holzvorrat nur eine Gelddruckmaschinerie, über deren Nachhaltigkeit gar nicht nachgedacht werden muss.
Gerade im ersten Drittel des monumentalen Romans gelingt es Proulx, die besondere Aufbruchstimmung einzufangen, die die beiden Franzosen in die neue Welt mitbringen. Das Figurenensemble bleibt noch überschaubar, wird aber durch die zahlreichen Kinder, Adoptionen und Kindeskinder zunehmend komplexer und verwirrender. Das Leben der Siedler, Holzfäller, indianischen Ureinwohner und Händler beschreibt die Autorin absolut realistisch, doch erhebt sie schnell und wiederkehrend den moralischen Zeigefinger, weist dezidiert auf den fortschreitenden Raubbau und die gnadenlosen Umweltsünden hin, die sich allein aus der Gesinnung des Duke-Clans und seiner Handlungen erschließen.
Zum Ende hin scheint Proulx dann doch etwas die Luft auszugehen, nachdem schon in den vorangegangenen Hunderten von Seiten eigentlich schon alles gesagt worden ist und die Fasern der Sel- und Duke-Stammbäume kaum noch nachzuvollziehen sind. So wirkt „Aus hartem Holz“ gleichermaßen wie ein Familien- und Entwicklungsroman, wie die Dokumentation einer grausamen Umweltzerstörung, aber er zeigt auch ganz schnörkellos das Leiden und Sterben armer wie reicher Menschen, Überlebens- und Gewinnmaximierungsstrategien und schließlich den verzweifelten Kampf von Umweltschützern. Über weite Strecken ist der Roman sehr lesenswert, dann aber auch über die Maßen belehrend und langatmig.
Leseprobe Annie Proulx - "Aus hartem Holz"

„Lexikon des internationalen Films 2016“

Samstag, 3. Juni 2017

(Schüren, 544 S., Pb.)
Obwohl der Großteil der Filminteressierten die für ihn relevanten Informationen aus den Weiten des World Wide Web bezieht, ist das von der Zeitschrift „Filmdienst“ und der Katholischen Filmkommission für Deutschland herausgegebene „Lexikon des internationalen Films“ zum Glück nach wie vor eines der wenigen, zudem sehr verlässlichen Informationsquelle geblieben, zumal das einzige, das noch in Printform vorliegt.
Das liegt nicht nur an dem umfassenden Rückblick auf das vergangene Filmjahr, an der Auflistung aller Filme, die in einem Jahr im Kino angelaufen und für das Heimkino (TV, DVD, Blu-ray) verfügbar gemacht worden sind (jeweils mit den relevanten Angaben zum Stab, kurzer Inhaltsangabe und Kurzkritik), sondern auch an dem informativen Mehrwert, den das redaktionell sorgfältig aufbereitete Rahmenprogramm bereitstellt.
Das besteht in der neuen Ausgabe zunächst mit dem Hinweis darauf, dass angesichts des eingangs erwähnten Nutzerverhaltens die Zeitschrift „Filmdienst“, auf deren Arbeit das „Lexikon des internationalen Films“ beruht, ab 2018 ihre Angebote nur noch online präsentieren wird, und in einem nach Monaten gegliederten Jahresrückblick, in dem nicht nur den vielen 2016 verstorbenen Filmschaffenden wie Alan Rickman, Jacques Rivette, Götz George, Bud Spencer, Garry Marshall, Andrzej Wajda und Manfred Krug gedacht wird, sondern auch ausgesuchte deutsche Filmemacherinnen, internationale Filmfestivals und besondere Filme vorgestellt werden. Es folgt die persönliche und ausführlich kommentierte Bestenliste von zehn Filmen, die die „Filmdienst“-Redakteure für das Jahr 2016 zusammengestellt hat, sowie – besonders lesenswert – ein Redaktions-Special zum Thema „TV-Serien“.
Hier wird in verschiedenen Essays z.B. darüber referiert, was heutzutage die Faszination von Serien ausmacht, wie Filmklassiker zu Serien verarbeitet werden und wie sich die Serie „Mad Men“ zu einem stilbildenden Kunstwerk entwickelte. Dazu werden 40 ausgesuchte Serien (u.a. „True Detective“, „Penny Dreadful“, „Hannibal“, „Better Call Saul“ und die drei Marvel-Serien „Daredevil“, „Jessica Jones“ und „Luke Cage“) ausführlich präsentiert.
„Offenbar wächst mit dem Gewitter der Facebook-Posts, Tweeds und YouTube-Videoschnipsel auch das Bedürfnis, sich aus eben diesem Gewitter auch einmal zurückzuziehen und sich in eine fiktive Welt zu vertiefen, die sich wie ein neuer Kontinent vor einem ausbreitet.“ (S. 58)
Schließlich ermöglicht die Struktur von Serien eine Erweiterung der Perspektiven, mit denen ein Thema oder Milieu beleuchtet werden kann, und die Freiheit zu Experimenten bei Stil und Inhalt, womit das Spielfilmformat oft nicht mithalten kann.
Nach dem lexikalischen Hauptteil werden aus dem Jahr 2016 noch herausragende Silberlinge, internationale Filmfestivals mit den Gewinnerfilmen und Register mit den Regisseuren und Originaltiteln bereitgestellt, so dass dem Filmfan nicht nur eine alphabetische Auflistung aller 2016 – immerhin gut 2000 - veröffentlichten Filme geboten wird, sondern auch ausgesuchte Essays, Infoblöcke, Biografien und Kritiken, die zur weiteren Auseinandersetzung mit Themen, Filmen und Serien anregen.

Peter Vignold – „Das Marvel Cinematic Universe“

Mittwoch, 31. Mai 2017

(Schüren, 173 S., Pb.)
Comic-Adaptionen für die große Leinwand sind seit den Erfolgen von „Superman“, „Batman“ und „Spider-Man“ zunehmend ein Garant für Kassenschlager. So kann es kaum verwundern, dass das Major Independent Filmstudio Marvel Studios mittlerweile das international erfolgreichste Filmfranchise ist und das Franchise um „Harry Potter“ im Jahr 2015 um rund eine Milliarde US-Dollar hinter gelassen hat.
Glücklicherweise kann Marvel auf ein umfangreiches Figurenensemble des in den 1960er Jahren gegründeten Comic-Verlags zurückgreifen und hat für sein daraus resultierendes Marvel Cinematic Universe (MCU) darauf ausgerichtet, in den nächsten Jahren eine Reihe von weiteren Filmen, Fernsehserien und Videospielen zu produzieren, die äußerst raffiniert miteinander verknüpft sind.
Wie dieses MCU strukturiert ist, zeigt der an Ruhr-Universität Bochum arbeitende und u.a. für das Filmmagazin „Deadline“ schreibende Peter Vignold in seiner Arbeit „Das Marvel Cinematic Universe – Anatomie einer Hyperserie“ auf, die auf seiner mit dem „Preis an Studierende 2016“ ausgezeichnete Examensarbeit über Cinematic Universes basiert.
Entsprechend wissenschaftlich liest sich die recht kurze Abhandlung über das MCU, die sich zunächst um Definitionen der Begriffe Cinematic Universe und Hyperserie bemüht. Dabei wird am Beispiel von „Matrix“ das transmediale Erzählen über verschiedene Medienkanäle hinweg beschrieben, dann das transmediale Franchising bei „Der Herr der Ringe“ und „Harry Potter“, bevor der Autor mit „X-Men“ die Ausformung einer multilinearen Hyperserie aufzeigt.
Den Hauptteil des schmalen, aber höchst informativen und fundiert geschriebenen Bandes nimmt die Darstellung der momentan drei Phasen ein, in denen sich das MCU ausgebildet hat, beginnend mit den Filmen „Iron Man“, „Incredible Hulk“, „Captain America: First Avenger“ und „Thor“ über deren Sequels und die als Knotenpunkte fungierenden Filme „The Avengers“ und „Avengers: Age Of Ultron“, in denen verschiedene Superhelden zusammengeführt werden.
Dabei sorgen intertextuelle Verlinkungen wie beispielsweise durch den Tesseract in „Thor“, „Captain America: The First Avenger“ und „The Avenger“ oder S.H.I.E.L.D.-Agent Phil Coulson in „Iron Man“ und der Serie „Agents Of S.H.I.E.L.D.“ sowie die speziellen „Post-Credits-Scenes“, die narrativ auf nachfolgende Filme hinweisen, für entsprechende Verweise auf andere Filme des MCU.
 „Die Mittel, mit denen die Binnenserien der Hyperserie MCU interserielle Kohärenz ausbilden, sind simpel, aber effektiv. Dies geschieht durch Überschneidungen des Figurenpersonals, das sich mitunter quer durch mehrere Binnenserien bewegt und deren diegetischen Zusammenhalt bewirkt. ‚Post-Credits-Scenes‘ am Ende der Filme signalisieren die Weitergabe von Handlungssträngen von einem Film zum folgenden und legen dem Publikum nah, unterschiedlich betitelte Binnenserien als Teile eines größeren Zusammenhangs zu betrachten.“ (S. 117) 
Vignold stellt die Zusammenhänge zwischen den Binnenserien – auch mit grafischen Abbildungen - ebenso anschaulich dar wie die Einzelteile des MCU, wobei allerdings weniger auf die Comics, Videospiele und das Merchandising eingegangen wird als auf die eigentlichen Film-Franchises. Abgesehen vom übermäßigen Gebrauch von Fremdwörtern wie „diegetisch“ (etwa: erzählend, erörternd) lässt sich die wissenschaftliche Abhandlung auch für Nicht-Wissenschaftler überwiegend gut lesen und wartet mit einer Fülle von interessanten Bezügen und versteckten Details zwischen den einzelnen Filmen und TV-Serien auf.
Im Anhang werden tabellarisch nicht nur die Einspielergebnisse des „X-Men“-Franchise, des MCU und der US-Filmfranchises aufgeführt, sondern auch die Inhalte der einzelnen MCU-Filme skizziert.
Leseprobe Peter Vignold - "Das Marvel Cinematic Universe"

Andrea De Carlo – „Vögel in Käfigen und Volieren“

Samstag, 27. Mai 2017

(Diogenes, 291 S., HC)
Ein Telegramm von seinem Vater bringt den Stein ins Rollen. Nachdem Fjodor Barna in Kalifornien mit seinem MG einen Autounfall verursacht hat, bei dem es zum Glück nur einen – wenn auch erheblichen – Sachschaden zu beklagen gibt, nimmt er eher ungerührt zur Kenntnis, dass er fünfzig Jahre brauchen würde bei dem, was er als Musiker verdient, um die Kosten bezahlen zu können. Als er seinen reichen Vater in Peru besucht, wo dieser seltene Vögel züchtet, wird der 21-Jährige nach New York geschickt, wo sein erfolgreicher Bruder ihn in dessen Unternehmen MultiCo eingliedern soll.
Fjodor lässt sich gleich nach Mailand versetzen, an den Ort seiner Kindheit, an die er nur noch verschwommene Erinnerungen besitzt. Fjodor wird mit einer ebenso uninteressanten wie gutbezahlten Arbeit betraut, die ihm nicht im Geringsten interessiert. Das ändert sich erst, als er den Maler Mario Oltena und seine geheimnisvolle Schwester Malaidina kennenlernt, der Fjodor sofort verfällt. Allerdings lebt sie mit einem Mann zusammen, ihr Wohnsitz ist aber selbst ihrem Bruder unbekannt. Für Fjodor beginnt eine Zeit voller Ungeduld und Ungewissheit, denn Malaidina scheint zwar auch an Fjodor interessiert, begibt sich aber immer wieder auf die Flucht, bis nach Korinth und Athen, wohin der junge Mann ihr atemlos nachreist …
„Ich habe Hunger, aber keine Lust zu essen; ich habe keine Lust zu denken, dass ich Hunger habe. Ich gehe, ohne die Füße sehr weit vom Boden zu heben, folge mit den Augen der Bordsteinkante. Ich gehe mechanisch, und meine Gedanken sind eingeschlossen in eine Art Käfig aus kondensierter Unruhe und Erregung, der mich hindert, weite Gesten oder Gesichtsausdrücke zu machen, auch wenn ich es wollte.“ (S. 287) 
Gleich mit seinem ersten, 1981 erschienenen Roman „Creamtrain“ ließ der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo aufhorchen. Sein ein Jahr darauf veröffentlichtes Werk „Vögel in Käfigen und Volieren“ folgt dem gerade erwachsen gewordenen Ich-Erzähler Fjodor, wie er aus der sonnigen Unbekümmertheit in Kalifornien, in der er dank seines wohlhabenden Vaters leben darf, in Europa endlich sein Leben in die Hand, etwas aus ihm machen soll.
Doch der bisher in den Tag hineinlebende Fjodor fühlt sich von Beginn an fremd in der Arbeitswelt, in der er keinen Sinn entdecken kann. Ihm ist das Künstlerleben, das die Geschwister Mario und Malaidina führen, weitaus sympathischer. De Carlo gelingt es bereits mit den ersten Seiten, seinen Protagonisten als orientierungslosen wie unbekümmerten Bohemien zu charakterisieren, der erst aus Liebe zu einer geheimnisvollen und undurchdringlichen Frau ein Ziel findet, das seinem bis dato sinnleeren Leben einen Ausweg bietet. Dass er sich dabei in durchaus lebensbedrohliche Situationen begibt, scheint seinem Antrieb nur noch mehr Feuer zu verleihen und seinen Willen zu stärken.
Die immer wieder thematisierten Vögel und Käfige stehen dabei offensichtlich für die Freiheit und ihre Einschränkungen, und Fjodor setzt alles daran, seinen eigenen Käfig zu verlassen und das Leben und die Liebe mit jeder Faser seines Körpers, seines Geistes zu spüren. Das Erzähltempo fängt gemächlich an und steigert sich bis zu einem atemlosen Finale, das bei allen Liebesdingen auch einen Hauch von Hitchcock-Spannung bereithält.

Jack Ketchum & Lucky McKee – „Scar“

Donnerstag, 25. Mai 2017

(Heyne, 319 S., Pb.)
Im Leben der Familie Cross dreht sich alles um die elfjährige Delia Cross. Sie ist als Darstellerin in Werbeclips die einzige, aber gute Einnahmequelle der Familie. Während ihre Mutter Pat sich um die Vermarktung kümmert und eine Affäre mit Delias Agenten Roman unterhält, soll sich ihr Vater Bart eigentlich um die Finanzen kümmern, vergnügt sich aber lieber mit seinen Spielzeugen wie dem mächtig aufgemotzten Firebird oder dem neuen Riesenflachbildschirm-Fernseher. Dass er darüber vergisst, eine Anschluss-Krankenversicherung für Delia abzuschließen, nachdem er die alte gekündigt hat, kommt der Familie allerdings teuer zu stehen. Gerade als Delia eine Rolle in einer Sitcom mit dem Star Veronica Smalls erhält, sorgt ein tragischer Unfall für das abrupte Ende eines Bilderbuch-Märchens.
Während Pat aus jeder Notlage noch Profit zu schlagen versucht und das Schicksal ihrer Tochter in einem Buch und in verschiedenen Fernsehshows ausschlachtet, lehnt sich die nach dem Unfall missgestaltete Delia zunehmend gegen die Pläne ihrer herrschsüchtigen, von Ehrgeiz getriebenen Mutter auf.
„Pat bezweifelt, dass das hier jemals ausgestrahlt werden wird, und sie fragt sich, ob überhaupt irgendwas davon ins Fernsehen kommt. Mit einem Mal ist sie stocksauer auf Delia. Sie hat die Schnauze voll von ihren Überraschungen, ihren egoistischen Spielchen. Warum zum Teufel folgt sie nicht dem beschissenen Drehbuch wie alle anderen auch? Für wen hält sie sich?“ (S. 224) 
Allmählich geraten vor allem Delias treue Gefährtin, die Australian-Cattle-Hündin Caity, und Delias eifersüchtiger Bruder Robbie ebenso in emotionale Schieflagen wie der an sich gutmütige, aber kaum mannhafte Bart. Der steigende Alkoholkonsum von Delias Eltern führt schließlich zur Katastrophe …
Dass Jack Ketchum auf bislang fünf Bram Stoker Awards und eine wachsende Anzahl von Verfilmungen seiner Werke („Red“, „Beutegier“) zurückblicken kann, kommt nicht von ungefähr, denn mit seiner klaren Sprache und einem ausgeprägten Sinn für knackige Plots und detailliertes Grauen entwirft der ehemalige Literaturagent von Henry Miller und Babysitter von Lady Gaga regelmäßig Drehbücher für das blutige Kino im Kopf.
Die erneute Zusammenarbeit mit Lucky McKee nach der Verfilmung von „Beuterausch“ kann an diese Qualitäten leider nur bedingt anknüpfen. Im Vordergrund von „Scar“ steht die ungewöhnlich innige Beziehung zwischen der hübschen und talentierten Delia und ihrer Hündin Caity, die bis zum blutigen Finale eine Schlüsselrolle in der Geschichte einnimmt. An die inneren Monologe gerade des Hundes muss sich der Leser dabei ebenso gewöhnen wie an die grob und oberflächlich gezeichneten Figuren. Bei dem mehr als überschaubaren Ensemble wäre an dieser Stelle durchaus mehr Sorgfalt angebracht gewesen. So gerieren sich vor allem Delias Eltern als ganz und gar unsympathische Nutznießer des Ruhms, den Delia der Familie beschert.
Wie sehr Pat dabei den Bogen überspannt und für die katastrophale Entwicklung der Ereignisse sorgt, macht die Geschichte aber nicht glaubwürdiger. Selbst die offensichtliche Kritik an der Rolle der Medien bei der Ausschlachtung von persönlichen Tragödien und an der Raffgier ehrgeiziger Eltern, die die Fürsorge ihren Zöglingen gegenüber aus den Augen verlieren, bleibt allzu oberflächlich.
Zwar bietet „Scar“ ein rasantes Leseerlebnis, wartet mit leicht übernatürlich inszenierten Elementen auf und einem straff inszenierten Plot, doch bleibt das Buch in Sachen Spannung und Horror weit hinter den bisherigen Ketchum-Werken zurück. 
Leseprobe Jack Ketchum & Lucky McKee - "Scar"

Kat Kaufmann – „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“

Dienstag, 23. Mai 2017

(Tempo, 271 S., HC)
Von seinem Opa Ernst erbt Jonas einen Umschlag mit 5000 Euro und einer in zittriger, kaum leserlicher Schrift verfasster Botschaft: „Moskau, Finde diesen Mann! Finde ihn und …“ Ob es diesen Valeri Butzukin überhaupt gibt, fragt sich Jonas, denn bei Google scheint er nicht zu existieren. Dennoch wagt er sich auf eine abenteuerliche Odyssee, als er feststellt, dass die seit fünf Monaten laufende Beziehung mit Sina nicht das Wahre ist, seine Mutter ihm in fünfundzwanzig Jahren vorenthalten hat, wer sein Vater ist, und sie davon ausgeht, dass er kurz vor Abschluss seines Examens steht, für das er sich aber gar nicht angemeldet hat.
In dem russischen Club Lavka erkundigt sich Jonas nach einem Pass und lernt die beiden Chaoten Juri und Stas kennen. Zusammen machen sie Nägel mit Köpfen: Jonas fackelt seine eigene Bude ab und reist mit den beiden jungen Männern nach Moskau, wo er sich in einem Club in Yulia verliebt. Doch das ist erst der Anfang eines wahnwitzigen Trips, bei dem Jonas nicht nur mit der Möglichkeit eines neuen Kalten Krieges, sondern auch mit seiner Einsamkeit konfrontiert wird.
„Du weißt nichts von deinem Opa, außer dass er ein Spitzenopa war, dein einziger wirklicher Freund, und den Faustkampf mochte. Du weißt gar nichts von deiner Familie. Weder von deinem Urgroßvater noch von sonst wem. Weil dein ganzes Leben schon immer nur aus Anne und Ernst bestanden hat, und, irgendwie dazwischen, halt Peter. Die anderen wurden nur namentlich erwähnt. Es gab sie nicht.“ (S. 156) 
Für ihren ersten Roman „Superposition“ wurde die aus Sankt Petersburg stammende und in Berlin lebende Autorin, Fotografin und Komponistin Kat Kaufmann 2015 mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Entsprechend ambitioniert präsentiert sich die Tochter eines Regisseurs und einer Balletttänzerin auch in ihrem neuen Roman mit dem programmatischen Titel „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“.
Schon der Prolog fordert dem Leser einiges an Aufmerksamkeit, Konzentration und Geduld ab. Statt klar strukturierter Sätze in einfacher Sprache wird der Leser mit den in zweiter Person verfassten Monologen des Protagonisten konfrontiert, der scheinbar dem Wahnsinn nah zu sein scheint. Dabei hat die Geschichte durchaus das Potenzial, anhaltendes Interesse zu wecken, denn der wieder stärkere Konflikt zwischen Russland und dem Westen nimmt in Kaufmanns Buch sehr konkrete Formen an, wie die gelegentlich platzierten Nachrichten vor Augen führen, die als Lauftext in den Fußzeilen über mehrere Seiten eingefügt sind. Auch die Dialoge wirken stellenweise authentisch und amüsant, können aber keine Konstanz in der sehr wechselhaften Erzählstruktur erzeugen.
So interessant die Figuren und ihre Schicksale auch sein mögen, werden sie doch nicht tiefergehend gezeichnet. Indem die durchaus talentierte und auf unorthodoxen Pfaden wandernde Autorin ihre Geschichte immer wieder ihren Sprachkapriolen opfert, entwickeln Jonas und seine Gefährten keine Identifikationspotenziale, noch vermag der holprig inszenierte Plot eine dramaturgische Spannung erzeugen.

Jason Starr – „Top Job“

Sonntag, 21. Mai 2017

(Diogenes, 316 S., HC)
Eigentlich hatte alles ganz gut angefangen. Nach seinem Studium der Geschichte und Betriebswirtschaft arbeitete Bill Moss erfolgreich als Vizepräsident der Abteilung Marketing von Smythe & O‘Greeley, kommt nach seiner Kündigung vor zwei Jahren aber nicht so recht wieder auf die Beine. Mittlerweile lebt der knapp über 30-Jährige mit seiner jüdischen Freundin Julie in New York, erhält auf seine Bewerbungen nur Absagen und schlägt sich als Telefonverkäufer in Teilzeit im Call Center A.C.A. durch, das ihre Mitarbeiter gnadenlos schikaniert und vor allem den schwarzen Angestellten die verdienten Prämien vorenthält.
Obwohl Bill zu den besseren Verkäufern zählt, droht er bei der bevorstehenden Entlassungswelle ebenfalls seinen Job zu verlieren. Für Julie, die heiraten und Kinder haben und vor allem wie ihre Freunde in eine bessere Gegend ziehen will, wäre das ebenso wie für Bill selbst eine Katastrophe. Als er aber seinen Kumpel Greg davon abhält, ihren gemeinsamen Chef Ed zu verprügeln, wird Bill unversehens befördert. Doch dann wird Bill von seiner Vergangenheit eingeholt und muss befürchten, die Früchte seines Erfolgs wieder zu verlieren. Er verstrickt sich zusehends in einer Spirale aus Lügen und Gewalt. Und auch sein Faible für Prostituierte scheint ihm zum Verhängnis zu werden.
„Wenn Julie davon erführe, war es mit unserer Beziehung vorbei. Ich versuchte, einfach nicht mehr daran zu denken, mir einzureden, dass Prostituierte vulgär und schmutzig waren, aber das machte es nur noch schlimmer. Prostituierte zogen mich an, gerade weil sie vulgär und schmutzig waren.“ (S. 102) 
In seinem 1997 veröffentlichten Debütroman beschreibt der New Yorker Autor Jason Starr zunächst die ganz normalen Existenzängste eines ehemals erfolgreichen Angestellten, der nach dem Verlust seiner gut bezahlten und der damit einhergehenden sozialen Stellung immer wieder mit dem eigenen Versagen konfrontiert wird, nicht zuletzt durch seine besser verdienende Freundin und deren gut situierten Freunde.
Als Ich-Erzähler macht Bill Moss allerdings auch keinen sympathischen Eindruck. Zwar verwehrt er sich gegen die rassistischen Praktiken seiner Vorgesetzten, hat aber selbst überhaupt keine Probleme, seine Arbeitgeber über seinen beruflichen Werdegang und Julie über seine sexuellen Vorlieben zu belügen. Interessant und spannend ist der Roman vor allem durch die Spirale von Lügen, Gewalt und Mord, in die Bill nur deshalb hineingezogen wird und die er – zugegebenermaßen – auch selbst mitgestaltet, weil er Angst vor der Abschiebung auf das gesellschaftliche Abstellgleis hat, das ihm durch den Jobverlust droht.
Die Aussicht, durch die Beförderung endlich dahinzukommen, wo Julie und er sich selbst sehen, lässt bei Bill alle Hemmungen fallen und das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Während die Verzweiflung über den Job- und Gesichtsverlust sehr nachvollziehbar in „Top Job“ herausgearbeitet ist, sind die Figuren auf der anderen Seite etwas sperrig charakterisiert und der Plot nicht immer schlüssig. Die Auseinandersetzungen zwischen Bill und Julie wirken wie die Zustände bei A.C.A. gelegentlich sehr konstruiert. Von diesen Schwächen abgesehen bietet „Top Job“ allerdings ein sehr kurzweiliges, flüssig geschriebenes Krimi-Drama in bester Tradition von Meistern wie James M. Cain und Jim Thompson.

Joe Hill – „Fireman“

Samstag, 20. Mai 2017

(Heyne, 958 S., Pb.)
Während sich weltweit eine Seuche über Sporen ausbreitet, die als Dragonscale bezeichnet wird, weil es die Haut der Infizierten mit fein gemusterten Mustern verziert, bevor die Opfer Rauch spucken und unversehens in Flammen aufgehen, versorgt die Schulkrankenschwester Harper Grayson in New Hampshire weiterhin die Wunden ihrer Schützlinge. Ein paar Monate später hat die Seuche so viele Menschen dahingerafft, dass Grayson mittlerweile achtzehn Stunden am Tag im Ganzkörperschutzanzug im örtlichen Krankenhaus aushilft, wo sie John Rookwood kennenlernt, der als Fireman offenbar über die Fähigkeit verfügt, das Feuer in seinem Körper zu kontrollieren und die Flammen gezielt wie eine Waffe einzusetzen.
Als Harper selbst mit Dragonscale infiziert wird, setzt ihr Mann Jakob alles daran, ihren Plan umzusetzen, gemeinsam friedlich aus dem Leben zu scheiden, doch mit dem ungeborenen Kind in ihrem Leib kämpft Harper mit allen Mitteln um ihr Überleben. Offenbar scheint es auf Free Wolf Island, einer siebzehn Meilen vor der Küste von Maine liegenden Insel, eine Kolonie von Überlebenden zu geben, die von der ehemaligen MTV-Moderatorin Martha Quinn angeführt wird, deren Stimme als eine der ganz wenigen noch immer aus dem Radio klingt.
Doch zunächst müssen Harper, der Fireman und ihre Leidgenossen einen Weg finden, aus dem von Carol Storey diktatorisch geführten Camp zu fliehen. Durch gemeinsame Gesänge und religiöse Durchhalteparolen war es Carol und ihrem in der Kirche predigenden Vater scheinbar gelungen, das Feuer in ihren Körpern zu kontrollieren und zum Leuchten zu bringen.
„Sie hatte sich nie für einen religiösen Menschen gehalten, aber hier in dieser Kirche in Camp Wyndham war ihr aufgegangen, dass alle Menschen religiös waren. Wer das Bedürfnis zu singen in sich trägt, hat auch das Bedürfnis nach Glauben und Erlösung.“ (S. 272) 
Bereits mit seinem letzten Roman „Christmasland“ hat Stephen Kings Sohn Joe Hill eindrucksvoll bewiesen, dass er längst dabei ist, aus den übermächtigen Fußstapfen des „King of Horror“ zu treten und als eigenständige Stimme in der Welt der dunklen Fantasy wahrgenommen zu werden. Dabei ist das jeweils geschilderte Grauen tief in der heutigen Welt verankert, entwickelt sich aus dem gewöhnlichen Alltag zu monströsen Schrecken.
In seinem neuen Roman „Fireman“ nimmt dieses Grauen erstmals apokalyptische Züge an und erinnert dabei zwangsläufig an Stephen Kings Endzeit-Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“. Dabei geht es Hill weniger darum, das Ausmaß und die Verbreitung der Seuche in aller Welt zu schildern, sondern beschränkt sich auf ein sehr überschaubares Figuren-Ensemble ganz unterschiedlicher Charaktere. Vor allem die außergewöhnliche Beziehung zwischen der aufopferungsvoll fürsorglichen Harper und dem geheimnisvollen Fireman sorgt dafür, dem Plot eine emotional berührende Konstante zu verleihen, die sich durch die stringente Dramaturgie bis zum aufwühlenden Finale zieht.
Natürlich kommen im Verlauf des kräftezehrenden Road Trips die besten und schlechtesten Eigenschaften der menschlichen Spezies zum Vorschein, neben der vor allem durch Harper personifizierten Hilfsbereitschaft und Güte auch Missgunst und Mordlust. Hill gelingt es dabei, seine Figuren sehr lebendig und einfühlsam zu charakterisieren, sie durch eine packende Geschichte zu führen und die Apokalypse mit all ihren Schrecken auch sehr detailliert zu beschreiben. Dass Autoren wie J. K. Rowling, Ray Bradbury und nicht zuletzt sein Vater Pate für dieses Epos standen, wie Hill eingangs erwähnt, hat sich durchweg positiv auf „Fireman“ ausgewirkt, das Hill auf dem Höhepunkt seiner bis dato noch sehr jungen Karriere präsentiert.
Leseprobe Joe Hill - "Fireman"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 3) „Schmierige Geschäfte (Black Cherry Blues)“

Mittwoch, 10. Mai 2017

(Pendragon, 480 S., Pb.)
Dave Robicheaux hat gerade eine Nacht in Baton Rouge und Träume von seiner ermordeten Frau Annie hinter sich, als er in einem Café seinen alten Kumpel Dixie Lee Pugh wiedertrifft, mit dem er 1956 an der Southwestern University of Louisiana das Zimmer geteilt hatte und der später Karriere als weißer Bluessänger machen sollte.
Nach einem Gefängnisaufenthalt hat Dixie auf Verpachtungen umgesattelt. Kaum ist Dave nach Hause in New Iberia zurückgekehrt, bittet Dixie um ein Treffen. Dabei erzählt er Dave von seinem Klienten Star Drilling, die ein Problem mit einem Landschaftsschutzgebiet und dem Reservat der Schwarzfußindianer haben. Dass Star Drilling auch die Firma ist, in deren Auftrag Daves Vater auf einer Bohrinsel zu Tode gekommen ist, lässt Dave etwas weiter nachforschen.
Als ehemaliger Lieutenant bei der Mordkommission in New Orleans lässt er alte Verbindungen spielen und stößt auf den Drogenfahnder Nygurski, der es auf Sally Dio abgesehen hat, für den nicht nur Dixie arbeitet, sondern auch Daves alter Kumpel Cletus.
Besonders Dios Handlanger Daltron Vidrine und Harry Mapes gelangen ins Visier von Daves Ermittlungen, der sich mit dem Tod eines Mädchens und zwei verschwundenen Indianers konfrontiert sieht. Doch dann wird seine Ziehtochter Alafair bedroht, und als Dave Vidrine und Mapes auf den Zahn zu fühlen beginnt, ist er der erste Tatverdächtige, der sich für den Mord an Vidrine verantworten muss. Dave Robicheaux lässt sich allerdings so schnell nicht einschüchtern und fordert Sally Dio heraus und sinnt dabei immer wieder über das Leben, das Leid und den Tod nach.
„Manchmal, wenn ich allein bin, besonders nachts, wenn es dunkel ist und ich anfange, über das unerträgliche Leid zu grübeln, das die meisten Menschen vor dem Tod erdulden müssen, bitte ich Gott, ihre Schmerzen rückwirkend zu lindern, ihnen seelischen und körperlichen Beistand zu leisten, ihre Sinne zu betäuben und die flammende Angst zu besänftigen, die ihnen im letzten Moment in den Augen steht.“ (S. 299)
In seinem dritten Abenteuer gerät der ehemalige Cop und Ex-Alkoholiker Dave Robicheaux wieder eher durch Zufall in eine schwierige Situation. Weil er sich seinen Problemen stellt und sie nicht einfach wie früher im Alkohol ersäuft, hat er es erneut mit skrupellosen Gangstern zu tun – mit dem Unterschied, dass sein Kumpel Cletus diesmal in den Diensten der Bösen steht.
James Lee Burke hat mit Dave Robicheaux einfach einen starken Charakter geschaffen, der nicht nur die Schrecken des Vietnamkrieges überwunden hat, sondern auch seine Alkoholsucht und den gewaltsamen Tod seiner Frau Annie. Auch wenn sie anfangs auf gegenüberliegenden Seiten stehen, ist es interessant zu sehen, wie sich Dave und Cletus, deren Wege sich nach ihrer gemeinsamen Zeit beim Morddezernat in New Orleans getrennt haben, wieder annähern, auch wenn der Weg bis dahin ebenso holprig wie blutig ist.
„Schmierige Geschäfte“ wartet mit einer Vielzahl interessanter Figuren, brutaler Action und coolen Dialogen auf, die dem raffinierten Plot die richtige Würze verleihen. Dazu beschreibt Burke das Leben in Louisiana wie kein Zweiter.
Leseprobe James Lee Burke -"Black Cherry Blues" (eBook-Ausgabe von Edel: eBooks)

John Grisham – (Theo Boone: 6) „Theo Boone und der große Betrug“

(Heyne, 252 S., HC)
Mit nervöser Anspannung sieht der dreizehnjährige Anwaltssohn Theo Boone den Aufnahmeprüfungen für die Highschool entgegen. Schließlich ging es bei den zentral abgestimmten Prüfungen bei allen Achtklässlern im Bundesstaat nicht nur darum, das Abschneiden der Schüler und die Qualität der Ausbildung an den Schulen zu bewerten: In Strattenburg dienten die Prüfungsergebnisse auch dazu, die Achtklässler in drei Gruppen einzuteilen. Die Durchschnittsschüler durften einfach die Highschool besuchen. Während die besten Schüler im anspruchsvollen Honors-Programm unterkamen, mussten die schwächeren Schüler in Klassen, die den Lehrstoff etwas langsamer vermittelten.
Mit 91 Prozentpunkten würde man in die begehrten Honors-Kurse kommen, was nicht nur für Theo als angehender Jurist angestrebt wurde, sondern auch von seiner Freundin April, die es auf die besonderen Kunstkurse dort abgesehen hatte.
Doch dann erfährt Theo, dass an der weniger privilegierten East Middleschool die eindrucksvolle Verbesserung der Ergebnisse gegenüber den Vorjahren darauf zurückzuführen sein soll, dass fünf Lehrer auffällig viele Korrekturen zugunsten ihrer Schüler vorgenommen haben sollen. Neben ihrer Suspendierung vom Schuldienst droht ihnen beim Nachweis einer Verabredung zu einer Straftat sogar eine Gefängnisstrafe. Dies versucht Theos Mutter als Anwältin der fünf beschuldigten Lehrer zu verhindern.
„Ein Eklat werde die gesamte Schule treffen. Dabei habe die East Middleschool ohnehin schon zu kämpfen. Diese Affäre würde ihren Ruf wahrscheinlich schwer schädigen und könne sogar dazu führen, dass sie geschlossen wurde.“ (S. 112) 
Theo und April sind von den Vorgängen mehr betroffen, als es zunächst den Anschein hat. Aber davon abgesehen hat der engagierte Jung-Jurist auch an anderen Fronten zu kämpfen: So muss er nicht nur seinen geliebten Onkel Ike aus dem Gefängnis holen, nachdem dieser im betrunkenen Zustand Auto gefahren war, sondern auch seinem Kumpel Pete Holland beistehen, dessen betrunkener Vater sowohl ihn selbst als auch seine Mutter verprügelt hat, und vor dem Tiergericht Mr. Kerr verteidigen, auf dessen Grundstück ein Otter lebt, der offensichtlich mehrere Kois aus dem Teich seines Nachbarn Mr. Murray verspeist hat.
Dass John Grisham, Großmeister des Justiz-Thrillers („Die Akte“, „Die Firma“), in seiner erfolgreichen Jugendbuch-Reihe seinem bestens vertrauten Genre treu bleibt, darf kaum verwundern. Mit dem mittlerweile dreizehnjährigen Theo Boone hat er eine durchweg sympathische Figur kreiert, der als Sohn zweier Anwälte ebenfalls auf bestem Wege ist, eine juristische Laufbahn einzuschlagen, sozial bei den Pfadfindern und bei der Essensausgabe für die Armen aktiv ist und auch in der Schule Bestleistungen präsentiert.
In seinem sechsten Fall hat er gleich mit mehreren Fällen zu tun. Während die Episoden von häuslicher Gewalt und am Tiergericht eher kurzweilige Lückenfüller sind, geht es bei der Untersuchung der gefälschten Ergebnisse zu den Aufnahmeprüfungen für die Highschool auch in die Tiefe, nämlich um die unterschiedlichen Bedingungen, die Schülern aus sozial benachteiligten Familien und von Eltern mit Hochschulabschluss zur Verfügung stehen.
Für die Reihe um Theo Boone gilt ansonsten ebenso für Grishams Erwachsenenliteratur, dass die Figuren überwiegend sehr oberflächlich gezeichnet sind, die Geschichten aber auf kurzweilige Weise zu unterhalten wissen. 
Leseprobe John Grisham - "Theo Boone und der große Betrug"

John Grisham – „Bestechung“

Dienstag, 9. Mai 2017

(Heyne, 448 S., HC)
Lacy Stoltz und Hugo Hatch sind als Ermittler beim BJC (Board on Judicial Conduct) tätig, wo sie vor allem Beschwerden gegen standeswidriges Verhalten von Richtern in Florida nachgehen. In St. Augustine sollen sie im Auftrag ihres Vorgesetzten Michael Geismar einen Whistleblower treffen, der sich den beiden Kollegen und Freunden am Jachthafen der Stadt als Ramsey Mix alias Greg Myers vorstellt und dreißig Jahre als Anwalt praktiziert hat, bis er im Rahmen von RICO (Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act) für sechzehn Monate ins Bundesgefängnis musste, nachdem er einen Deal mit der Staatsanwaltschaft eingegangen war.
Mittlerweile hat er seine Lizenz zurück und nur einen Mandanten, dessen Namen er allerdings nicht kennt. Myers macht Lacy und Hugo mit einem Fall vertraut, in dem es um organisierte Kriminalität, indianische Kasinobesitzer in Brunswick County und die korrupte Richterin Claudia McDover geht, die mit dem Unternehmer Vonn Dubose gemeinsame Sache macht. Doch kaum wird die offizielle Beschwerde der Richterin zugestellt, verschwindet Myers völlig von der Bildfläche. Das hält vor allem Lacy überhaupt nicht davon ab, der Beschwerde weiterhin nachzugehen.
„Was auch immer die Richterin dachte, sie ließ sich nichts anmerken. Ihr Gesicht war völlig emotionslos, so unangenehm diese Angelegenheit auch sein mochte.
Das Schöne an Lacys Strategie war, dass McDover in diesem Moment keine Ahnung hatte, was der Maulwurf ihnen bereits gesagt hatte. Sie hatte keine Ahnung, dass das BJC von dem Bargeld, den Privatjets, den Immobilien, den vielen Annehmlichkeiten wusste.“ (S. 217) 
Doch vor allem Dubose kennt keine Skrupel, seine Interessen zu schützen, und schreckt auch vor Mord nicht zurück. Lacy muss unbedingt an den Maulwurf herankommen, um an die Infos aus erster Hand zu kommen, kann sich dabei aber auch auf ihren exzentrischen Bruder Gunter verlassen …
Mit seinem neuen Thriller „Bestechung“ hat es der Justiz-Thriller-Bestseller-Autor John Grisham einmal mehr auf schwarze Schafe in der sogenannten „besseren Gesellschaft“ abgesehen. Der Fall wird wie bei Grisham üblich sehr detailliert und schnörkellos dargelegt, wobei die Abwicklung der Geschäfte über diverse Offshore-Konten etwas arg minutiös geschildert wird. Bei der Figurenzeichnung gefällt vor allem die sympathische Protagonistin, die nicht nur einen schweren Unfall und Verlust zu verarbeiten hat, sondern sich auch mit einem ehrgeizigen FBI-Agenten privat zu treffen beginnt. Dagegen wird die beschuldigte Richterin sehr eindimensional als hemmungs- und skrupellos gierige Person charakterisiert, was ebenso auf Dubose zutrifft.
Was Grisham bei der Charakterisierung seiner Figuren vermissen lässt, gleicht er bei der Konstruktion des Plots locker wieder aus, so dass „Bestechung“ sicher nicht zu seinen besten Werken zählt, aber doch für grundsolide Spannung sorgt.
 Leseprobe John Grisham - "Bestechung"