Stephen King – „Fairy Tale“

Sonntag, 18. September 2022

(Heyne, 880 S. , HC) 
Zwar ist Stephen King vor allem durch seine – auch (teilweise mehrfach) erfolgreich verfilmten -Horror-Romane wie „Es“, „Carrie“, „Needful Things – In einer kleinen Stadt“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ berühmt geworden, doch hin und wieder verschlägt es den „King of Horror“, der am 21. September 2022 seinen 75. Geburtstag feiert, auch ins benachbarte Fantasy-Genre. Seinen beeindruckendsten Beitrag lieferte der US-amerikanische Bestseller-Autor hier mit seiner acht Bände umfassenden Saga um den „Dunklen Turm“ ab, doch bereits in den 1980er Jahren probierte er sich in dem heute nahezu vergessenen Roman „Die Augen des Drachen“ in märchenhaften Gefilden aus. Seinem fast 900-seitigen Epos „Fairy Tale“ könnte ein ähnliches Schicksal blühen, kommt hier doch Kings immer wieder kritisierte Weitschweifigkeit besonders deutlich zum Tragen und macht aus einem anfangs einfühlsam geschriebenen Entwicklungsroman ein uninspiriertes Märchen, dem es vor allem an Spannung und Atmosphäre fehlt. 
Charlie Reade war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter auf dem Heimweg von einer Besorgung zum Essen auf der Sycamore Street Bridge von einem Auto erfasst und getötet wurde. Seinem Vater hat der Verlust so zugesetzt, dass er seinen Kummer in Alkohol ertränkte und seinen Job als Schadensregulierer bei einer Versicherung verlor. Dank eines Kollegen ging Charlies Vater jedoch regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, wurde wieder von seiner alten Firma eingestellt und hat sich mittlerweile selbstständig gemacht. 
Mit siebzehn Jahren steht Charlie nun an der Schwelle zum Erwachsensein und hat gute Chancen auf ein Sport-Stipendium, als er eines Tages am unheimlichen „Psycho-Haus“, das von dem einsiedlerischen Mr. Bowditch bewohnt wird, ein Wimmern wahrnimmt. Charlie kommt gerade rechtzeitig, um den Notruf zu alarmieren, nachdem Mr. Bowditch von der Leiter gefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. Der Teenager besucht daraufhin nicht nur regelmäßig Mr. Bowditch im Krankenhaus, sondern kümmert sich auch um Radar, die in die Jahre gekommene deutsche Schäferhündin des mürrischen alten Mannes. Auch als Mr. Bowditch wieder nach Hause kommt, betreut Charlie sowohl den Hausherrn als auch die Schäferhündin, wobei ihm der abgeschlossene Schuppen auf dem Grundstück besonders zu faszinieren beginnt. 
Wie sich herausstellt, verfügt Mr. Bowditch über einen Eimer voller Goldkügelchen in seinem Tresor, mit dem er mehr als nur die Krankenhausrechnung bezahlen kann. Als Mr. Bowditch an einem Herzinfarkt stirbt, erbt Charlie dessen ganzes Vermögen. Als Radar immer älter und gebrechlicher wird, findet Charlie im Schuppen den Zugang zu einer anderen Welt, die auch einst Mr. Bowditch betreten hat, um sein Leben zu verlängern. Nun nimmt Charlie eine abenteuerliche Reise ins Land Empis, das schon bessere Zeiten erlebt hat. In der Stadt Lilimar wird Charlie bald in einen Kerker gesperrt und zum Kämpfen gezwungen. Für viele seiner Mitstreiter wird Charlie als ein Prinz betrachtet, der das alte Königreich retten wird… 
„Die Monarchen waren nicht ausgerottet und die Mitglieder des Hauses Galien auch nicht, zumindest nicht alle. Sie waren von der Macht, die jetzt in Elden hauste, verflucht worden – es musste dieselbe Macht sein, die auch die nah an der Mauer erbauten Vorstadthäuser in Schutt und Asche gelegt hatte -, aber sie waren am Leben. Das verriet ich Freed allerdings nicht. Womöglich wäre das für uns beide gefährlich gewesen.“ (S. 622) 
So wie Stephen Kings Saga vom „Dunklen Turm“ maßgeblich von Robert Brownings Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ inspiriert wurde, verbeugt sich der Autor in seinem neuen Werk deutlich vor Autoren wie Edgar Rice Burroughs, Robert E. Howard, Ray Bradbury und Howard Phillips Lovecraft, aber auch Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ und Elemente aus Grimms Märchen und der erfolgreich verfilmten „Die Tribute von Panem“-Trilogie. finden sich in „Fairy Tale“. 
Allerdings bekommt King die unterschiedlichen Einflüsse nicht zu einer eigenen unterhaltsamen Geschichte zusammen. Es wirkt sogar so, als wären zwei verschiedene Autoren am Werk gewesen. Während das erste Drittel eindeutig Stephen King in Bestform präsentiert, der auf gewohnt einfühlsame Weise die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der durch den frühen Tod seiner Mutter und den Alkoholismus seines Vaters seiner Kindheit beraubt geworden ist und durch die Freundschaft zu einem eigenbrödlerischen alten Mann Zugang zur „Anderwelt“ bekommt, setzt er in den nachfolgenden zwei Dritteln eher stümperhaft die Märchentradition fort, die gefährliche Reise eines Jünglings auf dem Weg zu einer höheren Berufung zu schildern. King fehlt hier nicht nur die sprachliche Finesse, um bedrohliche oder faszinierende magische Welten erstehen zu lassen, wie es sowohl Ray Bradbury („Das Böse kommt auf leisen Sohlen“) als auch Howard Phillips Lovecraft („Schatten über Innsmouth“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Berge des Wahnsinns“) vermochten, sondern vor allem auch an einer packenden Geschichte. 
King lässt seine Leserschaft ebenso wie seinen jungen Protagonisten, der eigentlich nur einen Weg finden will, Radar zu einem jüngeren Ich zu verhelfen, über Hunderte von Seiten im Unklaren darüber, wohin die Reise denn gehen soll. Natürlich sind Kämpfe, Mutproben und Gefahren zu bestehen, aber die Anderwelt wird ebenso wie die darin lebenden Figuren viel zu oberflächlich und lieblos beschrieben. So richtig eintauchen kann man als Leser in diesen uninspirierten Mischmasch vertrauter Fantasy-Elemente nicht. Dazu bleiben die Figuren zu farblos, der Plot plätschert unaufgeregt vor sich hin. Mindestens 300 Seiten hätte sich King hier sparen können. Und wenn sich Paul Greengrass („Neues aus der Welt“, „Die Bourne Verschwörung“) an die Verfilmung macht, wird er den Plot auch gnadenlos straffen müssen, um aus „Fairy Tale“ einen unterhaltsamen Film zu machen. Für King kann es dagegen nur heißen, wieder zurück zu alten Stärken im Horror-Genre zu finden. 

Robert Bloch – „Nacht im Kopf“

Mittwoch, 14. September 2022

(Diogenes, 189 S,., Tb.) 
Mit seinem 1959 veröffentlichten Roman „Psycho“ wurde Robert Bloch vor allem durch die ein Jahr später erfolgte Verfilmung durch Spannungs-Meister Alfred Hitchcock weltberühmt. Psychisch angeschlagene Charaktere standen allerdings auch in späteren Werken des Erfolgsautors, der im Laufe seiner Karriere auch die Drehbücher zu Horrorfilmen wie „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“, „Totentanz der Vampire“ und „Die Toten sterben nicht“ verfasste, immer wieder im Mittelpunkt – so auch in seinem 1972 veröffentlichten Roman „Night-World“, der zunächst 1975 unter dem Titel „Wahnsinn mit Methode“ im Scherz-Verlag erschien und 1986 als „Nacht im Kopf“ in neuer Übersetzung bei Diogenes wiederveröffentlicht wurde. 
Karen Raymond bespricht als Werbetexterin in der renommierten Agentur Sutherland in Los Angeles gerade ihren aktuellen Auftrag mit dem Cheftexter Mr. Haskane, als sie einen Anruf aus Topanga Canyon erhält, dass ihr Mann Bruce vielleicht aus der psychiatrischen Anstalt entlassen wird. Nachdem ihr der behandelnde Arzt Dr. Grisworld geraten hatte, ihren Mann während der Behandlung nicht zu besuchen, sind mehr als sechs Monate vergangen. 
Nun soll die Reaktion ihres Mannes auf ihren Besuch darüber entscheiden, ob er bereit ist, das Luxus-Sanatorium zu verlassen. Vor ihrer Abfahrt sucht sie noch Rita, die Schwester ihres Mannes, auf, die sich wenig angetan von Karens Plan zeigt. Als Karen am Sanatorium eintrifft, ist sie allerdings nicht auf den Anblick des ermordeten Dr. Grisworld vorbereitet. Von der benachrichtigten Polizei erfährt Karen, dass Grisworld nicht das einzige Todesopfer in der Klinik ist. 
Außer ihm wurden neben der an ihrem Pult erwürgten Schwester auch ein Pfleger und eine ältere Patienten tot aufgefunden. Die übrigen fünf Patienten sind allerdings verschwunden. Offensichtlich ermordet wenigstens einer der Geflüchteten weitere Angestellte und Angehörige der Patienten, sodass auch Karen in Lebensgefahr schwebt… 
„Und wenn es doch Bruce gewesen war, der zu ihr wollte – zu ihr wollte, um sie zu töten? Nein, das würde Bruce nicht tun. Oder doch? Karen sah sich selbst mit weitaufgerissenen Augen im Spiegel. Würde er? Das war die Kernfrage – die Frage, der sie die ganze Zeit ausgewichen war. Aber sie musste sich ihr stellen – hier und jetzt. Sie musste der Sache ins Auge sehen, so wie sie sich im blanken Glas des Spiegels selbst ins Auge sah. Nach allem, was geschehen war, und dem, was sie über Bruce wusste – glaubte sie, dass er schuldig war?“ (S. 68) 
Robert Bloch hat sich seit den 1950er Jahren mit Romanen wie „Die Psycho-Falle“, „Werkzeug des Teufels“, „Die Saat des Bösen“, „Mit Feuer spielt man nicht“ und „Amok“ als versierter Krimi- und Horror-Autor etabliert, der es versteht, zunächst konventionell erscheinende Krimi-Plots mit schaurigen Elementen und einer deftigen Prise schwarzen Humors zu würzen. Da macht „Nacht im Kopf“ keine Ausnahme. 
Der Whodunit-Plot bezieht seine Spannung sowohl aus der Frage nach der Identität des Killers als auch aus der Frage nach dem geistigen Zustand von Karens Mann Bruce bezieht. Bis zur Klärung beider Fragen streut Bloch so einige interessante Todesfälle und Wendungen ein, die „Nacht im Kopf“ zu einem kurzweiligen Krimi-Vergnügen machen, wobei Bloch am Rande auch den Zustand der Gesellschaft kritisch beleuchtet. Interessant wird die Geschichte vor allem dadurch, dass Bloch immer wieder die Erzählperspektive zwischen Karen Raymond und dem unbekannten Täter wechselt, so dass Bloch dem Leser erhellende Einblicke in die Psyche des Killers gewährt. 

 

Les Edgerton – „Der Vergewaltiger“

Dienstag, 13. September 2022

(Pulp Master, 158 S., Tb.) 
Der 1943 geborene US-Amerikaner Les Edgerton weiß in etwa, wovon er schreibt, wenn er den Ich-Erzähler seines 2013 erschienenen Kurzromans „The Rapist“ seinen Alltag im Gefängnis reflektiert. Edgerton hat nämlich selbst zwei Jahre im berüchtigten Pendleton Reformatory wegen Einbruchs, bewaffneten Raubüberfalls und versuchter Hehlerei abgesessen. Dass er mit seinen verstörenden, von Autoren wie Charles Willeford, Jim Thompson und Charles Bukowski inspirierten Romanen in Deutschland zuvor keine verlegerische Heimat gefunden hat, mag nicht überraschen, wenn man „Der Vergewaltiger“ liest. Frank Nowatzki hat seinen Verlag nicht von ungefähr Pulp Master genannt, schließlich finden bei ihm auch Bücher und Autoren Berücksichtigung, die im herkömmlichen Literaturbetrieb gern als „Schund“ bezeichnet werden. 
Truman Ferris Pinter sitzt im Todestrakt eines Gefängnis und hat nur noch Stunden zu leben. Er wurde wegen der Vergewaltigung und des Mordes der aufreizenden jungen Dame namens Greta Carlisle für schuldig gesprochen, die er von der Bar kannte, in die er regelmäßig eingekehrt ist. Ein Tag vor dem Verbrechen, so berichtet Pinter, habe er sie im naheliegenden Wald dabei beobachtet, wie sie es genüsslich mit drei jungen Männern trieb. Am Tag darauf ging Pinter angeln. Da ihm sein Vater ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hat, war er nie gezwungen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit vor allem damit, sparsam mit seinem Erbe umzugehen, viel zu lesen, ein wenig zu schreiben, angeln zu gehen und ab und zu ein Bierchen in Joe’s Tavern zu trinken. An dem Tag des Verbrechens hatte Pinter an einem sonnigen Julimorgen bereits zwei Stunden geangelt, als ihm Greta über den Weg läuft. Dass sie ihn damit aufzieht, dass er „alte Kackfresse“ genannt wird, lässt Pinter alle gute Manieren vergessen. 
Er gibt in der Gerichtsverhandlung später freimütig zu, sie vergewaltigt zu haben, doch umgebracht habe er sie nicht. Stattdessen sei sie auf der Flucht vor ihm ausgerutscht, mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen und schließlich im Fluss ertrunken. Freilich habe Pinter keine Anstalten unternommen, sie zu retten. Pinter berichtet von seinem eintönigen, aber geregelten Alltag im Gefängnis, von „Mr. Timex“, der ihn stündlich über die ihm noch verbleibenden Stunden informiert, entwickelt aber schon einen ungewöhnlichen Fluchtplan. Schon als Kind hatte er zu „fliegen“ gelernt, und die Zeit im Gefängnis nutzt er, die alte Technik wieder zu trainieren, um im entscheidenden Moment seinen Körper zu verlassen und unbemerkt zu entschweben… 
„Ich fühle mich stark, selbstsicher. Ich bin dem perfekten Flug so nah, dass ich das Erreichen meines Zieles förmlich fühlen kann. Ich konzentriere mich, gleite hinein in den Teil meines Verstandes, der dieses Phänomen ermöglicht. Meine Umgebung verblasst, tritt in den Hintergrund. Ich reinige mein Bewusstsein, reguliere den Atem. Mein Körper macht sich davon und ich…“ (S. 95) 
Bereits mit den ersten beiden Sätzen outet sich der Ich-Erzähler als Lügner, Frevler, Wahrheitsschänder und Heuchler. Seiner Erzählung ist also nur sehr eingeschränkt Glauben zu schenken. Das trifft natürlich in erster Linie auf das verübte Verbrechen zu. Da wir nur Pinters Version der Geschichte präsentiert bekommen, lässt sich nicht verifizieren, ob sein Opfer tatsächlich durch einen Unfall umgekommen ist. Doch Edgerton und sein durch und durch unsympathischer Protagonist lassen dem Leser keinen Raum für Perspektivwechsel. Stattdessen zieht Pinter sein Publikum mit seinem philosophischen Geschwätz in den Bann, das auf den ungeschönten Bericht der Vergewaltigung folgt. Der Todeskandidat macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegen die christliche Religion und dumme Menschen, die ihr Leben vergeuden. Pinter schafft sich schließlich seine eigene Realität, seinen eigenen Mechanismus, die Eintönigkeit des Gefängnisalltags zu verarbeiten und im Geist einen Ausweg aus der kurz bevorstehenden Ausübung des Todesurteils. 
Besonders erquicklich ist das nicht zu lesen. Ekkehard Knörer geht in seinem informativen Nachwort vor allem auf die Nähe zu John William Dunne ein, von dem ein Zitat dem Buch vorangestellt ist, der sich in seinem Werk auch mit präkognitiven Traumerlebnissen beschäftigt hat. 
„Der Vergewaltiger“ liest sich wie ein verschrobenes Manifest eines höchst gebildeten, aber auch exzentrischen Menschenfeinds, der seine eigene Methode gefunden hat, sich seine eigene Wirklichkeit zu bauen. Das ist sicher verstörend, aber nicht unbedingt große Literatur. 

 

Philipp Djian – „Pas de deux“

Sonntag, 11. September 2022

(Diogenes, 436 S., HC) 
Seit seinem 1982 veröffentlichten Roman „Blau wie die Hölle“ hat der französische Schriftsteller Philippe Djian eine rasante Karriere hingelegt, die in dem auch erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) einen ersten Höhepunkt erreichte. 1991 folgte schließlich „Lent dehors“, hierzulande als „Pas de deux“ veröffentlicht, und präsentierte etwas nachdenklichere Töne. Das Thema Sex steht in diesem Roman allerdings auch so stark im Mittelpunkt, dass die Story selbst fast in den Hintergrund rückt. 
Einst galt Henri-John als talentierter Pianist mit vielversprechender Karriere, doch nach einem aufregenden Leben, zu dem das Touren mit dem renommierten Sinn-Fein-Ballett durch die ganze Welt und aufregende Affären zählten, hat er seine Freundin aus Jugendtagen, die mittlerweile erfolgreiche Schriftstellerin Edith, geheiratet, mit ihr die beiden Töchter Eléonore und Evelyne großgezogen und verdient seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer in Teilzeit an der Schule Saint-Vincent. Sein in ruhigen Bahnen verlaufendes Leben kommt erst wieder in Schwung, als Edith für zwei Wochen zu einer Lesereise nach Japan aufbricht. In dieser Zeit lässt sich Henri-John auf eine Affäre mit seiner jungen Kollegin Hélène, deren Avancen er bisher problemlos widerstehen konnte. 
Als Edith jedoch aus Japan mit ersten Teilen ihres neuen Romanmanuskripts zurückkehrt und Henri-John um eine ehrliche Einschätzung bittet, kommt es zum Affront. Henri-John ist über Ediths Anbiederung an die Literaturschickeria so entsetzt, dass er ihr seine Meinung nicht vorenthalten mag. Als Edith auch noch hinter seine Affäre kommt und ihn vor die Tür setzt, ist Henri-John gezwungen, über seine Prioritäten im Leben neu mit sich zu verhandeln. Er nistet sich im Haus seines Freundes Oli am Meer ein und beginnt mit dem Herumtreiber Finn, die Treppe zum Meer neu zu bauen. In der Zeit erinnert sich Henri-John - nicht zuletzt durch das Lesen von Ediths Tagebuch – an wilden Zeiten seiner Jugend zurück und findet langsam heraus, dass er Edith zurückgewinnen will… 
„Meine Probleme waren nicht aus der Welt, aber dank ihm hatte ich die schlimmsten Klippen umschifft. Ich war wieder zu Kräften gekommen, und mein Verstand war klar. Ich hatte aufgehört, über mein Schicksal zu jammern. Die Wunde war nicht verheilt, aber ich glaubte inzwischen, mit ihr leben zu können, weil ich sie akzeptiertem weil sie mir vertraut war, weil Finn, sagen wir, eine Art hatte, seinen Hammer zu schwingen, die mich mit der Welt versöhnte.“ (S. 259) 
Der von US-amerikanischen Autoren wie Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger beeinflusste Philippe Djian hat nie verhehlt, dass es ihm vor allem um Stil und Sprache geht, und so bilden die Figuren und die Geschichte nur den Rahmen, um mit der Sprache zu jonglieren. Darin hat sich der französische Schriftsteller bereits in seinen frühen Roman als wahrer Fabulierkünstler erwiesen. Mit seinem Roman „Pas de deux“ (der deutsche Titel bezieht sich auf einen Teil des „Nussknacker“-Balletts von Peter Tschaikowsky) erzählt Djian die komplexe Lebensgeschichte eines Musikers, in dessen Erinnerungen vor allem die ersten sexuellen Erfahrungen mit einer reifen Frau wie Romana und nachfolgenden Eroberungen einen breiten Raum einnehmen. Djian ist ein Schriftsteller, der pornographische Inhalte zu einem literarischen Erlebnis macht. 
Seitenlang vermag er die Lust an weiblichen Reizen und an erotischen Handlungen kunstvoll zu beschreiben, ohne dass es einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Doch darüber hinaus erweist sich „Pas de deux“ als feinsinniger Entwicklungsroman. Djian lässt seinen Protagonisten in den Tagebüchern seiner Frau und Briefen seines Freundes Oli schwelgen, führt so immer wieder eine andere Perspektive in den Plot ein, mit der sich Henri-John gezwungenermaßen auseinandersetzen muss, will er seine Frau wieder zurückgewinnen. Dabei entwickelt die Geschichte, die zwischen den ausgehenden 1950er Jahren und der heutigen Zeit pendelt, einen faszinierenden Sog, gelingt es Djian doch vorzüglich, seine Figur mit wahrer emotionaler Tiefe auszustatten und so reifen zu lassen. 
 

Stephen Crane – „Das Monster und andere Geschichten“

Dienstag, 6. September 2022

(Pendragon, 272 S., HC) 
Stephen Crane (1871-1900) war leider kein langes Leben vergönnt, doch da er bereits im Kindesalter zu schreiben begann, hat er der Nachwelt ein umfangreiches literarisches Vermächtnis hinterlassen. H.G. Wells bezeichnete ihn als „besten Schriftsteller unserer Generation“, Paul Auster widmete Crane mit „In Flammen“ erst kürzlich eine eigene Biografie. 
Hierzulande ist von ihm vor allem der Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ aus dem Jahre 1895 bekannt, der 1951 von John Huston erstmals verfilmt wurde und seither zwei Remakes erfuhr. Der Pendragon-Verlag hat es sich dankenswerter Weise zur Aufgabe gemacht, die großen Lücken seiner Werke in deutscher Übersetzung zu füllen. Nach der Story-Sammlung „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ folgt nun mit „Das Monster und andere Geschichten“ eine weitere Kollektion meist beachtenswerter Erzählungen, die vor allem den naturalistischen Stil des Schriftstellers veranschaulichen. 
Im Mittelpunkt der Sammlung steht der Kurzroman „Das Monster“, der ähnlich wie andere Geschichten in der fiktiven, Port Jervis nachempfundenen Stadt Whilomville spielt und in dem Stephen Cranes junges Alter Ego Jimmy Trescott die Hauptrolle spielt. Als im Haus seines Vaters, Dr. Trescott, ein Feuer ausbricht, ist es der schwarze Stallknecht Henry Johnson, der dem Jungen das Leben rettet, allerdings selbst so schwer verletzt wird, dass er in der Nachbarschaft bereits für tot erklärt wird. Zwar überlebt Johnson, doch mit seinem furchtbar entstellten Gesicht wird er als „Monster“ betrachtet und ausgegrenzt. Selbst der herzensgute Doktor wird von dieser Ausgrenzung betroffen, als seine Patienten andere Ärzte aufsuchen, die weit weniger qualifiziert sind. 
Jimmy Trescott taucht auch in „Redner in Nöten“ auf, einer Geschichte, die dem jungen Protagonisten vor Augen führt, dass er für immer unfähig sein würde, öffentliche Vorträge zu halten, in „Der kleine Engel“ und „Das kleine Biest“
Wie schon in seinem ersten Roman „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ beschreibt Crane vor allem das Leben einfacher Menschen. Bereits als Journalist in New York berichtete er über das Leben in den Slums der Stadt. Der amerikanische Bürgerkrieg, den Crane so eindrücklich in seinem berühmtesten Werk „Die rote Tapferkeitsmedaille“ thematisierte, spielt auch in „Das kleine Regiment“ eine Rolle, wo die beiden Brüder Dan und Billy Dempster ihre ganz eigene Fehde austragen. 
„Hinsichtlich ihrer Position in der Rangordnung hatten sie gelernt, solch verwirrende Situationen zu akzeptieren, und waren mittlerweile Träger eines einfachen, aber völlig unverrückbaren Glaubens, dass irgendjemand dieses Durcheinander durchschaute. Auch wenn man ihnen versichert hätte, dass die Armee ein kopfloses Monstrum sei, hätten sie bloß genickt, mit dem den Veteranen eigenen Zynismus. Als Soldaten hatten sie damit nichts zu tun.“ (S. 207) 
Dass Crane aber auch über einen feinsinnigen Humor verfügte, bewies er mit Geschichten wie „Zwölf Uhr“, in denen eine Kuckucksuhr für Aufsehen sorgt, und „Ein Hirngespinst in Rot und Weiß“, wo ein Mann die Mutter seiner Kinder tötet und den Kindern anschließend geschickt eintrichtert, einen ganz anders aussehenden Mann als Täter zu identifizieren. 
Berücksichtigt man das junge Alter, in dem Crane all diese Erzählungen verfasst hat, zeugen gerade die längeren Geschichten wie „Das Monster“ und „Das kleine Regiment“ von einer persönlichen wie schriftstellerischen Reife, die umso bemerkenswerter erscheint, da die Geschichten oft aus der kindlichen Perspektive des Jungen Jimmy Trescott erzählt werden und so auch immer ein Staunen über die Abläufe in der Welt zum Ausdruck bringen. 
Darüber hinaus sind die Beschreibungen des Lebens ganz gewöhnlicher Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert so lebendig und detailliert, dass es nicht verwundert, wenn die Strahlkraft von Cranes Schaffen bis in die heutige Zeit anhält und renommierte Autoren wie Paul Auster animiert, sich intensiver mit Leben und Werk des hierzulande noch viel zu unbekannten Schriftstellers auseinanderzusetzen. In seinem Nachwort gibt der Übersetzer Lucien Deprijck noch wertvolle Einblicke in Cranes Biografie und ordnet beispielsweise die Verwendung von Begriffen wie „Neger“ und „Nigger“ in den historischen Kontext ein. 

 

Dan Simmons – „Das Schlangenhaupt“

Freitag, 2. September 2022

(Goldmann, 478 S., Tb.) 
Dan Simmons hat sich seit Mitte der 1980er Jahre mit preisgekrönten Horror-Romane („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“) und Science-Fiction-Epen („Hyperion“, „Die Feuer von Eden“) weltweit einen Namen gemacht. Ende der 1990er Jahre begann der US-amerikanische Bestseller-Autor, sich auch in anderen Genres zu versuchen. Neben der hierzulande kaum bekannten Thriller-Reihe um den Privatdetektiv Joe Kurtz erschien nach Simmons‘ sehr gutem Thriller-Debüt „Fiesta in Havanna“ mit „Das Schlangenhaupt“ ein weiterer gelungener Roman, in dem der Autor vor allem seinen Sinn für ungewöhnliche Settings unter Beweis stellte. 
Dr. Dar(win) Minor ist ein Spezialist für die Rekonstruktion von Unfallursachen in Kalifornien und wird von seinem Chef Lawrence Steward vor allem immer dann zu Unfällen hinzugezogen, bei denen sich die Polizei vor Ort überhaupt keinen Reim auf den Unfallhergang machen kann bzw. wenn der Verdacht besteht, dass Unfälle vorgetäuscht wurden, um Versicherungen zu betrügen. Dar befindet sich nach einer Unfallbegutachtung mit seinem Acura NSX wieder auf dem Heimweg außerhalb von San Diego, als er auf dem Highway 15 von einem Mercedes E 340 mit abgedunkelten Scheiben bedrängt wird, bevor das Feuer auf ihn eröffnet wird. 
Dar gelingt es nicht nur, die Schüsse unbeschadet zu überstehen, sondern mit seinem Rennwagen die Verfolgung aufzunehmen und den Mercedes mit seinen beiden Insassen in eine Schlucht stürzen zu lassen. Die Identifizierung der beiden Leichen ergibt, dass es sich um russische Auftragskiller handelte, die offenbar in Verbindung mit organisiert angelegten Versicherungsbetrügen stehen, in denen eine Sonderheit aus FBI, LAPD, San Diego Police Department, California Highway Patrol und anderen Organisationen ermittelt. Um herauszufinden, wer für das Attentat auf Dar verantwortlich ist, soll Dar Teil der Sondereinheit werden, außerdem wird er persönlich von Sydney Olson, der attraktiven Chefermittlerin des Generalstaatsanwalts, bewacht. 
Während sich Dar und Syd allmählich näherkommen, entdecken sie eine Verbindung der Killer zum prominenten Anwalt Dallas Trace… 
„Dar wusste, dass unter allen Soldaten dieser Erde allein Sniper darauf trainiert waren, Gegner zu belauern. Marines und Army-Infanteristen mochten in kleinen Einheiten andere kleine Einheiten oder sogar einen einzelnen Feind belauern, aber allein der Sniper war dafür ausgebildet, mit List und Tücke aus dem Hinterhalt auf weite Entfernung einen bestimmten Menschen zu töten. Und ganz oben auf der Liste eines Scharfschützen stand stets sein gefährlichster Gegner: der feindliche Scharfschütze.“ (S. 427) 
Dan Simmons ist mit „Darwin’s Blade“, so der Originaltitel, ein vor allem thematisch interessanter Thriller mit einem charismatischen Protagonisten gelungen. Wie Simmons immer wieder die ungewöhnlichsten Unfälle beschreibt, die der promovierte Physiker zu bearbeiten hat, zaubert dem Leser immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht, doch übertreibt es der Autor gelegentlich mit den wissenschaftlichen Hintergründen und Berechnungen mit mathematischen Formeln, was dem Lesefluss gelegentlich abträglich ist. 
Das trifft auch auf die übertriebenen und völlig unglaubwürdigen Action-Sequenzen zu. Nachdem Simmons sich so viel Mühe gegeben hat, realistische Szenarien und gut charakterisierte Figuren zu etablieren, driftet er mit seinen wilden Verfolgungsjagden in die Gefilde von James-Bond- und Jason-Bourne-Thrillern ab. 
Doch von diesen Schwächen abgesehen bietet „Das Schlangenhaupt“ Hochspannung pur, wobei der ausführliche Rückblick auf Dars Ausbildung zum Scharfschützen die Tiefe seiner Figur noch unterstreicht. Besonders interessant ausgestaltet ist das nicht immer einfache Verhältnis zwischen dem eigensinnigen Physiker (mit seiner Leidenschaft für schnelle Autos und Segelflieger) und seinem weiblichen „Bodyguard“. 
Wie gut die beiden am Ende miteinander harmonieren, wird bei dem faszinierenden Showdown deutlich, der an Annauds Drama „Duell – Enemy at the Gates“ erinnert und in bester Western-Manier ausgestaltet ist. 

 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 5) „London Rules“

Samstag, 27. August 2022

(Diogenes, 496 S., Pb.) 
Der britische Schriftsteller Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studierte und als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift arbeitete, veröffentlichte bereits in den 2000er Jahren vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm, ehe er 2010 mit dem Roman „Slow Horses“ eine Reihe um ausgemusterte Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes MI5 ins Leben rief, die seit 2018 mit wachsendem Erfolg auch in Deutschland ihr Publikum begeistert. 
Mit „London Rules“ veröffentlicht Diogenes nun den fünften Roman um Jackson Lamb, der als Leiter der verächtlich als „Slow Horses“ betitelten Truppe in Slough House wieder einmal alle Hände voll zu tun hat, seine kuriose Truppe unter Kontrolle zu halten und das Versagen des MI5 auszubügeln. 
Als eine fünfköpfige Söldnertruppe mit Abbotsfield ein ganzes Dorf in Derbyshire auslöscht und spurlos untertaucht, steht Claude Whelan, Chef des britischen Inlandgeheimdienstes MI5, unter Druck, zumal die Attentäter wenig später auch ein Pinguingehege im Londoner Zoo in die Luft sprengen. 
Ob der Anschlag mit einem Auto auf den Ober-Nerd Roderick Ho, den seine Slough-House-Kollegin Shirley Dander im letzten Augenblick verhindern konnte, auch zu dieser Reihe von Attentaten zu zählen ist? Jedenfalls beschließt Shirley mit ihren Kollegen River Cartwright und Louisa Guy, Roddy ein paar Tage lang im Auge zu behalten. Dass der Nerd eine so erstklassig aussehende Freundin wie Kim haben soll, kann nur bedeuten, dass sie ihn ausnutzt. 
Tatsächlich verschwindet sie nach den Attentaten Den Premierminister plagen indes andere Probleme. Das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union könnte ihn die Karriere kosten, zumal sein Konkurrent Dennis Gimball wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist, unterstützt von seiner Frau Dodie, die laufend ätzende Kommentare in ihrer Kolumne gegen den PM veröffentlicht. Die Agenten in Slough House kommen auf den Gedanken, dass die Attentäter es nun auf einen politischen Führer abgesehen haben könnten. Doch die Maßnahmen, die Lambs Agenten trotz des angeordneten Lockdowns durch Lady Di ergreifen, machen die Situation nur schlimmer… 
„Nach den London Rules baute man seine Mauern hoch, und die Reihenfolge, in der man seine Leute darüberwarf, stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Solange er also nützlicher war als Cartwright, ging er nicht als Erster über die Mauer. Coe fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, aber er fühlte sich lebendig, und das war das Allerwichtigste. Zunächst mal saßen sie alle im selben Boot – bis auf Weiteres. Auch das entsprach den London Rules.“ (S. 344) 
Mick Herron schrieb „London Rules“ bereits 2018 – kurz nach dem Referendum, als sowohl die „Brexit“-Befürworter als auch -Gegner in einer Art Schockzustand waren und noch nicht absehen konnten, was der Brexit für die Briten bedeuten würde. Herron nutzt diese Atmosphäre für eine erfrischende Farce, in der sowohl die Politik als auch die Geheimdienste ihr Fett wegkriegen. 
Im Zentrum steht einmal mehr Jackson Lamb, der es sich als Leiter in Slough House bequem eingerichtet hat und über so viel brisante Informationen verfügt, dass er sich auch den „echten“ Agenten in Regent’s Park gegenüber nicht in Zurückhaltung zu üben braucht. Genüsslich lässt er seine ehemalige Kollegin Lady Di, die es auf Whelans Posten abgesehen hat, immer wieder auflaufen, liefert sich mit ihr messerscharfe Dialoge. 
Aber auch Lambs Truppe sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Obwohl allesamt unter der einen oder anderen psychischen Störung leiden, versuchen sie doch, aus der Langeweile ihrer öden Bürojobs auszubrechen und echte Agenten zu sein – mit immer wieder fatalen Folgen, aber letztlich gutem Ende. Mick Herron beweist einmal mehr, dass er mit der Reihe um Jackson Lamb eine der unterhaltsamsten, vor allem aber ungewöhnlichsten Spionage-Romanreihe geschaffen hat, die mittlerweile auf Apple TV+ als Fernsehserie mit Gary Oldman, Kristin Scott Thomas und Jonathan Pryce verfilmt worden ist.  „London Rules“ knüpft mit einem temporeichen Plot, wunderbar spritzigen Dialogen und liebenswert skurrilen Figuren nahtlos an die vier vorangegangenen Romane an und macht neugierig auf die weiteren Fälle, mit denen es Lamb und seine Slow Horses zu tun bekommen werden. 
In England ist mit „Bad Actors“ dieses Jahr schon der achte Band der Reihe erschienen.  

Paul Auster – „Leviathan“

Samstag, 20. August 2022

(Rowohlt, 320 S., HC) 
In den Werken des amerikanischen Schriftstellers Paul Austers spielen Zufälle und die Frage nach Identitäten eine immer wiederkehrende Rolle. In dieser Hinsicht schließt sein fünfter Roman „Leviathan“ nahtlos an „Die Musik des Zufalls“ an. 
Der mysteriöse Tod eines nicht identifizierten Mannes bei einer Explosion bringt den Schriftsteller Peter Aaron im Juni 1990 dazu, über seine ungewöhnliche Freundschaft mit seinem Kollegen Benjamin Sachs nachzudenken und seine Geschichte zu erzählen. Aaron hat nach der Lektüre des Artikels in der New York Times sofort seinen besten Freund wiedererkannt. Zwar hat er ihn seit knapp einem Jahr nicht mehr gesprochen, aber damals war Aaron bereits bewusst geworden, dass Sachs auf eine dunkle, namenlose Katastrophe zusteuerte. 
Kennengelernt haben sich Aaron und Sachs, als sie an einer gemeinsamen Lesung in einer Bar im West Village teilnehmen sollte, die allerdings ausfiel, ohne dass die beiden Autoren informiert wurden. Sachs hatte zu jener Zeit zwei Jahre zuvor den erfolgreichen Roman „Der neue Koloss“ veröffentlicht und konnte auf ein enormes Pensum an qualitativ hochwertigen Artikeln und Essays verweisen. Zu Aarons Überraschung war Sachs aber auch mit den weit weniger bekannten Aufsätzen vertraut, die Aaron in Zeitschriften unterbringen konnte. 
Über die intensive Diskussion über ihre Arbeiten und Lebenserfahrungen an jenem Abend an der Bartheke entwickelte sich eine enge Freundschaft, die ihre Höhen und Tiefen aufwies. Interessanterweise war Aaron mit Sachs‘ Frau Fanny aus seiner eigenen College-Zeit bekannt und damals sogar in sie verliebt, doch war sie damals schon mit Sachs verheiratet, der allerdings seine Gefängnisstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung absaß… Aaron heiratet Delia, doch nicht zuletzt die anhaltenden Geldsorgen führen zu Streits und schließlich zur Trennung. Als Sachs für eine Verfilmung seines Romans für einige Zeit nach Hollywood muss, beginnen Fanny und Aaron eine Affäre, die mit Sachs‘ Rückkehr abrupt endet. Die gemeinsame Bekanntschaft mit der Künstlerin Maria Turner bedeutet eine radikale Kehrtwendung im Leben der beiden Schriftsteller. 
Während Aaron allmählich auf eine gewisse Stabilität bauen kann, seinen ersten Roman „Luna“ veröffentlicht und mit Iris seine zweite Frau kennenlernt, stürzt Sachs während einer Party aus dem vierten Stock eines Hochhauses, überlebt allerdings mit viel Glück. Danach will Sachs sein Leben ändern, zieht von New York aufs Land, beginnt an seinem neuen Roman „Leviathan“ zu arbeiten und wird unversehens im Wald zum Mörder und schließlich zum Freiheits-Aktionisten, der überall im Land Freiheitsstatuen sprengt… 
„Und genau das ist es, was mir noch immer zu schaffen macht, das Rätsel, dessen Lösung ich noch immer nicht gefunden habe. Sein Körper erholte sich wieder, aber er selbst war nicht mehr der alte. In diesen wenigen Sekunden vor de Aufprall scheint Sachs alles verloren zu haben. Sein ganzes Leben ist dort in der Luft in Stücke gegangen, und von diesem Augenblick bis zu seinem Tod vier Jahre später hat er es nicht wieder zusammensetzen können.“ (S. 145) 
Es ist wieder einmal das Spiel mit Zufällen und wechselnden Identitäten, das Paul Auster in „Leviathan“ so souverän wie kein Zweiter beherrscht. Schon die Bekanntschaft der beiden Schriftsteller in einer Bar nach einer abgesagten Lesung, bei der Aaron kurzfristig für einen anderen Autor einspringen musste, wirkt wie ein glücklicher Zufall, was durch den Umstand verstärkt wird, dass Aaron einst in Sachs‘ Frau Fanny verliebt gewesen war und später eine Affäre mit ihr unterhält. Ein Zufall führt Sachs auch zu einer vermeintlichen Abkürzung durch einen Wald, bei dem der Schriftsteller in eine Schießerei gerät und einen Mann namens Dimaggio erschießt, nachdem dieser den Jungen tötete, der Sachs freundlicherweise in seinem Wagen mitgenommen hatte. 
Und wie wahrscheinlich mag es wohl sein, dass Dimaggio mit Maria Turners bester Freundin Lillian Stern verheiratet gewesen ist? Man muss sich schon auf diese merkwürdigen Zusammenhänge einlassen können, ebenso auf die Herausforderungen, mit denen sowohl Sachs als auch Aaron beim Meistern ihres jeweiligen Lebens zu kämpfen haben. Allerdings verfügt Auster über ein so ausgeprägtes Sprachgefühl, dass seine Geschichte einen verführerischen Sog entwickelt, der die Ereignisse ganz natürlich erscheinen lässt. 
Es lassen sich auch einige autobiographische Züge in „Leviathan“ entdecken, so Peter Aarons und Paul Austers identische Initialen, ein Frankreichaufenthalt, eine erfolglose Zeit in Beruf und Ehe, die Tatsache, dass der Name von Aarons zweiter Frau Iris rückwärts geschrieben den Namen von Austers zweiter Frau Siri ergibt. Schließlich ist die Konzeptkünstlerin Sophie Calle Vorbild für Austers Figur der Maria Turner gewesen. 
Mit „Leviathan“ ist Auster ein vielschichtiger Roman über die ungewöhnliche Freundschaft zweier unterschiedlicher Schriftsteller gelungen, in dem Aaron als Ich-Erzähler von dem chronologischen Ende aus, dem Tod von Benjamin Sachs, halbwegs chronologisch die Geschichte Sachs‘, aber auch seine eigene erzählt, schließlich gibt es immer wieder die überraschendsten Berührungspunkte. 
Er erzählt vor allem von den Schwierigkeiten, seinen Platz im Leben zu finden, von Ereignissen, die dem Leben plötzlich eine ganz andere Richtung verleihen. Dabei sind Auster die Charakterisierungen auch der Nebenfiguren, also vor allem der Frauen, ausgezeichnet gelungen. 

 

Joe Hill – „Strange Weather“

Sonntag, 14. August 2022

(Festa, 652 S., HC) 
Der 1972 als Sohn von Bestseller-Horror-Autor Stephen King und dessen Frau Tabitha geborene Joseph Hillström King hat unter seinem Pseudonym Joe Hill bereits die auch hierzulande erfolgreichen Romane „Blind“, „Teufelszeug“, „Christmasland“ und „Fireman“ veröffentlicht, doch ebenso wie sein übermächtiger Vater hat Hill auch Gefallen an kürzeren Erzählformen wie der Kurzgeschichte und der Novelle gefunden. Da fällt der Apfel eben nicht weit vom Stamm. Mit „Black Box“ ist bei Heyne bereits 2008 eine erste Kurzgeschichten-Sammlung von Joe Hill erschienen, mit „Vollgas“ legte Festa 2021 eine weitere Kollektion vor. Zuvor erschien mit „Strange Weather“ eine Sammlung von vier Novellen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. 
Mit „Schnappschuss“ begleiten wir Joe Hill auf eine kleine Zeitreise in die 1980er Jahre, als die Sofortbildkamera Polaroid der letzte Schrei gewesen ist. Hier lernen wir einen dreizehnjährigen Jungen namens Michael Figlione kennen, der sich in dem kleinen Ort Golden Orchards im Norden Cupertinos ein wenig um die zunehmend demente Nachbarin Shelly Beukes kümmert, die sich bis 1982 noch um den Haushalt der Familie des Jungen gekümmert hatte. Sie warnt ihn, dass er sich vor dem Polaroid-Mann in Acht nehmen sollte. Als Michael an der Tankstelle tatsächlich dem Mann mit der Kamera begegnet, geschehen merkwürdige Dinge, denn mit jedem Bild, das mit der Kamera geschossen wird, scheint eine Erinnerung des Portraitierten gelöscht zu werden… 
In „Geladen“ hadert Randall Kellaway mit seinem Schicksal. Nach seinem Einsatz im Irak hatte sich Kellaway sowohl bei der State Police, der örtlichen Polizei, dem Sheriff’s Office und dem FBI beworben, doch beim FBI hat er den psychologischen Aufnahmetest nicht bestanden, bei all den anderen Behörden kam es nicht mal zum Vorstellungsgespräch. Nun schiebt er als Sicherheitsbeamter in einem Einkaufszentrum Dienst und ist verärgert darüber, dass seine Ex-Frau Holly eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt hat, dass er ihr und ihrem gemeinsamen Sohn George gegenüber einen Abstand von mindestens 300 Metern einhalten muss. Sein einziger Freund Jim Hirst sitzt zwar im Rollstuhl und leidet darunter, dass seine Frau fremdgeht, dafür nennt er eine ansehnliche Waffensammlung sein eigen. Davon profitiert schließlich auch Kellaway, als er eines Tages im Einkaufszentrum in den Juwelierladen „Devotion Diamonds“ von Roger Lewis stürmt, um ein Massaker zu verhindern. Rog hatte nämlich gerade mit seiner 20-jährigen Angestellten und Geliebten Becki Schluss gemacht, die ihn daraufhin mit einer .357er erschoss. Als Kellaway in den Laden stürmt, schaltet er allerdings nicht nur die Schützin aus, sondern auch eine muslimische Frau mit ihrem Baby und einen fettleibigen Zeugen. Von der Presse wird Kellaway als Held gefeiert, doch die Reporterin Aisha Lanternglass kommt nach und nach den wahren Ereignissen auf die Spur… Nachdem die 23-jährige June Morris vom Krebs dahingerafft worden ist, haben sich ihre beiden Brüder Brad und Ronnie, ihre beste Freundin Harriet Cornell und Aubrey dazu entschlossen, zu ihrem Gedenken einen Fallschirmsprung zu absolvieren. Während Junes Brüder jedoch schon Erfahrungen mit dem Springen gemacht haben, ist es für Aubrey und Harriet das erste Mal. 
Vor allem Aubrey hat „Hoch oben“ große Angst vor dem Absprung, doch als der Motor des Flugzeugs ausfällt, bleibt ihm letztlich nichts anderes übrig, als auch zu springen. Zu seiner Überraschung landet er dabei auf einer festen Wolke, auf der Dinge entstehen, die Aubrey kurz zuvor noch gedacht hatte. Seine Zeit verbringt Aubrey dabei vor allem mit den Erinnerungen daran, wie er Harriet kennen und lieben gelernt hat. 
Mit „Regen“ hat Hill schließlich sein eigenes Weltuntergangsszenario geschaffen. Bei einem Gewitter über Boulder, Colorado, regnet es nämlich keine Wassertropfen, sondern nadelspitze Metallsplitter, die ein Meer der Verwüstung hinterlassen. Was zunächst als terroristischer Anschlag betrachtet wird, scheint sich allerdings als natürliches, wenn auch seltenes Phänomen zu entpuppen, bei dem durch Blitze eine Form des Kristalls Fulgurit entsteht. Die 23-jährige Honeysuckle Speck verliert durch den Nadelregen ihre Geliebte Yolanda und macht sich zu Fuß auf den Weg ins dreißig Kilometer entfernte Denver, um Yolandas Vater über den Tod seiner Tochter zu unterrichten… 
„Novellen sind Killer, keine Füller, sie kommen auf den Punkt, wo Romane ausschweifend werden. Sie haben die Ökonomie von Kurzgeschichten, sind aber aufgrund ihrer Länge in der Lage, eine Charakterisierung zu erreichen, die wir üblicherweise bei Romanen erwarten“, fasst Hill im Nachwort von „Strange Weather“ die Eigenschaften der Novelle zusammen. Besonders originell sind die hier vier vereinten Geschichten zwar nicht gelungen, dafür versteht der Autor es ähnlich wie sein Vater hervorragend, den Plot einer Geschichte mit Kommentaren zur Gesellschaft zu versehen. 
Während „Schnappschuss“ vor allem als Coming-of-Age-Story mit einem vertrauten übernatürlichen Element überzeugt, stellt „Geladen“ natürlich einen bissigen Kommentar auf die schwer nachvollziehbare Liebe der Amerikaner zu ihren Waffen dar. „Hoch oben“ gefällt weniger durch das sicher interessante Setting als durch Aubreys Charakterisierung, wie sie durch seine Erinnerungen und seine Liebe zu Harriet zum Ausdruck kommt. Und bei „Regen“ ist es die lesbische Liebesgeschichte, die im Vordergrund steht, aber auch traditionelle Werte wie Familie und Hilfsbereitschaft kommen bei dem dystopischen Szenario nicht zu kurz, auch wenn Plünderungen, Morde und überzogene Reaktionen auf die Katastrophe das beherrschende Thema zu sein scheinen. 
Die beiden bei Festa erschienenen Sammlungen von Joe Hill sind sicher keine Must-Reads, nicht mal für Joe-Hill-Fans, doch ebenso wie „Vollgas“ bietet auch „Strange Weather“ einige nette Ideen, einen flüssigen Schreibstil, eine Art von Humor, wie man sie bereits von Stephen King her kennt, und ausgefeilte Figurenzeichnungen, die zu den bemerkenswertesten Stärken des Autors und seiner Geschichten zählen.

Michael Connelly – (Renée Ballard: 3, Harry Bosch: 22) „Glutnacht“

Montag, 8. August 2022

(Kampa, 464 S., HC) 
Nach der Beerdigung seines alten Mentors John Jack Thompson bekommt der pensionierte LAPD Detective Harry Bosch von Thompsons Witwe Margaret ein Mordbuch in die Hände, das Thompson offenbar noch vor seiner Pensionierung mit nach Hause nahm. Von seinem Lehrmeister hat Bosch das Credo übernommen, dass es keine Toten erster und zweiter Klasse gebe, dass jeder Fall persönlich genommen werden müsse. Als sich Bosch mit der entwendeten Akte auseinandersetzt, fragt er sich allerdings, was Thompson dazu bewogen haben könnte, ausgerechnet diese Akte zu entwenden und zwanzig Jahre unter Verschluss zu halten, denn Notizen zu dem Fall scheint er nicht gemacht zu haben. 
Dabei geht es um einen dreißig Jahre zurückliegenden Drogendeal, der für den mutmaßlichen Informanten John Hilton mit einer Kugel im Kopf endete. Da Bosch selbst nicht mehr im aktiven Dienst ist und darüber hinaus noch mit seinem neuen Kniegelenk Probleme beim Laufen hat, ist er auf die Unterstützung von Renée Ballard angewiesen, die in der Nachtschicht der Hollywood Division eingesetzt ist und seit einiger Zeit mit Bosch zusammen an Cold Cases arbeitet. 
Nachdem sie selbst den Tod eines Obdachlosen untersucht, der hochalkoholisiert in seinem Zelt verbrannt ist, nachdem eine Öllampe umgekippt war, teilt sie sich die Arbeit an dem Hilton-Mord mit Bosch auf. Schließlich kommen sie dem Gangster Elvin Kidd auf die Spur, der eine Zeitlang mit Hilton eine Affäre unterhielt, die er offensichtlich nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen lassen wollte.
Interessanterweise gibt es durch eine Auftragskillerin eine Verbindung zu einem Fall, den Boschs Halbbruder Mickey Haller gerade bearbeitet. Er verteidigt mit Jeffrey Herstadt einen Mann, der für den Mord an dem Richter Montgomery angeklagt worden ist. Als Herstadt freigesprochen wird, entwickelt Bosch den Ehrgeiz, den wahren Mörder des Richters zu finden… 
„Bosch hatte es nie besondere Genugtuung bereitet, einem Mörder Handschellen anzulegen. Er wollte wegen des Sohnes dabei sein. Wegen des Opfers. Offensichtlich war es John Hiltons leiblichem Vater egal gewesen, wer ihn umgebracht hatte. Nicht so Bosch. Er wollte dabei sein. Entweder zählte jeder, oder es zählte keiner. Für Thompson war das vielleicht nur eine Floskel gewesen. Für Bosch nicht.“ (S. 350) 
Raymond Chandler war mit der Erschaffung des melancholischen Privatdetektivs Philip Marlowe nicht nur ein Pionier in Sachen Hardboiled Krimi, sondern offensichtlich auch die richtige Inspiration für Michael Connelly, der seinerseits mit seiner Figur Harry Bosch eine Ikone der Kriminalliteratur geschaffen hat. Zwischenzeitlich hat er auch kleinere Reihen mit anderen Figuren initiiert, aber Bosch tauchte dabei stets in kleineren oder größeren Rollen auf, so auch in dem ersten Band der Reihe um Nachtschicht-Detective Renée Ballard, die es in „Glutnacht“ wieder mit ihrem ehemaligen Chef Olivas zu tun bekommt, dem sie einst sexuelle Belästigung vorgeworfen hatte. Das hatte ihr zwar die Versetzung in die Nachtschicht der Hollywood Division eingebracht, aber mittlerweile will sie gar nicht mehr woanders hin. 
Auch wenn man die beiden vorangegangenen Ballard-Bände „Late Show“ und „Night Team“ nicht gelesen haben sollte, kommt man gut in „Glutnacht“ rein. Connelly hat es längst zur Meisterschaft gebracht, den Polizeialltag nicht nur authentisch, sondern auch spannend zu beschreiben und dabei verschiedene Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Die Vorgeschichten von Bosch und Ballard fließen bei der Charakterisierung der Figuren immer wieder mit ein. Aus der anfänglichen Nebenrolle, die Bosch noch in „Late Show“ einnahm, ist mittlerweile eine gut funktionierende Partnerschaft geworden. Da Bosch als Pensionär keinen Zugriff mehr auf die Mittel seiner Dienststelle hat, ist er ohnehin auf die Mitwirkung eines aktiven Polizisten angewiesen, und die Chemie zwischen Bosch und Ballard stimmt einfach. 
Akribisch beschreibt Connelly die einzelnen Ermittlungsschritte, lässt kleinere Fälle mit einfließen, wie es im Polizeialltag nun mal gang und gäbe ist, und manchmal führen die Spuren zu den Fällen, mit denen Bosch und Ballard sich gerade beschäftigen. „Glutnacht“ überzeugt dabei durch gewohnt treffende Figurenzeichnungen, interessante Haupt- und Nebenplots und einen gefälligen Schreibstil, der die einzelnen Elemente wunderbar miteinander in Einklang bringt. Das ist Krimi-Stoff auf allerhöchstem Niveau! 

 

Lee Child – (Jack Reacher: 24) „Die Hyänen“

Donnerstag, 4. August 2022

(Blanvalet, 414 S., HC) 
Der ehemalige Elite-Militärpolizist Jack Reacher ist mal wieder mit dem Greyhound-Bus unterwegs, diesmal auf der Interstate, gut siebzig Kilometer von einer namenlosen Stadt mit ungefähr einer halben Million Einwohnern entfernt. Vor ihm bemerkt Reacher einen ca. siebzig Jahren alten Mann, der auf seinem Sitz schläft und aus dessen Jacke ein Umschlag mit Bargeld ragt, auf den es offensichtlich ein junger schlaksiger Kerl direkt vor Reacher abgesehen hat. 
Als der alte Mann aus dem Bus steigt, behält Reacher ihn im Auge und kann im letzten Moment verhindern, dass der gebrechliche alte Mann um sein Geld gebracht wird. Er erfährt, dass der Mann namens Aaron Shevick bis um 12 Uhr in einer Bar 22.500 Dollar abliefern muss, die er und seine Frau Maria sich für die Behandlung ihrer krebskranken Tochter Meg bei einem örtlichen Kredithai geliehen hatten. Doch der Mann, dem Shevick das Geld übergeben soll, lässt sich durch den Barkeeper auf 18 Uhr vertrösten. 
Reacher begleitet Shevick erst nach Hause und kehrt mit ihm um 18 Uhr zur Bar zurück, wo allerdings ein anderer Mann an dem üblichen Tisch sitzt. Reacher gibt sich für Shevick aus, bezahlt dem neuen Mann nur einen Bruchteil der Summe, die die Shevicks den Albanern geschuldet haben, und gerät unversehens zwischen die Fronten von zwei Mafia-Clans aus Albanien und der Ukraine. Gregory, der Boss der ukrainischen Mafia, hat seinen albanischen Kollegen Dino darüber informiert, dass sein Spitzel bei der örtlichen Polizei auf eine Liste gestoßen sei, auf der vier vertrauenswürdige Informanten des Police Departments aufgeführt seien, jeweils zwei aus albanischen und ukrainischen Reihen. Gregory habe seine beiden Leute bereits liquidiert. Doch als Reacher in einer Bar auf die falschen Leute trifft, gerät das Machtgleichgewicht zwischen den Clans ins Wanken. Mit Hilfe der taffen Bedienung Abby findet Reacher für die Nacht einen Unterschlupf, doch als er den Shevicks zu einem weiteren Kredit verhilft, muss er zwangsläufig die Reihen beider Clans lichten, die zunächst vermuten, dass die Russen das Revier übernehmen wollen… 
„Das hatte er schon früher getan. Alles auf eine Karte gesetzt und gewonnen. Auch nach zehntausend Generationen funktionierte sein Instinkt noch immer zuverlässig. Er hatte alles riskiert und war lebend davongekommen. Außerdem sah er die Sache relativ gleichmütig. Niemand lebte ewig. Aber war er bereit, auch Abbys Leben zu verwetten?“ (S. 275) 
Nahezu pünktlich wie ein Uhrwerk liefert Lee Child seit 1997 jedes Jahr einen neuen Roman um seinen Protagonisten Jack Reacher, einen hünenhaften, kräftig gebauten Mann, der nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst, den er überall auf der Welt abgeleistet hatte, heimatlos durch die USA streift, meist nur mit einer Zahnbürste im Gepäck. 
In seinem bereits 24. Abenteuer verschlägt es Reacher also in eine namenlose Stadt, die klar abgegrenzt von zwei Mafia-Clans beherrscht wird. Das Setting ist wieder außergewöhnlich. Reacher eilt einem hilflosen Mann zur Hilfe, legt sich mit beiden Mafia-Clans an, und während er sukzessive seinen Häschern einen Schritt voraus ist, haben weder die Albaner noch die Ukrainer eine Ahnung, wer da in ihren Machenschaften herumpfuscht. Lee Child fokussiert die Story ganz auf die Konfrontation zwischen den beiden Mafia-Clans einerseits und Reachers Vorgehen gegen die Kriminellen andererseits. Das wirkt zunächst wie ein Planspiel, bei dem die normale Welt völlig ausgeblendet wird. Als Außenstehende kommen nur noch Abbys Musikerfreunde Hogan und Barton sowie der mit osteuropäischen Sprachen vertraute Vantresca ins Spiel, was die ungleiche Ausgangslage etwas glaubwürdiger gestaltet. 
Der Plot ist wie bei Child gewohnt schön knackig und spannend inszeniert, wobei seine klar strukturierte Sprache mit kurzen Sätzen das Tempo entsprechend unterstützt. Die Sympathien sind natürlich schnell verteilt, so dass die Leser gar nicht umhin können, Reacher und seinen Helfern die Daumen zu drücken. Da die Action so stark im Vordergrund steht, nimmt sich Child allerdings wenig Zeit für die Figurenzeichnung. Gerade die Beziehung zwischen Reacher und Abby, aber auch die Familiengeschichte der Shevicks hätte mehr Raum zur Ausgestaltung verdient gehabt. 
Wer allerdings straff inszenierte Action ohne große Überraschungen und Wendepunkte zu schätzen weiß, ist mit diesem Action-Thriller bestens bedient.  

Tess Gerritsen – (Rizzoli & Isles: 13) „Mutterherz“

Dienstag, 2. August 2022

(Limes, 382 S., HC) 
2001 veröffentlichte die ehemalige Internistin Tess Gerritsen nach einigen Medizin-Thrillern mit „The Surgeon“ den ersten Band ihrer bis heute erfolgreichen Thriller-Serie um Detective Jane Rizzoli vom Boston Police Department und ihrer Freundin, Pathologin Maura Isles, der ein Jahr später unter dem Titel „Die Chirurgin“ auch hierzulande gleich als Hardcover bei Limes erschien. 20 Jahre später präsentiert die Bestseller-Autorin mit „Mutterherz“ den 13. Band ihrer mittlerweile auch erfolgreich als Fernsehserie adaptierten Thriller-Reihe, wobei vor allem Jane Rizzolis Mutter Angela im Mittelpunkt steht. 
Angela Rizzoli lebt mit ihrem Lebensgefährtin, dem pensionierten Polizisten Vince, im Norden von Boston im beschaulichen Revere, wo bescheidene Einfamilienhäuser wie auf einer Perlenkette aufgereiht die Straßen säumen. Zu ihren Nachbarn unterhält Angela einen guten Draht. Zwar hat sich ihre zuvor beste Freundin Agnes von ihr abgewandt, seit Angelas Mann sich eine Jüngere angelacht hat und sie selbst eine Beziehung mit Vince eingegangen ist, aber mit Larry und Lorelei Leopold spielt sie jeden Donnerstagabend Scrabble. Mittlerweile gehört auch der 62-jährige Junggeselle und Ex-Navy SEAL Jonas mit zur Runde. 
Als das ein Jahr leer stehende Haus des verstorbenen Glen Druckmeyer von einem jüngeren Paar bezogen wird, ist Angelas Neugier schnell geweckt, denn der Umzugswagen der Greens wird erst in der Nacht entladen, die Fenster des Hauses sind den ganzen Tag verschlossen, und als Angela zufällig mitbekommt, dass der Mann eine verdeckte Waffe trägt, ist sie in höchster Alarmbereitschaft. Natürlich informiert sie ihre Tochter über ihre Beobachtungen, auch über das Verschwinden der 16-jährigen Tricia Talley, doch Jane hat gerade ganz andere Sorgen. Zusammen mit ihrem Partner Frost ermittelt sie nämlich im Mordfall Sofia Suarez. Die Intensiv-Krankenschwester wurde auf dem Heimweg mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen, doch ein Motiv können die Detectives zunächst nicht ausmachen. 
Auf der Beerdigung der Krankenschwester wird Amy Antrim, die Tochter von Dr. Antrim, zu dessen Team die Tote gehört hatte, von einem fremden Mann angesprochen, der das Teenager-Mädchen auch danach zu stalken scheint. Interessanterweise wurde Amy vor zwei Monaten nach einem Unfall mit Fahrerflucht besonders herzlich von Sofia Suarez betreut. Die Begegnung mit dem Mann auf dem Friedhof lässt bei Amy unschöne Erinnerungen an ihre Kindheit hochkommen… 
„… warum konnte sie sich nicht an sein Gesicht erinnern? Wo war diese Erinnerung geblieben? Das Einzige, woran sie sich erinnerte, war seine Stimme, sein Gebrüll in der Küche, wenn er schwor, dass er sie nie gehen lassen würde, dass er sie nie aufgeben würde. Ganz egal, wie weit und wie schnell sie davonliefen, er würde sie immer finden. Ist es möglich? Hat er uns jetzt tatsächlich eingeholt?“ (S. 146f.) 
Tess Gerritsen drückt in „Mutterherz“ ordentlich aufs Tempo. Neben dem schwierig zu lösenden Mordfall der Krankenschwester spielt sich der Großteil des Geschehens in Revere und der Nachbarschaft von Jane Rizzolis Mutter Angela ab, die in ihrer zentralen Funktion als Ich-Erzählerin fungiert. Sie geht nicht nur der vermissten Teenagerin nach, die als Ausreißerin bekannt ist, aber auch unter der problematischen Ehe ihrer Eltern zu leiden hat, sondern muss sich auch der Avancen ihres Nachbarn Jonas erwehren, während sich ihr Lebensgefährte gerade um seine Schwester kümmert. 
Und dann sind da natürlich die neuen Nachbarn Green, die sich in ihrem neuen Heim total verschanzen, und der verdächtige Lieferwagen, der nun häufiger in der Straße zu sehen ist. Maura übt derweil am Klavier für das Konzert mit ihrem Krankenhaus-Orchester, in dem auch Dr. Antrim mitwirkt, wobei Jane per Zufall von dem Konzert ihrer Freundin erfährt, und zwar nicht von Maura selbst. 
So wechselt Gerritsen immer wieder die Perspektive zwischen Jane, Angela, Amy und Maura, wobei Mutter-Tochter-Beziehungen zwar im Fokus stehen, aber nie so recht in die Tiefe gegangen wird. Stattdessen springt die Autorin mit ihrem äußerst gefälligen und lebendigen, aber wenig anspruchsvollen Schreibstil von einer Handlung zur nächsten, bis im letzten Viertel die verschiedenen Fäden geschickt zusammengeführt werden. Das ist durchaus spannend, aber auch sehr durchkonstruiert, so dass „Mutterherz“ fast wie ein James-Patterson-Roman wirkt, denn im Vergleich zu früheren Rizzoli-&-Isles-Bänden ist die Charakterisierung der Figuren diesmal durchgängig sehr dünn ausgefallen.  

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 19) „Die Tote im Eisblock“

Samstag, 30. Juli 2022

(Pendragon, 684 S., Pb.) 
Detective Dave Robicheaux kuriert im Krankenhaus gerade seine Verletzungen von der fast tödlichen Schießerei aus, der sein bester Kumpel Clete Purcel im letzten Moment ein glückliches Ende beschert hatte, als er Besuch von dem Cajun-Mädchen Tee Jolie Melton bekommt, die ihm einen bestückten iPod mitbringt und davon erzählt, dass sie mit einem verheirateten, sehr berühmten Mann zusammen sei. Aus einem Gespräch habe sie mitbekommen, dass er von „Zentrierkörben bei Bohrrohren“ sprach. Für Robicheaux ist diese Information nicht nur von Bedeutung, weil sein eigener Vater Big Aldous selbst bei einem Bohrturm-Unglück ums Leben kam, sondern weil gerade erst die Explosion einer Ölbohrinsel vor der Küste Louisianas eine Umweltkatas¬trophe unvorstellbaren Ausmaßes zur Folge hatte. 
Clete hat indes eigene Probleme. Vor seinem Ableben hatte der Gangster Didi Giacano einen Schuldschein von Clete in seinem Safe, der nun an Bix Golightly verkauft worden ist. Golightly taucht schließlich mit einem punkigen Teilzeitkiller namens Waylon Grimes in Cletes Büro auf und verlangt 30.000 Dollar innerhalb einer Woche. Als Clete in die Wohnung seines Erpresser einsteigt, stößt er auf Geschäfte, die der Mann mit gefälschten Gemälden betreibt. 
Wenig später werden Grimes, Frankie Giacano und Golightly erschossen, wobei Clete Zeuge des Mordes an Golightly wird. Besonders brisant ist die Angelegenheit deshalb, weil er seine uneheliche Tochter Gretchen für die Täterin hält, die unter dem Namen Caruso Auftragsmorde ausführt. Wenig später wird die Leiche von Tee Jolie Meltons Schwester Blue in einem Eisblock treibend im St. Mary Parish aufgefunden, von Tee Jolie fehlt jede Spur. 
Für Robicheaux liegt es auf der Hand, dass Pierre Dupree mit der Sache zu tun hat, doch dass Clete eine Affäre mit seiner schönen, aber verhassten Ehefrau Varina Leboeuf anfängt, machen die Ermittlungen nicht leichter. Während immer mehr Tote in diesem verworrenen Netz aus Lügen und Geldgier zu beklagen sind, gerät auch Robicheaux ins Visier der geheimnisvollen Killer, die offenbar beste Beziehungen zu den höheren Gesellschaftskreisen in Louisiana unterhalten. 
Als Gretchen und Cletes Adoptivtochter Alafair entführt werden, gibt es für die beiden Kriegskameraden kein Zurück mehr… 
„Man darf seinem Feind keine Macht einräumen, man darf ihm nicht erlauben, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen. Ich nahm einen Kiefernzapfen in die Hand und warf ihn in hohem Bogen ins Wasser. Es war ein Gefühl, als sei ich am Ende eines langen Tunnels angekommen. Und doch war mein Herz noch immer so schwer wie ein Amboss. Ich wusste, dass ich meinen Frieden erst finden würde, wenn ich die Mörder von Blue Melton aufgespürt – und Tee Jolie in ihre Heimat am Bayou Teche zurückgebracht hatte.“ (S. 391) 
Es ist schon so etwas wie ein Opus Magnum, das der Südstaaten-Schriftsteller James Lee Burke in seinem 2012 als „Creole Belle“ veröffentlichten 19. Band seiner grandiosen Reihe um den Vietnam-Veteran, Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux vorgelegt hat und der nun unter dem nicht ganz so poetischen Titel „Die Tote im Eisblock“ auch hierzulande das Licht der Welt erblickt. 
Burke präsentiert hier nicht nur einen ungewöhnlich hohen Bodycount, sondern auch eine komplexe, undurchschaubare Geschichte, in der die Strippenzieher der Verbrechen, mit denen es Clete, Dave, seine Chefin Helen Soileau und ihr Kollege Dana Magelli vom NOPD es hier zu tun haben. 
Wer am Ende für die unzähligen Morde, Attentate, Entführungen und die Umweltkatastrophe durch das ausgetretene Öl verantwortlich ist und die treibende Kraft hinter den ausgeklügelten Operationen darstellt, wird erst zum actionreichen Finale aufgedeckt. 
Bis dahin erweist sich vor allem die Beziehung zwischen Clete und seiner Tochter Gretchen als interessanteste Konstellation, denn wenn sie tatsächlich hinter den Morden an den drei Gangstern steckt, kann das Cletes Kumpel schwerlich ignorieren. Das sorgt zwar für etwas Knatsch zwischen den beiden Freunden, aber im Kampf gegen das Verbrechen werden sie natürlich wieder zusammengeschweißt. Da bringt Burke Nazi-Verbrechen, Folter mit der Eisernen Jungfrau, mitgefilmte Schäferstündchen, die Varina mit ihren prominenten Gästen unterhielt, und Mafia-Killer mit ins Spiel, so dass es in dem knappen 700-Seiten-Wälzer nie langweilig wird. 
Burke nimmt sich wie gewohnt viel Zeit für die Charakterisierung seiner Figuren, überzeugt mit wunderbar knackigen Dialogen und erweist sich als Meister der Spannung und der Atmosphäre. „Die Tote im Eisblock“ wartet mit allen Finessen und Stärken auf, die ein literarisch anspruchsvoller Krimi nur in sich vereinen kann.  

Dan Simmons – „Fiesta in Havanna“

Freitag, 22. Juli 2022

(Goldmann, 574 S., Pb.) 
Dan Simmons hat seine Schriftsteller-Karriere mit von Beginn an preisgekrönten Werken im Bereich des Horror- und Science-Fiction-Genres begonnen, ehe er 1999 mit „The Crook Factory“ (dt. „Fiesta in Havanna“) nochmals sein Spektrum erweiterte und sein Faible für Geschichten entdeckte, die auf historisch verbürgten Ereignissen basieren. Lange vor seinen Bestsellern „Terror“, „Drood“ und „Der Berg“ entstand mit „Fiesta in Havanna“ ein packendes Spionage-Drama um Ernest Hemingway und prominenten Weggefährten wie dem späteren James-Bond-Autor Ian Fleming und den Schauspielern Marlene Dietrich, Gary Cooper und Ingrid Bergman
Ende April 1942 wird FBI-Special-Agent Joseph „Joe“ Lucas von Direktor J. Edgar Hoover zu sich ins Büro bestellt, offensichtlich weil er zu den wenigen der rund viertausend Special Agents zählt, die bereits Menschen getötet haben. Er wurde im legendären Camp X in der Nähe von Toronto am Ontariosee ausgebildet, wo überwiegend britische Guerillas und britische Spionageagenten – aber eben auch einige wenige FBI-Agenten – auf ihren weltweiten und meist gefährlicheren Einsatz vorbereitet wurden. Nun soll Lucas nach Kuba fliegen, um den vom berühmten Schriftsteller Ernest Hemingway ins Leben gerufenen Spionage-Abwehr-Ring zu infiltrieren. 
Offiziell wird Lucas als von der Botschaft eingesetzter Verbindungsmann zu Hemingway und seiner Geheimdienstorganisation fungieren, soll aber vor allem Hoover Bericht darüber erstatten, was für eine Person Hemingway wirklich ist, von dem gesagt wird, dass er den Kommunisten nahestehe. Lucas erhält Zugang zu der Finca, auf der Hemingway mit seiner dritten Frau Martha Gellhorn in der Nähe von Havanna lebt und stellt schnell fest, dass Hemingway ein waschechter Patriot ist, der ambitionierte Pläne verfolgt, die Japaner und vor allem die Nazis zu jagen. 
Seine sogenannte „Gaunerbande“ ist schnell zusammengestellt. Tatsächlich sticht Hemingways Boot, die „Pilar“ in See, um Jagd auf deutsche U-Boote zu machen, doch dabei decken sie auch einen Ring von Saboteuren auf. Zu diesem Zeitpunkt hat Lucas längst beschlossen, seinem undurchsichtigen Mittelsmann Delgado nur unvollständige Berichte für Hoover auszuhändigen. Statt sich um seine wahrscheinlich schon beendete FBI-Karriere zu kümmern, versucht Lucas mit Hemingway, abgefangene Nachrichten der Nazis zu decodieren und eine Invasion Kubas zu verhindern. Doch damit bringen sich beide Männer ins Lebensgefahr… 
„Was genau war meine Aufgabe? Natürlich Hemingway auszuspionieren. Festzustellen, was er mit seiner idiotischen Gaunerbande im Schilde führte, dem Direktor über Delgado Meldung zu machen und auf weitere Befehle zu warten. Ich sollte den Ratgeber, den Spionageabwehrexperten spielen. Aber sollte ich Hemingway und seinem Team Informationen zukommen lassen? Diesbezüglich hatte mir niemand Anweisungen gegeben. Offenbar war niemand auf die Idee gekommen, die Gaunerbande könnte auf echte Geheimdienstinformationen stoßen.“ (S. 161) 
Als Dan Simmons beschloss, eine fiktive Schilderung von Hemingways Spionageaktivtäten zu schreiben, fiel ihm auf, dass die Zeit zwischen Mai 1942 und April 1943 nur unzureichend dokumentiert war. Also sammelte Simmons alle relevanten Fakten, nahm reale Ereignisse, Geheimdienste und Personen und füllte die besagten Lücken mit spannender Fiktion. Viele Namen wie Ian Fleming und die eingangs erwähnten Hollywood-Schauspieler, mit denen Hemingway eine langjährige Freundschaft unterhielt und die regelmäßig Gast auf seine Finca waren, sind dem Leser natürlich sehr vertraut, aber sie in diesem Kontext wiederzufinden macht einfach Spaß. 
Simmons versteht es, eine komplexe Spionage-Geschichte zu konstruieren, die eines Jason Bourne oder James Bond zur Ehre gereichen, nur spielt diese Geschichte weitaus früher und verströmt eher die Atmosphäre eines Film noir – Femme fatale in Gestalt der Prostituierten Maria inklusive. 
Bei aller Komplexität nimmt sich Simmons jedoch auch viel Zeit für seine Figuren, wobei vor allem der Ich-Erzähler Lucas und natürlich Hemingway wunderbar charakterisiert werden. Allein die Dialoge zwischen den beiden Protagonisten machen „Fiesta in Havanna“ zu einem literarischen Highlight, aber Simmons gelingt es darüber hinaus, die von Paranoia und Kriegsangst geprägte Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens einzufangen – immer auch wieder mit amüsanten Seitenhieben auf das Establishment. So hebt sich „Fiesta in Havanna“ wunderbar von den üblichen Genre-Werken ab und darf als eines von Simmons Höhepunkten seines literarischen Schaffens gelten. 

 

Dean Koontz – (Jane Hawk: 5) „Sühne“

Mittwoch, 13. Juli 2022

(HarperCollins, 575 S., Tb.) 
In den 1980er Jahren avancierte Dean Koontz mit Romanen wie „Unheil über der Stadt“, „Zwielicht“, „Schwarzer Mond“, „Schattenfeuer“, „Mitternacht“ und „Tür ins Dunkel“ neben Stephen King, Clive Barker und Peter Straub zu einem der populärsten Vertreter im Horror-Genre. Es ist nicht nur ein Asteroid nach Dean Koontz benannt, sondern auch einige seiner Werke verfilmt worden (u.a. „Des Teufels Saat“, „Hideaway“, „Phantoms“, „Odd Thomas“). Mittlerweile ist Koontz hierzulande nicht mehr so prominent in den Bücherregalen vertreten, aber produktiv ist er wie eh und je. Zuletzt ist von ihm die Reihe um die ehemalige FBI-Agentin Jane Hawk erschienen, die nach „Suizid“, „Gehetzt“, „Gefürchtet“ und „Rache“ nun mit dem fünften Band „Sühne“ zu einem weitgehend überzeugenden Abschluss kommt. 
Nach dem unerklärlichen Selbstmord ihres Mannes Nick ist die FBI-Agentin einer ganzen Reihe von mysteriösen Selbstmorden auf die Spur gekommen, die nicht nur auf eine mächtige Verschwörung bis in höchste Regierungskreise hindeutete, sondern sie selbst bald zur gesuchtesten Person in den USA machte. Doch die zwangsläufig abtrünnige Agentin gibt nicht klein bei. 
Statt sich von der elitären Gruppe namens Arkadier vereinnahmen zu lassen, sagt sie der weit verzweigten, bestens vernetzten Organisation den Kampf an. Doch das ist aus dem Untergrund heraus schwieriger als geplant, denn in ihrem Plan, die USA nach ihren Vorstellungen umzugestalten, greifen die Arkadier auf Nano-Kontrollmechanismen zurück, die ihren Opfern den freien Willen rauben und sie zu „Angepassten“ machen, die alle Befehle ihrer Führer bedenkenlos ausführen. 
Als einer der Architekten der „größten Revolution der Geschichte“ lädt Wainwright Warwick Hollister den vielversprechenden Filmemacher Thomas Buckle auf sein fünftausend Hektar großes Anwesen auf der Hochebene von Denver ein, um vorgeblich mit ihm über ein neues Filmprojekt zu sprechen. Doch in Wirklichkeit steht Buckle auf einer sogenannten „Hamlet“-Liste, wo charismatische Persönlichkeiten aufgeführt sind, die die Kultur mit falschen Ideen beeinflussen könnten und deshalb ausgemerzt werden müssen. Buckle gelingt jedoch die Flucht bei der von Hollister angesetzten Jagd auf ihn und wird von einem Kriegsveteran mitgenommen, der Buckle die unglaubliche Geschichte über die Techno-Arkadier und ihre Methoden sogar abnimmt und ihm Unterschlupf gewährt. 
Währenddessen hat Jane tatkräftige Unterstützung von ihrem ehemaligen Kollegen Vikram Rangnekar erhalten, der als Hacker-Spezialist versucht, an die Liste mit Namen aller Arkadier zu gelangen und die Kontrollmechanismen auszuschalten. Auch Tom Buckle versucht durch schlichtes Überleben dazu beizutragen, Janes Mission zu unterstützen. 
„Manchmal qualifizierte ein Film sich als Kunst, weil er von Wahrheit handelte. Kunst war nur Kunst, wenn sie bleibende Wahrheiten verkündete; sonst war sie nur Schund oder Propaganda. Jetzt erschien Jane Hawk ihm als lebendige Kunst, die der Wahrheit so verpflichtet war, dass sie ihr Leben für sie riskierte.“ (S. 166) 
Allerdings wird für Jane Hawk die Mission nicht einfacher, als ein Mafia-Boss aus Vegas ihren Sohn Travis in ihre Gewalt bringt… 
Dean Koontz weiß spannende Geschichten in einer fesselnden Sprache zu erzählen. Auch wenn man die vorangegangenen vier Bände nicht gelesen hat, gelingt dem Autor mit der einführenden Episode des Zusammentreffens zwischen Hollister und Buckle eine gelungene Einführung in die Thematik rund um die Techno-Arkadier und ihre per Injektion verabreichten Nano-Kontrollmechanismen. 
Nachdem dieser Einstieg Hollisters Skrupellosigkeit unterstrichen hat, entwickelt sich die Jagd nach Jane Hawk zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Leider verliert sich Koontz immer wieder in unnötigen Nebenhandlungen, führt zu viele Figuren ein, bläht so den Thriller unnötig auf und entwickelt die beiden Haupterzählstränge um Hollister und seine Anhänger auf der einen Seite und Jane mit ihren Verbündeten auf der anderen nicht immer kohärent weiter. 
Doch abgesehen von der holprigen Dramaturgie bietet „Sühne“ gehobene Thriller-Unterhaltung mit gut gezeichneten Figuren und interessanter, wenn auch nicht besonders origineller Thematik. 
Das vorhersehbare Finale fällt allerdings fast unspektakulär aus.