Anthony McCarten – „Ganz normale Helden“

Sonntag, 3. Juli 2016

(Diogenes, 454 S., HC)
Ein Jahr nach dem Tod ihres jüngsten Kindes Donny liegt die Familie von Renata und Jim Delpy in Trümmern. Da Renata nicht verhindern konnte, ihren geliebten Sohn an den Krebs zu verlieren, versucht sie, jeden der Schritte ihres achtzehnjährigen Sohnes Jeff zu kontrollieren, der daraufhin Reißaus nimmt und sich in die virtuellen Welten von www.lifeoflore.com stürzt, wo er als Mentor und Führer sogenannte Noobs – Neulinge – gegen Bezahlung unter seine Fittiche nimmt. Um seinen Sohn aufzuspüren, begibt sich sein Vater Jim, Gründungs-Partner in der Londoner Kanzlei Delpe, Danby, Roland & Partner, auf für ihn völlig unbekanntes Terrain, erschafft einen eigenen Charakter in dem Spiel und versucht dort, Kontakt zur virtuellen Identität seines Sohnes zu erhalten.
Doch bis dahin ist es ein langer Weg, denn AGI – so Jims Name in dem Online-Rollenspiel, den er sich seiner Steuererklärung (adjusted gross income) entliehen hat – muss erst einige Level abschließen, bevor er in die Sphären vordringen kann, in denen sich Jeff als „Merchant of Menace“ bewegt. Währenddessen chattet Renata in einem Internetforum mit Gott und sucht ebenso Trost wie Rat. Doch während Jim und Renata jeder für sich heimlich online nach ihrem noch lebenden Sohn suchen, verlieren sie zunehmend den Bezug zueinander und verlieren sich in den Verlockungen der virtuellen Welten.
„Aufregend ist es, das muss er zugeben. Kein Wunder, dass Kids stundenlang nicht aus ihrem Zimmer kommen, versunken in die Suche nach Strategien zum Überleben. Dass sie nicht kommen, wenn man sie ruft. Jim versteht nun viel besser, wie schwer es ist, ein solches Spiel mitten in einer Mission zu unterbrechen, gerade wenn es um alles geht, und das nur, um zum Abendessen zu kommen, die Figuren allein in der Gefahr zurücklassen, fast schon Menschen, deren Verschwinden oder Tod man betrauern würde.“ (S. 187) 
Jim findet Gefallen an den Missionen und Kämpfen in LOL, lernt mit Kayla eine aufregende Frau kennen und ist mit sich im Unreinen, ob er mit einer virtuellen Affäre seine Frau betrügen würde. Jim flüchtet aber nicht nur online aus der Krise in der Ehe, er kauft ein sanierungsreifes Landhaus und zieht sich dort immer öfter zurück, um mit dem Bauunternehmer Lance an ihm zu arbeiten. Darunter hat aber nicht nur Jims Arbeit in der Kanzlei zu leiden …
„Ganz normale Helden“ stellt die unmittelbare Fortsetzung des einfühlsamen Romans „Superhelden“ dar, in dem Donald Delpys Kampf gegen den Krebs im Mittelpunkt der Geschichte stand, aber auch die Verwirklichung seines Wunsches, einmal vor seinem Tod mit einer Frau zu schlafen. Um die Verwirklichung von Träumen geht es indirekt auch in der Fortsetzung, in der Donalds und Jeffs Eltern die treibenden Figuren sind. Sie stehen als Eltern eines viel zu früh verstorbenen Sohnes und eines aus dem Elternhaus geflüchteten Achtzehnjährigen vor der großen Herausforderung, ihre Familie an der Trauer nicht zerbrechen zu lassen, ihren noch lebenden Sohn nicht auch noch für immer zu verlieren, aber auch sich selbst nicht zu sehr auseinanderzuleben. McCarten erweist sich einmal mehr als einfühlsamer Erzähler, der seine Figuren verschiedene Stadien der Trauer, Wut, Verzweiflung, Hoffnung, Lust und Flucht durchleben lässt. Vor allem der Eskapismus, den seine Protagonisten betreiben, indem sie in der virtuellen Welt nach Antworten, Hoffnung und Vergebung suchen, ist sehr anschaulich dargestellt. Auch die Durchdringung von virtueller und realer Welt beschreibt McCarten sehr eindringlich, vor allem wenn Jeff seinen Online-Meister Luther im wirklichen Leben kennenlernt und erste homosexuelle Erfahrungen macht.
Dem neuseeländischen Bestseller-Autor („Englischer Harem“) ist mit „Ganz normale Helden“ eine gelungene Fortsetzung seines Meisterwerks „Superhero“ gelungen. Indem er diesmal die Erzählung auf die trauernden, einsamen Eltern fokussiert, fällt sie nicht so humorvoll aus wie der Vorgänger, sondern schildert auf schmerzlich-intensive Weise, wie sich einst Liebende nach einer Tragödie auseinanderleben und ebenso hilf- wie orientierungslos nach Auswegen aus ihrem emotionalen Ausnahmezustand suchen.
 Leseprobe Anthony McCarten - "Ganz normale Helden"

Jack Ketchum – „Jagdtrip“

Sonntag, 26. Juni 2016

(Heyne, 351 S., Tb.)
Seit seiner Zeit in Vietnam ist Lee nicht mehr derselbe. Seine Frau Alma empfindet zunehmend Angst um sich und ihren gemeinsamen fünfjährigen Sohn Lee Jr., weil Lee unter Verfolgungswahn leidet und immer wieder zu plötzlichen Gewaltausbrüchen neigt. Um sich und seine Familie nicht weiter zu gefährden, zieht er sich mit seinem Hund in den Wald zurück, schützt die dort angelegten Marihuana-Pflanzen mit tödlichen Fallen, wie er sie in Vietnam gesehen hat.
Seine Ruhe wird durch einen Trupp Camper gestört, dem der erfolgreiche Schriftsteller Kelsey ebenso angehört wie seine Frau Caroline, seine Geliebte Michelle, sein Agent Alan Walker, sein Freund und weit weniger erfolgreiche Schriftsteller-Kollege Charles Ross und der Fotograf Walter Graham. Mit Zelten, Verpflegung und Gewehren bewaffnet, gehen sie auf die Jagd und werden selbst zu Gejagten, als sie zufällig auf Lees Rauschmittelfeld stoßen.
„Während Lee die Männer beobachtete – durch das Gestrüpp, durch Eschen, die ihm die Sicht nahmen, und durch das Flimmern der Hitze -, verharrte sein Hund mit aufgerichtetem Nackenfell in wachsamer Lauerstellung. Das Sonnenlicht, das durch die Bäume drang, zeichnete Tarnflecken auf ihre Gestalten. Sie waren und sie waren nicht …
Cops, Zivilisten, Soldaten, Vietcong.
Aber wer immer sie waren, sie hatten ihn aufgespürt. Einer von ihnen schoss Fotos. Ein anderer riss einen Zweig ab. Am Ende des Zweiges wuchsen Blätter und Blütenkapseln. Sein Zweig. Seine Blätter. Seine Blütenkapseln. Und damit mischte sich in seine Angst nun auch Ärger.“ (S. 151f.) 
In seinem Vorwort („Was hast du während des Krieges getan, Daddy?“) zu dem ursprünglich 1987 unter dem Titel „Cover“ veröffentlichten Roman „Jagdtrip“, den der Heyne Verlag in seinem Hardcore-Programm nun als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, beschreibt Jack Ketchum ausführlich, wie schwierig es für ihn als Autor, der nicht am Vietnam-Krieg teilgenommen hat, gewesen ist, Erfahrungen von Veteranen glaubwürdig zu schildern, weshalb er viele Bücher zum Thema gelesen, vor allem aber viele Gespräche mit ungewöhnlich erzählfreudigen Veteranen geführt hat. Dadurch ist Ketchum mit „Jagdtrip“ mehr als nur ein konventioneller Horrorroman gelungen, in dem Camper von degenerierten kannibalistischen Waldbewohnern zerstückelt werden, sondern auch eine überraschend tiefgründige Auseinandersetzung mit den Traumata, die viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Vietnam mit nach Hause brachten.
Vor allem bei Lee hat der Krieg deutliche Spuren hinterlassen, wie seine Erinnerungen an erschütternde Begebenheiten deutlich machen, aber auch sein Kamerad McCann, der den Krieg besser verdaut zu haben scheint und den irgendwann das schlechte Gewissen packt, schildert seine Erlebnisse ebenso wie Kelsey, der seine Erfahrungen auch in seinem Roman „Zweifacher Veteran“ verarbeitet hat.
Besonders einfühlsam ist die wenn auch nur kurz angerissene Beziehung zwischen Lee und seiner Frau beschrieben, die Liebe, aber auch die Angst, die beide miteinander verbindet. Auf der anderen Seite fasziniert die außergewöhnliche Beziehung, die Kelsey zu seiner Frau und seiner Geliebten unterhält.
Ketchum, der bereits so kompromisslose Werke wie „Evil“, „Blutrot“ und „Beutejagd“ abgeliefert hat, lässt sich in „Jadgtrip“ viel Zeit mit der Einführung seiner Figuren, ihren oft traumatischen Erinnerungen und ihren Problemen, und selbst der Jagdausflug beginnt als das Abenteuer, als das es geplant gewesen ist, bevor der Zusammenstoß mit Lee die tragischen Ereignisse erst richtig ins Rollen bringt. Für Horror-Fans, die auch mit Ketchums Werk vertraut sind, mag „Jagdtrip“ vielleicht eine Enttäuschung sein, weil der Roman nicht die billigen Klischees und Mechanismen bedient, die das Genre oft so vorhersehbar machen, aber als psychologisch tiefsinniges Drama überzeugt dieses Frühwerk auf ganzer Linie.
Leseprobe Jack Ketchum - "Jagdtrip"

Stewart O’Nan – „Letzte Nacht“

Dienstag, 21. Juni 2016

(mare, 159 S., HC)
Fünf Tage vor Weihnachten öffnet die „Red Lobster“-Filiale in New Britain das letzte Mal die Türen für ihre Gäste. Nachdem die Konzernzentrale bei einer Unternehmensstudie festgestellt hatte, dass sich der Standort nicht rechnet, muss Geschäftsführer Manny DeLeon seine Mitarbeiter an diesem Dezemberabend endgültig nach Hause schicken. Von den vierundvierzig Mitarbeitern, die er noch vor zwei Monaten beschäftigte, werden nur fünf mit ins „Olive Garden“ in Bristol übernommen.
Besonders schwer wiegt für Manny, dass er seine ehemalige Geliebte Jacquie nicht mehr wiedersehen wird. Dass sie mit Rodney einen neuen Freund hat und Mannys Freundin Deena ein Kind erwartet, hat jede Chance zunichte gemacht, dass sie noch mal zusammenkommen. Für Manny geht es nun nur noch darum, den Gästen des Restaurants an diesem verschneiten Winterabend wie gewohnt den besten Service zu bieten …
„Wer außer den Leuten, die hier arbeiten, denkt schon über Red Lobster nach? Und auch die denken eigentlich nicht drüber nach. Vielleicht Eddie, der bestimmt froh ist, einen Ort zu haben, wo er jeden Tag hinkommen kann, oder Kendra, die darüber nicht immer froh ist, aber Manny kann sich nicht vorstellen, dass Rich oder Leron viele Gedanken auf so etwas wie einen Job verschwenden. Vielleicht hat auch Manny nicht genug drüber nachgedacht, denn all die Jahre fand er es selbstverständlich, dass es das Lobster gab. In der Hinsicht ist er wohl genau wie Eddie. Und jetzt ist es zu spät.“ (S. 72) 
Stewart O’Nan hat sich in seiner eindrucksvollen Schriftstellerkarriere immer wieder mit dem Schicksal der kleinen Leute beschäftigt und dabei ganz tief in ihr Innerstes geblickt. In der Geschichte „Letzte Nacht“ genügt ihm ein einziger Tag in einem zur Schließung vorgesehenen Restaurant, um die Befindlichkeiten vor allem des Geschäftsführers zu beschreiben.
Nach all den Jahren empfindet er eine Verbundenheit zu seiner Arbeit, seinen Mitarbeitenden und Kunden, die ihm den Abschied schwer machen, vor allem von Jacquie. Auch wenn es um nichts mehr geht und die Schließung ebenso beschlossene Sache ist wie die Versetzung von fünf Angestellten in ein anderes Restaurant des Konzerns, will Manny nur das Beste für seine Kunden, kümmert sich um die schwer zu handhabende Schneefräse, schiebt den Wagen eines Stammgastes an und verteilt gewissenhaft Beurteilungskarten an unzufriedene Gäste, denn nicht mehr alle Spezialitäten des Hauses sind am letzten Abend noch verfügbar.
Von den anderen Angestellten erfährt der Leser nicht allzu viel. Die Handlung wird allein aus Mannys Perspektive geschildert. Aber in diesem Mikrokosmos gelingt es dem Autor, das Pflichtbewusstsein und die Fürsorge eines Managers seiner Arbeit und seinen Angestellten gegenüber ganz schnörkellos in Worte zu fassen.
Am Ende soll eine Lotterieziehung für eine glückliche Wendung der teils ungewissen Schicksale der Serviererinnen, Köche, Bäcker, Spüler und des Barpersonals sorgen, vor allem für ein Happy End des irgendwie bemühten, durchweg gutherzigen Geschäftsführers.
„Letzte Nacht“ ist ein berührendes Buch über die Tugendhaftigkeit und gutherzige Gesinnung eines Mannes, der niemandem etwas schuldig ist, aber trotzdem nur das Beste für alle Menschen in seinem Leben will.

Jason Starr – „Brooklyn Brothers“

Sonntag, 19. Juni 2016

(Diogenes, 454 S., Tb.)
Der aus Carnasie in Brooklyn stammende Baseball-Star Jake Thomas ist bereits seit sechs Jahren mit seiner Highschool-Liebe Christina verlobt, hat sie seit dem steilen Auftrieb seiner Karriere in Pittsburgh aber kaum noch gesehen. Nachdem er mittlerweile auch die Vorzüge anderer Frauen kennenlernen durfte, die sich dem Sunnyboy bei jeder Gelegenheit an den Hals schmissen, war er eigentlich schon mit dem Gedanken dabei, die Verlobung mit der noch bei ihren Eltern lebende Zahnarzthelferin zu lösen.
Doch nun scheint ihm die vierzehnjährige Mexikanerin Marianna Fernandez einen Strich durch die Rechnung zu machen, die er in San Diego kennengelernt hatte und deren Eltern Jake nun der Unzucht mit einer Minderjährigen beschuldigen.
Um für gute Presse zu sorgen, kehrt Jake zu einem angekündigten Besuch nach Brooklyn zurück, um den Hochzeitstermin mit Christina bekanntzumachen.
„Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Bei allen anderen würde er nie wissen, ob sie nicht nur wegen seines Geldes und seines Ruhms mit ihm zusammen waren, weil er Jake Thomas war. Christina hatte ihn bereits geliebt, bevor er Jake Thomas war, zumindest bevor der Name irgendetwas bedeutete. Selbstverständlich würde er sie einen Ehevertrag unterschreiben lassen, sicher ist sicher, aber es tat gut zu wissen, dass sie ihn wirklich liebte.“ (S. 77) 
Darüber ist sein alter Baseball-Kumpel Ryan Rossetti alles andere als erfreut. Wegen einer Verletzung musste er seine Karriere aufgeben und schlägt sich nun als Maler durchs Leben, träumt aber davon, mit Christina ein neues Leben anzufangen. Christina befindet sich nach Jakes Rückkehr zwischen den Fronten und wird auch von ihrem nichtsnutzigen Vater bekniet, Jake zu heiraten, damit sie beide ein besseres Leben führen können.
Aus der einstigen Freundschaft zwischen Jake und Ryan ist eine erbitterte Rivalität geworden, die sich im Ringen um Christinas Gunst zuspitzt. Als direkt vor Jakes Haustür ein Mann erschossen wird, geraten die Dinge zunehmend außer Kontrolle …
Der aus Brooklyn stammende Erfolgsautor Jason Starr („Hard Feelings“, „Twisted City“) weiß, wovon er in „Brooklyn Brothers“ schreibt. Zumindest die Milieuschilderungen der Unterschicht, die in schlecht bezahlten Jobs malochen, um die Miete und den Unterhalt für das klapprige Auto bezahlen zu können, die Drogen konsumieren, um dem Elend für eine Weile zu entfliehen, und vor Gewalt nicht zurückschrecken, um ihre Sucht finanzieren zu können, sind Starr in seinem 2006 erschienenen Roman „Lights Out“ – so der Originaltitel – durchaus gut gelungen.
Weniger überzeugend ist dagegen die Dreiecks-Love-Story zwischen den besten Highschool-Freunden und Christina ausgearbeitet. Das liegt vor allem an der überzogen stereotyp gezeichneten Figur des Baseball-Stars, der mit seinem Geld und Status glaubt, sich alles erlauben zu können, der seinen Agenten, seinen Anwalt und seine Mitmenschen wie Dreck behandelt und einzig daran interessiert ist, bei möglichst vielen Frauen zu landen und alle möglichen Privilegien in Anspruch nehmen zu können.
Auch Christina ist mit ihren wechselhaften Gefühlen nicht sehr differenziert charakterisiert, während Ryan in jeder Hinsicht der große Verlierer ist. Um ein wenig Pep in die arg konstruierte Story zu bringen, streut Starr noch Familientragödien, Auftragsmorde, vorzeitige Samenergüsse, im Alkoholrausch begangene Sünden und Schlägereien ins Spiel, was den Unterhaltungswert des Romans zwar steigert, ihn aber nicht besser macht. Da sind die Leser des New Yorker Schriftstellers Besseres gewohnt.
Leseprobe Jason Starr - "Brooklyn Brothers"

Benedict Wells – „Fast genial“

Mittwoch, 15. Juni 2016

(Diogenes, 352 S., Tb.)
Seit seine Mutter Katherine Angela Dean wegen ihrer Depressionen ihren Job als Sekretärin bei einer Immobilienfirma verloren und ihr Mann Ryan Wilco sich an der Börse verspekuliert hat, lebt der 17-jährige Francis seit über zwei Jahren mit Katherine im Pine-Tree-Trailerpark am Stadtrand der Kleinstadt Claymont in Delaware. Mittlerweile sind Katherine und sein Stiefvater geschieden. Während der Rechtsanwalt mit Francis‘ Halbbruder Nicky nach New York City gezogen ist, sind Francis und seine Mutter von Jersey City nach Claymont gezogen, wo der Junge die Highschool besucht und als Küchenhilfe in einem Imbiss arbeitet.
Als seine Mutter zum dritten Mal in die psychiatrische Klinik eingeliefert werden muss, lernt Francis dort die zwei Jahre ältere Anne-May kennen, die sich umbringen wollte, weil sie als kleines Mädchen von ihrem Vater vergewaltigt worden ist. Während der Besuche bei seiner Mutter freundet sich Francis mit dem wortkargen Mädchen an. Als seine Mutter nach einem Selbstmordversuch der Magen ausgepumpt wird, entdeckt Francis einen Abschiedsbrief, in dem Katherine ihrem Sohn gesteht, dass er ein Retortenbaby sei, dessen Ursprung in der längst geschlossenen Samenbank für Genies liegt, die der Unternehmer Warren P. Monroe mit dem österreichischen Eugeniker Dr. Friedrich von Waldenfels gegründet hat.
Aus der Akte, die ein Mitarbeiter des Instituts für Katherine entwendet hat, geht hervor, dass Francis‘ Erzeuger unter dem Decknamen Donor James geführt wurde, Harvard-Absolvent gewesen ist, Cello spielte und einen IQ von 170 hatte. Zusammen mit Anne-May und seinem Freund Grover Paul Chedwick macht sich Francis auf die Suche nach seinem Vater …
„Es gab Momente im Leben, in denen alles einen Sinn bekam und in denen man von einer auf die andere Sekunde wusste, was man zu tun hatte. Francis sah die Dinge nun klar: Er musste seinen Vater finden. Alles würde sich ändern, wenn er ihn traf. Er würde aus seinem Drecksleben in Claymont ausbrechen und den Leuten endlich zeigen, dass er doch kein Versager war.“ (S. 81) 
Es beginnt eine interessante Odyssee durch elf Staaten, bei der Francis nicht nur einige schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hat, sondern auch auf schmerzvolle Weise erfahren muss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zunächst scheinen …
Nach „Spinner“ und „Becks letzter Sommer“ war „Fast genial“ 2011 der dritte Roman des in München geborenen und nun in Berlin lebenden Schriftstellers Benedict Wells. Er setzt darin die Tradition vor, jugendliche Protagonisten auf eine Entdeckungsreise zum eigenen Ich zu schicken. Dabei werden zwar auch gesellschaftlich stark diskutierte Themen wie der Versuch, Genies zu „züchten“, sowie die Kluft zwischen Arm und Reich angeschnitten, doch Wells bleibt immer so dicht bei seiner Hauptfigur, dass eine tiefgründige Auseinandersetzung ausbleibt. Francis ist schließlich viel zu sehr damit beschäftigt, seinen biologischen Vater zu finden und seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Das ist vor allem kurzweilig und vergnüglich zu lesen, auch wenn die Zusammensetzung des Road-Trip-Trios etwas konstruiert wirkt.
Leseprobe Benedict Wells - "Fast genial"

Anthony McCarten – „Superhero“

Sonntag, 12. Juni 2016

(Diogenes, 303 S., Tb.)
Der 14-jährige Donald Delpe lebt mit seinem älteren Bruder Jeff und seinen Eltern Renata und Jim in der englischen Kleinstadt Watford. Allerdings nicht mehr lange, denn er ist unheilbar an Leukämie erkrankt. Die letzte Chemotherapie hat zwar zunächst ganz gut angeschlagen und Renata wird nicht müde, sich durch die Fachliteratur zu kämpfen und ihrem jüngsten Spross immer wieder Lebensmut zuzusprechen, doch dann entdecken die Ärzte neue Metastasen.
Während Renata Donald weiterhin anstachelt, bloß nicht aufzugeben, scheint auch Jim resigniert zu haben. Er versucht nur noch, seinem sterbenskranken Kind etwas Lebensfreude und Erfahrungen mitzugeben, die eigentlich für spätere Lebensjahre vorherbestimmt sind. Donald selbst geht mit seiner Krankheit vor allem künstlerisch um. Mit MiracleMan hat der begnadete Comiczeichner einen sehr menschlichen Superhelden kreiert, der auch furzt, in die bildhübsche Krankenschwester Rachel verknallt ist und gegen den Bösewicht Gummifinger um sein Leben kämpfen muss, während Donald selbst sich in die 15-jährige Shelly verguckt hat.
In dem Psychiater Dr. Adrian King findet Donald schließlich nicht nur einen Arzt, sondern einen echten Verbündeten, der ihn mit auf Ausflüge nimmt und alles dafür tut, Donald seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen …
„Soweit ich sehe, soll es für ihn die erste und letzte große Erfahrung in seinem Leben sein. Es geht um … das Wesentliche. Er fühlt sich vom Leben betrogen und will noch etwas von der Welt haben, bevor er sich von allem verabschiedet. Deshalb muss das ganze Leben, einfach alles, zu diesem einen Ereignis verdichtet werden. Die Nacht seines Lebens. Danach gibt es wahrscheinlich nur noch Verzweiflung und das Ende.“ (S. 204) 
Mit seinem dritten Roman nach „Liebe am Ende der Welt“ und „Englischer Harem“ hat der neuseeländische Theaterstück-, Drehbuch- und Romanautor Anthony McCarten die tragische Figur eines sterbenskranken Teenagers in den Mittelpunkt einer sehr warmherzigen wie tiefsinnigen, jedoch nie kitschigen, dafür aber sehr humorvollen Geschichte mit ebenso sympathischen Charakteren gestellt.
Fast wie ein Drehbuch geschrieben, skizziert McCarten in drei Akten jeweils kurz das Set („Innen. Onkologie. Tag“, „Außen. Eine Straße in der Stadt. Tag“), beschreibt dann kurz die Atmosphäre, lässt seine Protagonisten dann in sehr realistische, gefühlvolle und witzige Dialoge treten und wirft immer wieder thematisch passende Auszüge aus Donalds Comicgeschichte ein.
Neben der Haupthandlung um Donalds Krankheit und die Verwirklichung seines letzten großen Lebenswunsches bildet vor allem die Nebenhandlung um Dr. King einen weiteren interessanten Part der Geschichte, wenn er seine eigene unglückliche Ehe mit der schönen Sophie zu verarbeiten versucht.
2011 wurde der Roman übrigens nach McCartens eigenem Drehbuch von Ian Fitzgibbon unter dem deutschen Titel „Am Ende eines viel zu kurzen Tages“ verfilmt.
Leseprobe Anthony McCarten - "Superhero"

Karin Slaughter – (Georgia: 5) „Schwarze Wut“

Donnerstag, 9. Juni 2016

(Blanvalet, 510 S., HC)
Um an den mysteriösen Big Whitey heranzukommen, der einen Drogenring in Macon, Georgia, unterhält, tarnt sich GBI-Agent Will Trent als krimineller Biker, wo er sich in die Drogenszene einschleust. Leider ist auch Detective Lena Adams in den Fall verwickelt, mit der Trent bereits in einem früheren Fall zu tun hatte, weil sie den Tod von Jeffrey Tolliver zu verantworten hat, der mit Trents jetziger Lebensgefährtin Sara Linton liiert war. Mit ihrem Team führt sie eine Razzia in einem Fixertreff durch, wo sie Sidney Michael Waller festnehmen wollen, der nicht nur als Drogenhändler, Zuhälter und Waffenschieber bekannt ist, sondern auch der Vergewaltigung seiner Nichte und der Ermordung seiner Schwester verdächtigt wird.
Doch bei der Razzia verliert nicht nur Waller, sondern auch ihr Kollege Eric Haigh sein Leben. Ein völlig verängstigter Junge wird hinter einer Wand entdeckt und weigert sich, auch nur ein Wort zu sprechen. Wenig später wird Lena in ihrem Haus überfallen, ihr Mann Jared, Sara Lintons Stiefsohn, überlebt schwerverletzt. Will kann im letzten Moment verhindern, dass Lena einen der Angreifer erschlägt, muss aber höllisch aufpassen, dass seine Tarnung nicht auffliegt, von der auch Sara nichts weiß.
Während sich Lena bei der internen Ermittlung des Macon Police Department rechtfertigen muss, arbeiten Will und seine Partnerin Faith mit Hochdruck daran, Big Whiteys Identität aufzudecken und in den inneren Kreis des Drogenhändlerrings vorzudringen.
„Will stieg aus, obwohl jedes Atom in seinem Körper ihm sagte, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Aber er hatte keine andere Wahl. Jared Long lag im Krankenhaus, Lena war fast getötet worden. Irgendwo dort draußen war ein Drogendealer unterwegs, der es offensichtlich genoss, andere zu verletzen. Wenn Will seine Arbeit nicht richtig machte, würden noch mehr Leute im Krankenhaus landen. Oder unter der Erde.“ (S. 275)
Da Big Whitey offensichtlich über die Aktivitäten der Polizei stets informiert ist, scheint es mindestens einen Maulwurf im Department zu geben, was die Ermittlungen nicht unbedingt einfacher macht …
Karin Slaughter hat in ihrem mittlerweile fünften Band um die Kinderärztin Sara Linton und GBI-Agent Will Trent eigentlich einen recht gewöhnlichen Fall konstruiert. Interessant wird er erst durch die sehr komplexen persönlichen Verstrickungen zwischen Will Trent, Sara Linton und Lena Adams. Das schwere Geflecht aus Vergangenheitsbewältigung, Vorurteilen, Misstrauen und Geheimnissen bildet nehmen der Aufklärung von Big Whiteys Identität den eigentlichen Spannungsmotor eines Thrillers, der nur sporadisch die psychologischen Tiefen seiner Figuren erkundet und sich manchmal zu sehr in dem fast unüberschaubaren Beziehungswirrwarr verliert, mit dem die (teils) verdeckte Ermittlung behaftet ist.
Hier wird vor allem Lenas persönliche Tragödie im Zusammenhang mit der Razzia in Rückblicken aufgearbeitet und auch der schmale Grat, auf dem Will in der Beziehung zu Sara wandelt, zu den treibenden Handlungssträngen.  
„Schwarze Wut“ ist sicher nicht Karin Slaughters Meisterwerk und auch kein Höhepunkt in ihrer Georgia-Reihe, bringt aber zumindest weitere interessante Aspekte in der Geschichte der Hauptfiguren zutage.
 Leseprobe Karin Slaughter - "Schwarze Wut"