Stephen King & Owen King - „Sleeping Beauties“

Mittwoch, 6. Dezember 2017

(Heyne, 959 S., HC)
In der Welt herrscht gewalttätiges Chaos. Neben dem Erdbeben in Nordkorea sind es aber vor allem von (männlicher) Menschenhand initiierte Katastrophen, die die Nachrichten prägen: Ein durch Sabotage entflammter Bohrturm im Golf von Aden, kriegerische Auseinandersetzungen in der Golfregion und ein seit vierundvierzig Tagen andauernder Konflikt zwischen einer Miliz in New Mexico und dem FBI sowie Krebserkrankungen im Kohlerevier der Appalachen, wo vor fünf Jahren ein Chemieunfall den Fluss verseucht hatte.
Doch diese Schreckensmeldungen verblassen angesichts einer weltweiten Epidemie, die auch die in West Virginia liegende Kleinstadt Dooling erfasst: Sobald Frauen einschlafen, werden sie in einen Kokon gehüllt und wachen nicht mehr auf.
Die Situation spitzt sich zu, als Sheriff Lila Norcross zu einer Explosion eines Meth-Labors mit zwei Toten gerufen wird und in der Nähe des Tatorts eine wunderschöne fremde Frau aufgreift, die auf den Namen Evie Black hört und offensichtlich über besondere Fähigkeit verfügt. Sie weiß nicht nur sehr persönliche Dinge über die Personen, mit denen sie zu tun hat, sondern kann auch wieder ganz normal aufwachen, wenn sie geschlafen hat.
Für Clint Norcross stellt Evie, die zur Sicherheitsverwahrung ins Gefängnis gesperrt wird, ein höchst interessantes Forschungsobjekt dar, das auf jeden Fall vor dem Zugriff der Außenwelt geschützt werden muss. Derweil organisiert der städtische, zu Aggressionen neigende Tierfänger Frank Geary eine Truppe von Männern, die die Frauenhaftanstalt stürmen und Evie in ärztliche Obhut geben wollen, weil die geheimnisvolle Frau eventuell nicht nur für die Schlafkrankheit Aurora verantwortlich sein, sondern auch das Gegenmittel zur Heilung besitzen könnte. Schließlich haben die Männer bereits damit begonnen, Frauen in den Kokons abzufackeln, weil eine Fake-News im Internet dazu aufgefordert hatte, um die Seuche einzudämmen. Werden die Kokons stattdessen geöffnet, werden die eben noch schlafenden Frauen zu mörderischen Bestien, nur um dann wieder einzuschlafen.
Evie ist nicht nur in der Lage, mit einem Kuss Lebensenergie zu spenden, sondern sie besitzt auch die Fähigkeit, in Gestalt von Motten, Ameisen und Ratten Dinge in Bewegung zu setzen. Vor allem hat sie einen Tunnel geschaffen, durch den die eingeschlafenen Frauen in eine andere Welt gehen können, die sie als „Unseren Ort“ bezeichnen und der frei ist von männlicher Gewalt.
„Hier war eine Welt, in der ein kleines Mädchen selbst nach Dunkelheit allein nach Hause gehen und sich sicher fühlen konnte. Eine Welt, in der das Talent eines kleinen Mädchens sich gleichzeitig mit seinen Hüften und Brüsten entwickeln konnte. Niemand würde es im Keim ersticken.“ (S. 738) 
Allerdings droht der Tunnel verschlossen zu werden, wenn der Zauberbaum, der ihn beherbergt, abgebrannt wird. Die Frauen auf der anderen Seite müssen sich geschlossen entscheiden, ob sie ihr Leben ganz neu in einer neuen Welt beginnen wollen oder in die alte zurückkehren, wo die Männer hoffentlich aus ihren Fehlern gelernt haben …
Nachdem der mittlerweile bereits 70-jährige Stephen King mit seinem Sohn Joe Hill („Blind“, „Christmasland“) die beiden Kurzgeschichten „Vollgas“ und „Im hohen Gras“ realisiert hatte, folgt nun mit „Sleeping Beauties“ eine weitere familiäre Gemeinschaftsarbeit, diesmal mit dem hierzulande noch völlig unbekannten, in seiner Heimat aber durch einige Kurzgeschichten aufgefallenen 40-jährigen Sohn Owen. Für ihr erstes gemeinsames Buch haben sie ein durchaus spannendes und gesellschaftlich hochaktuelles Thema als Grundlage für ein episches Fantasy-Drama gewählt, das der Frage nachgeht, inwieweit die Männer die Frauen unterdrücken und ob eine Welt ohne Frauen wirklich erstrebenswert wäre.
Aus dieser Fragestellung haben die beiden Kings eine typische amerikanische Kleinstadt ins Zentrum ihrer Geschichte gestellt und eine zunächst unüberschaubar anmutende Menge an Figuren (die in knapp vierseitigen Personenregister zunächst kurz vorgestellt werden) geschaffen, die allerdings oft nur kurze Auftritte haben und die Geschichte nicht wirklich voranbringen. Sie stehen sowohl in weiblicher wie in männlicher Hinsicht oft nur für Stereotypen ihrer jeweiligen Rolle in der Gesellschaft.
Zum Glück hat das Autorengespann aber auch eine Reihe von Identifikationsfiguren kreiert, die nicht nur die Handlung vorantreiben, sondern auch das Dilemma personifizieren, in dem beispielsweise Gewalt und Mord gerechtfertigt werden soll. Neben Lila und Clint Norcross, die neben der Epidemie auch noch eine Ehekrise zu bewältigen haben, sind dies vor allem der ambitionierte, aber auch zu Gewaltausbrüchen neigende Tierfänger und selbsternannte Deputy Frank Geary, die beiden Gefangenen Jeanette Sorley und Angel Fitzroy sowie die Journalistin Michaela Morgan, Tochter von Gefängnisdirektorin Janice Coates. Wunderbar mysteriös ist den Kings die Charakterisierung von Evie Black gelungen, die teils als Hexe gefürchtet, teils als Heilsbringerin verehrt wird.
„Sleeping Beauties“ ist bei der epischen Länge von fast 1000 Seiten ein überwiegend packender Fantasy-Thriller geworden, der aus einer spannenden Ausgangssituation sowohl ganz märchenhafte Elemente (mit weißem Tiger, sprechenden Ratten und einem Rotfuchs und einer nicht von dieser Welt stammenden Evie) als auch beängstigend reale Vorstellungen zu einem apokalyptischen Szenario vereint, wie es offensichtlich nicht nur Vater King – wie bereits in „The Stand – Das letzte Gefecht“ oder „Die Arena“ -, sondern auch seine Söhne zu kreieren verstehen. Trotz einiger Längen fesselt der Roman bis zum starken Finale. 
Leseprobe Stephen King & Owen King - "Sleeping Beauties"

Karin Slaughter – (Georgia: 6) „Blutige Fesseln“

Sonntag, 3. Dezember 2017

(HarperCollins, 512 S., Tb.)
Will Trent will gerade seinen Hund Betty zur Zahnreinigung bringen, als er von seiner Partnerin Faith Mitchell zu einem Tatort gerufen wird. Bei dem Toten handelt es sich um den 58-jährigen Ex-Cop Dale Harding, der in einer riesigen Blutlache bei den abbruchreifen Lagerhäusern gefunden wurde, die dem prominenten Profi-Basketballer Marcus Rippy gehören. Der als spielsüchtige Trinker bekannte Harding war während seiner aktiven Dienstzeit zuletzt als Detective im Bereich Wirtschaftskriminalität tätig und wirkte nach seinem vorzeitigen Ruhestand als privater Handlanger für Zuhälter und Geldeintreiber weiter.
Was den Fall schnell interessant macht, ist die Tatsache, dass Rippy auf dem Gelände, auf dem Hardings Leiche gefunden wurde, einen Nachtclub aufmachen will. Zuvor versuchte Will, einen Fall gegen Rippy aufzubauen, weil dieser eine Studentin unter Drogen gesetzt und vergewaltigt haben soll, aber seine gutbezahlten Anwälte ließen den Fall nie vor Gericht kommen. Die Gerichtsmedizin findet schnell heraus, dass das Blut am Tatort nicht von Harding stammt, eine in der Nähe gefundene Waffe ist ausgerechnet auf Wills Ex-Frau Angie Polaski zugelassen.
Schließlich entdeckt die Polizei eine schlimm zugerichtete Frauenleiche, die zunächst für Angie gehalten wird, doch Will wird schnell klar, dass die Frau, mit der er zusammen im Atlanta Children’s Home aufgewachsen ist, nur einen weiteren perfiden Plan verfolgt, ihm das Leben zu Hölle zu machen, was vor allem Wills noch recht junge Beziehung zur Gerichtsmedizinerin Sara Linton auf eine harte Probe stellt.
Der Schlüssel zur Lösung des Falls scheint in der Verbindung zwischen Rippy, Harding und Angie zu liegen, wobei vor allem Hardings Hintergrund immer dunklere Abgründe offenbart.
„Alle sagten immer, Dale sei ein schlechter Polizist. Doch niemand kam darauf, wie schlecht er wirklich war. Sie dachten, es sei das Saufen und seine Spielsucht. Sie wussten nicht, dass er einen Stall minderjähriger Mädchen unterhielt, die seinen Gehaltsscheck von der Stadt aufbesserten. Dass er Fotos machte. Dass er die Fotos an andere Männer verkaufte. Dass er die Mädchen verkaufte. Dass er die Mädchen selbst benutzte.“ (Pos. 5590) 
Die amerikanische Thriller-Bestseller-Autorin Karin Slaughter hat in ihren miteinander verwobenen Reihen um Grant County, Georgia und Will Trent ein über die Jahre gereiftes, interessantes Figurenarsenal geformt, das abgesehen von Saras Ex-Mann, dem im Dienst getöteten Jeffrey Tolliver, auch in der mittlerweile langlebigsten Georgia-Reihe das Geschehen bestimmt.
Dabei wird vor allem die komplizierte gemeinsame Vergangenheit von den in Pflegeheimen und -familien aufgewachsenen Will und Angie aufbereitet, die vor allem bei Angie psychische Deformierungen hinterlassen hat und noch immer für zwischenmenschliche Turbulenzen zwischen den ehemaligen Eheleuten führt.
Das bekommt im sechsten Georgia-Band vor allem Sara am eigenen Leib zu spüren, als sie erfährt, dass Will sie nach einer Liebesnacht verlassen hatte, um Angie aufzusuchen. So haben Faith und Will mit ihrer Chefin Amanda nicht nur einen komplizierten Fall zu lösen, sondern es geht vor allem auch darum, ob Sara wieder das alte Vertrauen zu Will aufbauen kann. In der Vielschichtigkeit der Themen liegt leider auch das große Problem des Thrillers, denn die fast schon inzestuös wirkende Konzentration auf das bewährte, aber mittlerweile auch überstrapazierte Figurenensemble mit seinen komplizierten Verflechtungen und Animositäten nervt durch die Zwanghaftigkeit, mit der die Beziehungen konstruiert werden. Hier würde die Erweiterung durch andere starke Charaktere wahre Wunder wirken. Dies geschieht hier nur durch ein weiteres Familienmitglied, nämlich Angies Tochter Jo, die eine zentrale Rolle in dem Plot einnimmt, aber das Geschehen letztlich auch wieder nur auf Will und Angie zurückführt.
Die starre Fokussierung auf Will, Amanda, Faith, Sara und Angie führt nämlich leider auch dazu, dass die Personen, die in den Fall um Dale Harding und Marcus Rippy involviert sind, nur sehr grob skizziert werden. Durch die ständig wechselnden Hinweise bei den Ermittlungen und den vertrackten persönlichen Beziehungen geht vor allem im Mittelteil der Spannungsbogen weit nach unten, so dass bei „Blutige Fesseln“ sowohl in figürlicher Hinsicht als auch bei der Auflösung des Harding-Falls mehr Stringenz zu wünschen gewesen wäre. 
Leseprobe Karin Slaughter - "Blutige Fesseln"

Terry Burrows, Daniel Miller - „Mute – Die Geschichte eines Labels“

Sonntag, 26. November 2017

(Blumenbar, 320 S., HC)
Das 1978 von Daniel Miller gegründete Label Mute Records ist nicht nur die Heimat kommerziell erfolgreicher Acts wie vor allem Depeche Mode, Yazoo, Erasure, Goldfrapp und Moby, sondern neben Some Bizarre, 4AD und Factory auch eines der bis heute interessantesten und erfolgreichsten Indie-Labels überhaupt. In der von Terry Burrows und Daniel Miller selbst verfassten Label-Chronik „Mute – Die Geschichte eines Labels“ wird der Fokus vor allem auf die visuelle Seite des Labels gerichtet, das im Gegensatz zu anderen Labels kein in sich geschlossenes Konzept verfolgt, sondern eher künstlergesteuert ist.
Bevor erst auf Seite 24 Daniel Miller in der Einleitung erläutert, wie er von der DIY-Philosophie der Punk-Bewegung, deutschen Elektronik-Acts wie Neu!, Can, Amon Düül II und Kraftwerk und vor dem Hintergrund seiner eigenen Ausbildung an der Art School dazu inspiriert wurde, unter dem Namen The Normal eine Doppel-Single („T.V.O.D.“/“Warm Leatherette“) zu veröffentlichen und nach dem unerwarteten Erfolg ein Label mit Künstlern wie Frank Tovey aka Fad Gadget, D.A.F. und Depeche Mode aufzubauen, gleitet der Blick des Lesers/Betrachters nämlich zunächst über eine Reihe von Künstlerfotos, Videostills und Plattenartworks sowie einen imponierenden Label-Stammbaum, der vor allem die Beziehungen zwischen den einzelnen Acts kartografiert.
„Als die Idee für dieses Buch laut wurde, war sofort klar, dass das nicht die übliche Biografie werden sollte; vielmehr sollte es die Geschichte des Labels visuell erzählen – sei es durch Artwork, Fotos, Verpackung oder Design. Was nur logisch ist, denn obwohl Mute sich in erster Linie um die Musik kümmert, war die Präsentation unserer Künstler und deren Releases immer ein wichtiger Teil der Labelarbeit.“ (S. 25) 
Während es mittlerweile ausführliche Biografien über Depeche Mode, Nick Cave und D.A.F. gibt, beschränkt sich Terry Burrows in seiner Geschichte über Mute eher darauf, wie wegweisende Begegnungen zustande gekommen sind, mit denen Miller sein Label nach und nach aufgebaut hat, dessen Name er seiner Tätigkeit als Cutter bei Associates Television entlieh, in dessen Studios die „Mute“-Warnschilder omnipräsent gewesen sind.
Es sind schöne, interessante Geschichten, wie Daniel Miller mit seinem eigenen, kurzweiligen Projekt The Normal und der ersten Fad-Gadget-Single „Back To Nature“ erste Erfolge feiern konnte und so das Geld hatte, drei Studiotage bei Conny Plank in Köln zu finanzieren, wo der Produzent das erste D.A.F.-Album vollenden sollte.
Größeren Raum in dem Buch nimmt natürlich die Erfolgsgeschichte von Depeche Mode ein, der frühe Weggang von Vince Clarke, der daraufhin mit Yazoo, The Assembly und Erasure andere mehr oder weniger langlebige und erfolgreiche Projekte initiierte. Natürlich wird im Zusammenhang mit der visuellen Präsentation des Mute-Label-Outputs auch die Bedeutung und Arbeit von Designern wie Adrian Shaughnessy und den Fotografen Brian Griffin und Anton Corbijn gewürdigt, die verschiedenen Sublabels, unter denen vor allem The Grey Area mit der Wiederveröffentlichung von Alben der Industrial-Ära, von Acts wie Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire, SPK, Thomas Leer und Robert Rental, eine Schlüsselstellung einnehmen sollte.
Zum Schluss werden auch die Turbulenzen thematisiert, in den Mute geraten sollte, als Miller das Label 2002 an EMI verkaufte, aber weiterhin künstlerischer Leiter blieb, bis auch EMI verkauft wurde und Miller einen Neuanfang mit Mute Artists wagte. Bislang hat Miller noch keine Pläne, in Rente zu gehen.
Das ist angesichts der zunehmend anonymisierten Fließbandproduktionen im Musikgeschäft ein Zeichen der Hoffnung, und der vorliegende Bildband unterstreicht die Ambitionen des einzigartigen Labels auf eindrucksvolle Weise. 
Leseprobe "Mute - Die Geschichte eines Labels"

John Williams – „Stoner“

Mittwoch, 22. November 2017

(dtv, 349 S., Tb.)
Der 1891 auf einer Farm nahe des Dorfes Booneville im tiefsten Missouri geborene William Stoner hat es im Alter von neunzehn Jahren geschafft, dem einfachen Leben auf dem Lande zu entkommen und an der Universität von Missouri zu studieren, zunächst Agrarwirtschaft – in der Hoffnung, dass seine dabei gewonnenen Erkenntnisse bei der Arbeit auf der elterlichen Farm hilfreich sein könnten -, dann ermutigt ihn sein Dozent Archer Sloane, zur Literaturwissenschaft zu wechseln.
Stoner lebt in einem kleinen Zimmer bei Verwandten, findet zunächst keine Freunde, wird sich seiner Einsamkeit bewusst. Da er keine konkreten Zukunftspläne hat, aber auch nicht auf die Farm zurückkehren will, bleibt er dem akademischen Betrieb erhalten, beendet 1915 den Magisterstudiengang mit einer Arbeit über Chaucers „Canterbury Tales“ und beginnt, Einführungskurse Englisch für Erstsemester zu geben.
Endlich findet er mit den Dozenten David Masters und Gordon Finch erste Freunde, später mit der ebenfalls sehr schüchternen und zerbrechlich wirkenden Edith eine Frau. Ihre wohlhabenden Eltern aus St. Louis geben dem jungen Ehepaar ein Darlehen für ein größeres, aber auch etwas verwittertes Haus. Im Ersten Weltkrieg stirbt Masters, Stoner und Finch haben währenddessen die Universität nicht verlassen. Die Ehe zwischen der lustfeindlichen Edith und Stoner gerät zur Farce, daran ändert auch die Geburt ihrer Tochter Grace nichts.
Erst im Alter von über Vierzig lernt Stoner die wahre, leidenschaftliche Liebe kennen, doch die Beziehung mit der Studentin Katherine hat natürlich keine Zukunft …
„Er hatte die Einzigartigkeit, die stille, verbindende Leidenschaft der Ehe gewollt; auch die hatte er gehabt und nicht gewusst, was er damit anfangen sollte, also war sie gestorben. Er hatte Liebe gewollt, und er hatte Liebe erfahren, sie aber aufgegeben, hatte sie ins Chaos des bloß Möglichen ziehen lassen.“ (S. 344f.) 
Es ist irgendwie ein trostloses Leben, das der zu seinen Lebzeiten kaum bekannte amerikanische Journalist, Dozent und Autor John Williams (1922-1994) in seinem bereits 1965 veröffentlichten, aber spät wiederentdeckten Roman „Stoner“ präsentiert. Zwar hat es sein Protagonist geschafft, der körperlich schweren und eintönigen Arbeit auf der Farm seiner Eltern zu entkommen und eine akademische Karriere zu absolvieren, doch kann dieses Leben kaum als glücklich und erfüllend bezeichnend werden. Da er durch sein Elternhaus nicht den Umgang in der Gesellschaft gelernt hat, wirkt er im Umfeld der Universität eher unbeholfen, seine sozialen Kontakte unbestimmt.
Das nimmt beim schüchternen Kennenlernen seiner Frau ihren Anfang, zieht sich durch die kaum ernstzunehmenden Freundschaften auf dem Campus, wo er sich schließlich ohne erkennbaren Grund mit seinem Kollegen Lomax überwirft, und wird auch nur kurz durch die leidenschaftliche Affäre mit Katherine gelindert.
Williams hat in seinem dritten von insgesamt nur vier veröffentlichten Romanen (nach „Nichts als die Nacht“ und „Butcher’s Crossing“) auf fast dokumentarische Weise das Leben eines Mannes beschrieben, das zwar die äußeren Umstände detailreich schildert, aber die psychologischen Tiefen, die persönlichen Motivationen nicht ausleuchtet, so dass die Charakterisierung der Figuren nahezu dem Leser überlassen bleibt. Dabei vermag Williams mit seiner sprachlichen Finesse allerdings einen Sog zu erzeugen, dass er den Leser durch die Konfrontation mit Stoners Leben immer wieder zu Selbstreflexion anregt, eine Fähigkeit, die seinem Stoner völlig abhanden geht.
Leseprobe John Williams - "Stoner"

Dan Dalton – „Johnny Ruin“

Dienstag, 21. November 2017

(Tempo, 223 S., HC)
Eigentlich strebte der 1983 geborene Johnny eine Karriere als Schriftsteller an, doch irgendwann blieben seine Ambitionen auf der Strecke, ohne auch nur eine Idee entwickelt zu haben. Stattdessen schrieb er für die Firma JoeSeal Tweets mit pseudophilosophischen Lebensweisheiten aus der Sicht einer Dose Holzbeize. Ähnlich katastrophal verhielt es sich mit seinen Frauengeschichten. Nur Sophia hat er wirklich lieben können. Als sie sich von ihm trennte, schien sein Leben keinen Sinn mehr zu machen. Gegen seine selbstdiagnostizierte Depression fing er an, Ketamin einzunehmen, schließlich in einer so hohen Dosis, bis er leblos (?) auf dem Boden seines Londoners Studio lag und sich selbst von oben betrachten konnte. Derart losgelöst von seiner körperlichen Hülle findet sich Johnny irgendwo in Kalifornien wieder, umgeben von Mammutbäumen, und von irgendwo oben aus den Ästen pinkelt Jon Bon Jovi herunter, der 1994 für Johnny der coolste Typ der Welt gewesen ist.
Gemeinsam machen sich die beiden auf eine Odyssee durch die Vereinigten Staaten bis nach New York, mal mit Johnnys altem Freund Paul, mit dem er eigentlich vorhatte, dreißig Staaten in dreißig Tagen zu durchqueren und dessen zerschmetterten Körperteile er dann nach einem Autounfall vom Asphalt klauben musste, dann auch mit seiner Ex Sophia oder dem Hund Fisher an Bord.
Die Fahrt dient vor allem Johnny dazu, alte Erinnerungen und Wunden aufzuarbeiten: die Demütigung, dass sein ein Jahr älterer Bruder das geschafft hat, was er selbst nicht zustande bringen konnte, nämlich ein Buch zu veröffentlichen – wenn auch nur eine krude Mischung aus „Breakfast Club“ und „Alien“ -; die ersten Küsse und Masturbations-Erfahrungen, endlose One-Night-Stands, Überlegungen zu den Menschen, die beim Basejumping ums Leben gekommen sind.
Besonders ausgiebig wird natürlich die gescheiterte Beziehung mit Sophia aufgearbeitet, wobei sich Johnny sicher sein kann, dass Jon Bon Jovi immer einen passenden Kommentar parat hat.
„Die glücklichsten Momente waren die, wenn wir beide still lasen, uns einander gegenüberlagen wie fallen gelassene Streichhölzer, das Geräusch von Papier, umgeblätterten Seiten, befriedigte Körper, die ihr Gewicht verlagern, leben, atmen. (…) Ich erinnere mich an jedes Detail.
Das einzige Problem ist, dass ich nicht sicher bin, ob es wirklich passiert ist. Jedenfalls nicht so. Erinnerung ist größtenteils Erfindung. Ich kann mich nicht erinnern, woran ich mich erinnere. Vielleicht war unser Schweigen ja gar nicht glücklich. Vielleicht habe ich das erfunden.“ (S. 141) 
Der aus London stammende Journalist und Autor Dan Dalton lässt es in seinem Debütroman offen, in welchem Bewusstseinszustand sich sein Ich-Erzähler Johnny Ruin befindet, ob er sich im medizinindizierten Delirium befindet oder schon im Todestraum. Jedenfalls spielt sich das Geschehen fernab jeder Realität vor allem in den meist melancholischen Erinnerungen des liebeskranken und sonst auch ganz unzufriedenen Anti-Helden ab.
Dabei durchstreift Johnny sprunghaft Kindheitserinnerungen und wahllose Sex-Datings, garniert diese aber immer wieder mit einer erfrischenden Prise Humor, sei es durch die amüsanten Beispieltweets für JoeSeal oder die trockenen Kommentare seines Begleiters und Helden Jon Bon Jovi. Aus nahezu jeder Zeile des Romans spricht die große, aber auch zerstörerische Leidenschaft, mit der Johnny Sophia geliebt hat, aber es wird nur seine Version der Geschichte, der schöngefärbten Erinnerungen präsentiert.
Zwischen all die verzweifelten Rufen nach Liebe drängen sich Szenen der Freundschaft mit Paul, der von Konkurrenz geprägten Beziehung zu seinem Bruder, der unzähligen One-Night-Stands. Wie Dalton dabei die Verzweiflung einer verlorenen Liebe und vertanen Chancen mit einer Mischung aus Melancholie und feinem Humor zum Ausdruck bringt, macht den ungewöhnlichen Road Trip zu einem abenteuerlichen, erfrischenden Leseerlebnis. 
Leseprobe Dan Dalton - "Johnny Ruin"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 5) „Weißes Leuchten“

Sonntag, 19. November 2017

(Pendragon, 502 S., Pb.)
Als sich eine großkalibrige Kugel ins Wohnzimmer des wohlhabenden Weldon Sonnier verirrt, sucht ihn Detective Dave Robicheaux vom Sheriff’s Department von Iberia Parish auf. Merkwürdigerweise hat seine Frau den Vorfall gemeldet, nicht Weldon selbst, der sich beim Gespräch mit Robicheaux auch äußerst wortkarg gibt und die Sache herunterzuspielen versucht. Weldon Sonnier ist als Ölbohrer zu Geld gekommen, nachdem er für Air America geflogen ist, eine Fluglinie, die die CIA in Vietnam betrieben hatte.
Angeblich hat er für die Renovierung der alten Familienvilla am Rande des Bezirks am Bayou Teche zweihunderttausend Dollar ausgegeben. Sein Bruder Lyle, mit dem Robicheaux in Vietnam gedient hat, macht mittlerweile als Fernsehprediger Karriere, mit seiner Schwester Drew war der Cop eine Zeitlang liiert, und sein Schwager Bobby Earl hat eine Vergangenheit mit dem Ku Klux Klan.
Die Ermittlungen gewinnen an Schärfe, als einer von Robicheaux‘ neuen Kollegen bei einem weiteren Besuch auf Sonniers Grundstück geradezu hingerichtet wird. Robicheaux stößt auf die Namen von Eddie Raintree und Jewel Fluck, die offensichtlich nicht nur eine Verbindung zur Aryan Brotherhood, sondern auch zur Mafia haben.
Zusammen mit seinem alten Kumpel und Ex-Kollegen Cletus Purcel, der sich als Privatdetektiv in New Orleans niedergelassen hat und selbst für einen Mafioso gearbeitet hat, macht sich Robicheaux auf die Suche nach den Männern, die offensichtlich eine Rechnung mit Weldon Sonnier offenhaben. Dabei begegnet er nicht nur Demagogen, offensichtlichen Gangstern und Männern, die so weit oben in der Hierarchie stehen, dass ihnen nichts und niemand etwas anhaben kann, sondern auch Schwarzen, die noch immer unter der Diskriminierung zu leiden haben, aber auch Weißen, die es nicht schaffen, etwas aus ihrem Leben zu machen.
„Warum stimmte mich dieser Haufen von Pennern und Trinkern so morbide? Weil sie meine ständige Gewissheit noch verstärkten, dass mich nur ein Glas von ihrem Schicksal trennte – Verzweiflung, das langsame Absterben der Seele, Wahnsinn, Tod -, und dies vor Augen geführt zu bekommen, versetzte mir einen ziemlichen Stich.“ (S. 375) 
Den Männern auf die Spur zu kommen, die für den Überfall auf Weldon Sonniers Haus verantwortlich gewesen sind und offensichtlich ihr Geld auch mit Blut eintreiben, fällt Robicheaux nicht leicht, denn nicht nur Weldon gibt sich recht mundfaul. Schließlich weiß jeder im Bayou, wie die Mafia mit Verrätern umgeht.
Unterstützung erhält der gewissenhafte Cop wieder einmal von seinem alten Freund Cletus, der selbst eine herbe Abreibung einstecken muss, aber weit weniger als Robicheaux Skrupel hat, bei Befragungen auch mal die harte Gangart einzulegen. Neben diesem verzwickten Fall hat es Robicheaux auch mit Bootsies Krankheit Lupus zu tun, die ihr das Bindegewebe zersetzt und deren Behandlung sich als extrem schwierig erweist.
Im fünften Band von James Lee Burkes zurecht gefeierter Reihe um den Vietnamkriegsveteranen und Ex-Alkoholiker Dave Robicheaux begegnen dem Leser vertraute Themen wie Rassendiskriminierung, die Mafia und Korruption, dazu gesellen sich Inzest und Kindesmisshandlung. All das vereint Burke mit seinen fein beobachteten Beschreibungen der südstaatlichen Architektur und Landschaft, vor allem aber auch der Menschen, die sich oft leider auch von Geldgier, Sex, Drogen, Gewalt und Macht verleiten lassen.
An sich liest sich „Weißes Leuchten“ wie fast jeder andere Roman aus der Robicheaux-Reihe, indem er die vertrauten Missstände von Korruption, Diskriminierung und Bigotterie aufgreift und die darin eingebettete Kriminalhandlung mit äußerst atmosphärischen Beschreibungen von Louisiana abrundet.
Der Roman stellt kein gekröntes Highlight der Reihe dar, bietet aber gewohnt erstklassige Krimiunterhaltung und Milieubeschreibung.
 Leseprobe James Lee Burke - "Weißes Leuchten"

David Baldacci – (Amos Decker: 2) „Last Mile“

(Heyne, 543 S., HC)
Vor zwanzig Jahren soll Melvin Mars seine Eltern ermordet und ihr Haus abgefackelt haben, weshalb er jetzt im Staatsgefängnis von Texas in Huntsville auf seine Hinrichtung wartet. Doch im letzten Moment behauptet ein ebenfalls zum Tode verurteilter Häftling aus Alabama, Charles Montgomery, für die Morde verantwortlich gewesen zu sein. Tatsächlich weiß Montgomery Dinge über die Morde, die nur dem Täter bekannt sein können.
Hier kommt Amos Decker ins Spiel, ein ehemaliger College-Footballspieler mit einem kurzen Auftritt in der NFL, der nach einem fatalen Unfall auf dem Spielfeld nicht nur seine Profi-Karriere abschreiben konnte, sondern auch mit der seltenen Gabe der Synästhesie einerseits (die Kopplung zweier oder mehrerer physisch getrennter Bereiche der Wahrnehmung) und einem nahezu perfekten Gedächtnis. Unter der Leitung von FBI-Special-Agent Ross Bogart arbeitet Decker in einem Team von Agenten und Zivilisten mit besonderen Fähigkeiten, um kalte Fälle hoffentlich noch zum Abschluss zu bringen.
Als Decker im Radio von Melvin Mars‘ aufgeschobener Hinrichtung hört, ist er gleich Feuer und Flamme für den Fall, schließlich war Mars damals nicht nur ein aufstrebender Stern am Football-Himmel und Finalist der Heisman Trophy, sondern hatte auch Deckers Team nahezu im Alleingang niedergerungen. Zusammen mit der Journalistin Alexandra Jamison und der klinischen Psychologin Lisa Davenport versuchen Bogart und Decker herauszufinden, ob Montgomerys Geständnis wasserdicht ist.
Recht schnell wird bei den Ermittlungen klar, dass Montgomery nur ein weiteres Opfer in einem raffinierten Spiel darstellt, das mit einem Attentat auf eine schwarze Kirchengemeinde in den 1960er Jahren begonnen hatte und bei dem heute mächtige Männer involviert waren. Melvin Mars muss feststellen, dass seine Eltern nicht das gewesen sind, wozu er sie all die Jahre gehalten hat, und offensichtlich ist sein quicklebendiger Vater nach wie vor im Besitz von Material, das den Männern zum Verhängnis werden könnte. Decker läuft bei der Spurensuche zu Höchstform auf, stößt dabei aber immer wieder an Grenzen.
„Sein Gedächtnis war perfekt, aber das bedeutete nicht, dass ihm die Antworten sofort ins Auge sprangen. Wenn ihm jemand eine Lüge erzählte, speicherte er sie zwar, doch als Lüge konnte er sie nur entlarven, wenn er genügend Fakten zur Verfügung hatte, an denen er sie messen konnte.
In diesem Fall war das Problem jedoch nicht so sehr, dass bestimmte Details im Widerspruch zueinander standen, sondern vielmehr die Tatsache, dass er einfach nicht genug wusste.“ (S. 300f.) 
Mit Amos Decker hat Bestseller-Autor David Baldacci nach den Reihen um u.a. den Camel Club, Will Robie und John Puller eine weitere faszinierende Figur erschaffen, die durch die Kombination ungewöhnlicher Fähigkeiten den perfekten Ermittler abgibt. In seinem zweiten Fall nach „Memory Man“ hat es Decker mit zwei Hinrichtungskandidaten zu tun, die offensichtlich beide nicht für den Mord an Mars‘ Eltern verantwortlich waren. Allerdings hat der wirkliche Täter so geschickt seine Spuren verwischt, dass Decker und sein Team alle Hände voll zu tun haben, um alle Personen zu befragen, die etwas zur Aufklärung des Falles beitragen können, und schließlich auch ihr eigenes Leben zu beschützen.
Das Tempo ist dabei so rasant, Deckers Gedankensprünge und Erkenntnisse so faszinierend, dass die Spannung über die gesamte Buchlänge hochgehalten wird. Zwar wirken manche Motivationen und Details nicht ganz überzeugend, aber bei der rasanten Art, den Plot voranzutreiben, darf man Baldacci diese Unzulänglichkeiten gern verzeihen. Dem schnellen Erzähltempo sind leider auch die dürftigen Charakterisierungen geschuldet, unter denen vor allem Deckers Team-Kollegen leiden. Einzig Melvin Mars und Decker selbst werden so ausreichend gezeichnet, dass sie dem Leser schnell ans Herz wachsen. 
Leseprobe David Baldacci - "Last Mile"