Hari Kunzru – „White Tears“

Sonntag, 14. Januar 2018

(Liebeskind, 352 S., HC)
Mit einem unauffällig versteckten Aufnahmegerät und zwei kleinen Mikros in den Ohren macht sich der 25-jährige Seth regelmäßig auf den Weg, Menschen und Orte aufzunehmen, die Welt mit ihren Gewittern, dem Lärm auf den Straßen und in den U-Bahnen festzuhalten, das Knarren eines Schaukelstuhls auf der Veranda und das Zirpen der Grillen in den Bäumen am Abend. Eines Tages beobachtet Seth den Schachspieler PJ am Washington Square Park und nimmt dabei eher zufällig einen Blues-Song auf, den PJs aufgeweckter Gegner vor sich hinsingt.
Als Carter, sein bester und aus wohlhabender Familie stammende Freund und Geschäftspartner, die Aufnahme zu hören bekommt, ist dieser völlig begeistert und bastelt daraus den Song „Graveyard Blues“, den er – von Nebengeräuschen bereinigt und mit uraltem analogen Knistern versehen – dem fiktiven Blues-Sänger Charlie Shaw zuschreibt und der sich um Internet zu einem gesuchten Sammlerstück entwickelt. Der besonders hartnäckige Sammler JumpJim behauptet sogar, dass es Charlie Shaw tatsächlich gegeben habe.
Als Carter von einem Unbekannten ins Koma geprügelt wird, machen sich Seth und Carters attraktive Schwester Leonie auf den Weg in den Süden, um das Geheimnis des unter mysteriösen Umständen verschwundenen Sängers und des einzigen Songs zu lüften, den er je aufgenommen haben soll …
„Der Himmel wird langsam grau, und in diesem grauen Licht komme ich zu der Erkenntnis, dass ich es nie schaffen werde, mich bis zu Charlie Shaw durchzugraben. Was erwarte ich überhaupt? Eine Leiche? Einen lebenden Mann in einem Sarg? Einen Mann, der singt und Gitarre spielt, mit dem ich verhandeln kann, den ich um Gnade bitten kann? Ist es das, wonach ich grabe? Dass ich mein Leben zurückbekomme?“ (S. 295) 
Seit seinem Debütroman „Die Wandlungen des Pran Nath“ (2002) hat sich der britische Journalist und Schriftsteller Hari Kunzru zu einem der interessantesten jungen Autoren der Literaturszene entwickelt. Mit seinem neuen Roman greift er ein überaus aktuelles Thema auf, nämlich die Retromanie, mit der die Hipster der Generation Y ihre eigene Identität dadurch formen, dass sie sich gefällige Artefakte vergangener Epochen zu eigen machen und es als eigene Kreation präsentieren. In Kunzrus bereits fünften Roman „White Tears“ ist es vor allem Carter, der als Spross eines mächtigen Familienclans vor allem eine Leidenschaft für alte Blues-Platten entwickelt hat und sich dadurch eine legitime schwarze Identität zulegen will. Tatsächlich ist es aber sein weitaus weniger coole und wohlhabende Kumpel Seth, der auf seiner Reise in die Vergangenheit die Identität des gesuchten Blues-Musikers Charlie Shaw anzunehmen scheint und dabei seine eigene Persönlichkeit zu verlieren droht.
Kunzru erweist sich vor allem in der ersten Hälfte des Romans als begnadeter Erzähler, der die Stimmungen und Leidenschaften seiner jungen Protagonisten stimmungsvoll einfängt und dabei auch die neurotischen Züge der Sammler wunderbar beschreibt. Der Duktus der Erzählung verändert sich mit der Reise, die Seth in den Süden antritt, mal mit Carters Schwester Leonie, mal mit Chester Bly, Seths Kollegen vom „Herald Tribune“. Mit der Fahrt nach Mississippi verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Fantasie und Realität, letztlich ganze Identitäten miteinander.
„White Tears“ erweist sich als psychologisch vielschichtiger, atmosphärisch dichter und spannender Road-Trip, der geschickt, rätselhaft und verstörend eine von fehlgeleiterter Leidenschaft geprägte Suche thematisiert, an deren Ende die vollkommene Selbstauflösung steht.
Leseprobe Hari Kunzru - "White Tears"

Kent Haruf - "Lied der Weite"

Freitag, 12. Januar 2018

(Diogenes, 384 S., HC)
In der Kleinstadt Holt in den Great Plains muss sich der Lehrer Tom Guthrie mit dem Umstand anfreunden, dass seine kränkliche Frau Ella für unbestimmte Zeit nach Denver zu ihrer Schwester zieht und ihn mit den beiden Jungen Ike und Bobby alleinlässt. Sie tragen morgens die Denver News aus, freunden sich mit der alten Mrs. Stearns an und bekommen es mit dem aufmüpfigen Russell Beckman zu tun, der bereits ihren Vater in der Schule zur Verzweiflung treibt.
Währenddessen wird die siebzehnjährige schwangere Victoria von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt. Verzweifelt wendet sie sich an die Lehrerin Maggie Jones, die das Mädchen raus auf die Farm der beiden alten Junggesellen Harold und Raymond McPheron bringt.
Sie wissen zwar nichts mit der jungen Frau anzufangen, nehmen sie aber bei sich auf, umsorgen sie, kaufen mit ihr ein und versuchen sogar, Gespräche mit ihr zu führen, obwohl sie darin völlig ungeübt sind. Doch dann taucht der leibliche Vater des Babys plötzlich auf und bringt die zunächst aus Not geborene, mittlerweile aber liebevolle Konstellation bei den Viehzüchtern aus dem Lot. Toms Frau Ella zieht die Konsequenzen aus den Jahren der Unzufriedenheit und kehrt nicht mehr zurück.
„Ich will mehr vom Leben. Das ist mir jetzt klargeworden. Ich war gar nicht mehr da, mir selbst entfremdet. Die ganzen Jahre habe ich noch etwas anderes von dir gewollt, mehr. Ich wollte jemanden, der mich so will, wie ich bin. Nicht seine eigene Version von mir.“ (S. 147) 
Der amerikanische Bestseller-Autor Kent Haruf (1943-2014) hat nur sechs Romane veröffentlicht, von denen „Unsere Seelen bei Nacht“ im vergangenen Jahr mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt worden ist. Wie alle anderen von Harufs Romanen spielt auch das 1999 veröffentlichte und 2001 bei btb erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Werk „Lied der Weite“ in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, und beschreibt in schlichter, aber eindringlicher Sprache das Leben einer kleinen Schar von ganz normalen Menschen mit ihren ganz alltäglichen Problemen.
Im Mittelpunkt stehen dabei zunächst Tom Guthrie mit seinen beiden Söhnen, die miterleben müssen, wie ihre Eltern sich nicht mehr menschlich, sondern auch räumlich voneinander entfernen; dann die beiden alten McPheron-Brüder, deren Leben durch die schwangere Victoria völlig auf den Kopf gestellt wird.
Interessanterweise widmet der Autor den Tieren in seinem Roman fast genauso viel Raum und Interesse. Detailliert beschreibt er verschiedene Untersuchungen, Geburten und vor allem die Obduktion eines Pferdes, das elendig an einem Darmverschluss verstarb. Das Gebaren der Tiere folgt ganz natürlichen Prozessen, und ebenso lässt sich das Verhalten der hier vorgestellten Menschen vorhersehen, der Umgang mit einer ungewollten Schwangerschaft, Trennungen, den Versuchen, Beziehungen aufzubauen, Unsicherheiten und mangelnden Erfahrungen zu begegnen.
Wie Haruf mit ganz alltäglichen Ereignissen und Empfindungen umgeht, allzu menschliche Schwächen und Bedürfnisse beschreibt, präsentiert überhaupt keine moralisierenden Einsichten oder schlichte Lebensweisheiten, sondern ein nüchtern erscheinendes Portrait menschlicher Wesenszüge. Doch in Harufs schnörkelloser wie poetischer Art wachsen dem Leser die Figuren schnell ans Herz.
Leseprobe Kent Haruf - "Lied der Weite"

Ottessa Moshfegh – „Eileen“

Donnerstag, 11. Januar 2018

(Liebeskind, 334 S., HC)
Die 24-jährige Eileen Dunlop blickt an Weihnachten 1964 in einer Kleinstadt, die sie selbst als X-ville bezeichnet, auf ein ganz unspektakuläres Leben zurück. Obwohl sie sich nicht gerade als hässlich, sondern als normal und durchschnittlich betrachtet, versteckt sie ihren unscheinbaren Körper unter einer dicken Schicht von Klamotten, bis oben hin zugeknöpft, schmort gern in ihrem eigenen Saft, so dass ihr auch ja niemand zu nahekommt. Sie ist ebenso prüde wie permanent unglücklich, extrem unbeholfen und auf alles und jeden zornig.
Zu allem Überfluss lebt sie mit ihrem alkoholsüchtigen und paranoiden Vater zusammen, einem ehemaligen Cop, der keine Gelegenheit auslässt, seine Tochter zu schikanieren, herunterzuputzen und loszuschicken, seine Gin-Vorräte aufzufüllen. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Sekretärin in der Jugendvollzugsanstalt Moorehead, wo sie vor allem damit beschäftigt ist, sich mit den wartenden Müttern abzuplagen, denen sie zum Zeitvertreib selbsterstellte Fragebögen aushändigt („Essen Sei lieber Erbsen aus der Dose oder Karotten aus der Dose?“, „Glauben Sie, dass es Leben auf dem Mars gibt?“), und den Wärtern die Besuchszeiten der Jungen mitteilt.
Am liebsten verbringt Eileen ihre Zeit damit, sich romantischen Phantasien hinzugeben, in denen der attraktive Wärter Randy die Hauptrolle spielt, rein platonisch natürlich. Erst als die elegant gekleidete, wunderschöne Harvard-Absolventin Rebecca Saint John als Erziehungsbeauftragte eingestellt wird, ändert sich Eileens Leben innerhalb einer Woche.
Völlig fasziniert von dem selbstbewussten, charismatischen Auftreten der attraktiven Frau, setzt Eileen alles daran, ihrer neuen Kollegin nicht nur zu gefallen, sondern auch ihre beste Freundin zu werden.
„Vielleicht hatte ich nichts Besseres verdient, als sie aus der Ferne zu bewundern, dachte ich. Es war vermessen von mir zu glauben, dass eine Frau wie Rebecca – unabhängig, schön, erfolgreich – sich für mich interessieren könnte. Was hatte ich schon zu bieten? Ich war ein Langweiler, ein Nobody. Ich konnte dankbar sein, dass ich nichts zu sagen brauchte.“ (S. 269) 
Doch kaum lernt Eileen Rebecca näher kennen, wird sie unvermittelt in ein Verbrechen hineingezogen …
Nach ihrem preisgekrönten Debüt mit der Novelle „McGlue“ legt die in Boston geborene Autorin mit kroatisch-persischen Wurzeln Ottessa Moshfegh mit „Eileen“ nun ihr ebenso gefeiertes Romandebüt vor und findet sich mittlerweile auf die Granta-Liste der zwanzig besten jungen Autoren aus den USA wieder.
Ihre eigentlich recht unsympathische, aber aufrichtige Protagonistin erzählt die Geschichte aus der lange zurückliegenden, aber erstaunlich akribischen Erinnerung heraus, die gerade mal eine Woche vor Heiligabend umfasst. In dieser Woche verwandelt sich die unscheinbare junge Frau allerdings zu einer selbstbewussten Frau, die zwar von ihrem Idol auf einen abtrünnigen Pfad der Gewalt geführt wird, aber dadurch zu einem selbstbestimmten, nicht mehr von Angst und Wut geprägten Leben findet.
Der Autorin gelingt es von Beginn an, einen erzählerischen Sog zu entwickeln, in dem Eileen ihre eigentlich absolut bemitleidenswerten Lebensumstände schildert, ohne dabei allerdings in Selbstmitleid zu verfallen. Die ausführliche Schilderung ihres Alltags und Lebensgefühls reicht völlig aus, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln. Eileens Schwärmereien für Randy und dann für Rebecca wirken wie nachvollziehbare Fluchten aus der erniedrigen, drögen Welt, in die Eileen hineingeboren wurde und die sie nur in ihrer Phantasie entfliehen kann.
Allerdings bietet ihr Rebecca im Gegensatz zu Randy erstmals die Möglichkeit, ihre Träume auch Wirklichkeit werden zu lassen, denn Rebecca scheint sich tatsächlich für Eileen zu interessieren. Sowohl Eileens problematische Beziehung zu ihrem Vater als auch ihr Verlangen, Rebecca als Freundin zu gewinnen, beschreibt Moshfegh jederzeit so glaubwürdig, als der Leser Teil von Eileens Leben, stets an ihrer Seite, ihre Gedanken und Gefühle teilend.
Erst zum Finale hin verliert der so sorgfältig inszenierte erzählerische Sog seine Kraft und Intensität. Die finale Begegnung zwischen Eileen und Rebecca wirkt etwas holprig und überhastet inszeniert. Doch für einen Erstlingsroman weist „Eileen“ eine erstaunliche hypnotische Kraft auf, die weitere Werke der jungen Autorin mit Spannung erwarten lässt.
 Leseprobe Ottessa Moshfegh - "Eileen"

Stephen King – „Shining“

Montag, 8. Januar 2018

(Bechtermünz Verlag, 623 S., HC)
Nachdem der trockene Alkoholiker, immer wieder cholerische Jack Torrance seinen Job als Englischlehrer verloren hat, weil er einen seiner Schüler, der ihn die Autoreifen aufschlitzt hatte, schlug, ist er dringend auf einen neuen Job angewiesen. Sein alter Saufkumpan und Kollege Al Shockley besitzt beträchtliche Anteile am geschichtsträchtigen Overlook-Hotel und hat ihm dort einen Job als Hausmeister besorgt.
Das Vorstellungsgespräch mit dem Hotel-Manager Stuart Ullman ist nur noch Formsache, aber Ullman verhehlt dabei nicht, dass er Jack für den Job als ungeeignet hält. Bevor das einsam in den Rocky Mountains liegende Hotel über den Winter geschlossen wird und durch heftige Schneefälle von der Außenwelt abgeschnitten zu werden droht, erhält Jack von Ullman am letzten Tag der Saison eine kurze Einweisung über den Aufbau des Hotels mit seinen hundertzehn Gästequartieren, darunter dreißig Suiten im dritten Stock, wobei in der Präsidentensuite bereits etliche Berühmtheiten verweilt haben. Und Jack bekommt auch die Geschichte eines seiner Vorgänger zu hören, des unglückseligen Delbert Grady, der im Winter 1970/71 erst seine Frau und die beiden Töchter ermordete, dann sich selbst.
Der schwarze Hotelkoch Dick Hallorann macht Jack, seine Frau Wendy und ihren sechsjährigen Sohn Danny noch mit den Vorräten vertraut und erkennt, dass Danny wie er selbst über die Gabe des „Shinings“ verfügt, nämlich zukünftige Ereignisse voraussehen, Vergangenes in alptraumhaft-lebendigen Visionen erleben und die Gedanken seiner Mitmenschen lesen zu können. Da Danny ein ungutes Gefühl beim Overlook-Hotel beschleicht, verspricht Hallorann dem Jungen, ihm zur Hilfe zu eilen, wenn er in Gedanken nur laut genug nach ihm ruft.
Kaum sind die Bediensteten abgezogen und die Torrance-Familie auf sich allein gestellt, findet Jack im Keller Unterlagen über die verruchte Geschichte des Hotels, in der offenbar auch Glücksspiele und Prostitution betrieben wurden und einige Mafia-Größen ein blutiges Ende fanden.
Jack ist so fasziniert von den beschriebenen Ereignissen, dass er einen Roman über die Geschichte des Hotels schreiben will, allerdings beschäftigt er sich auch mit den eigenen Verfehlungen, mit der Alkoholsucht und den Temperamentsausbrüchen, die sogar dazu führten, dass er seinem damals dreijährigen Sohn den Arm gebrochen hat. Seither droht die Familie zu zerbrechen. Doch statt im Oberlook-Hotel wieder zusammenzufinden, driftet Jack zunehmend ab, wird von der düsteren Atmosphäre des Hotels eingenommen und verängstigt sowohl Wendy als auch seinen Sohn. Danny wiederum hat schon beim Rundgang durch das Hotel die Blutflecke in Zimmer 217 bemerkt und wird immer wieder durch schreckliche Visionen mit den grausamen Geschehnissen aus der Vergangenheit des Hotels konfrontiert. Doch als das Hotel durch den Wintereinbruch auch telefonisch von der Außenwelt abgeschnitten ist, sind Wendy und Danny Jack fast hilflos ausgeliefert. Verzweifelt ruft Danny nach Dick, der den Winter allerdings in Florida verbringt …
„Hier fand ein langer und alptraumhafter Maskenball statt, und er war schon seit Jahren im Gange. Ganz allmählich waren hier Kräfte entstanden, heimlich und stumm, so wie ein Bankkonto Zinsen trägt. Kraft, Gegenwart, Gestalt, das waren alles nur Worte, und keines davon spielte eine Rolle. Es trug viele Masken, aber es bedeutete alles dasselbe. Jetzt, irgendwo, kam es, um ihn zu holen. Es versteckte sich hinter Daddys Gesicht, es imitierte Daddys Stimme, es trug Daddys Kleidung.
Aber es war nicht sein Daddy.“ (S. 586) 
An der Verfilmung durch Stanley Kubrick scheiden sich bekanntlich die Geister, Stephen King selbst zählt zu den größten Kritikern von Kubricks Kinoadaption seines bereits 1977 veröffentlichten Romans. Dieser ist 1985 via Bastei Lübbe auch in deutscher Sprache erschienen und untermauerte den weltweiten Siegeszug durch die Bestsellerlisten, die der „King of Horror“ mit seinen ersten beiden Romanen „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ gestartet hatte.
Dank des sehr überschaubaren Figurenarsenals wirkt „Shining“ fast wie ein Theaterstück und konzentriert sich ganz auf die dreiköpfige Torrance-Familie und den hellsichtigen Hotelkoch Dick Hallorann.  
Stephen King nimmt sich viel Zeit, nicht nur der Torrance-Familie, sondern gleichsam auch den Lesern die Besonderheiten des Overlook-Hotels, seine außergewöhnliche Lage, seine prominenten Gäste und seine illustre Geschichte nahezubringen. Und auch die bewegte Familiengeschichte von Wendy, Jack und Danny wird aus der jeweiligen Sicht eindrucksvoll herausgearbeitet.
Besonders gut gelungen ist dem Autor das Grauen, mit dem sich die unrühmliche Hotelgeschichte in den Alltag, in die Gedanken und in das Verhalten der Torrance-Familie einschleicht und vor allem Jack zu einem unberechenbaren Mann macht. Dass bei den über 600 Seiten nie Langeweile aufkommt, ist vor allem den sympathischen Figuren zu verdanken, mit denen der Leser einfach mitfiebert. Selbst für den temperamentvollen Pechvogel Jack Torrance kann man nur Mitleid empfinden. Das furiose Finale hat Stanley Kubrick in der Filmversion bekanntlich komplett anders gestaltet, die Romanfassung ist sicherlich etwas spannender und menschlicher geglückt.

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 1) „Mörder ohne Gesicht“

Montag, 1. Januar 2018

(Zsolnay, 332 S., HC)
Im Januar 1990 wird ein altes Ehepaar auf einem abgelegenen Bauernhof brutal überfallen. Als der stellvertretende Polizeichef Kurt Wallander von den Nachbarn zum Tatort gerufen wird, kommt für Johannes Lövgren jede Hilfe zu spät, seine Frau Maria flüstert noch wiederholt „Ausländer“, bevor auch sie im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen erliegt. Als die Suche der Polizei von Ystad in den Reihen ausländischer Mitbürger bei den Medien durchsickert, wird der rechtsradikale Mob aktiv, verübt einen Brandanschlag auf ein Wohnheim für Asylbewerber und bringt einen Somalier um. Wallander und seine Truppe finden zwar den ausländerfeindlichen Mörder, doch die Ermittlungen im Falle des Doppelmordes an den Lövgrens ziehen sich ohne erkennbare Erfolge dahin.
Erst als Wallander auf den mutmaßlichen Sohn von Johannes Lövgren stößt, den dieser mit seiner Geliebten gezeugt hat, und feststellt, dass der alte Lövgren durch Geschäfte mit den Nazis vermögend wurde, kommt Schwung in die Ermittlungen.
Doch nebenbei leidet Wallander unter der Trennung von seiner Frau Mona, die längst einen neuen Mann geheiratet hat. Seine Tochter Linda lässt sich kaum noch blicken, sein einsamer Vater droht zunehmend senil zu werden. Zu allem Überfluss verliebt sich Wallander kurz vor seinem 43. Geburtstag noch in die neue Staatsanwältin Anette Brolin, die vertretungsweise das Amt von Per Åkesson übernommen und ihren Mann in Stockholm zurückgelassen hat.
„Die Scheidung war durch nichts wieder rückgängig zu machen. Vielleicht würden sie hin und wieder gemeinsam essen gehen, aber ihre Lebenswege verliefen unweigerlich in verschiedene Richtungen. Ihr Schweigen trog nicht.
Er begann, an Anette Brolin zu denken, und an die farbige Frau, die in seinen Träumen zu ihm kam. Die Einsamkeit hatte ihn unvorbereitet getroffen. Nun musste er sich dazu zwingen, sie anzunehmen, um dann vielleicht allmählich das neue Leben zu finden, für das niemand außer ihm selbst die Verantwortung übernehmen konnte.“ (S. 168f.) 
„Mörder ohne Gesicht“ bildete 1991 den Auftakt der heute wegweisenden Romanreihe des schwedischen Schriftstellers Henning Mankell (1948-2015) und leitete hierzulande den bis heute anhaltenden Boom skandinavischer Krimikost ein, zu dem nachfolgend Autoren wie Hakan Nesser, Arne Dahl, Jo Nesbø, Jussi Adler-Olsen und Stieg Larsson ihren wichtigen Beitrag leisteten. Zwar erschien der Auftakt der Wallander-Reihe hierzulande bei Zsolnay im Jahre 2001 erst nach den späteren und besseren Romanen wie „Die fünfte Frau“, „Die falsche Fährte“ und „Hunde von Riga“, stellte den Lesern aber den charismatischen Kommissar als eine gebrochene Figur vor, der von seinen Ermittlungen an schwierigen Mordfällen ebenso vereinnahmt wird wie von persönlichen Problemen in Familien- und Liebesdingen.
Mit dem Mord an dem alten Bauernehepaar nimmt der Plot von Beginn an ordentlich Fahrt auf, doch nimmt Mankell sehr bald das Tempo heraus, lässt die Spannung in dem Maße schleifen, in dem Wallander keine Fortschritte mehr zu machen scheint und sogar falsche Ermittlungsansätze verfolgt. Die stagnierende Polizeiarbeit nutzt der Autor, um den Lesern seine Hauptfigur näher vorzustellen, allerdings werden die einzelnen Problemfelder jeweils nur kurz angerissen. Einzig das schwierige Verhältnis zu seinem Vater nimmt hier etwas mehr Raum ein.
In späteren Werken gelingt es Mankell, die Spannung gleichmäßiger aufrechtzuerhalten und das private Umfeld seines sehr menschlichen Protagonisten sorgfältiger auszutarieren. Doch trotz der erwähnten Schwächen bietet „Mörder ohne Gesicht“ gut geschriebene Krimi-Unterhaltung mit einem Kommissar, der in der Krimiszene einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.

Cormac McCarthy – „Verlorene“

Samstag, 30. Dezember 2017

(Rowohlt, 734 S., Tb.)
Obwohl er das College besucht hat, ist Cornelius Suttree Anfang der 1950er Jahre in einem Slum am Tennessee River in Knoxville gestrandet, wo er allein auf einem Hausboot lebt und sich durch die Fischerei über Wasser hält. Zu seinen wenigen Weggefährten zählt der junge Gene Harrogate, den Suttree im Arbeitshaus kennengelernt hatte und der nun seine Bleibe am nahegelegenen Viadukt findet. Beide lassen sich nicht nur auf dem Fluss durch das Leben treiben, immer am Rande der Gesellschaft, immer wieder im Konflikt mit dem Gesetz oder den Frauen in ihrem Leben.
Suttree schließt sich einer Familie von Muschelfängern an und tut sich mit einer Prostituierten zusammen, durch die er für eine kurze Zeit Wohlstand kennenlernt.
Als er vom Tod seines Sohnes erfährt, den er kaum gesehen hat, und zu dessen Beerdigung fährt, erlebt Suttree eine weitere Enttäuschung in seinem von Not, Unglück, Gewalt und Unrat geprägten Leben. Gelegentlich riskiert er einen Blick zum anderen Ufer, zu den Versprechen der wohlhabenden Stadt.
„Suttree ging vorbei, damals lief er durch die Straßen wie ein streunender Hund. Das Alte sonderbar neu, ein Blick auf die Stadt, als sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Die stete Wiederkehr der Bilder hatte alles verwischt und nivelliert, dräuende Gebilde schienen auf einmal steil aus dem toten Schwemmland zu ragen, die Stadt seiner Erinnerungen ein Geist gleich ihm, er selbst ein Schemen zwischen Ruinen, der die dorren Artefakte durchstöberte wie ein bleicher Paläoanthrop die Gebeine versunkener Siedlungen, wo keine Seele mehr Zeugnis gibt vom Vergangenen.“ (S. 386) 
In seinem bereits 1979 veröffentlichten Underdog-Epos „Suttree“, den der Rowohlt Verlag 1992 auch in deutscher Übersetzung präsentierte, erweist sich der amerikanische Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy („Kein Land für alte Männer“, „Die Straße“) einmal mehr als akribischer Chronist des Lebens am Abgrund. Kaum ein anderer Schriftsteller beschreibt die Trostlosigkeit und Erschöpfung des alltäglichen Überlebenskampfes so akribisch und wortgewaltig wie die „legitime Nachfolge Faulkners“ (Washington Post).
Es kostet den Leser allerdings einiges an Mühe und Durchhaltevermögen, sich durch dieses in jeder Hinsicht monströs-epochale Werk zu wühlen, durch all den Schmutz und Unrat, durch die Gossensprache und ganze Buchstabenreihen verschluckende, Worte verschmelzende Alltagssprache, durch die von brutaler Gewalt, stinkendem Tod und verzehrender Krankheit geborenen Delirien. Es ist eine mythische Welt, die McCarthy ebenso schonungslos wie poetisch beschreibt; eine Welt, in der der Fluss Leben schenkt und nimmt. Eben noch verkauft Suttree die Fische, die er gefangen hat, dann sieht er, wie Leichen aus dem Strom geborgen werden, aufgedunsene Schweine- und zersetze Kinderkörper vorübergeschwemmt werden.
Detailliert beschreibt McCarthy die widrigen Lebensumstände am Rande der südstaatlichen, rassistischen Gesellschaft, die rohe Gewalt, die verdreckten Zimmer, in denen Suttree zwischenzeitlich sein Leben fristet, Krankheiten ausschwitzt und ausscheißt, fieberhafte Sexträume träumt und auf Geld seiner auswärts arbeitenden Lebensabschnittspartnerin wartet.
Bei aller Düsternis und Trostlosigkeit schleicht sich aber immer wieder McCarthys trockener Humor ein. Wenn er beschreibt, wie Harrogate ins Arbeitshaus muss, weil er ein Melonenfeld durchgepimpert hat, oder er bei der mutmaßlichen Bergung eines unterirdischen Schatzes vom stinkenden Inhalt des gesprengten Kanalrohrs überflutet wird, regt der schwergewichtige Roman auch zum Schmunzeln ein. Am nachhaltigsten allerdings wirkt McCarthys geschliffene Sprache, die selbst das Unaussprechliche zu großer Literatur zu formen versteht.

Jonathan Franzen – „Freiheit“

Dienstag, 19. Dezember 2017

(Rowohlt, 731 S., HC)
Seit Jonathan Franzen mit seinem Familienepos „Die Korrekturen“ 2001 zum internationalen Bestseller-Autor und Liebling der Kritiker wurde, sind in Deutschland seine früheren Werke „Schweres Beben“ und „Die 27ste Stadt“ nachgereicht worden, aber erst 2010 erschien mit „Freiheit“ das mit Spannung langerwartete neue Werk. Unter dem plakativ erscheinenden, weiträumig interpretierbaren Titel präsentiert der gefeierte amerikanische Romancier vor allem eine umfassende Familienchronik, die ihren Ausgang in dem Ehepaar Walter und Patty Berglund nimmt, das vor zwei Jahren von Washington in das St. Paul-Viertel Ramsey Hills gezogen ist. Der Leser erfährt von Pattys erfolgreicher Karriere als Basketballspielerin an der University of Minnesota und Walters Anstellung bei 3M, von den Kindern Joey und Jessica, von denen sich das Mädchen als folgsam und unkompliziert, der Junge als so rebellisch präsentiert, dass er glatt zu den Monaghans in der Nachbarschaft zieht und mit der Tochter Carol eine an sich heiratsfähige, doch auch komplizierte Beziehung eingeht.
Im weiteren Verlauf des Romans lernen wir die einzelnen Familienmitglieder näher kennen, jeden aus seiner eigenen Perspektive, wobei Walter und Patty mit ihrer schwierigen Beziehung definitiv im Mittelpunkt stehen. Denn ausgerechnet Walters bester Freund, der Rockmusiker Richard Katz, lässt sich auf eine Affäre mit seiner Frau ein, die später auf Anraten ihres Therapeuten ihre Erfahrungen in der Autobiographie „Es wurden Fehler gemacht“ niederschreibt und von sich in der dritten Person erzählt. Durch die Affäre und die darauffolgende Trennung verändert sich auch die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, die längst ihren eigenen Weg gehen, Jessica auf unspektakuläre, unkomplizierte Weise, Joey durchaus mit Hang zum unternehmerischen Risiko. Doch vor allem Walter und Patty selbst haben trotz neuer Partner unter ihrer Trennung zu leiden.
„Sie hatte sich unter allen Männern auf der Welt in den einen verliebt, der Walter genauso zugetan war, der genauso auf Walters Wohl bedacht war wie sie; jeder andere hätte versuchen können, sie gegen ihn aufzubringen. Und womöglich schlimmer noch war ihr Gefühl der Verantwortung für Richard, weil sie wusste, dass er in seinem Leben sonst niemanden wie Walter hatte und dass seine Loyalität gegenüber Walter, neben seiner Musik, zu den wenigen Dingen gehörte, die ihn in seinen eigenen Augen als Mensch retteten. All dies hatte sie, in ihrem Schlaf und ihrer Selbstsucht, aufs Spiel gesetzt.“ (S. 234) 
Franzen zeichnet die Lebensgeschichten seiner Figuren sehr akribisch nach, nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen, die die psychische Konstitution der jeweiligen Persönlichkeit verdeutlichen, immer abwechselnd, so dass keine Figur zu lange aus dem Fokus des Lesers verschwindet.  
„Freiheit“ bedeutet im Kontext der Berglund-Familie vor allem die Freiheit, Fehler zu machen, unter den Konsequenzen jahrelang zu leiden und auch in vielen anderen Belangen, vor allem in beruflicher Hinsicht, zu scheitern. Franzen bringt dem Leser die Figuren dabei so nahe, dass sie Teil der eigenen Familie, der eigenen Lebensgeschichte zu werden scheinen, und auf diese Weise regt der Autor zur Selbstreflexion an. Der familiäre Mikrokosmos, den der Roman so detailliert beschreibt, wird so zur Blaupause der Familienstruktur nach 9/11. Menschen machen schlimme Fehler, geraten auf die schiefe Bahn, bereuen und leisten Abbitte, jeder der Berglunds auf seine Art. Dabei hebt Franzen aber nicht den moralisierenden Zeigefinger, denn er weiß ebenso wie seine Leser, dass Irren allzu menschlich ist. Und so wird auch der Leser geneigt sein, den Figuren ihre Fehler nachzusehen. Nach 730 Seiten ist man so vertraut mit den Berglunds, dass der Abschied schwerfällt. Das gelingt nur den ganz großen Romanen. 
Leseprobe Jonathan Franzen - "Freiheit"