Ben Smith – „Dahinter das offene Meer“

Montag, 17. Februar 2020

(Liebeskind, 254 S., HC)
Ein namenloser Junge und ein ebenso namenloser alter Mann warten im Auftrag einer ungenannten Firma in einer unbestimmten Zeit einen grenzenlos erscheinenden Windpark in der Nordsee. Das Meer macht alles anonym. Die Arbeit wird allerdings meist nur provisorisch verrichtet. Alle paar Monate bringt ein Versorgungsschiff Proviant und Ersatzteile, doch mit den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Ersatzteilen konnten nur kleinere Reparaturen erledigt werden, so dass der Windpark meist nur mit einer Leistung von unter sechzig Prozent läuft. Ein automatisches Instandhaltungssystem unterrichtet die beiden Mechaniker, welches Windrad welches Problem hat und was es zur Reparatur benötigt, doch über die Jahre hat das System an Zuverlässigkeit eingebüßt.
Tag für Tag machen sich der Junge und der alte Mann auf den Weg zu den reparaturbedürftigen Windrädern, ohne viele Worte miteinander zu wechseln. Meist geht es nur um die Sehnsucht nach richtigem Essen, weil sie das ewige Allerlei aus den Dosen nicht mehr ertragen. Abwechslung bringt nur der Müll, den die Strömungen antreiben. Möbel, brüchige Gehäuse elektrischer Geräte, verblichene Kleidung, einmal sogar ein ganzes, aus seiner Verankerung gerissenes Haus finden sich hier neben den üblichen Plastiktütenschwärmen.
Doch eines Tages entdeckt der Junge ein verschollenes zweites Wartungsboot, mit dem offensichtlich sein Vater, dessen Platz im Windpark er nach seinem Verschwinden eingenommen hatte, zur offenen See hinaus fahren wollte. Die Erinnerungen des Jungen an ihn sind sehr verschwommen. Nur der Schiffsführer des Versorgungsschiffes vermittelt ihm einige Eindrücke, die den Jungen neugierig machen. Da der alte Mann aber Schweigen über das Schicksal seines Vaters bewahrt, macht sich der Junge während seiner Wartungsmissionen heimlich auf die Suche nach seinem Vater, doch der alte Mann scheint ihm schnell auf die Schliche gekommen zu sein …
„Erst, als der alte Mann zurück zur Plattform kam, begriff der Junge, was da vorging. Das Boot folgte exakt der Route, die er, der Junge, genommen hatte, als er von den Windrädern zurückgekommen war, einschließlich des Abstechers, den er dabei gemacht hatte.
Der Junge lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte auf den Bildschirm. Jetzt folgte der alte Mann ihm.“ (S. 121) 
Der britische Literaturwissenschaftler Ben Smith lehrt an der Universität Plymouth Kreatives Schreiben, wobei das Thema Klimawandel einen besonderen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet. Für seinen ersten Roman hat er sich folglich auf vertrautes Terrain begeben und ein mehr als tristes Bild einer Welt gezeichnet, aus der er allerdings nur einen verschwindend kleinen Teil präsentiert. Der Mikrokosmos eines maroden Windparks in der Nordsee ohne Aussicht auf die Vergnügungen einer hedonistischen und verschwenderischen Gesellschaft bildet die Bühne für ein Kammerspiel mit sehr überschaubarem Ensemble und ebenso minimal inszenierten Plot. Smith nimmt sich viel Zeit, die bescheidenen Lebensumstände der beiden Mechaniker zu beschreiben, den frustrierenden Arbeitsalltag, die wenig schmackhafte Nahrungsaufnahme und die kaum greifbaren Freizeitbeschäftigungen. Es wird nicht mal viel gesprochen, was es dem Leser schwer macht, sich in die anonymen Figuren hineinzufühlen. Auf den gut 250 Seiten passiert eigentlich nicht viel. Die Suche des Jungen nach seinem Vater bedeutet den einzigen Ausbruch aus dem ewig gleichen Alltag, bringt die Geschichte aber nicht wirklich voran und bewirkt noch weniger eine Entwicklung der Figuren.
Das Versteckspiel zwischen dem Jungen und dem alten Mann ist weder spannend inszeniert, noch verändert es den Blick des Lesers auf die postapokalyptische Welt, die Smith hier beschreibt. Die Reduzierung auf das Wesentliche in dieser dystopischen Geschichte übt fraglos einen gewissen Reiz aus, wobei die klare Sprache auch eine düstere atmosphärische Dichte kreiert, doch mich persönlich hat „Dahinter das offene Meer“ einfach nur gelangweilt.

Takis Würger – „Der Club“

Sonntag, 16. Februar 2020

(Kein & Aber, 238 S., Tb.)
Hans Stichler wurde im südlichen Niedersachsen als Sohn einer lungenkrebskranken Mutter und eines Mannes geboren, der seinen Job als Architekt aufgab, um sich um seine Familie zu kümmern und seinem Sohn später für das Boxen zu begeistern, damit er sich gegen vermeintlich Stärkere zur Wehr setzen könne. Mit fünfzehn Jahren boxte Hans in einem Club und wurde von seinem Vater zu einem Turnier nach Brandenburg gefahren, doch der Wagen kam bei eisglatter Straße ins Schlittern und der Vater wurde anschließend von einem LKW erfasst und getötet. Nachdem auch seine Mutter verstorben war, seine in England lebende Tante Alex sich seiner aber nicht annehmen wollte, wurde Hans in einem jesuitischen Internat untergebracht, wo er im Weinkeller mit Pater Gerald weiterboxen konnte.
Doch dann meldet sich seine Tante Alex und lädt ihn nach Cambridge ein, wo er nicht nur ein Stipendium vermittelt bekommt, sondern für seine Tante auch ein Verbrechen aufklären soll. Er soll in den elitären Pitt Club eingeschleust werden, wobei ihm die hübsche Charlotte und vor allem ihr Vater behilflich sind, doch Hans beschleicht dabei zunehmend das Gefühl, dass er selbst etwas Unrechtes tun muss, um sich das Vertrauen seiner neuen Freunde zu verdienen, die er anschließend verraten müsste …
„Ich feierte in dem Club, in dem meine Freundin missbraucht worden war, und sprach zu vertraut mit einer anderen Frau. Ich trank und tanzte mit Männern, die es getan haben konnten.
An manchen Abenden in diesem Club hatte ich mich gefühlt, als löste sich mein Ich langsam auf und irgendwann bliebe nur noch Hans Stichler übrig. Aber an diesem Abend wusste ich genau, wer ich war und wer ich nicht sein wollte.“ (S. 179) 
An sich ist das Thema von moralisch fragwürdigen Handlungen in elitären Studentenverbindungen nicht neu, und Takis Würger, mit dem Deutschen Reporterpreis und dem CNN Journalist ausgezeichneter „Der Spiegel“-Reporter, vermag diesbezüglich in seinem Debütroman „Der Club“ auch wenig Neues dazu beitragen. Dafür liest sich die knackig kurze Geschichte, in der Würger seine eigenen Erfahrungen, die er während seines Studiums der Ideengeschichte in Cambridge sammelte, wo er auch als Schwergewicht im Amateurclub boxte, einfließen lässt, sehr kurzweilig, weil er seine Figuren so lebendig portraitiert.
Zwar steht dabei vor allem der eröffnende Ich-Erzähler Hans Stichler im Vordergrund, doch seine Tante Alex und später auch Charlotte, ihr Vater Angus und die Pitt-Club-Mitglieder Josh und Billy bekommen ebenso immer mal Gelegenheit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Würger vermeidet es dabei, die Figuren in Schubladen zu stecken. Es geht ihm vor allem um die moralischen Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lügen, Vertrauen und Verrat.
Dabei befindet sich Hans in einem größer werdenden Dilemma, denn sobald er erfährt, dass seine Freundin Charlotte als Opfer aus den Handlungen der Club-Mitglieder hervorgegangen ist, muss sich Hans entscheiden, ob er sich für sie als Racheengel einspannen lässt und dafür seine neu gewonnenen Freunde verrät. Auch wenn Würger tiefer gehende Charakterisierungen vermissen lässt, versteht er es, durch seine klare Sprache und die akzentuiert vorangetriebene Handlung zu fesseln, wobei Humor und Romantik den Krimi-Plot stimmig auflockern. So beschreibt der Autor nicht nur in kurzen, aber eindringlichen Zügen, wie sein junger Protagonist aus der deutschen Provinz Karriere in einem elitären Club einer Elite-Universität macht, sondern koppelt diese Entwicklungsgeschichte mit einer zarten Romanze und den abgehobenen Allmachtsphantasien reicher Schnösel, die glauben, aufgrund ihrer Herkunft alles tun zu können, wonach ihnen gerade so ist – ohne Rücksicht auf die Gefühle und das Leben anderer Menschen.

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 3) „Das falsche Urteil“

Donnerstag, 13. Februar 2020

(Weltbild, 310 S., HC)
Am 24. August 1993 wird Leopold Verhaven nach 24 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen der beiden Morden an zwei Frauen gesessen hatte. Doch das Glück der Freiheit währt nur kurz. Noch am Entlassungstag wird er selbst ermordet, seine verstümmelte Leiche – ohne Kopf, Hände und Füße – in einem Teppich eingewickelt erst acht Monate später bei einem Ausflug mit vierzehn Kindergarten-Kindern in einem Graben entdeckt. Unter der Leitung von Polizeichef Hiller die Kommissare Münster, Rooth, deBries und Reinhart sowie die Hauptkriminalassistenten Jung und Moreno die Ermittlungen aufnehmen, unterzieht sich ihr Kollege Van Veeteren einer Darmkrebs-Operation.
Da eine Identifizierung des ungefähr sechzigjährigen Toten unmöglich ist, werden zunächst passende Fälle von Vermissten überprüft, doch erst ein Hinweis aus der Bevölkerung, die durch die Medien zur Mithilfe gebeten wurde, gelangen die Ermittler auf die Fährte von Verhaven, der 1962 erst Beatrice Holden und 1981 Marlene Nitsch ermordet haben soll und der Erste in Schweden war, der ohne Geständnis wegen Mordes verurteilt worden war – beide Male durch Richter Heidelbluum. Für den frisch operierten Van Veeteren und seine aktiven Kollegen stellt sich sofort die Frage nach dem Motiv. Fand Verhavens Mörder, dass der Verurteilte noch nicht genug bestraft worden sei?
Oder war Verhaven tatsächlich unschuldig, und der wahre Täter beabsichtigte mit dem Mord an Verhaven, dass dieser nichts mehr ausplaudern könnte, das auf den wirklichen Mörder hingewiesen hätte? Van Veeteren und seine Leute beschließen, die für die Verurteilung maßgeblichen Zeugen noch einmal zu befragen. Dabei erfahren sie nicht nur, dass Verhaven bereits in der Schule ein eigenbrödlerischer Sonderling war, der aber als Mittelstreckenläufer sämtliche Rekorde brach, bis er des Dopings überführt wurde und nach seinem abrupten Karriereende zurückgezogen in einem Dorf eine Hühnerzucht betrieb. Mit seiner Lebensgefährtin Beatrice Holden stritt er sich oft. Deshalb wird Verhaven, als sie nackt in einem Wald tot aufgefunden wird, in einem Indizienprozess erstmals zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Ähnlich liegt der nächste Fall nach Verhavens Entlassung, als er erneut wegen des Mordes an einer Frau aus seinem Umfeld ohne stichhaltige Beweise verurteilt wird. Obwohl Van Veeteren nach seiner Operation noch vom Dienst freigestellt ist, lässt ihn die Suche nach dem wahren Mörder keine Ruhe, da er zunehmend das Gefühl bekommt, dass Verhaven tatsächlich fälschlicherweise vierundzwanzig Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hat …
„Was zum Teufel, mache ich eigentlich hier, dachte er plötzlich. Was bilde ich mir eigentlich ein, was das helfen soll, dass ich hier herumschnüffele … und selbst, wenn mir das endlich eine Vorstellung davon gibt, wer Verhaven wirklich war, dann bringt mich das doch wohl keinen Zentimeter näher an die Antwort heran?
An die Antwort auf die Frage, wer ihn ermordet hat, nämlich.“ (S. 224) 
In dem dritten Krimi nach „Das grobmaschige Netz“ und „Das vierte Opfer“ um den schon etwas ausgebrannten schwedischen Kriminalkommissar Van Veeteren übernehmen dessen Kollegen die Laufarbeit, während der für seinen guten Instinkt berüchtigte Kommissar sich von seiner Operation erholen muss. Natürlich hält ihn das nicht davor zurück, selbst auf eigene Faust mit einer vorgetäuschten Identität Erkundigungen bei den Zeugen für Verhavens Verurteilung einzuholen. Nesser beschreibt dabei sehr gekonnt, wie sich die Vorurteile in einem Dorf gegen einen Mann verdichten, der schon immer aus der Reihe gefallen ist und ja durch seine Doping-Affäre hinlänglich bewiesen habe, dass er ein Betrüger sei – warum dann nicht auch ein Mörder? Natürlich erweist sich Van Veeterens Instinkt wieder als goldrichtig. Doch so wirklich nah kommt man dem Kommissar und den vielen Figuren dabei nicht. Durch die wechselnden Zeit- und Perspektivwechsel erzeugt der Autor eher ein Gefühl für die Atmosphäre der Vorverurteilung des mutmaßlichen Täters durch die Dorfgemeinschaft als handlungsintensive Spannung.
Leseprobe Hakan Nesser - "Das falsche Urteil"

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 2) „Hunde von Riga“

Sonntag, 2. Februar 2020

(Zsolnay, 334 S., HC)
Im Februar 1991 erhält das Polizeipräsidium von Ystad einen anonymen Hinweis, dass vor der schonischen Ostseeküste ein Rettungsboot mit zwei toten Männern an Land treiben würde, das wenig später tatsächlich von einer Frau beim Hundespaziergang bei Mossby Strand entdeckt wird. Da es sich bei den jeweils mit einem Schuss ins Herz getöteten, zuvor brutal gefolterten um Letten handelt, bittet die schwedische Polizei die lettischen Behörden um Mithilfe. Ein hinzugezogener Kapitän identifiziert das nicht gekennzeichnete Rettungsboot als ein Produkt jugoslawischer Herkunft, dessen Typ er auf einmal auf einem russischen Fischerboot gesehen habe. Der mit den Ermittlungen betraute Kommissar Kurt Wallander erfährt bei dem Treffen mit einem anonymen Zeugen, dass das Boot offensichtlich schon längere Zeit auf dem Wasser getrieben sei und aus dem Baltikum stamme. Wallanders Team bekommt nicht nur Unterstützung von zwei Kollegen aus Stockholm, sondern vom Außenministerium auch Birgitta Törn zur Beobachtung entsandt.
Über Moskau wird schließlich die lettische Polizei informiert, die mit Major Karlis Liepa einen hohen Ermittlungsbeamten aus Riga nach Ystad schickt. Doch als das Rettungsboot aus dem Keller des Präsidiums gestohlen wird, gibt es für Liepa nichts weiter zu tun. Kurz nach seiner Rückkehr nach Riga wird Liepa jedoch ermordet und Wallander von der Polizei dort eingeladen, an der Aufklärung des Mordes mitzuwirken.
Liepas Vorgesetzten, die beiden Polizei-Obersten Murniers und Putnis, scheinen den Fall schnell aufgeklärt zu haben, können sie doch einen geständigen Mann vorweisen. Doch nicht nur Wallanders Instinkt sagt ihm, dass an der Sache etwas faul sein muss, auch Liepas Witwe Baiba ist überzeugt, dass ihr Mann einer gewaltigen Verschwörung auf die Spur gekommen sein muss, in die die restaurative Sowjetpolitik, die russische Mafia und die korrupte Polizei involviert ist. Wallander wird wieder nach Schweden zurückgeschickt, verspricht Baiba, in die er sich mittlerweile verliebt zu haben glaubt, dass er mit einer gefälschten Identität zurückkommen wird, um das irgendwo versteckte Testament ihres Mannes aufzuspüren. Dazu nehmen sie die Hilfe der lettischen Untergrundbewegung in Anspruch, doch kann jede Vorsicht nicht verhindern, dass Wallanders Begegnung mit Baiba nicht unbemerkt bleibt. Wallander ist überzeugt, dass entweder Murniers oder Putnis für Major Liepas Ermordung verantwortlich gewesen sein muss …
„Ich suche nach dem Wächter, und das muss Baiba Liepa erfahren. Irgendwo verbirgt sich ein Geheimnis, das nicht verloren gehen darf. So geschickt versteckt, dass es nur von ihr gefunden und gedeutet werden kann. Denn ihr hat er vertraut, sie war in einer Welt, in der alle anderen gefallene Engel waren, der Schutzengel des Majors.“ (S. 218) 
Mit dem 1992 veröffentlichten zweiten Band um den nun 43-jährigen schwedischen Kleinstadt-Kommissar Kurt Wallander hat der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell die schwierige Loslösung der baltischen Sowjetrepubliken Anfang der 1990er Jahre zum Parkett für seine außergewöhnliche Story gemacht. Durch das Antreiben der zwei lettischen Leichen an der schonischen Küste wird Wallander direkt in den Kampf um die politische Vorherrschaft in Lettland hineingezogen, wo die korrupten Bewahrer des sozialistischen Systems auf die demokratisch orientierten Erneuerer treffen. Mankell gelingt es einmal mehr, seinen Protagonisten auf sympathische Weise zu charakterisieren, wozu die seltenen Treffen mit seinem Vater zählen, der es seinem Sohn nie verziehen hat, Polizist geworden zu sein, die ebenso seltenen Telefonate mit seiner Tochter Linda, die längst ihr eigenes Leben lebt, aber auch die Frage, ob er seinen Beruf nicht an den Nagel hängen und stattdessen beim Sicherheitsdienst einer großen Reifenfirma anheuern sollte. Mankell zeichnet Wallander als Menschen aus Fleisch und Blut, als einfühlsamen Polizisten, der sich in eine jüngere Frau aus einem ihm gänzlich fremden Land verliebt, weil sie ihn braucht, um das Testament ihres ermordeten Mannes zu finden und damit die von ihm aufgedeckte Verschwörung zu entlarven.
„Hunde von Riga“ besticht in der atmosphärisch stimmigen, wenn auch bedrückenden Beschreibung der schwierigen gesellschaftspolitischen Übergangssituation in Lettland, in der es schwierig zu entscheiden war, wer zu dem restriktive und wer zu dem fortschrittlichen Lager zählt – was oft den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte. In dieses düstere Szenario hat Mankell einen packenden Krimi-Plot gepackt, der den Leser bis zum Epilog zu fesseln versteht.

Peter Straub – „Mister X“

Sonntag, 26. Januar 2020

(Heyne, 608 S., HC)
Ned Dunstan, dessen Mutter bei seiner Geburt gerade mal achtzehn Jahre alt war und der seit seinem fünften Lebensjahr immer zwischen seiner Heimatstadt Edgerton und einer Reihe von Pflegeeltern hin- und herpendelte, macht sich auf eine Vorahnung hin per Anhalter auf den Weg nach Edgerton, um seine im Sterben liegende Mutter zu besuchen. Valerie „Star“ Dunstan hatte ein wechselhaftes Leben mit verschiedenen Liebhabern und einer Leidenschaft für die Kunst hinter sich und zuletzt bei zwei älteren Brüdern direkt über dem von ihnen betriebenen Club gewohnt, in dem sie an den Wochenenden zwei Sets mit dem Trio des Hauses sang. Aber über ihre Familiengeschichte hat sie ihrem Sohn gegenüber nie etwas verlauten lassen.
Ned hatte schon früh in seinem Leben das Gefühl, dass ihm etwas fehle, dass er nicht vollständig sei, was sich gerade in den alljährlichen Anfällen zu seinem Geburtstag manifestiert, die mit grauenvollen Halluzinationen einhergehen, bei denen er grässliche Morde aus der Perspektive des Täters miterleben muss, den er mangels besseren Wissens „Mister X“ nennt. Seine Tante Nettie verrät ihm, dass die Familie Dunstan schon immer mit der Gabe des Zweiten Gesichts gesegnet gewesen sei. Die letzte Etappe seiner Reise von New York nach Edgerton verbringt Ned an der Seite der attraktiven Staatsanwältin Ashleigh Ashton, die Beweise für die kriminellen Machenschaften von Stewart Hatch sammeln soll, der in Edgerton als Strippenzieher bekannt ist.
Am Sterbebett seiner Mutter erfährt Ned, dass er offenbar einen Zwillingsbruder habe, der nach der Geburt von der Hebamme Hazel Jansky entführt und illegal an Adoptiveltern verkauft worden sei. Und noch einen Namen gibt sie ihrem Sohn auf den Weg: Edward Rinehart. Bei seinen Nachforschungen verliebt sich Ned ausgerechnet in Laurie, die Frau von Stewart Hatch, und stößt auf immer neue Namen, die merkwürdigerweise auch in den Werken von H.P. Lovecraft auftauchen. Ned begibt sich in die verruchteren Viertel von Edgerton und macht endlich die Bekanntschaft mit seinem Bruder Robert, mit dem ihn eine außergewöhnliche Fähigkeit verbindet …
„War ich tatsächlich ins Jahr 1935 gereist, um Howard Dunstan aufzusuchen?
So verrückt konnte ich doch nicht sein. Allerdings hatte ich auch nicht den Eindruck, eine Halluzination gehabt zu haben. Die Dunstans waren keine durchschnittliche amerikanische Familie, obgleich wir uns bezüglich unserer Funktionsstörungen mit den besten Familien des Landes messen konnten.“ (S. 328) 
Peter Straub hatte zu Beginn seiner Karriere mit Bestsellern wie „Geisterstunde“ und „Schattenland“ bewiesen, dass er neben Stephen King, Clive Barker, Ramsey Campbell und Dean R. Koontz zu den besten Horror-Autoren seiner Generation zählt, doch mit späteren Werken konnte er an die frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen. Der 1999 in den USA und ein Jahr später auch hierzulande veröffentlichte Roman „Mister X“ macht auch deutlich, warum Straub sich aus der ersten Liga seiner Zunft verabschiedet hat. Die an sich interessante Geschichte eines jungen Mannes, der kurz vor seinem 35. Geburtstag nicht nur seine Mutter nach einem Schlaganfall verliert, sondern ganz neue Einblicke in die eigene Familiengeschichte erhält und dabei mit übernatürlichen Fähigkeiten konfrontiert wird, fängt äußerst interessant an. Doch kaum hat der Ich-Erzähler Ned Dunstan die Vorstellungskraft des Lesers angeregt und sich als vielschichtige Persönlichkeit vorgestellt, gerät der Erzählfluss auch schon ins Wanken. Denn der Wechsel der Perspektive zu den schwer nachvollziehbaren Taten und Gedanken des mysteriösen Mister X geht nicht nur mit einem anderen Ausdrucksstil einher, sondern knüpft auch Verbindungen zu Lovecrafts berühmten Cthulhu-Mythos und dessen Alten Göttern, ohne dass bis zum Ende des weitschweifigen Romans wirklich sinnvoll dargelegt wird, was die Faszination von Mister X für Lovecrafts Schaffen mit dem Schicksal der Dunstans zu tun hat.
Die unterschiedlichen Namen hinter ein- und derselben Person, die Sprünge zwischen den Erzählperspektiven und in der Zeit – zu denen Ned auch noch selbst fähig ist, in dem er „Zeit frisst“ – sowie die komplexen Verbindungen zwischen den Familien Hatch und Dunstan verwirren bei den unzähligen beteiligten Figuren nur mehr, als dass sie die verworrenen Handlungsstränge zusammenführen.

Stephen King – „The Stand – Das letzte Gefecht“

Freitag, 17. Januar 2020

(Bechtermünz Verlag, 1199 S., HC)
In der etwas nördlich von Arnette, Texas, an der US 93 gelegenen Tankstelle saßen die Sozialhilfeempfänger Norman Bruett und Tommy Wannamaker, die in der Rechnerfabrik Teilzeit arbeitenden Henry Carmichael und Stu Redman, der Rentner Victor Palfrey und Tankstellenbesitzer Bill Hapscomb sitzen abends gemütlich beim Bier zusammen, als ein alter Chevy auf die Zapfsäulen zusteuert und sie umpflügt. Für die Insassen kommt jede Hilfe zu spät. Offensichtlich waren sie bereits vor dem Unfall schwer erkrankt, so dass der Fahrer keine Kontrolle mehr über seinen Wagen hatte. Wie sich schnell herausstellt, ist aus einem geheimen Militärlabor ein mutiertes Grippevirus entwichen, dessen Ausbreitung das Militär nicht verhindern konnte. Mit einer Ansteckungsquote von 99,4 Prozent rafft „Captain Trips“ in kürzester Zeit nicht nur die Bevölkerung von Texas, Maine und Nebraska dahin, sondern auf der ganzen Welt. Allerdings sind einige Tausende immun gegen das Virus. Sie werden von unterschiedlichen Träumen heimgesucht, die zum einen von einer alten schwarzen Frau namens Abagail Freemantle und andererseits von einem dunklen Mann namens Randall Flagg handeln.
Die Überlebenden der Supergrippe machen sich auf den Weg, wohin ihre Träume sie führen. Während sich die Anhänger der über hundertjährigen Frau auf den Weg in Richtung Nebraska machen, wo die gutmütige Frau in einem Haus nahe einem Maisfeld lebt, ziehen die weniger gottesfürchtigen Menschen nach Las Vegas, wo Flagg eine schlagkräftige Truppe zusammenstellt, um die Herrschaft über die neue Welt nach der Pandemie an sich zu reißen. In Boulder, Colorado, gründet sich schließlich eine Freie Zone unter der Schirmherrschaft der alten Dame. Stu Redman, der sich unterwegs in die schwangere Studentin Frannie Goldsmith aus Ogunquit, Maine, verliebt hat, wird zum ersten Marshall ernannt und führt schließlich auch das Übergangskomitee an, dem auch der taubstumme Nick Andros und der ehemalige Star-Musiker Larry Underwood angehören.
Mutter Abagail, die Boulder auf sich allein gestellt verlässt, um für eine Sünde zu büßen, schickt nach ihrer Rückkehr Stu, Larry, Glen Bateman und den alten Richter Farris auf den Weg nach Las Vegas, um den Dunklen Fürsten zu vernichten, doch kehren nicht alle wieder lebend zurück. Zudem hat Randall Flagg auch in Boulder Anhänger, darunter Harold Lauder, dessen Liebe zu Frannie nicht erwidert worden ist, und Nadine Cross, die wiederum nicht bei Larry landen konnte und bei der Mutter Abagail bereits bei ihrer ersten Begegnung ein merkwürdiger Schauder befiel.
„Sie war noch nicht darüber hinaus, Angst um sich selbst zu empfinden, und einen Augenblick dachte sie, diese seltsame Frau mit den weißen Strähnen im Haar würde fast beiläufig die Hand ausstrecken und ihr das Genick brechen. Den einen Augenblick lang, den dieses Gefühl anhielt, bildete sich Mutter Abagail tatsächlich ein, das Gesicht der Frau wäre verschwunden und sie würde in ein Loch in Raum und Zeit sehen, ein Loch, aus dem zwei dunkle und verfluchte Augen sie betrachteten – Augen, die verloren und verzweifelt und hoffnungslos waren.“ (S. 688) 
Als Stephen King 1978 seinen apokalyptischen Roman „The Stand“ an den Mann bringen wollte, hatte er gerade mal die drei Romane „Carrie“, „Brennen muss Salem“ und „Shining“ veröffentlicht, so dass es seinem Verleger zu riskant erschien, ein 1200-Seiten-Epos von einem noch nicht wirklich etablierten Autor herauszubringen. Zwölf Jahre später sah die Sache schon wieder ganz anders aus, so dass die zuvor um 400 Seiten gekürzte Version nun doch in seiner ursprünglichen Fassung erscheinen konnte.
In „The Stand – Das letzte Gefecht“ entwirft King ein nicht allzu unrealistisches Szenario. Schließlich haben sowohl Reaktorunfälle als auch verschiedene Viren-Epidemien immer wieder zu drastischen Massensterben und Notfallmaßnahmen geführt. King nimmt sich sehr viel Zeit, die Folgen der verbreiteten Seuche auf einer sehr persönlichen Ebene zu schildern, was ihm zugleich die Möglichkeit gibt, seine wichtigsten Figuren in ihren jeweiligen Lebensumständen vorzustellen. Statt also die Auswirkungen von „Captain Trips“ auf der ganzen Welt zu thematisieren, beschränkt sich King auf ein sehr überschaubares Figuren-Ensemble und verortet sie auch gleich auf der guten und der bösen Seite. Dabei konzentriert er sich aber sehr auf die Menschen, die sich in Boulder um Mutter Abagail versammeln, um wieder eine Zivilisation, Recht und Ordnung aufzubauen, wobei schnell deutlich wird, dass immer mehr Probleme in einer Gemeinschaft auftreten, je größer sie wird.
Randall Flagg, der auch in Kings wichtigstem Werk um den Dunklen Turm die Nemesis des Revolvermanns darstellt, bleibt eher der dunkle Schatten im Hintergrund, eine Vorstellung vom Bösen, die aber auch ihre Anhänger findet. King beschreibt die Konfrontation zwischen den Guten in der Freien Zone und den Bösen im einstigen Spielerparadies von Las Vegas in biblischen Dimensionen, wobei ganz offen Bezüge zu göttlichen und teuflischen Visionen thematisiert werden. Trotz der epischen Ausmaße von „The Stand“ bleiben viele Figuren aber recht blass. So werden zwar die Schicksale von Stu Redman, Frannie Goldsmith, Larry Underwood und Nick Andros sehr eindringlich geschildert, dass sie dem Leser schnell ans Herz wachsen, aber sobald sich die Geschehnisse auf die Freie Zone konzentrieren, verliert das Drama an erzählerischer Kraft. Und auch die Konfrontation zwischen den beiden Menschengruppen verläuft am Ende eher enttäuschend. So ist „The Stand – Das letzte Gefecht“ in seiner vollständigen Ausgabe zwar ein sehr ambitioniertes, in seiner Umsetzung aber nicht immer überzeugendes Werk um den Kampf zwischen Gut und Böse geworden.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 11) „Straße ins Nichts“

Mittwoch, 15. Januar 2020

(Pendragon, 436 S., Pb.)
Obwohl Dave Robicheaux, Detective beim Sheriff’s Department von New Iberia, schon länger den Verdacht hegte, dass Vachel Carmouche, Henker des Staates Louisiana, die beiden kreolischen Zwillingsschwestern Passion und Letty Labiche missbraucht, für die er seit dem Tod ihrer Eltern sorgt, konnte dem Staatsdiener bislang noch keine Straftat nachgewiesen werden.
Als Carmouche eines Tages erschlagen in seinem Haus aufgefunden wird, verhängt der Staat die Todesstrafe für Letty Labiche. Nach acht Jahren in der Todeszelle rückt nun der Tag der Vollstreckung nahe. Robicheaux setzt alles daran, bei Gouverneur Belmont Pugh um einen Aufschub zu bitten, aber da dessen Wiederwahl ansteht, möchte dieser keine unpopulären Entscheidungen fällen.

Von seinem alten Kumpel Clete Purcel, der eine Privatdetektei im French Quarter führt, erfährt er von dem Zuhälter Zipper Clum, der offensichtlich nicht nur Näheres über den Mord an Carmouche weiß, sondern auch über das Verschwinden von Robicheaux‘ Mutter vor dreißig Jahren. Wie es scheint, ist sie von zwei Polizisten als unliebsame Zeugin ermordet worden.
„Was ich jetzt empfand, war nicht Verlust, sondern Diebstahl und Schändung. Man hatte mir das Andenken an meine Mutter gestohlen, den traurigen Respekt, den ich immer vor ihr gehabt hatte. Jetzt lag in einem Aktenordner bei der Polizei in New Orleans eine Kassette mit lauter Lügen, besprochen von einem inzwischen toten Gauner in dem Gefängnis von Morgan City, der behauptete, meine Mutter wäre eine Hure und Trickdiebin gewesen, und ich konnte nichts daran ändern.“ (S. 232f.) 
Robicheaux‘ Ermittlungen ziehen auf einmal weite Kreise. Ein cleverer wie selbstzerstörerischer Killer namens Johnny Remeta schaltet nacheinander alle Zeugen aus, die Näheres über den Mord an Robicheaux‘ Mutter wissen, und als der Detective selbst das Leben des Killers rettet, schwingt sich dieser wiederum zu dessen Schutzengel auf und macht sich an Robicheaux‘ Adoptivtochter Alafair heran.
So steht der Cop vor dem Dilemma, auf der einen Seite Alafair vor dem Soziopathen Remeta zu schützen, auf der anderen Seite ist der Killer als Informant zu wichtig, um ihm einfach das Licht auszublasen. Derweil läuft die Zeit für Letty Labiche in der Todeszelle gnadenlos ab …
Mit dem elften Band in der preisgekrönten Reihe um den temperamentvollen Vietnam-Veteranen, Bootsverleiher und Detective Dave Robicheaux bringt der selbst aus Louisiana stammende Autor James Lee Burke wieder ein dichtes Geflecht aus Korruption in Polizei- und Regierungskreisen zum Vorschein, vor dessen Hintergrund die Mutter des sympathischen Protagonisten ermordet worden ist. Indem Robicheaux sich des Schicksals der noch lebenden Letty und seiner ermordeten Mutter annimmt, taucht er tief in seine eigene Familiengeschichte ein und muss alte (Un-)Gewissheiten in ein neues Licht rücken.
Wie üblich beschreibt Burke in „Straße ins Nichts“ seine Figuren jenseits eindeutiger Gut-und-Böse-Kategorien, sondern als Menschen, die in ihrem Leben nicht immer die richtigen Entscheidungen treffen und dafür früher und später die Quittung präsentiert bekommen. Burke gelingt es einmal mehr, die feucht-tropische Hitze in dem nach wie vor von Rassismus geprägten Süden der USA bildgewaltig und wortgewandt zu beschreiben, ebenso wie die innere Zerrissenheit, die sowohl Robicheaux als auch seinen Freund Purcel prägt.
Am Ende gibt es etliche Tote und Versehrte zu beklagen, und weder Robicheaux noch der Leser bleiben nach etlichen Wendungen und einem furiosen Finale unbeeindruckt zurück.

David Baldacci – (Amos Decker: 3) „Exekution“

Montag, 13. Januar 2020

(Heyne, 542 S., HC)
Als sich Amos Decker, Angehöriger einer Spezialeinheit des FBI, auf den Weg zu einer Besprechung im Hoover Building macht, wird er Zeuge, wie ein Mann erst eine Frau erschießt und sich dann, als er von einem bewaffneten FBI-Wachmann und Decker mit ebenfalls gezogener Pistole festgesetzt wird, selbst richtet. Deckers Team, zu dem die Agenten Alex Jamison, Todd Milligan und Ross Bogart zählen, wird mit der Aufklärung der ungewöhnlichen Tat direkt vor dem FBI-Hauptquartier beauftragt. Dabei lässt sich zunächst überhaupt keine Verbindung zwischen der unbescholtenen 59-jährigen Aushilfslehrerin Anne Berkshire, die sich zudem ehrenamtlich als Betreuerin in einem Hospiz engagiert hat, und ihrem Killer, dem 61-jährigen Selfmade-Millionär und liebenden Familienvater Walter Dabney, herstellen. Es deutet aber alles darauf hin, dass der Mord etwas mit Dabneys beruflicher Tätigkeit zu tun hat, denn als Chef eines erfolgreichen Zuliefererunternehmens für Regierungsaufträge verfügte er über streng vertraulicher Informationen gleich mehrerer Geheimdienste.
Schließlich erfahren Decker und seine Leute, dass Dabney offensichtlich die Spielschulden seines Schwiegersohnes in Paris in Höhe von zehn Millionen Dollar bezahlt hat, wofür er offenbar gezwungen war, Geheiminformationen an feindlich gesinnte Regierungen zu verkaufen. Deckers Truppe wird vom militärischen Geheimdienst DIA gezwungen, sich aus den Ermittlungen zurückzuziehen, bis die leitende DIA-Ermittlerin Harper Brown feststellt, dass Amos Decker mit seinem photographischen Gedächtnis trotz fehlender Sicherheitsfreigabe eine wichtige Unterstützung bei der Aufklärung des Falles sein könnte. Da weder FBI noch DIA wissen, was für brisante Informationen Dabney verkauft haben und wie akut die nationale Sicherheit bedroht sein könnte, läuft den Ermittlern allmählich die Zeit davon …
„Es war beinahe so, als würden die Walzen eines Spielautomaten sich ratternd im Kreis drehen und dann allmählich an Geschwindigkeit verlieren, während das Spiel sich dem Ende nähert und einen entweder zum Verlierer oder zum Gewinner macht, falls dieselben Symbole dreimal nebeneinander erscheinen.
Kommt schon. Reiht euch in der richtigen Reihenfolge auf. Macht mich zum Gewinner. Ich kann es brauchen.“ (S. 471) 
Mit der Reihe um den ehemaligen Football-Profi Amos Decker, der nach einem fundamentalen Zusammenstoß auf dem Spielfeld plötzlich die Gabe besitzt, sich mit photographischer Präzision an jede Kleinigkeit zu erinnern, die sein Gedächtnis aufnimmt, hat Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“, „Die Wächter“) seine bislang überzeugendsten Werke abgeliefert. Nach „Memory Man“ und „Last Mile“ darf Amos Decker, der sonst mit seiner Spezialeinheit eigentlich mit der Aufklärung von kalten Fällen beauftragt worden ist, einen aktuellen Vorfall bearbeiten, bei dem er als Zeuge selbst beteiligt gewesen ist. Natürlich tragen die minutiösen Beobachtungen und Rekapitulationen rund um die beiden Todesfälle direkt vor seinen Augen ihren Teil zur Aufklärung bei, aber „Exekution“ besticht vor allem durch akribische Ermittlungsarbeit, die in lebendigen Dialogen dokumentiert wird. Zwar steht Decker mit seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, die er immer wieder aufklärungsfördernd demonstrieren darf, stets an vorderster Front, aber seine Mitstreiter werden nicht zu bloßen Gehilfen degradiert, sondern bekommen ihren eigenen Anteil am Ermittlungserfolg.
Es ist aber nicht nur faszinierend zu verfolgen, wie in der Zusammenarbeit von DIA und FBI der Background von Anne Berkshire und Walter Dabney an Form gewinnt und die Spekulationen über eine mögliche Verbindung zunehmend konkreter werden. Auch die persönlichen Entwicklungen der Protagonisten bleiben nicht außen vor. So wird die Freundschaft zwischen Decker und Melvin Mars, der Decker sein neues Leben verdankt, nachdem er zwanzig Jahre unschuldig hinter Gittern gesessen hatte, ebenso um interessante Momente bereichert wie die Wohngemeinschaft von Decker und Jamison in einem Gebäude, das Melvin gekauft hat und in dem sich die beiden FBI-Agenten nebenbei als Hausverwalter betätigen. Deckers mangelndes Einfühlungsvermögen in manchen Situationen, aber auch der Fluch der unauslöschlichen Erinnerung an die Morde, denen seine Frau und seine Tochter Molly zum Opfer gefallen sind, sorgen für emotionale Momente in einem durchweg überzeugend inszenierten und souverän geschriebenen Thriller-Drama, das die richtige Mischung aus Spannung, Action, akribischer Ermittlungsarbeit und der Schilderung persönlicher Schicksale besitzt.
Leseprobe David Baldacci - "Exekution"

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 2) „Das vierte Opfer“

Montag, 6. Januar 2020

(btb, 288 S., HC)
Kommissar Van Veeteren hat bereits drei Wochen Urlaub am Strand hinter sich – davon eine mit seinem Sohn Erich, der noch zehn Monate seiner Haftstrafe abzusitzen hat -, als ihn Polizeipräsident Hiller darum bittet, die Kollegen bei einem zweifachen Mordfall in der naheliegenden Küstenstadt Kaalbringen zu unterstützen. Vor Ort erfährt er von dem kurz vor seiner Pensionierung stehenden Polizeichef Bausen, dass vor einem Monat dem Drogenabhängigen Heinz Eggers und nun dem Immobilienmakler Ernst Simmel mit einer Axt fast der Schädel vom Körper abgetrennt worden ist. Van Veeteren nimmt zwar nicht Bausens Angebot an, während der Ermittlungen bei ihm zu wohnen, besucht ihn aber fast jeden Abend, um mit ihm erlesene Weine zu trinken, über den Fall zu spekulieren und vor allem Schach zu spielen.
Doch trotz intensiver Befragungen von Nachbarn und Angehörigen der Opfer will sich den Ermittlern kein gemeinsamer Nenner zwischen den Opfern und schon gar kein Motiv erschließen. Erst als mit dem jungen Arzt Maurice Rühme das dritte Opfer des sogenannten „Henkers“ aufgefunden wird, fällt die Gemeinsamkeit auf, dass alle drei Opfer erst Anfang des Jahres nach Kaalbringen gezogen bzw. zurückgekehrt sind. Als ein 35-seitiger Bericht über Rühmes Zeit in Aarlach bei der Polizei in Kaalbringen eintrifft, entdeckt Kommissarin Beate Moerk ein „bizarres“ Detail, doch bevor sie Van Veeterens mittlerweile ebenfalls angereisten Kollegen Münster über ihre Entdeckung ins Bild setzen kann, verschwindet sie spurlos, aber Van Veeteren kann sich noch immer keinen Reim auf die ganze Geschichte machen …
„Es war, als würde dieser ganze Fall hier eigentlich gar nicht existieren. Oder als würde er auf der anderen Seite einer Wand vor sich gehen, einer undurchdringlichen Panzerglasscheibe, durch die er nur unscharf eine Menge unbegreifbarer Menschen und Handlungen erkennen konnte, die langsam nach einer Choreographie abliefen, die er nicht verstand. Alle einzeln, grundlos und ohne tieferen Zusammenhang.“ (S. 148) 
Der zweite Fall, mit dem der schwedische Autor Håkan Nesser uns seinen charismatischen Kommissar Van Veeteren vorstellt, ist bereits durch die ungewöhnliche Tatwaffe etwas Besonderes, aber durch die fehlende Verknüpfung zwischen den drei Opfern und dem nicht erkennbaren Motiv eben auch angenehm knifflig. Während die Ermittlungen durch die Zeugenbefragungen und die Einbeziehung der Presse aber kaum vorankommen, nutzt der Autor die Möglichkeit, seine Figuren etwas näher zu charakterisieren. Dabei macht vor allem das fast schon freundschaftliche Geplänkel zwischen Kaalbringens Polizeichef Bausen und seinem zur Unterstützung eingetroffenen Kollegen Van Veeteren besonders viel Spaß, aber auch die enge Zusammenarbeit zwischen der attraktiven, ungebundenen Kommissarin Beate Moerk und Van Veeterens verheirateten Kollegen Münster sorgt für ein paar schöne Momente. In diesen beiden Paar-Konstellationen und auch in den Van Veeterens Verhören zeigt sich Nessers feines Gespür für eine überzeugende Figurenzeichnung.
Allerdings hätte Nesser hier auch weitaus mehr von seinen Protagonisten preisgeben können. Besonders enttäuschend ist allerdings der „überraschende“ Schluss ausgefallen, bei dem das Motiv für die grausamen Taten einfach nicht überzeugend genug dargelegt wird. So präsentiert der nicht mal 300 Seiten umfassende Krimi zwar einen interessanten Fall und an sich interessante Figuren, doch holt Nesser noch nicht genug aus diesem Potenzial heraus, weshalb die Auszeichnung mit dem „Schwedischen Krimipreis“ etwas überrascht.
Leseprobe Hakan Nesser - "Das vierte Opfer"

Peter Straub – „Reise in die Nacht – The Hellfire Club“

Samstag, 4. Januar 2020

(Heyne, 656 S., HC)
Als Nora Chancel in ihrem Schlafzimmer an der Crooked Mile Road in Westerholm, Connecticut aus einem Albtraum aufwacht, ist sie wieder einmal den Dämonen ihrer Vergangenheit als Krankenschwester in Vietnam entkommen, muss sich aber bald einem neuen Dämon stellen, der bereits einige prominente Frauen in der Gegend ermordet hat. Als Schwiegertochter des Verlegers Alden Chancel, dessen Vermögen und Erfolg sich auf dem 1939 veröffentlichten Bestseller „Reise in die Nacht“ von Hugo Driver gründet. Mit „Reise in die Dämmerung“ und „Reise ins Licht“ sind zwei weniger erfolgreiche Nachfolgeromane erschienen, die aber keine Auswirkungen auf den fast Fankult um Hugo Driver hatten.
Auch Noras nichtsnutziger Ehemann Davey zählt sich zu der besessenen Driver-Fangemeinde, hat aber nur Dank seines großzügigen Vaters eine gutbezahlte Position im Verlag inne. Das wohlgeordnete Leben der Verleger-Familie gerät aber aus den Fugen, als mit Natalie Weil die heimliche Geliebte von Davey Chancel (und seinem Vater) unter mysteriösen Umständen aus ihrem blutgetränkten Schlafzimmer verschwindet und nach ihrer Rückkehr behauptet, von Nora entführt worden zu sein. Doch auf dem Polizeirevier, wo sich auch der überführte Frauenmörder Dick Dart aufhält, wird Nora von Dart als Geisel genommen und entführt. Wie sich herausstellt, befindet sich der glühende, aber psychopatische Driver-Verehrer Dick Dart, der als Rechtsanwalt die rechtlichen Angelegenheiten des Verlages vertritt, auf einem blutigen Feldzug gegen alle, die die Urheberschaft von Drivers „Reise in die Nacht“ anzweifeln.
Die Angehörigen der 1938 verschwundenen Dichterin Katherine Mannheim beanspruchen nämlich das Manuskript des Bestsellers und behaupten, Mannheim sei die wahre Urheberin von „Reise in die Nacht“. Nora versucht sich verzweifelt, aus den Fängen ihres Peinigers zu befreien und in Shorelands, wo Driver vermutlich in den Besitz von Mannheims Manuskript gelangt ist, den wahren Vorgängen zur Entstehung des Kultromans auf die Spur zu kommen. Dabei gerät sie zunehmend in den Bann einer umfassenden Verschwörung.
„Das war nicht nur unglaublich, das war unvorstellbar: Hugo Driver hatte seine beiden letzten Romane um die bestgehüteten Geheimnisse der Familie seines Verlegers herum konstruiert. Kein Wunder, dass sie posthum veröffentlicht wurden, dachte Nora und fragte sich sofort, warum sie überhaupt veröffentlicht worden waren. Sie staunte über das Ausmaß von Alden Chancels Zynismus; er war sicher gewesen, dass außer ihm und seiner Frau niemand den Code entschlüsseln konnte, und hatte aus Drivers Popularität Kapital geschlagen.“ (S. 475) 
Auch wenn Peter Straub mit „Schattenland“ und „Geisterstunde“ wundervolle Horror-Romane geschrieben hat und durch die Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ und „Das schwarze Haus“ bekannt geworden ist, liegt seine Stärke in vielschichtigen Psycho-Thrillern, wie er sie mit „Wenn du wüsstest“, „Koko“ und eben „Reise in die Nacht“ vorgelegt hat. Geschickt konstruiert Straub ein Rätsel über die Entstehung und Urheberschaft eines Bestsellers, verwebt die unterschiedlichsten Schicksale aus der Verlagsbranche zu einem mysteriösen Puzzle, das die sympathische Protagonistin Nora Chancel gegen alle Widrigkeiten allmählich aufzudröseln vermag. In ihrem Leben hat sie schließlich schon als Krankenschwester den Vietnam-Krieg, einen schwächlichen Ehemann und die Anfeindungen ihres Schwiegervaters überlebt, nun kommt noch eine Entführung und Vergewaltigung durch einen glühenden Hugo-Driver-Verehrer dazu.
Es ist eine wilde Odyssee ähnlich der, die der „Reise in die Nacht“-Held Pippin Little erlebt, und bringt Nora nach und nach mit allen möglichen Leuten zusammen, die etwas zur Entwicklungsgeschichte des Romans beitragen können. Dabei fügen sich erst in Shorelands die einzelnen Puzzleteile zu einem schrecklichen Gesamtbild zusammen.
Straub fesselt seine Leser mit den skrupellosen Mechanismen des Buchmarkts und führt die kultische Verehrung von Schriftstellern in Gestalt des psychopathischen Serienmörder Dick Dart als geistige Verwirrung vor. Die Reise, die Nora wider Willen mit ihrem Entführer unternimmt, stellt dabei das eindringliche Kernstück des Romans dar, und Straub gelingt es dabei, sowohl Nora als auch den Widerling Dick Dart äußerst faszinierend zu charakterisieren. Aber auch die detektivische Arbeit, mittels der die hartnäckige Heldin das Geheimnis um „Reise in die Nacht“ enträtselt, ist überzeugend dargestellt und - trotz einiger Längen und unbeantworteter Fragen - wunderbar geschrieben.

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 1) „Die Blutlinie“

Samstag, 28. Dezember 2019

(Bastei Lübbe, 476 S., Tb.)
Smoky Barrett hat eine rasante Karriere beim FBI hingelegt, nach ihrem Abschluss in Quantico als Jahrgangsbeste schließlich die Zweigestelle der Abteilung CASMIRC (Child Abduction and Serial Murder Investigative Ressources Center) in Los Angeles geleitet. Sie holte sich mit Callie, Alan und James die besten Agenten ins Team und lief in ihrer Abteilung zu Hochform auf. Doch vor sechs Monaten drang ein Mann namens Joseph Sands in ihr Haus ein, fügte ihr vor den Augen ihres gefesselten Mannes Matt mit dem Messer die fürchterlichsten Wunden zu, vergewaltigte sie, tötete sowohl Matt als auch ihre gemeinsame Tochter Alexa, bevor sich Smoky mit einem Kraftakt befreien und ihren Peiniger erschießen konnte.
Nach einer intensiven Therapie beim Psychologen Dr. Peter Hillstead ist sie wieder bereit, ihren Dienst beim CASMIRC zu versehen, doch viel Zeit zum Eingewöhnen hat Smoky nicht: Ein psychopathischer Killer, der sich als direkter Nachfahre von Jack the Ripper sieht, hat in San Francisco nicht nur Smokys alte Schulfreundin Annie King misshandelt und schließlich getötet, sondern auch ihre Tochter Bonnie an die Leiche ihrer Mutter gefesselt, bevor sie nach drei Tagen endlich entdeckt wurde. Wie sein vermeintlicher Vorfahre Jack the Ripper macht sich auch Jack Junior auf die Jagd nach Prostituierten, die wie Annie King in der Regel ihre eigene Porno-Website unterhalten haben. Der Killer sucht die direkte Konfrontation mit Smoky, die er als Pendant zu Inspector Abberline betrachtet, der damals Jack the Ripper gejagt hatte. Dafür bedroht er die engsten Vertrauten der scharfsinnigen Ermittlerin, der allmählich die Zeit davonläuft. Jack Junior geht bei seinen Taten nicht nur äußerst geschickt vor, sondern verübt seine grausigen Verbrechen offensichtlich nicht allein …
„Bei Jack Junior haben wir das gesamt Spektrum physischer Beweise abgegrast, einschließlich der internen IP-Nummern der Provider. Er hat sich maskiert, hat Wanzen und Peilsender angebracht, sich Jünger herangezogen, hat ausgesprochen geschickt agiert.
Und jetzt hängt die Aufklärung des Falls wahrscheinlich von lediglich zwei Faktoren ab. Einem Stück Rindfleisch und einem fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden ungelösten Fall, der im VICAP Staub angesetzt hat.“ (S. 416) 
Mit seinem 2006 veröffentlichten Debüt „Die Blutlinie“ hat der US-amerikanische Schriftsteller Cody McFadyen eine überaus charismatische Protagonistin etabliert, die von Beginn an die Sympathien der Leserschaft zu gewinnen versteht. Indem McFadyen seine äußerlich krass entstellte und innerlich starke, aber arg gebeutelte Heldin Smoky Barrett als Ich-Erzählerin das ihr zugefügte Leid rekapituliert und ihre vielschichtigen Empfindungen und Erinnerungen an ihre verlorene Liebe und die kaum vorstellbar brutalen Ereignisse beschreibt, ist das Publikum bereits völlig eingenommen von der taffen Frau, die zwar verständlicherweise auch schon mit dem Gedanken gespielt hat, sich mit ihrer Pistole das Hirn wegzuschießen, aber dann doch lieber zu dem zurückkehrt, was sie am besten kann: Serienmörder zu schnappen. Dabei erweist sich ihr nächster Gegner als raffinierter, selbstbewusster Täter, der den Agenten immer einen Schritt voraus zu sein scheint und seine Opfer aus Smokys immer näheren Umfeld sucht.
McFadyen gelingt es, die Spannungskurve konsequent anzuziehen und dabei tief in die Psyche seiner Figuren einzutauchen und trotzdem die Handlung konsequent voranzutreiben. Die beschriebenen Verbrechen sind nichts für Zartbesaitete und lassen sich locker im Umfeld von „Sieben“ und „Das Schweigen der Lämmer“ ansiedeln. „Die Blutlinie“ wäre ein absolut erstklassiger Thriller geworden, wenn McFadyen sich nicht auf die Konventionen des Genres eingelassen hätte, um einen überraschenden, leider aber auch völlig unglaubwürdigen Täter aus dem Hut zu zaubern. All die Spannung, die der Autor bis zum missglückten Finale so brillant aufgebaut hat, macht er durch diesen viel zu konstruiert wirkenden „Kniff“ wieder zunichte. Davon abgesehen bietet „Die Blutlinie“ aber atemlosen Thrill und eine echte Persönlichkeit als Protagonistin, die es bislang auf vier Fortsetzungen gebracht hat.
Leseprobe Cody McFadyen - "Die Blutlinie"

Cormac McCarthy – „Land der Freien“

Donnerstag, 26. Dezember 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
John Grady arbeitet als junger Cowboy auf einer Ranch in New Mexico und hat sich dort mit dem etwas älteren Billy Parham angefreundet. Der Umgang mit den Pferden macht ihnen Spaß, obwohl die Arbeit ebenso hart wie unspektakulär ist. Abwechslung bringen nur die Ausflüge ins nahegelegene El Paso oder über die Grenze nach Ciudad Juárez, wo sie sich in den Kneipen und Bordellen vergnügen. Erst als John Grady in einer der Kneipen die Hure Magdalena entdeckt und sich in sie verliebt, gerät sein geordnetes Leben ins Wanken. Obwohl er von ihren epileptischen Anfällen weiß und später erfährt, dass sie den Zuhälter Eduardo heiraten soll, bringt ihn nichts davon ab, mit ihr zusammen sein zu wollen.
Zunächst versucht er es noch auf die diplomatische Tour und schickt Billy vor, die Bedingungen mit Eduardo auszuhandeln, doch der hat nicht vor, Magdalena ziehen zu lassen. Das verliebte Paar fasst einen waghalsigen Plan, will mit gefälschten Papieren fliehen und heimlich heiraten, doch das Vorhaben wird verraten – mit tragischen Konsequenzen für alle Beteiligten …
„Er wusste, dass uns das, was wir unbedingt in unserem Herzen bewahren möchten, oft genommen wird, während das, was wir loswerden wollen, durch ebendiesen Wunsch oft ein unerwartetes Beharrungsvermögen zu gewinnen scheint. Er wusste, wie zerbrechlich die Erinnerung an einen geliebten Menschen ist. Wie wir die Augen schließen und mit ihm sprechen. Wie wir uns danach sehnen, noch einmal seine Stimme zu hören, und wie diese Stimme und die Erinnerung schwach und schwächer werden, bis das, was einst Fleisch und Blut war, nurmehr Nachhall und Schatten ist.“ (S. 220) 
Mit „Land der Freien“ hat Cormac McCarthy seine 1992 mit „All the Pretty Horses“ (dt. „All die schönen Pferde“, 1993) begonnene und 1994 mit „The Crossing“ (dt. „Grenzgänger“, 1995) fortgesetzte Border-Trilogie beendet und die Schicksale seiner beiden Protagonisten John Grady Cole und Billy Parham zusammengeführt. Während John Grady Cole im Jahre 1949 als Sechszehnjähriger aufbrach, mit seinem Freund Lacey Rawlins von Texas nach Mexiko zu reiten, um dort das Leben in vermeintlicher Freiheit zu genießen und sich mit dem Wesen von Pferden anzufreunden, überquerte Billy Parham in „Grenzgänger“ bereits neun Jahre zuvor mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Boyd die Grenze, um die Mörder ihrer Eltern aufzuspüren, die sich auch noch die Pferde der Familie unter den Nagel gerissen haben. In „Land der Freien“ kreuzen sich nun die Wege der beiden jungen Männer, die auf ihren Reisen zwischen den Grenzstaaten der USA und Mexiko schreckliche Dinge erlebt, auf der Ranch in New Mexiko aber ihre Bestimmung gefunden haben. Es ist eine ebenso raue wie schöne Welt, die McCarthy wie gewohnt detailreich in seiner kargen, poetischen Prosa beschreibt, so ausführlich, dass der Leser wie hypnotisiert in die Szenerie hineingezogen wird. Allerdings wendet sich der Autor im weiteren Verlauf der Geschichte zunehmend seinen Figuren zu, vor allem John Grady, der sich unsterblich in eine junge Hure verliebt und alles bereit ist zu tun, um mit ihr zusammen sein zu können. Dabei ist jedem, der Zeuge der unglücklichen Konstellation wird, dass Magdalena einem anderen, weitaus mächtigeren und skrupelloseren Mann versprochen ist, sofort klar, dass diese unmögliche Liebe zwischen der Hure und ihrem jungen Verehrer ein böses Ende nehmen muss. Die finale Konfrontation zwischen John Grady und Eduardo beschreibt McCarthy wie einen tödlichen Tanz, bei dem die eingesetzten Messer unauslöschliche Wunden in die Körper und Seelen der beiden Kontrahenten hinterlassen.
Fünfzig Jahre später blickt Billy Parham auf die blutigen Ereignisse zurück und vertieft sich mit einem weisen alten Mann unter einer Autobahnbrücke in tiefgehende philosophische Betrachtungen, die McCarthys Selbstverständnis vom Leben im zunehmend zivilisierten Wilden Westen verdeutlichen, die romantischen Vorstellungen des Lesers mit Staub, Whisky und Blut beflecken.
Leseprobe Cormac McCarthy "Land der Freien"

Cormac McCarthy – „Grenzgänger“

Sonntag, 22. Dezember 2019

(Rowohlt, 448 S., Tb.)
Der 16-jährige Billy Perham und sein jüngerer Bruder Boyd wachsen im Grant County auf, von wo man noch auf direktem Weg nach Mexiko gelangen kann, ohne auf einen Zaun zu stoßen. Zusammen mit seinem Vater unternimmt Billy regelmäßig Jagdausflüge und stellt Fallen für die Wölfe aus, die ihre Viehherde bedrohen. Als Billy eines Tages eine trächtige Wölfin aus der Falle befreit, will er sie allein zurück in die mexikanische Sierra bringen, wobei er unterwegs mit anderen Reisenden und Einwohnern aus der Gegend von Chihuahua ins Gespräch kommt.
Als er Monate später aber zur elterlichen Farm zurückkehrt, findet er sie verlassen vor: Die Eltern wurden ermordet, die Pferde gestohlen, sein Bruder ist bei Pflegeeltern untergekommen. Die beiden Brüder machen sich auf die Reise nach Mexiko, wo sie die Pferdediebe vermuten, wobei sich Boyd mit einem gleichaltrigen mexikanischen Mädchen in Mexiko niederlässt. Mit 21 Jahren unternimmt Billy seine nächste Reise nach Mexiko, diesmal, um seinen Bruder zu suchen, dessen sterbliche Überreste er zurück nach New Mexiko bringen will. Einmal mehr beschäftigt sich Billy mit der Frage nach seiner Heimat und Identität …
„Die Welt kann sich nicht verirren. Nur wir. Und weil diese Namen und Gradnetze von uns stammen, können sie uns nicht helfen. Können sie uns die Suche nach dem richtigen Weg nicht abnehmen. Dein Bruder ist dort, wo die Welt ihn haben wollte. Er ist an dem Platz, der für ihn bestimmt war. Zugleich hat er sich diesen Platz selber ausgewählt. Und so einen glücklichen Zufall sollte man nicht geringschätzen.“ (S. 408) 
Mit dem Auftakt seiner sogenannten „Border-Trilogie“, „All die schönen Pferde“, gelang Cormac McCarthy 1992 der internationale Durchbruch, zwei Jahre später legte er mit dem epischen „Grenzgänger“ auf imponierende Weise nach. Minutiös schildert der Pulitzer-Preisträger in seiner ebenso archaischen wie poetischen Sprache die Mühsal des Lebens auf einer Ranch, wo Wölfe die Lebensgrundlage der Menschen bedrohen. Doch statt den ausgemachten und endlich gefangenen Übeltäter zu töten, erbarmt sich der 16-jährige Romanheld der trächtigen und geschundenen Wölfin und unternimmt mit ihr eine abenteuerliche Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren, wobei sich Billy auch deshalb so um das Wohl der Wölfin bemüht, weil er sie für eine Botin aus einer anderen Welt betrachtet, in der die Natur nach eigenen Gesetzen funktioniert.
Immer wieder bringt McCarthy Gegensätze zusammen, Wildnis und Zivilisation, Gewalt und Güte, Einsamkeit und Geselligkeit, Mordlust und Vergebung, Hoffnung und Verzweiflung, Heimat und die Fremde. Es ist nichts Glorifizierendes, das der Autor zum Western-Genre beizutragen hat. Stattdessen beschreibt er eindrucksvoll die kleinen und großen Gesten, die den Unterschied zwischen Gut und Böse ausmachen.
Neben den fast schon manieristisch detaillierten Beschreibungen der Alltagsszenen, der Reisen und gefahrvollen Aufeinandertreffen mit Dieben und Mördern webt McCarthy aber immer wieder betörend eindringliche, mit lakonisch humorvollen Akzenten versehene Dialoge ein, die oft leider im spanischen Original belassen werden, so dass sich für den Leser der Sinn nur aus dem Kontext erschließt.
Wie brutal die Welt letztlich ist, stellt Billy am Ende seiner ersten Reise nach Mexiko fest, als er auf die verlassene Ranch seiner Familie zurückkehrt. Statt jedoch zu verzweifeln, macht sich Billy immer wieder auf den schicksalhaften Weg zu den Verursachern des Unglücks und wird dabei selbst mit den unterschiedlichsten Empfindungen konfrontiert. Wie McCarthy all diese Gegensätze zu großer Literatur vereint, ist nicht unbedingt leichtverdauliches Pageturner-Futter, bleibt aber nachhaltig in der Vorstellungskraft des Lesers haften.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Dan Brown – (Robert Langdon: 5) „Origin“

Sonntag, 15. Dezember 2019

(Lübbe, 670 S., HC)
Edmond Kirsch, milliardenschwerer Fachmann für Spieltheorie und computerbasierte Modellrechnungen, trifft sich in der legendären Bibliothek von Montserrat mit drei prominenten Vertretern unterschiedlicher Religionen, um ihnen von seiner Entdeckung zu berichten, die Grundlage für eine demnächst geplante öffentliche Präsentation sein soll, die die Grundfesten aller Religionen erschüttern wird. Doch kaum hat er dem spanischen Bischof Antonio Valdespino, der zudem ein enger Vertrauter des spanischen Königs ist, dem jüdischen Philosophen Rabbi Yehuda Köves und Al-´Allāma Seyd al-Fadl seine brisanten Erkenntnisse vorgestellt, werden sowohl der Rabbi als auch der muslimische Religionsführer ermordet.
Währenddessen wird der an der Harvard University lehrende Professor für Symbologie Robert Langdon von seinem früheren Studenten Edmond Kirsch eingeladen, an seiner unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen stattfindenden Präsentation im Guggenheim Museum von Bilbao teilzunehmen. Doch während der beeindruckenden Einleitung zur Multimedia-Präsentation, in der Kirsch Antworten auf die zentralen Fragen der Menschheit – Woher kommen wir? – Wohin gehen wir? – zu geben beabsichtigt, wird Kirsch von einem Admiral der spanischen Marine, dessen Name kurzfristig auf die Gästeliste gesetzt worden war, erschossen. Im anschließenden Chaos können Langdon und die bildschöne Leiterin des Museums, Ambra Vidal, zusammen fliehen.
Die Verlobte des spanischen Thronfolgers Júlian hat vor der Präsentation viel Zeit mit Kirsch verbracht und führt Langdon in Kirschs Wohnsitz in Barcelona, wo sie mithilfe von Kirschs KI-Assistenten Winston die so brutal gestoppte Präsentation der Öffentlichkeit zugängig machen wollen. Allerdings benötigen sie dazu ein siebenundvierzig Zeichen langes Passwort, um Zugang zu der offensichtlich nicht nur von radikalen Kirchenvertretern gefürchteten Präsentation zu bekommen. Während sich die Gerüchte mehren, dass ausgerechnet Bischof Valdespino hinter dem Attentat steckt, fürchtet vor allem auch Ambra um ihr Leben.
„Wenn Edmond tatsächlich zwei der größten Mysterien des Lebens gelöst hatte – was konnte daran so gefährlich und zerstörerisch sein, dass man ihn ermordet hatte, um ihn daran zu hindern, seine Entdeckung der Welt zu offenbaren?
Langdon hatte keine Ahnung. Er wusste nur eines mit Sicherheit: Die Entdeckung hatte mit dem Ursprung des Menschen zu tun.
Was kann so schockierend sein am Ursprung des Menschen? An seiner Bestimmung?“ (S. 270) 
Nach „Illuminati“, „Sakrileg“, „Das verlorene Symbol“ und „Inferno“ begibt sich der berühmte Symbologe Robert Langdon in „Origin“ bereits das fünfte Mal auf eine gefährliche Schnitzeljagd, die der amerikanische Bestseller-Autor Dan Brown mit bewährter Raffinesse inszeniert, indem er berühmte Kunstwerke und Bauwerke als zentrale Punkte auf der abenteuerlichen Reise seines sympathischen Protagonisten setzt. Dabei widmet sich Brown auch einem überraschend aktuellen Thema, nämlich den weltweit erschreckenden Ausmaßen terroristischer Anschläge, die im Namen religiöser Überzeugungen verübt werden. Ohne auf vereinzelte Terroranschläge konkret einzugehen, beschwört Brown Philosophen, Dichter, Politiker und Künstler wie William Blake, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin, Winston Churchill, Antoni Gaudí und Paul Gauguin herauf, um die Widersprüche und Gegensätze zwischen religiösen Überzeugungen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufzuzeigen. Brown hat sich seither mit den großen Mythen vor allem der christlichen Religionen, mit den geheimnisvollen Symbolen berühmter Kunstwerke und großen wissenschaftlichen Entdeckungen auseinandergesetzt. Nun scheint er den letzten großen Geheimnissen auf den Grund gehen zu wollen. Die vermeintliche Beantwortung der eingangs thematisierten Fragen bilden das Spannungsgerüst von „Origin“. Der Leser bekommt erst die ersehnten Antworten, wenn Langdon das Passwort zu entschlüsseln vermag, wobei er einmal mehr von einer attraktiven jungen Frau begleitet wird, die mehr als nur Sympathie für den klugen Mann zu empfinden beginnt. Auf der immerhin 670 Seiten langen Odyssee begleiten wir Robert Langdon, Ambra Vidal und Kirschs kinetisch-intelligenten Assistenten Winston zu verschiedenen Bauwerken und historischen Städten, bekommen die Hintergründe zu William Blakes Gedichten, Gaudís außergewöhnlichen Bauwerken und naturwissenschaftlichen Experimenten erklärt, bis wir zur entscheidenden Frage vordringen, wie Naturwissenschaft und Religion vielleicht miteinander ausgesöhnt werden können.
Das ist ebenso spannend, lehrreich wie unterhaltsam geschrieben und beweist einmal mehr, wie gut Dan Brown das Interesse seiner riesigen Fangemeinde zu fesseln versteht. Dabei trägt der Autor schon mal etwas dick auf und bläht seine Schnitzeljagd auch unnötig mit kunsthistorischen Bezügen auf, aber als Leser fühlt man sich dadurch nicht nur gut unterhalten, sondern auch auf kurzweilige Weise belehrt.
Leseprobe Dan Brown - "Origin"

Lee Child – (Jack Reacher: 21) „Der Ermittler“

Sonntag, 8. Dezember 2019

(Blanvalet, 413 S., HC)
Nach seinem Einsatz auf dem Balkon, wo er zwei Männer, die militärische Geheimnisse hätten verraten können, aufgespürt und mit einem Kopfschuss liquidiert hatte, wird Jack Reacher „für außergewöhnlich verdienstvolles Verhalten zum Vorteil der Vereinigten Staaten in wichtiger, verantwortlicher Position“ mit seiner zweiten Legion of Merit ausgezeichnet. Sein nächster Auftrag gestaltet sich aber weitaus schwieriger, wie der Major mit zwölf Jahren Diensterfahrung von seinem Vorgesetzten General Garber erfährt. Zusammen mit Casey Waterman vom FBI und John White von der CIA wird der Ermittler der Militärpolizei vom Nationalen Sicherheitsberater Alfred Ratcliffe auf eine Mission vorbereitet, die Reacher nach Hamburg führt, wo drei Saudis und ein Iraner seit einem Jahr eine Schläferzelle bilden. Der Iraner fungiert dabei als Spitzel, der von der CIA aus dem amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg geführt wird. Der Besuch eines weiteren Saudis sorgt für Unruhe, denn sein Ausgangsstatement, dass der Amerikaner hundert Millionen Dollar will, deutet zweifellos darauf hin, dass mit diesem Geld ein Terroranschlag von ungeheuren Ausmaßen finanziert werden soll.
Reacher nimmt mit der besten Ermittlerin, die er kennt, Sergeant Frances Neagley, in Hamburg die Spurensuche auf, wenig später folgt ihnen auch Ratcliffes attraktive Stellvertreterin Dr. Marian Sinclair. Sie hoffen, dass sie etwas Zeit haben, um herauszufinden, wer diese unvorstellbar hohe Summer verlangt und was er dafür den Käufern bietet. Mit der Unterstützung vom Hamburger Kripochef Griesmann können die Amerikaner schließlich einen einfachen amerikanischen Soldaten als Verkäufer identifizieren sowie ein mächtiges Netzwerk Deutschnationaler, die ihr Land den Deutschen zurückzugeben beabsichtigen.
Dass deren Beziehungen bis in die obersten deutschen Polizeikreise reichen, macht die Arbeit für Reacher und seine Kollegen nicht einfacher, und körperliche Auseinandersetzungen lassen sich ab einem bestimmten Punkt der Ermittlungen nicht mehr vermeiden.
„Er durfte gehen, und sie würden ihm folgen. Was bedeutete, dass der Kampf draußen stattfand. Falls es zu einer Schlägerei kam, was nicht sicher war. Was Alter und Gewicht betraf, lagen die meisten dieser Leute über dem Durchschnitt. Da waren Herzanfälle vorprogrammiert. Für die meisten war Zurückhaltung wohl besser als Tapferkeit. Die wenigen Ausnahmen machten Reacher keine Sorgen. Sie wären jünger und etwas besser in Form, aber letztlich doch harmlose Büroangestellte. Reacher war ein guter Straßenkämpfer. Vor allem auch, weil er Spaß daran hatte.“ (S. 221) 
Um etwas Abwechslung in die mittlerweile doch arg in die Jahre gekommene Serie um den charismatischen Ermittler der Militärpolizei der United States Army zu bringen, nimmt uns Autor Lee Child zurück in Reachers aktive Laufbahn, als der Mittdreißiger auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn steht und im Jahr 1996 nach Deutschland geschickt wird, um ein internationales Terrornetzwerk auffliegen zu lassen. Natürlich hat Child dabei die Umstände aufgegriffen, dass in Deutschland einige Attentäter von 9/11 vor ihrem Einsatz in Deutschland verweilten. Dazu hat er Hamburg als außergewöhnlichen Handlungsort ausgewählt, beschreibt die Hansestadt als Tor zur Welt, als Zentrum neonazistischer Tendenzen und sexueller Perversionen. So spannend der Autor die Jagd nach dem amerikanischen Verräter und dessen Handelsobjekt inszeniert, so klischeebehaftet stellt er die Deutschen als tumbe Neonazis dar, die ihre eigenen, missgeleiteten Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen und an einer neuen Weltordnung wirken.
Immerhin stellt Child seinem Helden mit Kripochef Griesmann einen kompetenten Mann zur Seite, davon abgesehen bleibt das Figurenensemble recht eindimensional. Dass Reacher mit seiner Vorgesetzten eine Affäre beginnt, trägt nicht unbedingt zur Glaubwürdigkeit des Plots bei. Von diesen Ärgernissen abgesehen, bietet „Der Ermittler“ aber gewohnt souverän inszenierte Thriller-Spannung, die sich zwar nicht mit den besten Reacher-Romanen messen kann, aber die Fangemeinde doch kurzweilig zu unterhalten versteht.
Leseprobe Lee Child - "Der Ermittler"

Jeffery Deaver - (Lincoln Rhyme: 14) „Der Todbringer“

Dienstag, 3. Dezember 2019

(Blanvalet, 574 S., HC)
Als William Sloane und seine Verlobte Anna beim Patel Designs in der South Bronx den mit einem anderthalbkarätigen Diamanten besetzten Verlobungsring abholen wollen, tötet ein maskierter Unbekannter mit einem Teppichmesser sowohl das junge Paar als auch den indischen Diamantenschleifer Jatin Patel. Dessen junger Mitarbeiter Vimal stößt wenig später in der Werkstatt auf die Toten und flüchtet. Ein anonymer Anrufer informiert die Polizei, die gleich vor mehreren Rätseln steht, weshalb Detective Lon Sellitto vom NYPD die fast vollständig gelähmte Forensik-Koryphäe Lincoln Rhyme um Unterstützung bittet.
Der maskierte Täter, von dem dank des anonymen Informanten eine gute Personenbeschreibung vorliegt, hat zwar drei Leichen hinterlassen und den Eigentümer zuvor gefoltert, aber mehrere Hundert Diamanten im offenen Tresor liegengelassen. Rhymes Frau Amelia Sachs untersucht mit Mel Cooper den Tatort und riecht, dass auch eine Schusswaffe abgefeuert wurde. Offenbar wurde der unbekannte Zeuge des Überfalls angeschossen, konnte aber fliehen. Der sogenannte Täter 47 (wegen der Siebenundvierzigsten Straße, in der die Morde verübt worden sind) lässt weitere Opfer folgen, die mit Diamanten zu tun gehabt haben, und sendet ein Bekennerschreiben als Textnachricht an verschiedene Fernseh- und Radiosender.
Doch nicht nur die Jagd nach Täter 47, der sich selbst als „Der Versprechende“ bezeichnet, hält die Ermittler in Atem, auch geschickt inszenierte Explosionen, die Erdbeben imitieren sollen, sorgen für weitere Todesfälle. Und schließlich nimmt Lincoln Rhyme einen besonders heiklen Berater-Auftrag an. Der Anwalt des mexikanischen Drogenhändlers El Halcón vermutet, dass seinem Mandanten nach einer Schießerei, bei der Bundesbeamte getötet wurden, Beweismaterial untergeschoben wurde.
„Rhyme las die Einträge durch, prägte sie sich ein und dachte weiter darüber nach, was der mexikanische Anwalt ihm erzählt hatte. Er dachte auch an Sachs, Sellitto, Cooper und die anderen, die unermüdlich gegen Täter 47 ermittelten. Was würden sie davon halten, dass ich in Erwägung ziehe, für das Team eines Drogendealers tätig zu werden?
Es gab keine einfache Antwort auf diese Frage, also ignorierte er sie vorerst und wandte sich wieder den Beweisen zu.“ (S. 312) 
Lincoln Rhyme hat in seiner langen Karriere zunächst beim NYPD und nach seinem folgenschweren Unfall, der ihn für den Rest seines Lebens an Bett und Rollstuhl fesselte, als freier Berater vor allem für seine alte Dienststelle schon mit so manchen gewitzten Psychopathen zu tun gehabt. Doch in „Der Todbringer“ gestaltet sich die Identifizierung des Täters und die Jagd nach ihm als besonders schwierig, weil er an unterschiedlichen, schwer vorhersehbaren Fronten zuschlägt und kein eindeutiges Motiv bei seinem Vorgehen erkennen lässt.
Bestseller-Autor Jeffery Deaver präsentiert auch in seinem 14. Thriller um seinen prominenten Protagonisten Lincoln Rhyme einen akribisch recherchierten, detailreich beschriebenen und sehr komplexen Plot, bei dem drei zunächst unabhängig erscheinende Fälle auf furiose Weise zusammengeführt werden und gerade zum packenden Finale zahlreiche Wendungen aufweisen. So gekonnt Deaver die Spannungsschraube – wenn auch mit einigen Längen im Mittelteil - sukzessive anzieht und interessante Einblicke in das Geschäft mit Diamanten gewährt, so bleiben die Figuren selbst im Hintergrund. Deaver scheint bereits alles über das sympathische Ehepaar Rhyme und Sachs erzählt zu haben, denn bis auf wenige Nebensätze kommt das Privatleben der beiden nicht mehr zur Sprache. Dafür beschreibt er Vimal Lahoris Dilemma, sowohl als Zeuge von der Polizei als auch von Täter 47 gesucht zu werden, sowie den Machtkampf mit seinem Vater.
Die Mischung aus intelligent konzipierter, souverän geschriebener Thriller-Spannung und den persönlichen Geschichten der Protagonisten machen auch „Der Todbringer“ zu einem gelungenen Werk des Autors, der im Finale noch einen alten Bekannten ins Rampenlicht zurückholt.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Todbringer"

Ian McEwan – „Die Kakerlake“

Sonntag, 1. Dezember 2019

(Diogenes, 134 S., HC)
In seinem früheren Leben war Jim Sams eine verhasste Kakerlake, die hinter der Täfelung im Westminster-Palast ihr Unwesen trieb, doch dann erwacht er eines Morgens aus unruhigen Träumen und findet sich in ungewohnter Umgebung wieder. Eine Frau, die sich offenbar als seine persönliche Referentin erweist, spricht ihn als Premierminister an und erinnert ihn an die Kabinettssitzung um neun und die anschließende Beantwortung von Fragen des Oppositionsführers. Zwar hegt er noch kurz Bedenken, ob er am Rednerpult auch mit nur zwei statt sechs Beinen so souverän stehen und wirken würde, doch den bevorstehenden Fragen sieht er äußerst gelassen entgegen, schließlich kennt er das Gebaren seiner früheren Artgenossen nur zu gut. Von seiner Mission, den Willen des Volkes durchzusetzen, will er sich partout nicht abbringen lassen.
Dafür bewirbt er ein Instrument, das „Reversalismus“ bezeichnet wird, wohinter sich eine Umkehr des Geldflusses verbirgt. Wer einen Job ausüben will, muss dafür bezahlen, wobei bessere Jobs auch höhere Entgeltzahlungen bedeuten. Beim Einkaufen erhält man den monetären Gegenwert für die Waren im Einkaufskorb, so dass man viel einkaufen muss, um sich einen besseren Job leisten zu können. Einzahlungen auf Geldkonten werden mit Negativzinsen belastet, so dass allen damit gedient ist, möglichst immer mehr Geld in Umlauf zu bringen. Das ambitionierte Projekt kann aber nur funktionieren, wenn auch außerhalb Großbritanniens Verbündete gewonnen werden können, weshalb Sams den Schulterschluss mit dem US-amerikanischen Präsident Tupper sucht. Der scheint angesichts einer Zahlung von über siebenhundert Milliarden Dollar auf sein privates Offshore-Konto auf den Cayman-Inseln nicht abgeneigt. Schwieriger gestaltet sich der Austausch mit der deutschen Bundeskanzlerin, der die Argumentation ihres britischen Kollegen nicht einleuchten will.
Warum? Weil. Weil wir das nun mal tun. Weil es das ist, woran wir glauben. Weil wir uns an unser Wort halten. Weil das Volk es so will. Weil ich als Retter aufgetaucht bin. Weil. So lautete letztlich die einzige Antwort: weil.“ (S. 116) 
Bereits mit seinen letzten Werken wie „Kindeswohl“ und „Maschinen wie ich“ setzte sich der preisgekrönte britische Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Trost von Fremden“, „Liebeswahn“) mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander, aber so nah am Puls der Zeit wie mit „Die Kakerlake“ war McEwan bislang noch nicht. Denn die gerade mal gut 130 Seiten umfassende Geschichte präsentiert sich als bitterböse Satire auf den vom Autor gehassten Brexit, wobei er sich ganz ungeschminkt auf Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ beruft, in der Gregor Samsa eines Morgens als Kakerlake erwacht. McEwan kehrt nicht nur Kafkas Idee auf den Kopf, sondern entlarvt mit der ungewöhnlichen Metamorphose seines Protagonisten, der gleichermaßen als Verkörperung sowohl von Theresa May als auch Boris Johnson dient, die argumentativ schwach unterfütterten Brexit-Pläne der britischen Regierung. Mit dieser Satire rennt McEwan bei den Brexit-Gegnern natürlich offene Türen ein. In die Tiefe geht der Autor mit seinem kurzweiligen und humorvollen Werk dabei nicht, so als würde es sich bei diesem absurden Szenario auch nicht lohnen. Dafür bekommt natürlich auch der amerikanische Präsident sein Fett weg und es wird kurz demonstriert, wie die ebenfalls aktuelle „MeToo“-Debatte auch genutzt wird, um politische Gegner wie den eigenen Außenminister auszubooten. Das ist bei aller Kürze witzig auf den Punkt gebracht, doch kann sich „Die Kakerlake“ nicht in die Reihe von Meisterwerken einreihen, die wir von McEwan gewohnt sind.
Leseprobe Ian McEwan - "Die Kakerlake"