Peter Straub – „Mister X“

Sonntag, 26. Januar 2020

(Heyne, 608 S., HC)
Ned Dunstan, dessen Mutter bei seiner Geburt gerade mal achtzehn Jahre alt war und der seit seinem fünften Lebensjahr immer zwischen seiner Heimatstadt Edgerton und einer Reihe von Pflegeeltern hin- und herpendelte, macht sich auf eine Vorahnung hin per Anhalter auf den Weg nach Edgerton, um seine im Sterben liegende Mutter zu besuchen. Valerie „Star“ Dunstan hatte ein wechselhaftes Leben mit verschiedenen Liebhabern und einer Leidenschaft für die Kunst hinter sich und zuletzt bei zwei älteren Brüdern direkt über dem von ihnen betriebenen Club gewohnt, in dem sie an den Wochenenden zwei Sets mit dem Trio des Hauses sang. Aber über ihre Familiengeschichte hat sie ihrem Sohn gegenüber nie etwas verlauten lassen.
Ned hatte schon früh in seinem Leben das Gefühl, dass ihm etwas fehle, dass er nicht vollständig sei, was sich gerade in den alljährlichen Anfällen zu seinem Geburtstag manifestiert, die mit grauenvollen Halluzinationen einhergehen, bei denen er grässliche Morde aus der Perspektive des Täters miterleben muss, den er mangels besseren Wissens „Mister X“ nennt. Seine Tante Nettie verrät ihm, dass die Familie Dunstan schon immer mit der Gabe des Zweiten Gesichts gesegnet gewesen sei. Die letzte Etappe seiner Reise von New York nach Edgerton verbringt Ned an der Seite der attraktiven Staatsanwältin Ashleigh Ashton, die Beweise für die kriminellen Machenschaften von Stewart Hatch sammeln soll, der in Edgerton als Strippenzieher bekannt ist.
Am Sterbebett seiner Mutter erfährt Ned, dass er offenbar einen Zwillingsbruder habe, der nach der Geburt von der Hebamme Hazel Jansky entführt und illegal an Adoptiveltern verkauft worden sei. Und noch einen Namen gibt sie ihrem Sohn auf den Weg: Edward Rinehart. Bei seinen Nachforschungen verliebt sich Ned ausgerechnet in Laurie, die Frau von Stewart Hatch, und stößt auf immer neue Namen, die merkwürdigerweise auch in den Werken von H.P. Lovecraft auftauchen. Ned begibt sich in die verruchteren Viertel von Edgerton und macht endlich die Bekanntschaft mit seinem Bruder Robert, mit dem ihn eine außergewöhnliche Fähigkeit verbindet …
„War ich tatsächlich ins Jahr 1935 gereist, um Howard Dunstan aufzusuchen?
So verrückt konnte ich doch nicht sein. Allerdings hatte ich auch nicht den Eindruck, eine Halluzination gehabt zu haben. Die Dunstans waren keine durchschnittliche amerikanische Familie, obgleich wir uns bezüglich unserer Funktionsstörungen mit den besten Familien des Landes messen konnten.“ (S. 328) 
Peter Straub hatte zu Beginn seiner Karriere mit Bestsellern wie „Geisterstunde“ und „Schattenland“ bewiesen, dass er neben Stephen King, Clive Barker, Ramsey Campbell und Dean R. Koontz zu den besten Horror-Autoren seiner Generation zählt, doch mit späteren Werken konnte er an die frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen. Der 1999 in den USA und ein Jahr später auch hierzulande veröffentlichte Roman „Mister X“ macht auch deutlich, warum Straub sich aus der ersten Liga seiner Zunft verabschiedet hat. Die an sich interessante Geschichte eines jungen Mannes, der kurz vor seinem 35. Geburtstag nicht nur seine Mutter nach einem Schlaganfall verliert, sondern ganz neue Einblicke in die eigene Familiengeschichte erhält und dabei mit übernatürlichen Fähigkeiten konfrontiert wird, fängt äußerst interessant an. Doch kaum hat der Ich-Erzähler Ned Dunstan die Vorstellungskraft des Lesers angeregt und sich als vielschichtige Persönlichkeit vorgestellt, gerät der Erzählfluss auch schon ins Wanken. Denn der Wechsel der Perspektive zu den schwer nachvollziehbaren Taten und Gedanken des mysteriösen Mister X geht nicht nur mit einem anderen Ausdrucksstil einher, sondern knüpft auch Verbindungen zu Lovecrafts berühmten Cthulhu-Mythos und dessen Alten Göttern, ohne dass bis zum Ende des weitschweifigen Romans wirklich sinnvoll dargelegt wird, was die Faszination von Mister X für Lovecrafts Schaffen mit dem Schicksal der Dunstans zu tun hat.
Die unterschiedlichen Namen hinter ein- und derselben Person, die Sprünge zwischen den Erzählperspektiven und in der Zeit – zu denen Ned auch noch selbst fähig ist, in dem er „Zeit frisst“ – sowie die komplexen Verbindungen zwischen den Familien Hatch und Dunstan verwirren bei den unzähligen beteiligten Figuren nur mehr, als dass sie die verworrenen Handlungsstränge zusammenführen.

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