Peter Straub – „Reise in die Nacht – The Hellfire Club“

Samstag, 4. Januar 2020

(Heyne, 656 S., HC)
Als Nora Chancel in ihrem Schlafzimmer an der Crooked Mile Road in Westerholm, Connecticut aus einem Albtraum aufwacht, ist sie wieder einmal den Dämonen ihrer Vergangenheit als Krankenschwester in Vietnam entkommen, muss sich aber bald einem neuen Dämon stellen, der bereits einige prominente Frauen in der Gegend ermordet hat. Als Schwiegertochter des Verlegers Alden Chancel, dessen Vermögen und Erfolg sich auf dem 1939 veröffentlichten Bestseller „Reise in die Nacht“ von Hugo Driver gründet. Mit „Reise in die Dämmerung“ und „Reise ins Licht“ sind zwei weniger erfolgreiche Nachfolgeromane erschienen, die aber keine Auswirkungen auf den fast Fankult um Hugo Driver hatten.
Auch Noras nichtsnutziger Ehemann Davey zählt sich zu der besessenen Driver-Fangemeinde, hat aber nur Dank seines großzügigen Vaters eine gutbezahlte Position im Verlag inne. Das wohlgeordnete Leben der Verleger-Familie gerät aber aus den Fugen, als mit Natalie Weil die heimliche Geliebte von Davey Chancel (und seinem Vater) unter mysteriösen Umständen aus ihrem blutgetränkten Schlafzimmer verschwindet und nach ihrer Rückkehr behauptet, von Nora entführt worden zu sein. Doch auf dem Polizeirevier, wo sich auch der überführte Frauenmörder Dick Dart aufhält, wird Nora von Dart als Geisel genommen und entführt. Wie sich herausstellt, befindet sich der glühende, aber psychopatische Driver-Verehrer Dick Dart, der als Rechtsanwalt die rechtlichen Angelegenheiten des Verlages vertritt, auf einem blutigen Feldzug gegen alle, die die Urheberschaft von Drivers „Reise in die Nacht“ anzweifeln.
Die Angehörigen der 1938 verschwundenen Dichterin Katherine Mannheim beanspruchen nämlich das Manuskript des Bestsellers und behaupten, Mannheim sei die wahre Urheberin von „Reise in die Nacht“. Nora versucht sich verzweifelt, aus den Fängen ihres Peinigers zu befreien und in Shorelands, wo Driver vermutlich in den Besitz von Mannheims Manuskript gelangt ist, den wahren Vorgängen zur Entstehung des Kultromans auf die Spur zu kommen. Dabei gerät sie zunehmend in den Bann einer umfassenden Verschwörung.
„Das war nicht nur unglaublich, das war unvorstellbar: Hugo Driver hatte seine beiden letzten Romane um die bestgehüteten Geheimnisse der Familie seines Verlegers herum konstruiert. Kein Wunder, dass sie posthum veröffentlicht wurden, dachte Nora und fragte sich sofort, warum sie überhaupt veröffentlicht worden waren. Sie staunte über das Ausmaß von Alden Chancels Zynismus; er war sicher gewesen, dass außer ihm und seiner Frau niemand den Code entschlüsseln konnte, und hatte aus Drivers Popularität Kapital geschlagen.“ (S. 475) 
Auch wenn Peter Straub mit „Schattenland“ und „Geisterstunde“ wundervolle Horror-Romane geschrieben hat und durch die Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ und „Das schwarze Haus“ bekannt geworden ist, liegt seine Stärke in vielschichtigen Psycho-Thrillern, wie er sie mit „Wenn du wüsstest“, „Koko“ und eben „Reise in die Nacht“ vorgelegt hat. Geschickt konstruiert Straub ein Rätsel über die Entstehung und Urheberschaft eines Bestsellers, verwebt die unterschiedlichsten Schicksale aus der Verlagsbranche zu einem mysteriösen Puzzle, das die sympathische Protagonistin Nora Chancel gegen alle Widrigkeiten allmählich aufzudröseln vermag. In ihrem Leben hat sie schließlich schon als Krankenschwester den Vietnam-Krieg, einen schwächlichen Ehemann und die Anfeindungen ihres Schwiegervaters überlebt, nun kommt noch eine Entführung und Vergewaltigung durch einen glühenden Hugo-Driver-Verehrer dazu.
Es ist eine wilde Odyssee ähnlich der, die der „Reise in die Nacht“-Held Pippin Little erlebt, und bringt Nora nach und nach mit allen möglichen Leuten zusammen, die etwas zur Entwicklungsgeschichte des Romans beitragen können. Dabei fügen sich erst in Shorelands die einzelnen Puzzleteile zu einem schrecklichen Gesamtbild zusammen.
Straub fesselt seine Leser mit den skrupellosen Mechanismen des Buchmarkts und führt die kultische Verehrung von Schriftstellern in Gestalt des psychopathischen Serienmörder Dick Dart als geistige Verwirrung vor. Die Reise, die Nora wider Willen mit ihrem Entführer unternimmt, stellt dabei das eindringliche Kernstück des Romans dar, und Straub gelingt es dabei, sowohl Nora als auch den Widerling Dick Dart äußerst faszinierend zu charakterisieren. Aber auch die detektivische Arbeit, mittels der die hartnäckige Heldin das Geheimnis um „Reise in die Nacht“ enträtselt, ist überzeugend dargestellt und - trotz einiger Längen und unbeantworteter Fragen - wunderbar geschrieben.

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