Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 5) „Die kleine Schwester“

Montag, 21. September 2020

(Diogenes, 352 S., HC) 
Der 38-jährige Privatdetektiv Philip Marlowe ist seit fünf Minuten hinter einer Schmeißfliege in seinem heruntergekommenen Büro in Los Angeles her, als eine junge Frau mit Kleinmädchenstimme anruft und sich einen ersten Eindruck davon verschaffen möchte, ob Marlowe der richtige Mann für das sein könnte, was sie benötigt. Wenig später sitzt sie auch schon in seinem Büro, Orfamay Quest aus Manhattan, Kansas, und berichtet dem Detektiv, dass sie nach ihrem Bruder Orrin sucht, der nach seinem Studium als Ingenieur für die Cal-Western Aircraft Company in Bay City zu arbeiten begann. Da seine Briefe an Mutter und an sie selbst aber seit Monaten ausgeblieben sind, hat Orfamay sich auf die Reise nach Bay City gemacht, doch aus dem Fremdenheim, dessen Adresse sie von Orrin hatte, ist er ohne bekanntes Ziel ausgezogen, sein Arbeitgeber habe ihn entlassen. 
Obwohl er die zwanzig Dollar Vorschuss von Orfamay letztlich nicht annimmt, ist Marlowes Neugierde geweckt. Nachdem er sich in Orrins alter Absteige umgesehen hat, entdeckt er den Verwalter Lester B. Clausen in seiner Wohnung – mit einem Eispickel im Nacken. Wenig später bekommt es Marlowe nicht nur mit den hartnäckigen Cops French und Maglashan zu tun, weil der Privatschnüffler wenig später einen weiteren Toten mit einem Eispickel im Nacken entdeckt. Seine Ermittlungen führen ihn sowohl in den Dunstkreis des Gangsters Weepy Moyer als auch in die gar nicht so glamouröse Welt von Hollywood. 
„Für wen schneide ich mir diesmal die Halsschlagader auf? Für eine Blondine mit sexy Augen und zu vielen Schlüsseln? Für ein Mädchen aus Manhattan, Kansas? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass nicht alles ist, wie es scheint, und das gute alte Bauchgefühl sagt mir, dass der oder die Falsche den Pott verliert, wenn alle ihre Karten so ausspielen, wie sie ausgeteilt worden sind? Geht mich das etwas an? Weiß ich das? Habe ich es jemals gewusst? Fangen wir nicht damit an. Du bist heute kein Mensch, Marlowe. War ich vielleicht nie, werde ich vielleicht nie sein.“ (S. 111) 
Mit seinem ersten Roman um Philip Marlowe, „The Big Sleep“, gelang dem 1888 in Chicago geborenen, aber zunächst in England lebenden Raymond Chandler gleich ein großer Erfolg. 1946 wurde das Buch durch Howard Hawks mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle auch noch wunderbar verfilmt. Bis zu seinem Tod 1959 erschienen sechs weitere Marlowe-Romane, das unvollendete Manuskript zu „Poodle Springs“ wurde erst 1989 durch Robert B. Parker fertiggestellt. 
Mit dem fünften Band der Marlowe-Reihe, „Die kleine Schwester“, hat Chandler 1949 einen coolen Hardboiled-Krimi geschaffen, der Marlowe wieder mit einigen geheimnisvollen, sexy Frauen zusammenbringt, die den Detektiv lange an der Nase herumführen. Es ist aber weniger der komplexe Plot, der „Die kleine Schwester“ so unterhaltsam macht, sondern die Art und Weise, wie Marlowe als Ich-Erzähler mit flotten, zynischen Sprüchen an sein Ziel zu kommen versucht, die Affäre um ein Foto und die offensichtlich damit zusammenhängenden Morde aufzuklären. 
Interessant sind dabei vor allem seine wehmütigen Erinnerungen, als Los Angeles noch kein heruntergekommener Slum mit Neon-Beleuchtung war, sondern ein sonniger, friedlicher Ort, in dem die Menschen draußen auf der Veranda schliefen. Chandler gelingt es, allein durch die knackigen Dialoge ein Gespür für die Zeit bei seinen Lesern zu entwickeln, für die Atmosphäre, in der Cops, Gauner und Hollywood-Sternchen in ihrem Wirken kaum auseinanderzuhalten sind und die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen lassen. Dass sich die Marlowe-Romane aber mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung immer noch so flüssig lesen lassen, liegt einfach auch an der wahrhaften Beschreibung menschlicher Tugenden und Schwächen, an der Hoffnung, die Marlowe trotz aller Rückschläge tapfer in seinem Herzen trägt. Das ist einfach große Literatur, die in der neuen Übersetzung von Robin Detje ihren ganzen sprachlichen Glanz verbreitet. Dazu hat Michael Connelly der Neuausgabe noch ein Nachwort gespendet, in dem er begründet, warum gerade „Die kleine Schwester“ sein Lieblingsbuch von Chandler ist. 

Stewart O’Nan – „Der Zirkusbrand“

Sonntag, 20. September 2020

(Rowohlt, 510 S., HC) 
Als der Zirkus Ringling Bros. and Barnum & Bailey am 6. Juli 1944 in Hartford, Connecticut, sein Gastspiel gab, kamen geschätzte 8700 Besucher zur Nachmittagsvorstellung an diesem heißen Sommertag. Er war einer der wenigen Eisenbahn-Zirkusse, die die Weltwirtschaftskrise überlebt haben und darauf bauen konnte, dass durch die Kriegsindustrie die Lohntüten der Menschen gut gefüllt waren. Zu den Höhepunkten des Programms zählten das von Strawinsky geschriebene und von Balanchine choreographierte Elefantenballett, die Stars Emmett Kelly und Löwen-Dompteur Alfred Court, die Wallendas, die Cristianis, die Fliegenden Concellos und Menagerieattraktionen wie der Riesengorilla Gargantua und seine Braut M’Toto. Das Programm war sehr patriotisch ausgerichtet, Soldaten hatten freien Eintritt, und es gab Freikarten für die Haupttribüne für diejenigen, die Kriegsanleihen gezeichnet haben. 
Für viele Menschen sollte der Besuch dieser Vorstellung allerdings zum Verhängnis werden: Gerade als May Kovar und Joseph Walsh in zwei getrennten Käfigen ihre Raubtiervorführungen beendeten und die Wallendas zehn Meter nach oben kletterten, um mit ihrer Drahtseilakrobatik zu beginnen, da fing ein Feuer an der unbehandelten Zeltwand hinter der südwestlichen Seitentribüne ungefähr zwei Meter über dem Boden zu lodern an. Als es bemerkt wurde, versuchten einige Platzanweiser mit gefüllten Wassereimern den Brand zu löschen, doch erreichten sie nur den unteren Rand der Flammen, die in der wasserdichten Mischung aus Paraffin und Benzin schnell weitere Nahrung fanden. 
Zwar spielte Merle Evans mit ihrem Orchester noch „The Stars and Stripes Forever“, doch die Panik ließ sich nicht mehr aufhalten. Wer auf den unteren Plätzen nicht schnell genug ins Freie rannte, wurde gnadenlos von den nachströmenden Massen zertrampelt, andere wurden von den siebzehn Meter hohen, nun herunterstürzenden Masten erschlagen, von den Laufgittern eingeklemmt, starben durch Rauchvergiftung oder schwere Verbrennungen. 
Die über 400 Verletzten wurden auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt, die Toten zur Identifizierung ins Waffenarsenal gebracht. 
„Das ganze Land war in ständiger Bereitschaft, und nach der Invasion der Normandie war die Moral der Leute gut. Die Ideale von Opferbereitschaft und gemeinsamer Anstrengung waren ihnen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Viele Menschen verließen ungefragt ihren Arbeitsplatz, um zu helfen, als sie vom Brand hörten. Die Blutbank des Roten Kreuzes in der Pearl Street konnte sich vor Spendern kaum retten.“ (S. 217) 
Stewart O’Nan, der 1993 für seinen Debütroman „Engel im Schnee“ mit dem William-Faulkner-Preis ausgezeichnet wurde und seither zu einem der angesehensten zeitgenössischen Schriftsteller avancierte, hatte eigentlich nicht vor, ein Sachbuch über den verheerendsten Zirkusbrand in der amerikanischen Geschichte zu schreiben. Er hatte während der Recherchen zu einem Roman einen Artikel über das Feuer in einer alten „Life“-Ausgabe gelesen und erinnerte sich daran, als er mit seiner Familie nach Hartford zog, wo er neugierig nach näheren Informationen suchte, aber überraschend feststellen musste, dass diese Katastrophe niemand in Worte gefasst hatte. 
Also begann er, die Menschen in der Stadt zu befragen und Material zu sammeln. Stewart O’Nan wurde zum selbsternannten „Hüter des Brandes“, hatte seinen Roman beendet und Zeit, die Geschichte des Brandes und der Überlebenden zu erzählen. Am Ende erzählt „Der Zirkusbrand“ eine gut fünfzig Jahre umfassende Geschichte der Katastrophe, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Minutiös berichtet er wie ein Dokumentarfilmer über die Vorbereitungen und – leider unzulänglichen - getroffenen Sicherheitsvorkehrungen; schildert, wie verschiedene Familien sich auf den Zirkusbesuch vorbereiteten und die Katastrophe ihren Lauf nahm. Illustriert durch unzählige Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert der Autor den Ausbruch der Panik, die selbstlosen Rettungsversuche einiger tapferer Menschen, die Schwächeren beim Verlassen des Unglücksortes halfen; beschreibt die verheerenden Verletzungen und die verzweifelten Versuche von Ärzten und Krankenschwestern, das Leider der Opfer zu lindern. 
Besonders tragisch entwickelt sich die Suche nach den unidentifizierten Opfern, sechs Stück an der Zahl, darunter ein Mädchen, das als „kleine Miss 1565“ bekannt geworden ist. O’Nan nimmt sich auch hier viel Zeit, die Suche nach der Identität des kleinen Mädchens und letztlich nach den Verantwortlichen der Katastrophe zu beschreiben. Beides zog sich bis in die 1990er Jahre hinein. Es ist ebenso bestürzendes wie faszinierendes Zeitdokument, das Stewart O’Nan mit „Der Zirkusbrand“ vorgelegt hat, eine Art Reportage in Romanform, die manchmal zu sehr ins Detail geht, aber letztlich wirklich alle Aspekte dieser Katastrophe abdeckt. Es ist schwerverdauliche Kost, die durch O’Nans gewissenhafte Arbeit lange im Gedächtnis bleibt und vor allem den Opfern und Helden ein Denkmal setzt.


Andrea De Carlo – „Villa Metaphora“

Mittwoch, 16. September 2020

(Diogenes, 1088 S., HC)
Der prominente Architekt Gianluca Perusato ist endlich am Ziel seiner Träume: Sieben Jahre nach Baubeginn steht sein erstes eigenes Projekt vor der Einweihung durch einige höchst illustre Gäste. Wie oft stand er schon davor, alles hinzuschmeißen, zumal die Baukosten zwischenzeitlich schon auf das Doppelte angewachsen waren. Doch nun blickt er stolz von der Hauptterrasse seines Luxusresorts Villa Metaphora auf das die südlich von Sizilien zwischen Malta und Tunesien liegende Insel Tari umgebende Mittelmeer. Hier hofft er für die internationale Prominenz, die für eine Übernachtung pauschal 5000 Euro hinblättern darf, ein abgeschiedenes, diskretes Refugium geschaffen zu haben, das das grandiose Naturschauspiel der Vulkaninsel mit seinem kühnen Umbau der einst vom Gelehrten, Linguisten, Kosmopoliten und Schriftsteller Baron von Canistraterra ab 1946 erbauten Villa zu einem einzigartigen Kunstwerk verschmilzt.
Zusammen mit seiner Assistentin und Geliebten Lucia erwartet die Ankunft der Gäste, darunter die alkoholsüchtige junge Hollywood-Diva Lynn Lou Shaw, die während der Dreharbeiten zu ihrem neuen Film in Rom einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte und nun mit ihrer Freundin und Assistentin Lara Laremi in der Villa Metaphora wieder zu Kräften kommen will. Während sein spanischer Koch Ramiro Juarez für das leibliche Wohl der Gäste zuständig ist, ist der Bootsmann Carmine Alcuanti für den Transport der illustren Gäste vom Festland zum Resort zuständig. Neben der Schauspielerin sind das die inkognito anreisende französische Hotelkritikerin Simone Poulanc, der mit Lynn Lou verheiratete, kontrollsüchtige amerikanische New-Age-Guru Brian Neckhart und der deutsche Bankier Werner Reitt mit seiner Frau Brigitte sowie seinem Assistenten Matthias. Die schillernde Runde wird durch den italienischen Abgeordneten Piero Gomi, der unbedingt einen Termin mit Reitt ergattern möchte.
Beginnend mit dem Unfalltod eines Fotografen, der Lynn Lou gar nicht so heimlich fotografierte, weil sie den fremden Beobachter entdeckt und sich im Swimming Pool für ihn in sehenswerte Posen geworfen hat, gehen innerhalb einer Woche alle Höflichkeitsformen flöten, werden Beziehungsdramen auf die Spitze getrieben, Sehnsüchte und Ängste geweckt, die zugleich das Beste und das Schlimmste in den hochfeinen Gesellschaftsschichten schonungslos offenbart. Als auch noch ein schwerreicher russischer Unternehmer hemmungslos seine Gelüste in der Villa zu befriedigen versucht und ein Erdbeben nicht nur die Strom- und Wasserversorgung kappt, sondern auch einen Vulkanausbruch ankündigt, liegen die Nerven bei allen Beteiligten mehr als blank …
„Erneut drängen sich Gedanken über unsere Abhängigkeit von technologischen Hilfsmitteln auf und darüber, wie diese künstlichen Erweiterungen unserer Gehirne, unserer Hände, ja sogar unserer Herzen wiederum vom Vorhandensein eines funktionierenden Stromnetzes abhängen. Fällt der Strom aus, ist es in kürzester Zeit – wir reden von Stunden, nicht von Tagen – vorbei mit Informationen, Speichern, Kontaktnetzen, Fernbeziehungen. Ender der täuschenden Geschwindigkeit, Ende der virtuellen Allgegenwart, Ende der permanenten Erreichbarkeit. Plötzlich gilt und zählt nur das, was man vor Augen hat, in der Hand hält, zu Fuß erreichen kann.“ (S. 913f.) 
Was ist nur aus dem Mailänder Bestseller-Autor geworden, der nach seinem Literaturstudium, seiner Karriere als Fotograf, Rockmusiker und Regieassistent von Federico Fellini mit „creamtrain“, „Zwei von zwei“ und „Techniken der Verführung“ in den 1980er und beginnenden 1990er Jahren zum Sprachrohr seiner Generation wurde? Andrea De Carlo hat sich nämlich mit seinem im italienischen Original 2012 veröffentlichten Roman „Villa Metaphora“ – der epische Umfang von knapp 1100 Seiten lässt es fast vermuten – leider mächtig verhoben. Bereits die Grundidee, eine Gruppe von Menschen auf eine Insel zu schicken, von der sie so schnell nicht runterkommen, wirkt schon ausgelutscht. Ärgerlich ist aber vor allem, dass sich De Carlo zwar viel Mühe gibt, seinem durchaus überschaubaren Figuren-Ensemble wortgewaltig Konturen und Persönlichkeit zu verleihen, bedient aber nur die üblichen Klischees von der verzogenen Hollywood-Diva, dem temperamentvoll-launischen und natürlich doch irgendwie korrupten italienischen Politiker, dem ichbezogenen, substanzlosen LifeSolving-Gurus und des deutschen Bankiers, der anderthalb Jahre eine Affäre mit der nicht mal volljährigen besten Freundin seiner Tochter unterhalten hat, was ihm nun zum Verhängnis zu werden droht.
Die dunklen Geheimnisse und persönlichen Abgründe, die nach und nach offenbart werden, wirken so überraschend also nicht und bringen den Plot auch nicht wirklich voran. Letztlich werden über Hunderte von Seiten vor allem die affektiert erscheinenden Befindlichkeiten der Haute Volee seziert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein munteres Zitatenspiel soll am Ende noch etwas tiefschürfenden Sinn und zumindest ein fundiertes Allgemeinwissen der Gäste vermitteln, doch was der Autor am Ende mit seinem misslungenen Versuch einer Satire zu sagen beabsichtigt, bleibt bis zum quälend geschwätzigen Finale unbeantwortet. Einen neuen Blick auf die Welt der Superreichen und Mächtigen gewährt uns De Carlo mit seinem überbetont zivilisationskritischen Roman jedenfalls nicht.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Villa Metaphora"

David Morrell – (Thomas De Quincey: 3) „Der Eisenbahnmörder“

Dienstag, 15. September 2020

(Knaur, 410 S., Tb.)
Als der in der exklusiven Londoner Geschäftsstraße wirkende Jurist Daniel Harcourt am Abend des 22. März 1855 sein Büro verlässt, um den Neun-Uhr-Zug von Euston nach Sedwick Hill zu nehmen, wird er in seinem Abteil von einem Mann erstochen, der dem korpulenten Fünfzigjährigen nicht unbekannt gewesen ist. Zufälligerweise sitzt auch der bekannte „Opiumesser“, Schriftsteller und Ermittler Thomas De Quincey mit seiner 22-jährigen Tochter Emily in diesem Zug und wird durch ungewöhnlichen Lärm aus dem Nachbarabteil aufgeschreckt. Später entdeckt er in einem Tunnel auf den Bahngleisen die Leiche des angesehenen Anwalts. Gegen elf Uhr werden auch die beiden Scotland-Yard-Polizeibeamten Sean Ryan und der fünfzehn Jahre jüngere Becker von dem Vorfall unterrichtet und übernehmen schließlich die Ermittlungen in dem ungewöhnlichen Mordfall. Allerdings bleibt es nicht bei diesem einen Mord.
In kurzer Zeit erschüttern vor allem gezielte Bombenattentate auf die Great Northern Railway rund um London das Vertrauen der Reisenden in die revolutionäre Art des Reisens, so dass auch alle Aktien der Unternehmen rapide im Wert fallen, die irgendwie mit der Eisenbahn zu tun haben. Selbst Königin Victoria, deren geplanten Anschlag auf ihr Leben De Quincey verhindern konnte, ist über die Ereignisse so beunruhigt, dass sie De Quincey bittet, auch in diesem Fall Scotland Yard bei den Ermittlungen zu unterstützen.
Nachdem De Quincey am Tatort ein wertvolles Benson-Chronometer sichergestellt hat, dauert es nicht lange, die Spur zu seinem Besitzer zurückzuverfolgen. Als Lord Palmerston von Commissioner Mayne erfährt, dass es sich bei dem ersten Toten um den Juristen Harcourt handelt, ist der Premierminister nicht von ungefähr beunruhigt, denn wie viele andere Prominente der Londoner Gesellschaft zählte auch er zu Harcourts Mandanten, und vielleicht war sein Mörder an den Geheimnissen und Unterlagen interessiert, die dem Juristen anvertraut worden sind. Als De Quincey mit seinen Ermittlungen beginnt, trifft er auch Carolyn wieder, mit der er als Kind das Schicksal des Bettlerdaseins und ein leer stehendes Haus in der Geek Street geteilt hatte, doch dann trennten sich ihre Wege, als De Quincey nach Eton gegangen war, um den guten Willen seiner Mutter zurückzugewinnen, und nach seiner Rückkehr weder Carolyn noch ihre Leidensgenossin Ann wiedertraf.
Mittlerweile ist Carolyn als Frau von Edward Richmond zu Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung gekommen. Während sich der berühmte Opiumesser und Carolyn über ihre gemeinsame Vergangenheit und ihren jeweils ganz andersartigen Werdegang austauschen, bekommen die Eisenbahnmorde auch eine außenpolitisch brisante Bedeutung. Nach neuesten Informationen ist nämlich der russische Zar vor zwei Wochen verstorben, sein deutscher Leibarzt Dr. von Mandt spurlos verschwunden. Nun verbreiten sich Gerüchte, dass der Deutsche dazu angestiftet worden sei, den Zar zu ermorden, um den Ausgang des Krieges zu beeinflussen, und dass Russen für die Eisenbahnmorde verantwortlich sein könnten. Erst in Sedgwick Hill, wo sich die elitäre, von Dr. Wainwright betriebene Wasserkurklinik befindet, scheinen sich all die losen Fäden zusammenzufügen, werden die Rätsel der Vergangenheit gelöst …
Ein wirkliches Vergessen gibt es nicht, hatte der Opiumesser geschrieben. Tausend Umstände mögen und werden sich wie ein Schleier zwischen das gegenwärtige Geschehen und die geheimen Inschriften in unserem Gedächtnisse legen; aber gleichgültig, ob verschleiert oder unverschleiert, die Inschrift bleibt für immer, geradeso wie die Sterne sich vor dem Tageslichte zurückzuziehen scheinen, während wir doch alle wissen, dass die darauf warten, enthüllt zu werden, wenn das verbergende Tageslicht wieder hinweggezogen ist.“ (S. 307) 
Wer hätte gedacht, dass der berühmte Autor der „Rambo“-Romane, der später vor allem durch Thriller wie „Der Geheimbund der Rose“ und „Creepers“ seinen Bestseller-Status zementierte, auch im Genre des viktorianischen Krimis Meisterleistungen vollbringen würde? Mit der Trilogie um den historisch verbürgten britischen Schriftsteller, Essayisten und Journalisten Thomas De Quincey (1785-1859), zu dessen berühmtesten Werken sein autobiografisches Buch „Bekenntnisse eines englischen Opiumesser“ und das Essay „Der Mord als schöne Kunst betrachtet“ zählen, ist David Morrell eine Reihe durchweg authentisch wirkender, packender Krimis gelungen, die den Leser auf eine unvergleichliche Zeitreise schicken.
In „Der Eisenbahnmörder“, dem wiederum durchweg kurzweiligen Abschluss der Trilogie, beschreibt Morrell zunächst eindringlich, wie das kleine, doch so weltumspannende Reich Großbritanniens durch die Erfindung der Eisenbahn noch einmal an Macht dazugewinnen konnte, denn statt einer Tagesreise auf Schotterstraßen voller Schlaglöcher von Liverpool nach Manchester brauchte die Eisenbahn nur eine halbe Stunde und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur Ausbreitung der Industriellen Revolution.
Der Leser wird in diesem Roman aber auch mit anderen Erfindungen vertraut gemacht, mit einer Phosphorpaste, die eigentlich zum Vertreiben von Ratten gedacht war, hier aber eine Verwendung als Sprengstoff findet, und mit dem Erfrischungsgetränk Gin-Tonic. Doch den Mittelpunkt der Geschichte bilden die vor dem Hintergrund des Krimkrieges ausgeführten Morde, die bis in die höchsten Londoner Gesellschaftskreise reichen und eine ganz persönliche Beziehung aus De Quincey bettelarmen Jugendjahren auffrischt. Natürlich spielen auch die Gefühle, die Ryan und Becker für De Quinceys Tochter Emily hegen, nach wie vor eine Rolle, werden doch eher nebensächlich abgehandelt.
Morrell erweckt das Treiben im viktorianischen London beeindruckend realistisch zum Leben. Dafür hat er aber auch sorgfältig recherchiert, wie er im ausführlichen Nachwort belegt. Die Verbindung von tiefschürfenden Nachforschungen und der Sinn für die Dramaturgie einer komplexer Krimi-Handlung machen „Der Eisenbahnmörder“ wie schon seine beiden Vorgänger „Der Opiummörder“ und „Die Mörder der Queen“ zu einem absoluten Highlight des Genres.
Leseprobe David Morrell - "Der Eisenbahnmörder"

John Grisham – (Bruce Cable: 2) „Das Manuskript“

Mittwoch, 9. September 2020

(Heyne, 368 S., HC)
Bruce Cable ist Buchhändler aus Leidenschaft. Seit über zwanzig Jahren betreibt er in Santa Rosa auf Camino Island die Buchhandlung „Bay Books“, wo nicht nur einfach Bücher an Touristen verkauft werden, sondern in der sich Cable sehr dafür stark macht, hiesige Schriftsteller zu fördern und – neben anderen Events - mindestens vier Lesungen in der Woche zu veranstalten. Besonders freut er sich über den Erfolg von Mercer Mann, die in Santa Rosa ihre zweimonatige Lesereise beendet und deren zweiter Roman „Tessa“ beim Publikum ebenso gut ankam wie bei den Kritikern.
Wie mit vielen anderen Autorinnen, die Station bei „Bay Books“ machten, hatte Cable auch mit Mercer Mann eine Affäre, doch da sie mit einem neuen Mann nach Santa Rosa angereist kam, ist dieses Kapitel für Cable vorerst beendet. Am Tag vor Mercer Manns Lesung zieht der Orkan Leo über den Atlantik und fegt als Hurrikan der Kategorie vier über die Insel, die weitgehend evakuiert worden ist. Zu den wenigen Menschen, die sich wider jede Vernunft weigerten, die Insel zu verlassen, gehört auch Bruce Cable. Während seine Frau Noelle, mit der er in einer offenen Beziehung lebt, mit ihrem Lover in Europa nach neuen Antiquitäten Ausschau hält, muss er mit eigenen Augen mitansehen, welche Schäden Leo auf Camino Island anrichtet.
Doch richtig schockiert ist er, als er zusammen mit dem Krimiautor J. Andrew „Bob“ Cobb und dem Collegestudenten Nick Sutton die Nachricht erhält, dass sich unter den Toten, die Leo gefordert hat, auch der ehemalige Anwalt Nelson Kerr befindet, der seinen Job an den Nagel gehängt hat und seither drei erfolgreiche Kriminalromane veröffentlicht und einen vierten gerade beendet hat. Am Tatort, wo Cable die Leiche identifizieren soll, äußerst Nick den Verdacht, dass die Kopfwunde eher danach aussieht, als wäre Kerr nicht von herumfliegenden Trümmern getroffen, sondern gleich mehrmals am Kopf verwundet worden. Blutspuren im Haus und das spurlos verschwundene Manuskript zu Kerrs neuen Roman erhärten diese düstere Vermutung.
Während die örtliche Polizei weiterhin von einem tödlichen Unfall ausgeht, machen sich Cable und seine Freunde auf eigene Faust auf Tätersuche und erhalten durch die Schwester des Toten einen USB-Stick mit dem gesuchten Romantext. Kerr thematisierte in „Puls“ einen groß angelegten Betrug von Pflegeeinrichtungen, die die Flüssignahrung für hirntote oder stark demente Patienten mit einem registrierten, aber nicht zugelassenen Medikament anreichern, das dafür sorgt, dass das Herz länger schlägt, so dass die Pflegeeinrichtungen über eine längere Zeit Pflegekosten bei Medicare und Medicaid in Rechnung stellen können.
„,Nelson Kerr hat drei Bestseller geschrieben, aber bei keinem ging es um Medikamente, Gesundheitsversorgung oder etwas in der Art. Er wird von einem Informanten kontaktiert, vermutlich jemandem, der für den Hersteller des Medikaments oder ein Pflegeheim arbeitet, und dieser Informant will auspacken. Er will die bösen Jungs auffliegen lassen.‘“ (S. 220) 
Als sich diese Informationsquelle auch an Cable und seine Crew wendet, wird das Vorgehen gegen die betrügerischen Konzerne zu einem lebensgefährlichen Unterfangen für alle Beteiligten …
Nach „Das Original“ ist „Das Manuskript“ bereits der zweite Band um den umtriebigen Buchhändler Bruce Cable, der alles andere als ein gewöhnlicher Buchhändler ist. Nicht nur seine Vorliebe für junge Autorinnen, denen er regelmäßig den Aufenthalt in Santa Rosa versüßt, fällt aus dem Rahmen, dazu zählt auch der nicht immer einwandfreie Handel mit seltenen Büchern, das ihm bereits ein Vermögen eingebracht hat, das er auf verschiedene Offshore-Konten verteilt hat. Erfrischend für John-Grisham-Fans ist vor allem die Tatsache, dass sich die Geschichten um Bruce Cable jenseits von Anwaltskanzleien und Gerichtssälen abspielen. Dafür bekommt das Publikum interessante, wenn auch oberflächliche Einblicke in den Literaturbetrieb. Durch den Hurrikan Leo bekommt „Das Manuskript“ auch eine sehr menschliche, tragische Note, die allerdings bald durch das ungeheuerliche Gebaren profitgieriger Konzerne überdeckt wird, die durch geheime lebensverlängernde Maßnahmen bei ihren wehrlosen Patienten so viel Geld wie möglich herauspressen wollen. Grisham nimmt sich allerdings wenig Zeit für seine Figuren und reißt den vorhersehbaren und spannungsarmen Plot souverän herunter. Das sorgt zwar für kurzweilige Unterhaltung mit an sich packenden Themen, doch wirklich mitfiebern lässt sich bei diesem oberflächlich konzipierten Schnelldurchlauf nicht.
Leseprobe John Grisham - "Das Manuskript"

Jo Nesbø – „Ihr Königreich“

Samstag, 5. September 2020

(Ullstein, 588 S., HC)
Roy Opgard und sein ein Jahr jüngerer Bruder Carl waren nach dem Tod ihrer Eltern früh auf sich allein gestellt. Während Carl in jungen Jahren nach Amerika gegangen ist, um zu studieren, hat Roy den elterlichen Hof in den norwegischen Bergen übernommen, wo er seit fünfzehn Jahren alleine lebt und die örtliche Tankstelle in Os leitet. Als eines Tages sein Bruder unangekündigt mit einem Cadillac DeVille – jenem Wagen, mit dem sich ihre Eltern totgefahren haben – aufkreuzt, verändert sich alles, denn Carl hat nicht nur eine wunderschöne Frau von der karibischen Insel Barbados namens Shannon im Schlepptau, sondern ehrgeizige Pläne: Carl und die Architektin Shannon wollen in den Bergen ein 400 Millionen Kronen teures Luxus-Hotel bauen und gründen dazu eine Kommanditgesellschaft, die es jedem Bewohner der Dorfgemeinschaft ermöglicht, sich an dem ambitionierten Projekt zu beteiligen, womit ein minimiertes finanzielle Risiko auf viele Schultern verteilt wäre.
Tatsächlich kann der allseits beliebte Rückkehrer Carl bei der Dorfversammlung die meisten der Anwesenden überzeugen und für das Hotelprojekt begeistern. Doch die Dinge entwickeln sich nicht wie geplant. Carl lässt seine Affäre mit Mari, der Tochter des ehemaligen Bürgermeisters Aas, wieder aufleben, Roy verguckt sich seinerseits in Shannon, und Maris Ehemann Dan Krane versucht als Chefredakteur der örtlichen Tageszeitung Stimmung gegen Carls Projekt zu machen, wobei er viel Dreck aufwühlt. Dazu will der Dorfpolizist Kurt Olsen noch immer herausfinden, wie es dazu gekommen ist, dass Roy und Carls Eltern vor fünfzehn Jahren mit dem Cadillac DeVille in den Abgrund gestürzt sind, und Carl und Roy werden immer wieder zu radikalen Maßnahmen gezwungen, um ihr jeweiliges Glück zu retten. Roy muss wie früher die schützende Hand über seinen Bruder halten und alle Hindernisse aus dem Weg räumen, die Carl schaden könnten. Doch seine Gefühle für Shannon verändern die Natur ihrer Beziehung …
„Die Schulden, die ich mit dem Verrat an meinem kleinen Bruder aufgehäuft hatte, musste ich abbezahlen, bis ich ins Gras biss. Jetzt war nur die nächste Rate fällig geworden.“ (S. 156) 
Zwar ist der norwegische Bestseller-Autor Jo Nesbø vor allem durch seine mittlerweile auf zwölf Bände angewachsene Krimi-Reihe um den in Oslo ermittelnden Kommissar Harry Hole bekannt geworden, doch hat er mit „Der Sohn“ und „Macbeth“ auch bewiesen, dass er mit Stand-alone-Romanen sein Publikum zu packen versteht. Mit „Ihr Königreich“ geht Nesbø einen eigenwilligen Weg, indem er Roy, den älteren der beiden Opgard-Brüder, als Ich-Erzähler auftreten lässt und die überraschende Rückkehr seines Bruders Carl aus den Staaten mit der schrittweisen Aufarbeitung ihrer gemeinsamen Vergangenheit verknüpft. Bereits mit dem Prolog macht Roy deutlich, dass er stets derjenige von beiden gewesen ist, der die Dinge in die Hand nimmt, auch die unerfreulichen wie das Töten des eigenen, schwerverletzten Hundes.
Zwar steht der Bau des Luxus-Hotels im handlungstreibenden Mittelpunkt der Geschichte, aber es dreht sich vor allem um eine Geschichte unter Brüdern, die durch allerlei Affären und Ressentiments, von verletzten und rachesüchtigen Frauen geprägt wird, aber auch Männern mit einer ganz eigenen Agenda wie dem Dorf-Polizisten, dem Chefredakteur und dem Kredithai Willumsen.
Nesbø versteht es dabei meisterhaft, stückchenweise die dunklen Familiengeheimnisse der beiden Brüder und die persönlichen Verwicklungen innerhalb der an sich eingeschworenen Dorfgemeinschaft aufzudecken und dabei menschliche Tragödien zu beschreiben, die von Missbrauch, Verrat und Betrug bis zu Mord reichen, wobei Leidenschaft und Gier ganz treibende Faktoren darstellen.
In dieser interessanten Konstellation gewinnen neben dem Ich-Erzähler, der im Verlauf der Geschichte immer mehr von sich preisgibt, vor allem sein Bruder und dessen Partnerin Shannon an Kontur, wobei ihre Persönlichkeiten eine teils bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen und so die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln. Dem Autor ist mit „Ihr Königreich“ zwar nicht der ganz große Wurf gelungen, aber die ungewöhnliche Erzählperspektive, die interessanten Figuren und das bemerkenswerte Setting in den norwegischen Bergen mit dem handlungsintensiven Plot machen die Mischung aus Kriminalroman und Familiendrama sehr lesenswert.
Leseprobe Jo Nesbø - "Ihr Königreich"

Ian Haydn Smith – „Eine kurze Geschichte des Films“

Dienstag, 25. August 2020

(Laurence King, 224 S., Pb.)
Über das Medium Film lässt sich bekanntlich vortrefflich schreiben, allerdings gibt dieses Medium in seiner über 120-jährigen Geschichte so viel her, dass es schon einen interessanten Ansatz braucht, um Filmbücher auch an das richtige Publikum zu bringen. Während Verlage wie Bertz + Fischer und Schüren ausführliche und analytische Bände zu ausgesuchten Themen oder Regisseuren für Hardcore-Cineasten veröffentlichen, stehen bei Taschen beispielsweise die Filmbilder im Vordergrund, die von längst nicht so in die Tiefe gehenden, aber durchaus kompakten Texten begleitet werden.
Ian Haydn Smith, der in der Berliner Dependance des britischen Laurence King Verlags bereits „Eine kurze Geschichte der Fotografie“ vorgelegt hat und neben seiner Arbeit für die Kinomagazine „Curzon“ und BFI Filmmakers“ vor allem für seinen Bestseller „1001 Movies You Must See Before You Die“ bekannt ist, wählt für seinen Überblick „Eine kurze Geschichte des Films“ einen bemerkenswerten Ansatz, der vor allem Filmliebhaber ansprechen dürfte, die in die theoretischen Grundlagen einsteigen möchten und nach einem kurzen Abriss über die Geschichte des Mediums sowie dessen im Laufe der Zeit ausgestalteten Genres suchen.
„Der Experimentalfilm, die Dokumentation, der Kurzfilm, die Animation – alle verdienen eine eigene geschichtliche Darstellung. Mit einer oberflächlichen Einordnung würde man ihnen nicht gerecht. Dieses Buch versucht zu beschreiben, wie kommerzielles, unabhängiges und künstlerisches Kino im Laufe eines turbulenten Jahrhunderts entstand, florierte und sich anpasste“, schreibt der Autor in seiner Einleitung und handelt seine ausgewählten Themen jeweils auf gerade mal einer Seite ab.
So bekommt der Leser zunächst einen knackigen Überblick über eine Vielzahl von Filmgenres, vom Western und Monumentalfilm über den Kriegs-, Horror-, Gangster- und Propagandafilm bis zur Dokumentation, dem Blockbuster, Ghettodrama, Italowestern und Musical, wobei auch weniger populäre Genres wie der Mockumentary, Jidai-Geki (Samuraifilm), Racefilm und Kino der Langsamkeit Berücksichtigung finden – jeweils mit einer kurzen Charakterisierung und geschichtlichen Entwicklung, illustriert durch einen stilbildenden Meilenstein (wie „Ben Hur“ für den Monumentalfilm, „Stagecoach“ für den Western und „Der Leopard“ für den Kostümfilm) und Nennung bekannter Regisseure, die das jeweilige Genre geprägt haben.
Den Hauptteil nimmt die Vorstellung von 50 ausgesuchten Filmen auf jeweils zwei Seiten in chronologischer Reihenfolge ein. Hier zeigt sich ebenso wie bei den zuvor ausgewählten „Meilensteinen“ der einzelnen Filmgenres der sehr persönliche Geschmack des Autors, wobei auch in der Filmgeschichte recht gut bewanderte Leser sicher den einen oder anderen Film finden werden, der ihnen bislang noch nicht untergekommen ist. Neben allseits bekannten Werken wie Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, Langs „Metropolis“, Hitchcocks „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“, Godards „Außer Atem“, Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“, Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, Spielbergs „Der weiße Hai“, Scorseses „Taxi Driver“, Ridley Scotts „Blade Runner“, Tarantinos „Pulp Fiction“ und zuletzt Cuaróns preisgekrönter Netflix-Produktion „Roma“ begegnen uns hier auch allgemein weniger vertraute Filme wie Murnaus „Sonnenaufgang“, Vigos „Atalante“, Bertoluccis „Der große Irrtum“, Akermans „Jeanne Dielman“ und Claire Denis‘ „Der Fremdenlegionär“.
Es ist gerade diese Mischung aus dem Wiedersehen mit vertrauten Meisterwerken und der Neugierde auf noch unbekannte, aber offensichtlich sehenswerte Filme, die „Eine kurze Geschichte des Films“ so interessant machen. Ian Haydn Smith erweist sich dabei als äußerst sachkundiger Autor, der nicht nur Genres und die 50 ausgesuchten Filme fundiert und kompakt zu umreißen versteht, sondern auch technische Sachverhalte gut verständlich beschreibt. Wer sich nämlich noch tiefer in die Materie begeben möchte, kann sich im Anschluss noch mit verschiedenen Strömungen wie Deutscher Expressionismus, Nouvelle Vague, Neuer Deutscher Film, Cinéma du Look, New Queer Cinema, Dogma 95 oder New French Extremity beschäftigen und sich filmischen Mitteln und Techniken wie Method Acting, Cinéma vérité, 3D, Schärfentiefe, Parallelmontage, Unsichtbarer Schnitt und Panoramaschwenk annähern. Ein ausführliches Register rundet dieses informative Buch für Filmfreunde jedweder Ausprägung ab. Bestenfalls macht „Eine kurze Geschichte des Films“ Lust auf weiterführende Literatur oder animiert einen dazu, die vorgestellten Listen, die per se keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben können, mit eigenen Lieblings-Filmen zu ergänzen.

Stephen King – „Blutige Nachrichten“

Montag, 10. August 2020

(Heyne, 560 S., HC) 
Stephen King hatte seit Mitte der 1970er Jahre nicht nur dem Horror-Genre mit seinen Bestseller-Romanen wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand“, „Feuerkind“, „Cujo“ sowie der Kurzgeschichten-Sammlung „Nachtschicht“ seinen Stempel aufgedrückt, sondern war so erfolgreich, dass er – wie er mal erwähnte -, auch seine Wäscheliste hätte veröffentlichen können. So verfasste er dann nicht nur das Sachbuch „Danse Macabre“, sondern mit „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ eine erste Sammlung mit vier Kurzromanen, die im Horror-Bereich erfahrungsgemäß schlecht an den Mann zu bringen sind. Der Erfolg gab King aber auch diesmal recht, obwohl es sich bis auf „Atemtechnik“ nicht um Horror-Geschichten handelte. „Die Leiche“ wurde sehr erfolgreich von Rob Reiner verfilmt, „Der Musterschüler“ von Bryan Singer
Seither hat King in seiner äußerst produktiven Schriftsteller-Karriere immer wieder mal zwei bis vier Novellen zu Büchern zusammengefasst. Nach „Langoliers“, „Nachts“ und „Zwischen Nacht und Dunkel“ liegt mit „Blutige Nachrichten“ nun ein weiteres Buch mit vier Novellen des „King of Horror“ vor, durch die sich als Roter Faden irgendwie der Fluch und Segen des technologischen Fortschritts zieht. 
Das wird vor allem bei „Mr. Harrigans Telefon“ deutlich. Der Ich-Erzähler Craig erinnert sich daran, wie er 2004 im Alter von neun Jahren für den wohlhabenden Ex-Unternehmer Mr. Harrigan zu arbeiten begann. Er bekam fünf Dollar die Stunde dafür, für den alten Mann Einkäufe zu erledigen und ihm vorzulesen, dazu erhielt er vier Mal im Jahr Karten zum Valentinstag, zum Geburtstag, zu Thanksgiving und zu Weihnachten – jeweils mit einem förmlichen Glückwunsch und einem Ein-Dollar-Rubbellos. Craigs Dad fand diese Geste immer sehr geizig, schließlich besaß der Arbeitgeber seines Sohnes früher u.a. eine Schifffahrtslinie, mehrere Einkaufszentren und eine Kinokette, aber keinen Laptop oder Fernseher. Dagegen freut sich Craig, dass er am ersten Weihnachtstag 2007 das erste iPhone geschenkt bekommt und wenig später sogar durch das Rubbellos von Mr. Harrigan dreitausend Dollar gewinnt. Craig revanchiert sich bei Mr. Harrigan, indem er ihm ebenfalls ein iPhone schenkt, worauf der alte Mann vor allem über die Echtzeit-Übermittlung des Dow-Jones-Index fasziniert ist, aber auch von dem Umstand, dass Zeitungen ihre Storys umsonst im Netz anbieten. 
Als Mr. Harrigan stirbt, steckt ihm Craig das iPhone in den Anzug, in dem dieser beerdigt wird, Was Craig beunruhigt, ist die Tatsache, dass er nicht nur nach der Beerdigung von Mr. Harrigan nach wie vor Kurznachrichten von seinem Handy erhält, sondern auch Menschen, die Craig das Leben schwer machen, unter mysteriösen Umständen sterben, nachdem Craig sein Leid auf die Mailbox von Mr. Harrigans Handy gesprochen hat … 
„Chucks Leben“ spielt in einer vielleicht gar nicht so fernen Zukunft, in der nicht nur ganze Vögel- und Fischarten aussterben, sondern auch Kalifornien und das Internet verschwindet. Marty Andersons Aufmerksamkeit wird von einer Reklametafel in Beschlag genommen, auf der statt einer Werbung für eine Fluggesellschaft geworben wurde, nun aber das Foto eines mondgesichtigen Mannes anzeigt, über dessen Kopf die Botschaft verkündet wird: „Charles Krantz. 39 wunderbare Jahre! Danke, Chuck!“. Und auch im Fernsehen prangt statt des Begrüßungsbildschirms von Netflix die gleiche Botschaft, die ebenso von einem Flugzeug in den Himmel geschrieben wird. Doch niemand scheint diesen Chuck zu kennen. Nur Chucks engste Vertrauten wissen, dass Chuck im Krankenhaus im Sterben liegt und vor seiner Krankheit für etwas Aufsehen gesorgt hat, als er zu der rhythmischen Musik von Jared Franck an der Boylston Street in Boston zu tanzen anfing. Er nahm an einer Tagung von Buchhaltern teil, als er während eines Nachmittagsspaziergangs bei dem Musiker stehenblieb und auf spektakuläre Weise zu tanzen anfing und eine junge Frau namens Janice einlädt, es ihm gleichzutun. 
„Später wird er den Namen seiner Frau vergessen. Erinnern wird er sich jedoch – gelegentlich – daran, wie er stehen blieb, die Aktentasche fallen ließ und anfing, die Hüften zum Rhythmus des Schlagzeugs zu bewegen, und dann wird er denken, dass Gott dafür die Welt erschaffen hat. Genau dafür.“ (S. 169) 
In der Titelgeschichte „Blutige Nachrichten“ gibt es ein Wiedersehen mit Holly Gibney, der Geschäftspartnerin von Bill Hodges, einem ehemaligen Detective, der nach seinem Ruhestand die Detektei „Finders Keepers“ gegründet hat. Nach den drei Romanen „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ rückte Holly Gibney in dem Roman „Der Outsider“ mehr in den Vordergrund. Sie will sich gerade ihre Lieblings-Gerichtsshow im Fernsehen ansehen, als das Programm wegen einer Eilmeldung unterbrochen wird. Chet Ondowsky, der als erster Reporter vor Ort von einem Bombenattentat an einer Schule in Pineborough berichtet, erinnert Holly an den gestaltwandlerischen Outsider, den sie einst mit Detective Ralph Anderson zur Strecke gebracht zu haben glaubte. Durch ihren Psychiater kommt sie zu einem anderen Patienten in Kontakt, der ähnliche „Wahnvorstellungen“ über Gestaltwandler zu haben scheint, allerdings viel konkretere Beweise für die Existenz weiterer Outsider vorlegen kann … 
In der abschließenden Novelle „Ratte“ wird der Literaturdozent Drew Larson von der Idee gepackt, nach einem fürchterlich gescheiterten Versuch, neben seinen bisher veröffentlichten Kurzgeschichten auch einen Roman zu schreiben, es erneut zu versuchen, und zwar mit einem Western. Um die nötige Ruhe zu haben, fährt er in die Hütte seines vor zehn Jahren verstorbenen Dads, wo seine Arbeit zunächst flott von der Hand geht. Doch dann stellen sich wie schon beim ersten Mal die ersten Probleme ein, und Drew geht einen faustischen Pakt ein … 
Es ist vor allem das Wiedersehen mit der sympathischen Detektivin Holly Gibney in der titelgebenden Geschichte, die „Blutige Nachrichten“ für Stephen-King-Fans lesenswert macht. In dieser Geschichte entwickelt King die beunruhigende Story von „Der Outsider“ konsequent weiter, füllt die Figur mit Charakter und einer Biografie, die vor allem durch die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter geprägt ist. Vor allem erweist sich King hier als Meister der Spannung, die in den übrigen Geschichten kaum zur Entfaltung kommt. 
Während „Mr. Harrigans Telefon“ noch ein nostalgisches Gefühl von „The Twilight Zone“ aufkommen lässt, verpufft die nichtlinear erzählte Geschichte über Chuck Kurtz abgesehen von der lebendig beschriebenen Tanz-Einlage auf offener Straße ohne große Pointe. „Ratte“ greift das bei King beliebte und vor allem aus „Shining“ bekannte Motiv des Möchtegern-Romanautors auf, der in der Isolation unkluge Entscheidungen trifft und dafür die fürchterlichen Konsequenzen tragen muss. Letztlich ist die Qualität der einzelnen Geschichten zu unterschiedlich, um „Blutige Nachrichten“ zu einem guten Stephen-King-Werk zu machen. Stattdessen hätte der Bestseller-Autor die Titelgeschichte zu einem richtigen Roman ausbauen sollen. 

Lee Child – (Jack Reacher: 22) „Der Bluthund“

Donnerstag, 6. August 2020

(Blanvalet, 447 S., HC) 
Nach drei gemeinsamen Tagen in Milwaukee trennen sich die Wege von Jack Reacher und Michelle Chang. Während Chang, die sich mit Reachers langjährigem Nomadentum nicht anfreunden kann, zurück nach Seattle fährt, schnappt sich der ehemalige Top-Ermittler der Militärpolizei seine Zahnbürste und nimmt den nächstbesten Bus, der ihn in Richtung Nordwesten bringen würde. Bei einer Pinkelpause in der trübseligen Kleinstadt Rapid City entdeckt Reacher im Schaufenster eines Leihhauses den auffällig kleinen Ring einer West-Point-Absolventin des Jahres 2005. 
Reacher ist sich sicher, dass dieser Ring nur aus der Not heraus in diese Pfandleihe gelangt ist, legt vierzig Bucks auf den Tisch und macht sich auf die Suche nach der Geschichte hinter diesem Ring. Der einzige Anhaltspunkt sind die in den Ring eingravierten Initialen S.R.S. Vom Pfandleiher erfährt der hünenhafte Hobby-Ermittler, dass er den Ring vor ein paar Wochen mit anderen Schmuckstücken von einem Mann namens Jimmy Rat gekauft hat. 
Eine Schlägerei mit sieben Bikern später hat Reacher auch dessen Kontaktmann ausfindig gemacht: Arthur Scorpio. Hinter dem sind die Cops bereits einige Zeit her. Auch Detective Gloria Nakamura ist mit der Überwachung des Dealers betraut, nur konnte dem Mann, der in der Stadt einen Waschsalon betreibt, bislang nichts nachgewiesen werden. 
Vom Superintendenten in West Point erfährt Reacher, dass sich hinter den Initialen der Name Serena Rose Sanderson verbirgt, die nach fünf Kampfeinsätzen im Irak und in Afghanistan offensichtlich verletzt worden ist und nun nicht mehr auffindbar ist. Ihre wohlhabende Zwillingsschwester Tiffany Jane Mackenzie hat den ehemaligen FBI-Agenten Terrence Bramall, der sich als Privatdetektiv auf das Aufspüren vermisster Personen spezialisiert ist, engagiert. Mit vereinten Kräften machen sich Reacher, Bramall und Mackenzie auf die Suche nach Serena Rose und stoßen mit ihren Ermittlungen in ein Wespennest einer nahezu perfekten Organisation, die mit Betäubungsmitteln handelt und alles daran setzt, sich von Reacher und seinen Leuten nicht die Suppe versalzen zu lassen … 
„Reacher war kein abergläubischer Mann. Er hielt auch nichts von geistigen Höhenflügen oder plötzlichen Vorahnungen oder Existenzängsten jeglicher Art. Aber er wachte bei Tagesanbruch auf und blieb noch im Bett. Er hatte keine Lust, sich zu bewegen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete seinen Schatten in dem Spiegel an der Wand gegenüber. Eine entfernte Gestalt. Einer dieser Tage. Nicht nur eine militärische Sache. Auch viele andere Berufe kannten dieses Gefühl. Manchmal wachte man auf und wusste bestimmt – geschichtlich bedingt, aus Erfahrung und resignierter Intuition -, dass der eben angebrochene Tag überhaupt nichts Gutes bringen würde.“ (S. 274) 
Seit 1997 liefert Lee Child eigentlich jedes Jahr einen neuen Roman um seinen beliebten Helden Jack Reacher, den Hollywood-Star Tom Cruise bereits zweimal auf der Leinwand verkörpern durfte. So ungewöhnlich Reachers Karriere beim 110th MP verlief, bildet seine Entscheidung, nach seiner ehrenhaften Entlassung keiner geregelten Arbeit nachzugehen und ohne festen Wohnsitz und sonstige Besitztümer einfach durch quer die Staaten zu trampen oder mit Bus und Zug zu reisen, die Grundlage für seine privaten Engagements. In dem mittlerweile 22. Band der Bestseller-Reihe zieht also ein West-Point-Ring und die offensichtlich tragische Geschichte hinter seinem Weg in die Pfandleihe seine Aufmerksamkeit auf sich. Nach der fast schon obligatorischen kämpferischen Auseinandersetzung mit zahlenmäßig überlegenen, Reacher aber in jeder anderen Hinsicht nicht gewachsenen Kleinganoven entwickelt Lee Child einen ebenso packenden wie komplexen Plot, in dem Reacher ausnahmsweise mal nicht im Alleingang oder mit Unterstützung einer ebenso taffen wie hübschen Frau den bösen Jungs auf der Spur ist, sondern sich gleich auf mehrere durchaus kompetente Begleiter verlassen kann. Vor allem die taktischen und strategischen Überlegungen, die er mit dem Ex-FBI-Agenten Bramall anstellt, machen in knackigen Dialogen deutlich, wie die routinierten Ermittler gegen das raffiniert organisierte Netz von Dealern vorgehen und sich der eigentlichen Besitzerin des West-Point-Ringes annähern. Dabei rückt schließlich das Verhältnis zwischen den beiden Zwillingsschwestern zunehmend in den Vordergrund und verleiht „Der Bluthund“ eine für Childs Verhältnisse ungewöhnlich menschliche Note. Überhaupt zeigt sich der frühere Produzent von Fernsehserien wie „Brideshead Revisited“, „The Jewel in the Crown“ und „Prime Suspect“ in seinem neuen Roman wieder auf der Höhe seines Schaffens, nachdem hin und wieder schon Ermüdungserscheinungen in seinen letzten Werken auszumachen gewesen sind. 
Zwar macht es Child zum Finale hin etwas arg kompliziert, aber „Der Bluthund“ zählt nicht nur fraglos zu den spannendsten und vielschichtigsten Romanen der Reihe, sondern thematisiert auch die fragwürdige Art und Weise, wie in den USA mit schwer verletzten Kriegsveteranen umgegangen wird. 

Anthony McCarten – „Englischer Harem“

Sonntag, 2. August 2020

(Diogenes, 582 S., HC)
Die Familie Pringle stammt aus einfachen Verhältnissen und lebt in einer hellhörigen Einheitswohnung im 23. Stock eines heruntergekommenen Wohnblocks in London, dessen Fahrstuhl seit Monaten defekt ist. Während Eric Pringle sein Geld damit verdient, immer wieder Reparaturen in diesem Gebäude auszuführen, setzt seine Frau Monica alles daran, mit einer Petition unter den Bewohnern dafür zu sorgen, dass die Stadt die Bruchbude ganz abreißt, allerdings haben ihre Bemühungen erst zu vier Unterschriften gebracht. Doch diese Alltagssorgen verblassen, als ihre zwanzigjährige Tochter Tracy zum vierten Mal in zwei Jahren ihren Job verliert. Als Kassiererin im Supermarkt hing sie den von ihren Leseabenteuern inspirierten Tagträumen so intensiv nach, dass sie einen offensichtlichen Ladendiebstahl übersah.
Auf der Suche nach einem neuen Job landet sie im vegetarischen Restaurant des Persers Saaman „Sam“ Sahar, Sohn des berühmtesten Schlachters in Teheran. Der recht kleine, aber rundliche Sam, der nach einer Lebensmittelvergiftung durch einen vergammelten Hamburger genug von Fleisch in seinem Leben hat, versucht, Tracy vergeblich abzuwimmeln, und lässt sich auf ein einwöchiges Probearbeiten mit der resoluten jungen Frau ein, und ist schnell von ihrer schnellen Auffassungsgabe begeistert. Auch seine beiden Frauen Yvette und Firouzeh schließen Tracy in ihre Herzen und drängen Saaman dazu, auch Tracy zur Frau zu nehmen, als sich die beiden ineinander verlieben. Das bringt nicht nur Tracys Eltern aus der Fassung, sondern auch Tracys Ex-Freund Ricky, der sich leider in flagranti mit einer anderen Frau hat von Tracy erwischen lassen, seinen Fehltritt aber bereut und Tracy aus den Fängen des offensichtlichen Polygamisten aus dem Orient befreien will.
Als das Jugendamt in Gestalt von Mr. Partridge einem anonymen Hinweis nachgeht, dass Firouzehs vier Kinder unter den wüsten Verhältnissen in Sams Harem leiden würden. Damit beginnt eine Auseinandersetzung, die alle Beteiligten in ihren Grundfesten erschüttert …
Wir verbringen unser Leben in einer Festung, sinnierte Sam, und lassen nur selten die Zugbrücke herunter. Was für eine Verschwendung! Was wir da alles verpassen! Wir halten nur Abstand voneinander, weil wir uns nicht trauen. Die großen Verführer, zu denen er sich nicht zählte, verstanden das und nutzten es aus. Diese Mauern gab es nur in der Phantasie. Jeder abgewandte Blick war in Wirklichkeit eine Einladung, jeder unerwiderte Anruf eine Bitte, jede Gehässigkeit eine Aufforderung zum Streicheln …“ (S. 185) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten ist nicht nur als Mit-Autor des erfolgreichen Theaterstücks, das später als „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ noch erfolgreicher verfilmt worden ist, populär geworden, sondern auch durch weitere Romane/Drehbücher wie zu „Die dunkelste Stunde“, „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, „Bohemian Rhapsody“ und „Die zwei Päpste“. Mit „The English Harem“ legte er 2002 seinen zweiten Roman vor, der eindrucksvoll unterstreicht, dass McCarten nicht nur über eine feine Figurenzeichnung verfügt, sondern auch mit viel Sympathie, Humor und Toleranz ihre durchaus komplexen Dramen schildert.
„Englischer Harem“ zeichnet dabei außerdem das Bild einer multikulturellen Gesellschaft einer Weltmetropole, in der Menschen verschiedenster Hautfarben, Kulturen, religiöser Gesinnung und regionaler Herkunft zwar alltäglich miteinander zu tun haben, aber trotzdem voller Vorurteile stecken. McCarten treibt diese kulturellen Missverständnisse in seinem warmherzigen Roman gekonnt auf die Spitze, lässt auch den Leser über die wahre Beziehung der drei Frauen und ihrem Ehemann lange im Dunkeln, macht aber auch klar, dass Sams Zuhause alles andere als einen Harem darstellt.
Geradezu genüsslich beschreibt er die verschiedenen Versuche von Ricky und Eric, Tracy wieder zur Vernunft zu bringen und dem vermeintlichen persischen Haremsbetreiber eins auszuwischen. Auf der anderen Seite seziert der Autor gekonnt die Nöte und Sehnsüchte einer normalen britischen Familie sowie ebenso einfühlsam die jeweils ganz unterschiedlichen Umstände, unter denen sich Sam seiner drei Frauen angenommen hat. Wenn „Englischer Harem“ eine Botschaft vermittelt, dann die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit uns fremden Kulturen, so wie Tracy in einem Erwachsenenstudium versucht, den Koran zu verstehen.
Doch neben dem Appell an mehr Toleranz überzeugt der Roman auch als multikulturelle Liebesgeschichte mit ungewöhnlichen Figuren, die man als Leser einfach schnell ins Herz schließen muss.

David Baldacci – (Atlee Pine: 2) „Abgetaucht“

Freitag, 31. Juli 2020

(Heyne, 528 S., HC)
Atlee Pine war sechs Jahre alt, als eines Nachts ein Mann in das Kinderschlafzimmer kam, ihr den Schädel zertrümmerte und ihre Zwillingsschwester Mercy entführte. Ihre Eltern, die – so die Polizeiberichte von damals – im unteren Teil des Hauses mit Freunden eine Party mit Alkohol und Drogen feierten, haben den Schock nicht überwunden und sich getrennt. Während sich Atlees Vater an ihrem 19. Geburtstag erschossen hat, ist ihre Mutter spurlos verschwunden. Es ist sicher diesen Umständen zu verdanken, dass Atlee, die wie durch ein Wunder den Schädelbruch überlebt hat, zum FBI ging und schließlich auf eigenen Wunsch die einsam gelegene FBI-Außenstelle in Shattered Rock am Grand Canyon übernahm, wo sie von der tüchtigen Assistentin Carol Blum unterstützt wird. Die Suche nach Mercy und ihrer Mutter hat Atlee nie aufgegeben.
Zuletzt hat sie den mehrmals lebenslänglich verurteilten Serienmörder Daniel James Tor im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence besucht, der damals zumindest in der Nähe bereits einen Mord verübt hatte, der Atlee aber auch nach dem dritten Besuch keine konkreten Hinweise zur Bestätigung ihres Verdachts liefern mag. Auf dem Rückweg in ihrem 1967er Ford Mustang Cabrio geht Atlee einer Vermisstenmeldung nach und kann den flüchtigen Fahrer mit dem entführten Mädchen stellen, geht dabei aber so brutal zu Werke, dass ihr Chef Clint Dobbs sie erst einmal in den Urlaub schickt, den Atlee nutzen will, um an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren.
Carol Blum begleitet sie auf der Reise in die Kleinstadt Andersonville, Georgia, die vor allem vom Interesse der Touristen an der Nachstellung des Bürgerkriegs lebt. Atlee stattet ihrem heruntergekommenen Elternhaus einen Besuch ab, in dem der Gelegenheitsarbeiter Cy Tanner mit seinem nierenkranken Hund lebt. Doch die FBI-Agentin hat gerade erst begonnen, die Bekannten ihrer Eltern zu ermitteln, als die mit einem Brautschleier verzierte Leiche einer Frau gefunden wird. Die als Hanna Rebane identifizierte Tote ist wegen Drogenmissbrauch und Prostitution aktenkundig gewesen, stammt aber nicht aus der Gegend. Als auch noch ein Schwarzer und ein Junge unter ähnlich rituell anmutenden Umständen tot aufgefunden werden, scheinen es Pine, ihr früherer FBI-Kollege Eddie Laredo und GBI-Detective Max Wallis mit einem Serienmörder zu tun zu haben. Währenddessen macht Atlee vor allem mit den wohlhabend Ehepaar Myron und Britte Pringle sowie Jerry Lineberry Bekanntschaft, die früher enge Freunde ihre Eltern gewesen sind. Je mehr sich Atlee Pine, Carol Blum und die Agenten von GBI und FBI mit den jüngsten Morden beschäftigen, desto mehr scheint sich eine Verbindung zu dem Schicksal von Atlee Pines Familie herauszukristallisieren …
„In der Erinnerung sah sie den Finger des Entführers, der zuerst ihr, dann Mercy auf die Stirn getippt hatte, als er den Abzählreim aufgesagt hatte. Immer wieder, im Rhythmus des Verses. Dann hatte die Faust sie an der Schläfe getroffen, vielleicht mehr als einmal. Sie wusste es nicht, konnte es nicht wissen, weil sie schon beim ersten Schlag das Bewusstsein verloren hatte.
Ich muss die Verliererin gewesen sein. Ich, nicht Mercy. Bei Mercy hat der Reim geendet. Mich wollte er umbringen. Er muss davon ausgegangen sein, dass ich tot bin. Aber warum hat er Mercy mitgenommen?“ (S. 361) 
Nach dem „Memory Man“ Amos Decker und Militärpolizeiermittler John Puller, deren Fälle ebenfalls bei Heyne verlegt werden, hat Bestseller-Autor David Baldacci mit der FBI-Agentin Atlee Pine die vielleicht interessanteste Figur seiner langen Karriere kreiert. Atlee Pines tragisches Schicksal mit der eigenen schweren Verletzung, dem Verschwinden sowohl ihrer Zwillingsschwester Mercy als auch ihrer Mutter hat sie zu einer ebenso einzelgängerischen wie taffen FBI-Agentin gemacht, die die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen aber bislang nicht so effizient einsetzen konnte, dass daraus konkrete Hinweise auf ihren Verbleib resultieren würden.
Auch in seinem zweiten Atlee-Pine-Roman „Abgetaucht“ verbindet Baldacci geschickt die Suche seiner sympathischen Protagonistin nach der Auflösung der Geschehnisse vor über dreißig Jahren mit neuen Fällen. Der Autor erweist sich dabei als routinierter Dramaturg, der von Beginn an Spannung zu erzeugen versteht, verschiedene Figuren sorgfältig einführt und nach und nach mehrere Fährten legt, die zur Aufklärung der Vermissten- und Mordfälle führen könnten. Vor allem Atlee Pine gewinnt durch ihre ganz persönliche Reise in die Vergangenheit an Kontur, wobei sie von ihrer cleveren Assistentin Carol auf fast mütterliche Weise begleitet und unterstützt wird. Gerade im letzten Viertel zieht Baldacci das Tempo mächtig an, bringt ordentlich Action ins Spiel und überrascht mit einigen Wendungen, die genügend Fragen offen lassen, dass die Fortsetzung dieser hochkarätigen Thriller-Reihe garantiert ist.
Leseprobe David Baldacci - "Abgetaucht"

John Iriving – „Witwe für ein Jahr“

Montag, 27. Juli 2020

(Diogenes, 762 S., Tb.)
Im Alter von vier Jahren wird Ruth Cole eines Nachts Zeugin davon, wie der der sechzehnjährige Eddie O’Hare ihre Mutter von hinten besteigt. Es ist für alle Beteiligten ein merkwürdiger Sommer im Jahr 1958. Der berühmte Kinderbuchautor Ted Cole und seine Frau Marion haben sich schon vor dem Tod ihrer beiden Jungen Timothy und Thomas auseinandergelebt, die Opfer der Tatsache geworden sind, dass ihre Eltern sich mal wieder gestritten und betrunken haben, so dass sie den Wagen fahren mussten, der schließlich in einen tödlichen Unfall verwickelt wurde. Während sich die schöne Marion zunehmend in sich selbst zurückzog, nutzte Ted seine Kunstfertigkeit als Illustrator dazu, Mütter zu verführen, die er zunächst mit ihren Kindern portraitierte, dann allein und schließlich als Akt zeichnete und sie verführte. Um in der bevorstehenden Scheidung von Marion das Sorgerecht für Ruthie zu bekommen, engagierte er vorgeblich als Assistenten für sich selbst, im Grunde aber als Liebhaber für Marion.
Sein Plan geht auf. Eddie verliebt sich in die viel ältere Frau, die wenig später ohne ein Wort des Abschieds verschwindet – mit all den Bildern ihrer Söhne, die das Haus geschmückt haben. Eddie bleibt nach Marions spurlosem Verschwinden untröstlich und fortan auf ältere Frauen fixiert, ohne je die tiefen Gefühle entwickeln zu können, die ihn mit Marion verbunden haben. Aber er wird ebenso wie Ruth Cole Schriftsteller, längst nicht so erfolgreich wie sie, aber er kommt in den Genuss, Ruth Cole bei einer ihrer Autorenlesungen vorzustellen und sie so im Frühjahr 1990 endlich wiederzusehen. Doch die Freude des Wiedersehens währt nur kurz, denn Ruth stellt ihr neues Buch auch in Europa vor. Mit ihrem Lektor Allan, der sie unbedingt heiraten möchte, hat sie noch nicht mal geschlafen, was für ihre beste Freundin, die fast schon promiskuitive Journalistin Hannah, absolut unverständlich bleibt.
In Amsterdam ist Ruth nicht nur von einem jungen Holländer fasziniert, der sie verehrt, sondern lässt sich für die Recherchen zu ihrem neuen Buch auch dazu überreden, hinter einem Vorhang versteckt eine Prostituierte dabei zu beobachten, wie sie einen Freier bedient. Doch der Freier entpuppt sich als Mörder der rothaarigen Rooie und entkommt zunächst unentdeckt. Die anonymen Hinweise, die Ruth dem Polizisten Harry Hoekstra zukommen lässt, führen Jahre später zu dessen Ergreifung, doch Harry ist vielmehr an der Zeugin als an dem Täter interessiert und macht sich auf die Suche nach ihr. Ruth kehrt nach ihrer Lesereise in Europa wieder nach Hause zurück, heiratet Allan und bekommt mit ihm einen Sohn. Doch das Leben hält noch etliche Überraschungen für sie bereit …
„Eines Tages würde sie keine junge Mutter mehr sein, und dann würde sie wieder schreiben. Bisher hatte sie erst rund hundert Seiten von ,Mein letzter schlimmer Freund‘ zu Papier gebracht. Noch war sie nicht bis zur Szenen gekommen, in der der Freund die Schriftstellerin dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen. Ruth arbeitete noch darauf hin. Auch diese Szene wartete auf sie.“ (S. 585) 
Mit seinem neunten, 1998 veröffentlichten und ein Jahr darauf auch auf Deutsch veröffentlichten Roman „Witwe für ein Jahr“ hat der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving („Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“) ein Epos kreiert, das die Lebensgeschichte der Cole-Familienmitglieder Ted, Marion und Ruth sowie Eddie O’Hare über fast vier Jahrzehnte abdeckt und ihre vielschichtigen Liebesbeziehungen beschreibt, die vor allem von der Sehnsucht nach dem Verlorenen geprägt sind.
Ted Cole scheint sich in seinen unzähligen Affären mit jüngeren Frauen in eine glücklichere Zeit zurückzuversetzen, als seine Söhne noch lebten, während Marion ihre Liebe für ihre Söhne gänzlich verbraucht hat und in dem sechzehnjährigen Eddie einen kurzzeitigen Ersatz für diesen Verlust findet. Ruth wiederum arbeitet den Tod ihrer Brüder, die sie nie kennengelernt hat, die sie aber durch die allgegenwärtigen Fotos zuhause ihr Leben lang begleitet haben, in ihren autobiografisch gefärbten Büchern auf, in denen Väter und Mütter keine Rolle spielen, dafür aber Beziehungen mit schlimmen Freunden. Eddie sehnt sich nur nach Marion zurück.
Irving erweist sich als humorvoller und detailfreudiger Beobachter, der auch weniger liebenswerten Figuren wie Ted und Marion Cole und sowie Hannah sympathische Züge zu verleihen versteht. Es ist aber vor allem das Verhältnis zur Sexualität, das Irving in „Witwe für ein Jahr“ (dessen Titel auf eine verärgerte und natürlich verwitwete Leserin zurückgeht) thematisiert. Das beginnt mit der lustvoll beschriebenen Eröffnungsszene und setzt sich über die zahllosen Affären von Ruth‘ Vater und ihrer Freundin Hannah ebenso fort wie in Ruth‘ eigenen eher verklemmten Beziehungen, in denen Sex eher etwas ist, das hinter sich gebracht werden sollte und dann teilweise auch mit schlimmen Erfahrungen enden.
Irvings Kunstfertigkeit besteht einmal mehr darin, ganze Lebensgeschichten nicht nur unterhaltsam zu erzählen, sondern die Figuren, selbst wenn sie nicht immer überzeugend ausgestaltet sind, in ihren spannenden Verwicklungen untereinander zu begleiten. „Witwe für ein Jahr“ unterhält durch seinen meist charmanten Humor, seine ebenso lebensnahen wie skurrilen Figuren, die interessanterweise durch ihren jeweils persönlichen Werdegang allesamt zu Schriftstellern werden. So ist dieses wieder mal über 700 Seiten lange Epos ein vielschichtiger Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der eindringlich aufzeigt, wie früheste Beziehungen und Entscheidungen den Lebensweg eines Menschen prägen.

Leseprobe John Irving - "Witwe für ein Jahr"

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 5) „Die falsche Fährte“

Samstag, 18. Juli 2020

(Zsolnay, 494 S., HC)
Hauptkommissar Kurt Wallander verabschiedet mit einer Rede den bisherigen Polizeipräsidenten Björk, der in Malmö seine neue Anstellung als Chef des Ausländerkommissariats der Provinzverwaltung antritt, und würde dabei am liebsten seiner Besorgnis um die geplanten Kürzungen und Umstrukturierungen bei der Polizei Ausdruck verleihen, doch letztlich freut er sich viel zu sehr auf seinen bevorstehenden, dringend benötigten Urlaub in ein paar Wochen. Doch als er einem merkwürdigen Anruf nachgeht, der von einem Hof in der Nähe von Marvinsholm erfolgte und auf eine sonderbar auftretende Frau in einem Rapsfeld hinwies, wird Wallander Zeuge, wie sich das Mädchen vor ihm plötzlich mit Benzin übergießt und sich selbst verbrennt. Einen Hinweis auf die Identität des Mädchens gibt nur ein Madonnenbild mit den Initialen D.M.S.
Bevor sich Wallander jedoch eingehender mit dem traurigen Schicksal des Mädchens beschäftigen kann, wird er mit einem Fall konfrontiert, der seine Urlaubsplanung mit seiner in Riga lebenden Freundin Baiba ernsthaft gefährdet. Am Strand bei Sandskogen wird die Leiche des ehemaligen Justizministers Gustaf Wetterstedt gefunden. Sei unter einem umgekehrten Boot in der Nähe seines Hauses sichergestellter Körper weist tödlich durchtrenntes Rückgrat und eine Kopfwunde, die darauf hinweist, dass dem Toten die Haare von Schädel gerissen wurden. Ein Motiv lässt sich zunächst nicht erkennen. Erst als Wallander den ehemaligen, alkoholsüchtigen „Expressen“-Journalisten Lars Magnusson aufsucht, bekommen die vagen Gerüchte um Wetterstedt mehr Kontur.
Offensichtlich hegte Wetterstedt eine Vorliebe für junge Mädchen, die er sich regelmäßig von seinen Assistenten kommen ließ und die er auch misshandelte, doch eine gegen ihn gerichtete Anzeige wurde schließlich zurückgezogen. Auf diesen ersten ritualistisch anmutenden Mord folgen schließlich weitere: Der wohlhabende Kunsthändler Arne Carlman wird auf dem von ihm ausgerichteten Mittsommerfest auf seinem Hof ebenso bestialisch ermordet. Als Berührungspunkt zwischen den beiden Opfern offenbart sich ein Gefängnisaufenthalt Carlmans Ende der 1960er Jahre, als Wetterstedt Justizminister gewesen war und die beiden sich nach Carlmans Freilassung getroffen hatten. Doch diese beiden grauenerregenden Fälle stellen nur den Anfang einer Reihe von weiteren Morden dar, die an einem kleinen Hehler und einem Finanzmagnaten verübt werden. Nun fällt es Wallanders Leuten auch in Zusammenarbeit mit den Leuten in Malmö immer schwerer, Zusammenhänge zwischen den Opfern zu erkennen.
Währenddessen meldet Interpol, dass es sich bei dem Mädchen, das sich vor Wallanders Augen im Rapsfeld verbrannt hat, um Dolores Maria Santana aus der Dominikanischen Republik handelt, die über Madrid nach Schweden eingeschleust worden ist, um wahrscheinlich als Prostituierte auf den Strich geschickt zu werden …
„Er stellte sich die trostlose Frage, was das eigentlich für eine Welt war, in der er lebte. In der junge Menschen sich selbst verbrannten oder auf andere Art und Weise versuchten, sich das Leben zu nehmen. Er kam zu dem Ergebnis, dass sie mitten in einer Epoche lebten, die man die Zeit des Scheiterns nennen konnte. Sie hatten an etwas geglaubt und es aufgebaut, doch es erwies sich als weniger haltbar, als sie erwartet hatten. Sie hatten gemeint, ein Haus zu bauen, während sie in Wirklichkeit mit der Errichtung eines Denkmals beschäftigt waren für etwas, das bereits vergangen und fast vergessen war.“ (S. 262) 
Obwohl es ein wunderschöner Sommer im schwedischen Schonen ist, kommt Kriminalhauptkommissar Kurt Wallander überhaupt nicht dazu, ihn zu genießen. Stattdessen wird er mit ungeheuerlichen Verbrechen konfrontiert, die ihm schmerzlich vor Augen führen, wohin die einst hehren Träume von einer besseren Welt verschwunden und einer zunehmend brutaleren, von egoistischen Interessen nach Macht und Reichtum geprägten Zeit gewichen sind. Der fünfte Band in der Reihe um Kurt Wallander des 2015 verstorbenen schwedischen Bestseller-Autoren Henning Mankell erweist sich als bis dahin bester, atmosphärisch dichtester und auch bedrückendster Roman. Das Geschehen schildert er sowohl aus der Ermittler-Perspektive als auch des namentlich nicht genannten und somit lange Zeit für den Leser unbekannten Täters, aber von Beginn an liegt das Missbrauchsthema in der Luft, das sich mit dem Selbstmord des Mädchens vor Wallanders Augen zunächst nur andeutet, mit den Gerüchten um die Vorlieben der brutal getöteten Männer aber zunehmend offensichtlicher wird. Dieses Missbrauchsthema hängt Mankell zwar vor allem an der Zwangsprostitution und dem Menschenhandel auf, doch bettet er diese beklagenswerten Zustände in eine umfassendere pessimistische Weltsicht ein, in der die ausgebildeten Polizisten immer weniger Befugnisse haben, moralische Verwerfungen und kriminelle Handlungen nicht mehr in der angebrachten Schärfe geahndet werden und Korruption und Machtmissbrauch an der Tagesordnung stehen.
Mankell widmet aber auch seinem Protagonisten viel Raum zur Entwicklung. So steht ihm nicht nur seine erwachsen gewordene Tochter Linda näher, die sich klarzuwerden versucht, was sie aus ihrem Leben machen will, auch sein an Demenz erkrankter Vater, der mit seinem Sohn einmal nach Italien reisen will, und die noch nicht klar definierte Fernbeziehung zu Baiba beschäftigen Wallander so stark, dass er gar nicht merkt, dass er selbst zur Zielscheibe des Axtmörders werden könnte.
Mankell erweist sich als Meister des gesellschaftskritischen Krimis und findet in der Beschreibung der furchterregenden Morde und der beängstigenden Zustände der schwedischen Gesellschaft stets die richtigen Worte, um den Leser zu fesseln.
Leseprobe Henning Mankell - "Die falsche Fährte"

Robert Bloch – „Der Schal“

Mittwoch, 8. Juli 2020

(Diogenes, 224 S., Tb.)
Im Alter von achtzehn Jahren machte Daniel Morley in seinem letzten Schuljahr eine traumatische Erfahrung. Seine achtunddreißigjährige Englischlehrerin Miss Frazer empfand nämlich mehr als nur fürsorgliche Zuneigung zu dem jungen Mann, lud ihn zu sich nach Hause ein und wollte ihn unter Alkoholeinfluss verführen, nachdem sie ihm einen gelben Schal als Abschiedsgeschenk gemacht hatte. Doch als sich Daniel nicht auf diese Art von Beziehung einlassen wollte, nutzte Miss Frazer den benommenen Zustand ihres Zöglings aus, fesselte ihn mit dem Schal und setzte ihrem Leben durch Gas ein Ende. Über Jahre hinweg hasste Daniel sowohl Bücher als auch Frauen, doch den gelben Schal behielt er.
Jahre später versucht Daniel, als Schriftsteller Fuß zu fassen. In Minneapolis lernt er Rena kennen, deren Mann im Gefängnis sitzt und die über genügend Geld verfügt, Daniel auszuhalten, doch als sie ihn dazu drängt, mit ihr zusammenzuziehen, erwürgt er sie mit dem gelben Schal und verlässt spurlos die Stadt. In Chicago nistet er sich in einem schäbigen Hotelzimmer ein und lernt als Taxifahrer das freiberufliche Model Hazel Hurley kennen, die ihn mit der Werbeagentur Bascomb, Collins & Co. bekannt macht. Die erweist sich schließlich als Sprungbrett für Daniel Morley Schriftsteller-Karriere, denn über seinen Arbeitskollegen Lou King macht er die Bekanntschaft mit dem Agenten Phil Teffner, der sich begeistert von Daniels Manuskript zeigt.
Als Daniel auch von Hazel genervt ist, entwickelt er erneut einen Plan, die Frau an seiner Seite loszuwerden. Doch je erfolgreicher Daniel wird, desto mehr lernt er Leute wie den Psychoanalytiker Jeff Ruppert kennen, die zu ahnen beginnen, welch dunklen Geheimnisse der Bestseller-Autor verbirgt …
„Mich als verrückt zu bezeichnen, genügt nicht. Niemand macht sich die Mühe nachzuzählen, ob ich alle Tassen im Schrank habe. Sie glauben alle, ich sei in Ordnung. Und außerdem um einiges schlauer als die meisten anderen.
Genau. Das muss es sein. Ich bin schlauer. Ich kenne mehr Methoden und ich wende mehr Methoden an. Warum, zum Teufel, gebe ich mich mit Erklärungen ab, sogar mir selbst gegenüber? Der einzige Unterschied zwischen mir und den übrigen besteht darin, dass ich schlauer bin. Ich weiß, wie ich das erreiche, was ich will, und wie ich ungestraft davonkomme.“ (S. 161) 
Die Geschichte von Daniel Morley in Robert Blochs Debütroman „Der Schal“ aus dem Jahr 1947 liest sich wie die Lebensgeschichte des Autors selbst. Zwar veröffentlichte Bloch bereits früh Geschichten in dem Horror-Magazin „Weird Tales“ und in dem Science-Fiction-Magazin „Amazing Stories“ zu veröffentlichen, verdiente sich seinen Lebensunterhalt aber wie sein Ich-Erzähler Daniel Morley in einer Werbeagentur, bevor er mit wachsendem Erfolg sich ganz auf das Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten konzentrieren konnte.
Mit „Der Schal“ widmet sich Bloch eines seiner frühen Lieblingsthemen, nämlich des Serienkillers. Sein Interesse an Jack the Ripper mündete immer wieder in Romanen und Geschichten, aber auch Marquis de Sade und Lizzie Borden haben es Bloch angetan. In „Der Schal“ schildert Bloch aus der Perspektive des erfolgreich werdenden Schriftstellers Daniel Morley das Psychogramm eines raffinierten Serienmörders. Dabei dient ihm im letzten Drittel des Buches vor allem die Figur des Psychoanalytikers Jeff Ruppert, um die mögliche Motivation und psychische Disposition des Täters abzuleiten.
„Der Schal“ fällt zwar nur leidlich spannend aus, doch der kurze Debüt-Roman demonstriert eindrucksvoll, wie akkurat sich Bloch mit der Psyche seiner Protagonisten aussetzt, auch wenn die Analyse sehr konstruiert wirkt. Das machte letztlich Alfred Hitchcock darauf aufmerksam, Blochs späteren Roman „Psycho“ zu verfilmen, was sowohl für den Autor als auch den Filmemacher zu einem Riesenerfolg wurde und einen entscheidenden Karriereschub bewirkte.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 22) „Blues in New Iberia“

Samstag, 4. Juli 2020

(Pendragon, 586 S., Pb.)
Sucht man nach eindrücklichen Beispielen für Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten, wird man auch im New Iberia Parish in der Gestalt von Desmond Cormier fündig. Er wuchs als indianischer Mischling bei seinen Großeltern im Chitimacha Indianerreservat in Armut auf, nachdem ihn seine Mutter in der Schlafkoje eines Sattelschleppers entbunden hatte und dabei verstorben war, mochte sein vorherbestimmtes Leben aber nicht akzeptieren. So stählte er seit seinem 12. Lebensjahr seinen Körper, ging nach der Highschool bei einem Straßenmaler auf dem Jackson Square in die Lehre und verwirklichte in Hollywood seinen Traum, Filmregisseur zu werden.
25 Jahre später kehrt Cormier mit einer Golden-Globe- und einer Oscar-Nominierung in seine Heimat zurück und lässt sich in einem Haus auf Stelzen am Cypremort Point nieder, an dessen südlichen Ende Detective Dave Robicheaux und sein erst seit sieben Monaten bei der Polizei arbeitende Kollege Sean McClain drei frühmorgendlichen Notrufen wegen einer um Hilfe schreienden Frau nachgehen. Am Strand finden sie jedoch nur einen einzelnen Tennisschuh, Größe 40. Als sie Cormier einen Besuch abstatten und durch sein Fernrohr die Bucht absuchen, entdeckt Robicheaux eine auf einem Kreuz angenagelte und festgebundene junge Schwarze, die auf ritualistisch anmutende Weise ermordet worden ist und als Lucinda Arcenaux identifiziert wird.
Doch das ist erst der Anfang einer ganzen Reihe von Morden, die einem ähnlichen Muster folgen und bei denen auch Tarot-Karten in die Inszenierung eingebunden werden. So wird Joe Molinari wird in einem Schuppen gefesselt und mit einem durch seine Brust gestoßenen angespitzten Gehstock wie der Gehängte auf der Tarot-Karte aufgefunden, der Informant Travis Lebeau wird gefoltert und mit dem Auto zu Tode geschleift. Robicheaux und sein langjähriger Freund Clete Purcell, mit dem er einst in New Orleans in der Mordkommission zusammengearbeitet hatte und der nun als Privatdetektiv arbeitet, haben sofort Cormier und sein merkwürdiges Gefolge, vor allem den Produzenten Lou Wexler und den undurchsichtigen Antoine Butterworth, in Verdacht.
Schließlich hat die Ermordete bei einer Catering-Firma gearbeitet, die Filmsets beliefert. Doch die Ermittlungen werden durch mehrere Komponenten erschwert: Robicheaux‘ Adoptivtochter Alafair, die nach ihrer juristischen Ausbildung an der Reed und Stanford University zunächst als Bezirksstaatsanwältin in Portland, Oregon gearbeitet hatte, schreibt mittlerweile Romane und Drehbücher und begleitet Cormier und seine Crew bei seinen derzeitigen Aufnahmen zu einem Film, der aus allerlei fragwürdigen Quellen, von Russen, Arabern und der Mafia, finanziert wird.
Mit im Spiel sind auch der entflohene Häftling Hugo Tillinger, der für die Morde an seiner Frau und Tochter eingesessen hat, die er bestreitet, begangen zu haben und durch Lucinda Arcenaux, die ihn vor seinem Ausbruch im Gefängnis besucht hatte, die Hoffnung hatte, dass ihm Leute aus Hollywood helfen könnten, begnadigt zu werden. Und schließlich mischt auch noch ein kleingewachsener Killer namens Smiley Wimple mit, der systematisch bösen Menschen das Licht ausknipst. Als wäre das noch nicht genug, verliebt sich Dave Robicheaux auch noch in seine viel jüngere neue Partnerin Bailey Ribbons, die nicht nur Kontakt zu den Filmleuten sucht, sondern auch ein dunkles Geheimnis aus ihrer Vergangenheit mit sich herumträgt …
„Ich versuchte, all die wahllosen Informationsbrocken zusammenzusetzen, aus denen sich ein mögliches Motiv oder Muster für die Morde an Lucinda Arceneaux, Joe Molinari, Travis Lebeau, Axel Devereaux und Hilary Bienville ergab. Jeder einzelne war auf seine Art rituell. Vielleicht spielten das Tarot und das Malteserkreuz eine Rolle. Genau wie Grausamkeit und Wut. Doch sobald ich einen Mord mit einem zweiten oder dritten in Verbindung setzte, fiel mein logisches Gebäude wieder auseinander.“ (S. 332) 
Es gibt wohl kaum einen anderen Autor, der die besondere Atmosphäre in den Südstaaten so eindringlich zu beschreiben versteht, wie der 1936 in Houston, Texas, geborene teilweise in New Iberia, Louisiana, lebende Schriftsteller James Lee Burke. Aus seiner populären und von der Kritik gefeierten Reihe um den Südstaaten-Cop Dave Robicheaux, die 1987 mit dem Roman „Neonregen“ ihren Anfang nahm, wurden bereits „Heaven’s Prisoners“ (als „Mississippi Delta“ mit Alec Baldwin und Kelly Lynch in den Hauptrollen) und „In the Electric Mist“ (mit Tommy Lee Jones in der Hauptrolle) verfilmt. „Blues in New Iberia“ stellt nicht nur den bereits 22. Band der Reihe, sondern fraglos einen ihrer Höhepunkte dar. Von Ermüdungserscheinungen, nervigen Wiederholungen, einfallslosen Plots oder schwachen Charakterisierungen ist bei diesem epischen Krimi-Drama mit Hollywood-Touch nichts zu spüren. Stattdessen drehen Dave Robicheaux und sein bester Kumpel Clete Purcel wieder groß auf. Allerdings befinden sich die beiden charismatischen Protagonisten mit ihrem jeweils sehr eigenen Rechtsempfinden sehr lange im Strudel schwer zu deutender Ereignisse und undurchsichtiger Personen und Liebschaften.
Burke erweist sich einmal mehr als Meister der feinen Charakterisierungen, wie sie sein kriegs- und berufserfahrener Ich-Erzähler Dave Robicheaux vornimmt.
„Blues in New Iberia“ bezieht seine dramaturgisch sorgfältig und dicht inszenierte Spannung aus dem schwer entwirrbaren Netz ritualistisch anmutender Mordfälle, verschrobenen Hollywood-Leuten und ihren anrüchigen Finanziers sowie den schwierigen persönlichen Beziehungen, die sein Protagonist mit den unterschiedlichsten Frauen - seien es eine Blues-Sängerin, seine junge Kollegin oder seine eigene Tochter – unterhält. Dabei webt er die einzigartige Geschichte der Südstaaten ebenso in den vielschichtigen Plot ein wie John Fords Klassiker „Faustrecht der Prärie“.
Leseprobe James Lee Burke - "Blues in New Iberia"