Dan Simmons – (Hyperion: 3) „Endymion - Pforten der Zeit“

Sonntag, 18. Oktober 2020

(Goldmann, 670 S., Pb.) 
Der 247 Jahre nach dem Fall auf Hyperion geborene Raul Endymion hat als Schafhirte, Soldat der Heimatgarde, Rausschmeißer und Blackjack-Geber, Landschaftskünstler, Führer von Jagdtruppen in den Farnwäldern über der Toshibabucht und Kommandant einer Barke am Oberlauf des Kans gearbeitet, als er im Alter von 27 Jahren mit einem Jäger aneinandergerät, ihn tötet und bei der nachfolgenden Verhandlung zum Tode verurteilt wird. Allerdings lehnt er es nach wie vor ab, die Kruziform anzunehmen, jenes Geheimnis der Unsterblichkeit, das den Menschen vom Pax, der Allianz zwischen der Kirche und dem Militär, im Gegenzug für absoluten Gehorsam der neuen katholischen Kirche gegenüber angeboten wird. Obwohl Raul dieses letzte Angebot eines Pax-Priesters vor seiner Hinrichtung nicht annimmt, wacht er in der leerstehenden Universität von Endymion auf und wird von dem alternden Dichter Martin Silenus auf eine ungewöhnliche Mission geschickt: Raul soll zusammen mit dem Androiden A. Bettik die vor 264 Jahren verschwundene Aenea finden, die Tochter von Brawne Lamia und Johnny (der KI-Rekonstruktion des Dichters John Keats), die im Alter von zwölf Jahren durch das Zeitgrab der Sphinx in die Zukunft verschwand. 
Dort soll Raul Endymion das außergewöhnliche Mädchen auffinden und zum legendären Dichter der „Cantos“ zurückbringen. In diesem Epos wird das von Lamia geborene Kind als Diejenige Die Lehrt bezeichnet. Doch auch der Pax will des Mädchens habhaft werden und schickt mit Pater Captain de Soya einen Pax-Offizier, der mit allen Privilegien des Papstes und entsprechender Unterstützung an Soldaten und Ausrüstung ausgestattet wird. 
Tatsächlich gelingt Endymion der gefährliche Coup, Aenea vor der Pax-Flotte zu erreichen und mit ihr sogar durch einen deaktivierten Farcaster auf einem selbst gebastelten Floß auf dem Thetys zu reisen, der einst hunderte von Welten verbunden hat. De Soya und seine Truppen verlieren viel Zeit beim Absuchen der Welten und müssen durch etliche der ermüdenden Auferstehungsrituale, ehe sie wieder in die Nähe ihres eigentlichen Ziels gelangen. Dabei bekommt De Soya durch Rhadamanth Nemes eine weitere Pax-Kriegerin zur Unterstützung, die allerdings mit einer eigenen Mission ausgestattet wird. Raul, Aenea und A. Bettik sind aber auch nicht auf sich allen gestellt. Das unberechenbare Shrike-Monster kommt dem unerschrockenen Trio ebenso unverhofft zur Hilfe wie die Chitchatuk, die ihre eigenen Methoden haben, durch die gleißende Eiswelt Sol Draconi Septem zu reisen … 
„Es gab – das wird mir jetzt klar – noch einen anderen Grund für diese Oase der Ruhe inmitten der Wüste von Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Es war die Wärme. Die Erinnerung an die Wärme. Das Leben, das von diesen beiden Menschen in mich eingeströmt war, die Tatsache, dass ich es akzeptiert hatte, die Aura einer heiligen Kommunion, die der Tat innewohnte. In der Dunkelheit, beim Schein der Laternen, kümmerten wir uns nun um die dringende Angelegenheit des Versuches, am Leben zu bleiben, diskutierten unmögliche Pläne, etwa uns mit dem Plasmagewehr einen Weg freizuschießen, verwarfen aussichtslose Vorgehensweisen und fingen wieder von vorn an zu diskutieren. Aber währenddessen hielt mich in dieser kalten, dunklen Grube der Verwirrung und wachsenden Hoffnungslosigkeit der Kern der Wärme ruhig, den diese beiden … Freunde … in mich eingehaucht hatten, genauso wie ihre menschliche Nähe mich am Leben gehalten hatte.“ (S. 487) 
Nach seinen beiden preisgekrönten Horror-Werken „Göttin des Todes“ (World Fantasy Award) und „Kraft des Bösen“ (Locus Award, Bram Stoker Award, British Fantasy Award) wandte sich Dan Simmons mit „Hyperion“ 1989 erstmals der Science Fiction zu und initiierte damit eine Saga, die über „Das Ende von Hyperium“ schließlich zu „Endymion. Pforten der Zeit“ geführt hat. 
Allerdings werden die Tetralogie, die mit „Endymion. Die Auferstehung“ ihren Abschluss findet, nur durch den Dichter Martin Silenus und die Welt von Hyperion verbunden, davon abgesehen, steht bei „Endymion. Pforten der Zeit“ ein ganz neues Figuren-Ensemble im Mittelpunkt. 
Simmons hält sich nicht lange damit auf, dem Leser die Welten nach dem Fall näherzubringen. Erst im Verlauf der Mission werden die Funktionen unzähliger Fortbewegungsmittel, Waffen und Welten sowie die machtvolle Verbindung von Kirche und Militär erläutert. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, eine Reise durch faszinierende Welten, die Simmons mit „Endymion. Pforten der Zeit“ präsentiert. Zwar zittert man als Leser mit dem Helden und seiner kostbaren Fracht mit, aber Pater Captain de Soya wird ebenso mit sehr menschlichen und nachvollziehbaren Zügen und Motiven versehen, so dass nach einiger Zeit das Ritual der Auferstehung gar nicht mehr so erstrebenswert wirkt. 
Das Epos gewinnt seine Faszination und Spannung aber nicht nur durch die spektakulären Reisen und die wunderbar beschriebenen exotischen Welten jenseits der Alten Erde, sondern durch interessante philosophische/religiöse Fragen wie dem Sinn des Lebens, Tod und Wiedergeburt. Raul Endymion schildert seine Reise als Ich-Erzähler in der Vergangenheitsform, Pater Captain de Soyas Perspektive kommt in der Gegenwart zum Ausdruck, doch beide Erzählstränge wirken sehr stringent ohne Nebenschauplätze. 
Geschickt webt Simmons in die Handlung immer wieder Auszüge aus der „Cantos“ ebenso mit ein wie Verweise auf die großen Denker und Künstler der Renaissance und die rigorose Macht, die die Kirche auf die Menschen auszuüben pflegt. Allerdings nimmt der Verfolgungscharakter des Space-Opera-Road-Trips den Großteil der Handlung ein. Die Diskussionen und Gedanken zu religiösen Glaubenssystemen, zu Christentum, Judentum und Muslimen, nehmen erst zum Ende hin zu, das noch einige spannende Wendungen aufzubieten hat, aber eben noch das Potential für die Fortsetzung „Endymion. Die Auferstehung“ offenbart.


John Niven – „Die F*ck-It-Liste“

Dienstag, 13. Oktober 2020

(Heyne Hardcore, 320 S., HC) 
Amerika im Jahr 2026 ist fest in der Hand des Trump-Clans. Donald Trump hat zwei Amtsperioden durchregiert und durch einen geschickten Kniff seine Tochter Ivanka erst als Vizepräsidentin installiert und anschließend dafür gesorgt, dass seine Anhänger auch sie zur Präsidentin machen. Die USA haben mittlerweile die Ölreserven im Iran geplündert und Nordkorea in einer postnukleare Wüstenlandschaft verwandelt. Der NRA-Vorsitzende Beckerman hatte als Trumps neuer Mann für Waffenfragen ein Gesetz durchgebracht, das das offene Tragen von Schusswaffen überall in den USA erlaubt. 
Frank Brill, der sechzigjährige ehemaliger Chefredakteur der „Schilling Gazette“ in der 32.000-Einwohner-Stadt Schilling, Indiana, bekommt die fatale Diagnose, mit seinem Darmkrebs im Endstadium nur noch wenige Monate leben zu dürfen. Etwaige Möglichkeiten zur Behandlung interessieren ihn nicht, da es auch keine Verwandten gibt, die etwas von seinem leicht verlängerten Leben etwas haben könnten. Dafür hat Frank aber eine F*ck-It-Liste mit fünf Namen erstellt, die er persönlich auslöschen will, da sie für schmachvolle Erfahrungen in seinem Leben verantwortlich gewesen sind. Dazu zählt nicht nur der tragische Tod seines Highschool-Freundes Robbie, der sich im Alter von 28 Jahren umgebracht hatte, nachdem er von seinem Coach Hauser missbraucht worden war, sondern auch die Tatsache, dass seine Tochter an den Folgen einer illegalen Abtreibung gestorben war und seine erste Frau Grace, nachdem Frank sie mit Cheryl betrogen hatte, an einen Zahnarzt geraten war, der sie um all ihr Hab und Gut brachte. Es ist in diesen Zeiten überhaupt nicht schwierig, an Waffen zu kommen. 
Franks dritte Frau Pippa und ihr gemeinsamer Sohn Adam sind 2017 bei einem Amoklauf an der Grundschule in Schilling ums Leben gekommen. Es gibt für Frank also einige Rechnungen zu begleichen. Er fängt bei den ganz persönlichen Feinden an und wendet sich schließlich auch schwieriger zu erledigenden politischen Verantwortlichen zu … 
„Ihm war übel von dieser endlosen Gülleflut, die er sich zeit seines Lebens auf amerikanischen Golfplätzen anhören musste. Von all dem Dreck, den er dort selbst zum Besten gegeben hatte. America first … beschissene UNO … schaut euch doch an, was Putin für sein Land getan hat, die wischten sich die Ärsche mit der nackten Hand ab … verdammte Demokraten … ein bisschen globale Erwärmung tut uns ganz gut … was diese Menschen wollen, ist ein Holocaust am ungeborenen Leben.“ (S. 224) 
Der schottische Autor John Niven hat sich mit Romanen wie „Gott bewahre“, „Coma“, „Kill 'em all“ und „Alte Freunde“ in den Olymp der zeitgenössischen Literatur geschrieben. Mit seinem angriffslustigen Ton wendet er sich in seinem neuen Roman „Die F*ck-It-Liste“ einem erschreckend aktuellen und zunehmend globaleren Problem zu, nämlich der Art und Weise, wie Donald Trump als Präsident der mächtigsten Nation der Welt die Demokratie systematisch zersetzt. Um das zu veranschaulichen, hat Niven das Geschehen seines Romans in die nahe Zukunft verlegt, um eine gar nicht so unrealistische Vision davon zu entwickeln, wie sich Trumps Gebaren vor allem auf das gesellschaftliche Leben in den USA auswirkt. Das bedeutet konkret den Ausbau der „Mauer“, die Abschaffung der Pressefreiheit, weitreichende Kompetenzen bei der Verfolgung illegaler Einwanderer, rigorose Strafen bei illegalen Abtreibungen und die Erlaubnis, auch schwere Waffen besitzen zu dürfen. Da Amokläufe und Massaker nahezu an der Tagesordnung sind, fallen Franks Morde kaum ins Gewicht. Niven verknüpft eine sehr persönliche Rachemission à la „Kill Bill“ mit einer düsteren Zukunftsvision, die viel zu schnell bittere Realität werden könnte. Was die Story dabei so interessant macht, dass Nivens Protagonist – obgleich er es als langjähriger Zeitungsjournalist hätte besser wissen müssen – selbst Trump gewählt hat, aber aus dem Denkzettel, den er – wie viele Millionen anderer US-Bürger auch – der etablierten Politiker-Klasse verpassen wollte, ist ein zunehmend außer Kontrolle geratener Boomerang geworden. Doch im Gegensatz zu Frank Brill haben die meisten seiner Mitmenschen ihren fatalen Irrtum nicht eingesehen, und nun steuert das Land auf eine Art Polizeistaat zu, der immer mehr persönliche Rechte beschneidet. 
Es wäre zu wünschen, dass „Die F*ck-It-Liste“ zur Standard-Lektüre an US-amerikanischen Schulen wird, doch mag man angesichts der aktuellen Entwicklungen und der nach wie vor ungebrochen großen Unterstützung, die Trumps Politik bei seinen Anhängern erfährt, auch als Optimist nicht mehr so recht an eine Rückbesinnung zu den uramerikanischen Werten von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit glauben. „Die F*ck-It-Liste“ ist fraglos Nivens kompromisslosestes Werk, an dessen satirischem Ton man sich als Leser fast verschluckt, so beängstigend real wirken die hier aufgezeigten Szenarien. 

Owen Nicholls – „Dies ist kein Liebesfilm“

Samstag, 10. Oktober 2020

(Atlantik, 367 S., Pb.) 
London am 4. November 2008. In dieser Nacht wird der neue US-amerikanische Präsident gewählt. Der libertäre Tom veranstaltet in seiner Wohnung eine Wahlparty und hofft, dass der Republikaner John McCain gegen Barack Hussein Obama gewinnt, während seine gut dreißig, Mitte zwanzigjährigen Gäste nicht libertär sind. Doch Tom, der Konfrontationen liebt und vor allem über ein großes Haus, gutes Gras und ein enzyklopädisches Wissen über das asiatische Kino verfügt, hat auch Ellie eingeladen, in die sich der Filmvorführer Nick auf den ersten Blick verliebt. Doch Nick ist sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten allzu bewusst, als dass er auf eine dauerhaft funktionierende Beziehung mit dieser selbstsicheren, hübschen, lustigen und coolen Frau hofft, mit der er sich auch noch vortrefflich über Filme unterhalten kann. 
Wider Erwarten lässt sich die talentierte Fotografin auf eine Beziehung mit Nick ein, zieht mit ihm sogar in eine gemeinsame Wohnung. Doch nach vier Jahren ist der Zauber vorbei. Als Barack Obama wiedergewählt wird, steht Nick vor dem Trümmerhaufen seines Lebens. Ellie hat ihn verlassen, weil er keine andere Träume hat, außer als Filmvorführer zu arbeiten, statt seine Karriere als Drehbuchautor zu starten, während sie selbst nach New York geht, um für Associated Press zu arbeiten. Die Tatsache, dass sein Kino auf digitale Projektionen umrüstet und Nick damit arbeitslos wird, dass seine Eltern ihr Haus verkaufen, um nach Neuseeland auszuwandern, und dass seine Schwester Gabby schwanger ist, lässt Nick vor allem verzweifeln und immer wieder an Ellie denken … 
„Ich bin genauso an der Trennung beteiligt wie sie, und mir das einzugestehen ist in etwa so, als würde ich bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker aufstehen. Was ich immer noch nicht weiß, ist, warum. Ich habe den Verdächtigen. Mich. Den Ort. Ein Wohnung in Clapham. Ich muss nur noch die Mordwaffe finden. Auf der Liste stehen noch immer vier Gründe, und alle sind stichhaltig. Ich denke darüber nach, was in den letzten Monaten passiert ist. Es gibt sicher Faktoren, die ich verdränge. Ob ich für diese Faktoren verantwortlich bin oder nicht, vermag ich noch nicht zu sagen, Ich bin noch nicht bereit für die Wahrheit. Doch die Wahrheit ist irgendwo da draußen.“ (S. 175) 
Dass Owen Nicholls eine große Affinität zum Kino hat, wird auf fast jeder Seite seines Debütromans „Dies ist kein Liebesfilm“ deutlich. Das fängt damit an, dass sich sein Ich-Erzähler in Ellie verliebt hat, nachdem sie auf „Cinema Paradiso“ verweist, als er ihr seine berufliche Tätigkeit offenbart, führt zu mehreren Erwähnungen, wie schlecht „Star Wars – Die dunkle Bedrohung“ im Vergleich zu den früheren „Star Wars“-Filmen von George Lucas sein, oder dass es schon mit dem Teufel zugehen müsse, wenn auf „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ nicht noch „Vier Todesfälle und eine Hochzeit“ folgt. 
Filmfreunde werden bei „Dies ist kein Liebesfilm“ auf jeden Fall auf ihre Kosten kommen. Interessant ist auch der Ansatz, den Anfang und das Ende der Beziehung zwischen Nick und Ellie mit der Wahl und Wiederwahl von Barack Obama als Präsiden der USA zu verknüpfen. Zwischen diesen beiden Eckdaten hin- und herspringend erzählt Nicholls wechselnd zwischen dem Kennenlernen, dem Alltag und der Entfremdung in dieser Beziehung, wobei auch die Trennung von Ellies Eltern nach dreißig Jahren Ehe thematisiert wird. Doch trotz der an sich geschickt aufgebauten Dramaturgie und der meist flüssigen, witzigen Dialoge entwickelt „Dies ist kein Liebesfilm“ keine so starke Sogwirkung wie die Bestseller seiner britischen Kollegen Nick Hornby („High Fidelity“, „Juliet, Naked“) oder David Nicholls („Ewig Zweiter“, „Zwei an einem Tag“). Durch die „Unterbrechungen“, in denen auch Ellies Perspektive thematisiert wird, und die wechselnden Zeitebenen werden zwar immer wieder einzelne Aspekte der gescheiterten Beziehung aufgearbeitet, aber eine besondere Tiefe in der Plotentwicklung entsteht dadurch nicht. Letztlich werden einfach Motive offenbart, an denen jede Beziehung kranken und zerbrechen könnte. Für diese Erkenntnis hätte es nicht einen zwar witzig geschriebenen und mit schönen Verweisen aus der Popkultur versehenen, aber nicht besonders fesselnden Roman gebraucht.


James Patterson – (Women's Murder Club: 16) „Der 16. Betrug“

Sonntag, 4. Oktober 2020

(Limes, 396 S., Pb.) 
Lindsey Boxer, Sergeant beim San Francisco Police Department, und ihr Partner Rich Conklin, sind gerade in eine Sonderkommission zur Terrorismusbekämpfung berufen worden und haben gerade verhindern können, dass der von ihnen beschattete mutmaßliche Terrorist J. mit seiner Sprengweste größeren Schaden anrichten konnte als sich während der Verfolgungsjagd selbst in Luft zu jagen. Doch die Freude über den Erfolg gegen die international agierende Terrorgruppe GAR (Great Antiestablishment Reset) hält nicht lange an. Einen Monat später feiert Boxer mit Joe Molinari, von dem sie seit sechs Monaten getrennt lebt, in einem Fischrestaurant am Pier 9 ihren Hochzeitstag, wo die beiden Zeugen werden, wie das naturwissenschaftliche Museum Sci-Tron am gegenüberliegenden Pier 15 nach einer Explosion zusammenstürzt. 
Als Boxer und ihr Mann am Tatort eintreffen, werden sie auf einen Mann aufmerksam, der das Spektakel mit vor Entzücken geweiteten Augen beobachtet, und stellen ihn zur Rede. Er stellt sich als Connor Grant vor und gibt zu, das Sci-Tron in die Luft gesprengt zu haben, woraufhin ihn Boxer festnimmt und Joe beim Versuch, eine eingeklemmte Frau aus den Trümmern zu retten, selbst schwer verletzt wird. Doch die Gerichtsverhandlung entwickelt sich zum Alptraum für die Strafverfolgungsbehörden. Yuki Castellano, die vor einem Jahr nach einer Nahtoderfahrung einen Job beim Prozesshilfeverein angenommen hatte, kehrt zu ihrem alten Vorgesetzten, Freund und Mentor in die Bezirksstaatsanwaltschaft zurück, um Grant, der 25 Tote und 45 teilweise schwer Verletzte zu verantworten hat, den Prozess zu machen. Der Naturwissenschaftslehrer Grant feuert jedoch nicht nur seine Anwältin, sondern erweist sich als Anwalt in eigener Sache als so geschickt, dass ihn die Geschworenen nicht zweifelsfrei verurteilen können. Zusammen mit ihren Freundinnen, zu denen neben Yuki auch die Gerichtsmedizinerin Claire Washburn und die Reporterin Cindy Thomas zählen, versucht Boxer herauszufinden, was Grant für ein perfides Spiel treibt … 
„Hatten wir nach etwas gesucht, was gar nicht existiert? War Connor Grant vielleicht doch genau der, der er zu sein behauptete – ein Highschool-Lehrer mit einem großen und weiten Geist? Und wenn ja, warum wurde ich dann dieses Gefühl nicht los, dass er uns alle an der Nase herumgeführt hatte und mit einem Massenmord davongekommen war? War Grant ein Geheimnis, das nie aufgedeckt werden würde?“ (S. 366) 
Neben seiner extrem erfolgreichen Thriller-Serie um den Polizeipsychologen Alex Cross, in der seit 1993 mittlerweile insgesamt 28 Romane erschienen sind, von der die ersten beiden mit Morgan Freeman („Im Netz der Spinne“, „… denn zum Küssen sind sie da“) und der zwölfte mit Tyler Perry („Alex Cross“) verfilmt wurden, hat sich die 2001 begründete Reihe um den „Club der Ermittlerinnen“ längst zum zweiten Bestseller-Standbein von James Patterson gemausert. Zwar hat der Titel des 16. Abenteuers – „Der 16. Betrug“ – mal wieder überhaupt keinen Bezug zum Romangeschehen, doch präsentiert Patterson gewohnt leicht geschriebene, flotte Thriller-Unterhaltung. Dabei kann er sich einmal mehr auf die bewährte Zusammenarbeit mit Maxine Paetro verlassen, die mit dem bestverkaufenden Thriller-Autor nicht nur seit dem vierten Roman bei „Woman’s Murder Club“ die groben Handlungsskizzen des Thriller-Stars fertigstellt, sondern auch bei Pattersons weniger bekannten Reihen involviert ist. 
Einmal mehr verweist schon die imponierende Kapitelanzahl von 97 darauf, dass das Publikum vor allem handlungsintensive Spannung vorgesetzt bekommt, bei der Figuren, Schauplätze und Entwicklungen so schnell wechseln, dass kaum Zeit zum Luftholen, aber leider auch kein Raum für eine tiefergehende Figurenzeichnung bleibt. 
Die zweite Handlungsebene um den sogenannten „lautlosen Killer“, der seinen Opfern ein nicht nachweisbares Mittel spritzt, dass die Muskeln und damit die Atmung lähmt, trägt nur dazu bei, die Action auf einem konstant hohen Niveau zu halten,  aber nicht zur Qualität des Plots. Stattdessen hätten sich Patterson und seine Co-Autorin ausführlicher mit der Geschichte von Lindsays Annäherung an ihren Mann beschäftigen sollen, den sie verlassen hat, nachdem er ihr seine Spionage-Tätigkeit für die CIA verschwiegen hatte und eines Tages spurlos verschwand, wobei offensichtlich auch eine Frau beteiligt gewesen ist. Und auch die gemeinsame Ermittlungsarbeit von Lindsay, Yuki, Cindy und Claire kommt viel zu kurz. Patterson-Fans bekommen davon abgesehen aber gewohnt packende Thriller-Unterhaltung mit terroristischem Hintergrund geboten, wobei die Auflösung sowohl des Nebenplots als auch der Geschichte um den Verdächtigen Connor Grant sehr hastig ausfällt. 

Jason Starr – „Twisted City“

Freitag, 2. Oktober 2020

(Diogenes, 332 S., HC) 
David Miller hatte schon bessere Zeiten hinter sich. Der Wirtschaftsjournalist war einst beim renommierten „Wall Street Journal“ angestellt, nun ärgert er sich beim zweitklassigen „Manhattan Business“ nicht nur mit der Hälfte seines vorherigen Gehalts herum, sondern vor allem mit dem fünf Jahre jüngeren stellvertretenden Chefredakteur Peter Lyons herum, der mit seinem pseudobritischen Schreibstil auch Davids Kollegen auf den Zeiger geht. Nachdem seine geliebte Schwester Barbara an Krebs gestorben war, mit der er eine nahezu unzertrennliche Beziehung gepflegt hatte, ließ er sich auf eine Beziehung mit der attraktiven Rebecca ein, die sofort bei ihm einzog, ihren Halbtagsjob in einer Kaffeebar aber verlor und sich ihr vergnügungssüchtiges Leben mit Party-Drogen und Club-Besuchen fortan mit Davids Kreditkarten finanziert. Als dann noch in einer Bar seine Brieftasche geklaut wird, zieht ihn die Pech-Spirale unnachgiebig in den Abgrund. 
David hat gerade all seine Konten sperren lassen, da erhält er einen Anruf von Sue, die ihm mitteilt, seine Brieftasche in einem Bus gefunden zu haben. Als er sie bei ihr zuhause abholen will, steht er einer dürren Drogensüchtigen gegenüber, die natürlich eine saftige Belohnung für ihre gute Tat verlangt. Dabei bekommt sie tatkräftige Unterstützung von ihrem Freund Ricky, den David an der Stimme aus der Bar wiedererkennt, in der ihm seine Brieftasche abhandengekommen ist. Bei einem Handgemenge bringt David seinem Kontrahenten versehentlich um. Während er mit Sue überlegt, wie sie die Leiche aus der Wohnung bekommen, ohne dass es jemand mitbekommt, versucht David daheim, die Beziehung zu Rebecca zu beenden, die zwar immer fuchsteufelswild reagiert, ihn aber mit ihren Verführungskünsten und Qualitäten im Bett zunächst noch besänftigen kann. Doch schließlich macht er ernst, wirft ihre Klamotten auf die Straße und gibt ihr Zeit, bis zum Abend aus der Wohnung zu verschwinden. Als er jedoch wieder nach Hause kommt, entdeckt er Rebeccas Leiche in der Badewanne. 
Was für David ein zwar tragischer, aber normaler Selbstmord sein mag, stellt sich für die Polizei bald anders dar, da auch Sue – die eigentlich Charlotte heißt – tot aufgefunden wird und Detective Romero durch die eingesetzte Waffe Zusammenhänge zwischen beiden Todesfällen herzustellen beginnt … 
„Ich setzte mich auf einen Platz vorn am Tresen und bestellte ein Budweiser. Das Bier kam, doch als sich meine Hand um die Flasche schmiegte, erinnerte ich mich, wie ich die Hände um Rebeccas Hals gelegt hatte. Mit einem kräftigen Schluck wollte ich das Bild aus meinen Gedanken vertreiben, sah dann aber, wie ich Ricky im Schwitzkasten hielt und seinen Schädel gegen die Stahltür rammte. Ich sagte mir, dass es nicht meine Schuld gewesen war, dass ich beide Male nur in Notwehr gehandelt hatte, doch wusste ich selbst nicht so genau, ob ich mir glauben sollte.“ (S. 226) 
Jason Starr hat bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Tob Job“, „Die letzte Wette“, „Ein wirklich netter Typ“, „Hard Feelings“ und „Dumm gelaufen“ als leicht zu lesender Krimi-Autor erwiesen, der genüsslich den Niedergang seiner Mittelschichts-Protagonisten beschreibt. Auch in dem 2004 veröffentlichten „Twisted City“ gerät sein Ich-Erzähler von einer Krise in die nächste, wobei der Tod seiner geliebten Schwester der Ausgangspunkt zu sein scheint, denn die Erinnerungen an die schöne gemeinsame Zeit spenden dem Wirtschaftsjournalisten noch immer Trost und verleiten ihn sogar zu Gesprächen mit ihrem „Geist“. 
Allerdings gerät sein Leben durch einige richtig miese Entscheidungen aus den Fugen. Dass sich David auf die Erpressung einlässt, um seine Brieftasche, vor allem das darin befindliche Portraitfoto von Barbara zurückzubekommen, setzt eine irrwitzige Spirale weiterer, nicht immer glaubwürdige Katastrophen in Gang, zu der auch die schwierige Beziehung zu seinem Party-Feger Rebecca zählt. Dabei gibt es zwischendurch sogar immer wieder Lichtblicke wie die Beförderung zum stellvertretenden Chefredakteur und die Bekanntschaft zu seiner wirklich netten und hübschen Arbeitskollegin Angie. Allerdings bekommt David nicht den Dreh raus, diese guten Entwicklungen für sich zu nutzen. 
So unterhaltsam und flott „Twisted City“ geschrieben ist, wiederholt Starr letztlich nur ein weiteres Mal sein so allmählich ausgelutschtes Erfolgskonzept, so dass der Krimi keine wirklichen Überraschungen bereithält und zum Schluss sogar mit einer wirklich kruden Pointe enttäuscht.




Alexander Kühne – „Kummer im Westen“

Donnerstag, 1. Oktober 2020

(Heyne Hardcore, 350 S., Pb.) 
Anton Kummers Traum, am Rande des Spreewaldes in seinem Heimatdorf Düsterbusch einen Szene-Club nach Vorbild westlicher Metropolen zu etablieren, endete im Krankenhaus. Am 11. November 1989, zwei Tage nach dem Fall der Mauer, hat Kummer das Berliner Krankenhaus mit einer krassen Narbe auf dem deformierten Schädel verlassen und sucht seine alte Freundin Rita in der Lychener Straße auf. Doch statt der superheißen Braut in Stilettos, Netzstrumpfhosen und mit schwarzen Pflasterstreifen auf den Brustwarzen, die Kummer in Erinnerung hat, erwartet ihn ein weiblicher Yeti mit verfilzten Haaren und in viel zu großen Cargohosen. 
Als Kummer am nächsten Morgen im Westen Berlins in der Schlange vor der Sparkasse steht, um sein Begrüßungsgeld zu empfangen, lernt er die hübsche Halbrussin Irina aus Kirchhausen kennen, die sogar einmal in seinem Club „Helden des Fortschritts“ gewesen ist. Davon abgesehen fällt der erste Besuch im Westen ernüchternd aus. Zwar ersteht Kummer wie erhofft einige schöne Platten, aber zwölf Mark für einen Southern Comfort in dem Club, in dem er Nirvana live erleben darf, drücken schon etwas aufs Gemüt. Irina verliert er zunächst aus den Augen, doch schließlich kommt Kummer zum Zug, steht aber nach seiner Kündigung durch VEB Kulturwaren vor der Herausforderung, seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, zumal unklar ist, ob seine kränkelnde Mutter ihre Rente bekommt und sein Vater nach der Auflösung der Firma, die Scheibenwischer für Wartburgs hergestellt hat, mit einem Wessi die Firma neu aufstellen kann oder in Frührente geht. 
Während Kummers alte Weggefährten den Club wieder mit Ossi-Charme wiederbeleben wollen, zieht er selbst das scheinbar große Los und wird Plattenvertreter für das in Minden ansässige Label Rock-Juwelen, dessen minderwertige Bootlegs auf farbigem Vinyl Kummer im Osten vertreiben soll. Das Interesse ist überraschend groß. Die Bestellungen in höheren Tausenderbereichen veranlassen Kummer zu ungeahnten Höhenflügen. Zwar ist seine Fahrerlaubnis noch für etliche Monate weg, trotzdem kauft er sich für 8000 Mark ein BMW-Cabrio. Doch der zunächst so traumhafte Job erweist sich schnell als Katastrophe, und auch die Beziehung zu Irina gerät in starke Schieflage. Kummer sehnt sich in seine Heimat zurück … 
„Eine heile Welt lag vor uns, mit Tchibo, Karstadt und Kochlöffel. Aber war diese Welt aus der Ferne, von einer Mauer getrennt, nicht viel interessanter gewesen? Ich spürte kurz eine gewisse Fremdheit gegenüber dieser Perfektion und hatte Sehnsucht nach dem, was ich kannte, obwohl ich die Zone eigentlich hasste wie die Pest. Ich verzehrte mich nach Baggerseen und den Liedern von Veronika Fischer, nach verkommenen Hausecken und wilden Müllkippen, nach Stille und dem DDR-Gefühl der Siebziger, irgendwie in Watte gepackt zu sein.“ (S. 168) 
Der in Meißen geborene und in Brandenburg aufgewachsene Fernsehjournalist Alexander Kühne hat mit seinem Debütroman „Düsterbusch City Lights“ (2016) wunderbar authentisch die Träume seines Protagonisten Anton Kummer beschrieben, innerhalb des politischen Systems der DDR einen Hauch von West-Feeling und Freiheit in der Dorfkneipe zu erzeugen, doch endete diese Utopie mit mehr als nur Kopfschmerzen. Sein Fortsetzungsroman „Kummer im Westen“ setzt kurz nach der Wiedervereinigung ein und beschreibt die (oft schnell begrabenen) Hoffnungen und Träume der ehemaligen DDR-Bürger, all die Privilegien genießen zu können, von denen die Menschen in der Ostzone immer geträumt haben. Doch mit dem Fall der Mauer kommt vor allem Unsicherheit ins Spiel. Am Schicksal seiner Eltern erlebt Kummer hautnah, dass die Menschen massenhaft von Arbeitslosigkeit bedroht sind, nachdem die Ost-Betriebe mangels Bedarf die Produktion einstellen mussten. Kühne beschreibt die Atmosphäre der deutschen Wiedervereinigung gekonnt als eine Konfrontation von ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen. Kummer muss schnell einsehen, dass im Westen längst nicht alles Gold ist, was glänzt, begegnet Vorurteilen und Herablassung, muss schließlich auch seinen Traum von Vertreter für Rock-Musikplatten begraben. 
„Kummer im Westen“ gefällt neben der wunderbar beobachteten und dargestellten Atmosphäre von Erwartung und Enttäuschung im Zuge des Mauerfalls vor allem durch die vielschichtigen, glaubwürdig gezeichneten Figuren und den komplizierten Beziehungen zwischen ihnen, wobei Humor und Tragik, Freude und Trauer entspannt die Waage halten. Der rührende Schluss lässt hoffen, dass Kühne uns weiterhin mit Anton Kummers turbulenten Überlebensstrategien im Spannungsfeld zwischen Ost und West unterhält. 

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 6) „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“

Montag, 28. September 2020

(btb, 414 S., HC) 
Der Ideenhistoriker Albin Runge lebte zur Jahrtausendwende mit seiner Frau Viveka in Uppsala, wo sie beide an der Universität arbeiteten. Während die Theologin jedoch promovierte und einen halbwegs sicheren Job hatte, wurde Runge nie recht fertig. Als ihm und seinem Kollegen schließlich die Forschungsmittel am Institut gestrichen wurden, nahm er schließlich das Angebot von seinem Schwager Tommy an, in seinem Busunternehmen zu arbeiten. Runge ließ sich von Vivekas älteren Bruder die Ausbildung zum Busfahrer finanzieren und fand überraschenderweise Spaß daran, kunstinteressierte Rentner nach Skagen in Dänemark zu fahren und Orte wie Krakau, Madrid und Sankt Petersburg kennenzulernen, die er sonst nie besucht hätte. 
Doch im März des Jahres 2007 kommt es zur Katastrophe. Als Runge eine Gruppe von Neuntklässlern aus Stockholm zu einer Skifreizeit nach Duved fährt, versucht er einem Tier auf der Straße auszuweichen, gerät dabei auf der vereisten Fahrbahn in den Gegenverkehr und stürzt mit dem Bus zwanzig Meter einen Hang hinunter. Ungefähr die Hälfte der Fahrgäste kommt bei diesem Unfall ums Leben. Runge wird zwar wegen Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Tötung angeklagt, aber in allen Punkten freigesprochen. Die Ehe mit Viveka zerbricht, aber zwei Jahre später erbt Runge vierzig Millionen Kronen von seinen Eltern und lernt in der Bank die attraktive Angestellte Karin Sylwander kennen. Der unscheinbare Runge lädt die jüngere Frau zum Abendessen ein und heiratet sie wenig später. Fünfeinhalb Jahre nach dem tragischen Unglück erhält Runge mysteriöse Briefe, die er als Drohungen versteht und mit „Nemesis“ unterschrieben sind. Als sich die Drohungen auf den Jahrestag des Unglücks zuspitzen, weiht er die beiden Kommissare Eva Backman und Gunnar Barbarotti ein, die sich bereits seit fünfundzwanzig Jahren kennen, aber erst vor kurzem auch ein (heimliches) Liebespaar geworden sind. Viel kann die Polizei nicht unternehmen, ordnet jedoch eine Bewachung an, der sich Runge und seine Frau aber entziehen. Schließlich verschwindet Runge während der gemeinsamen Flucht auf der Fähre spurlos und wird schließlich für tot erklärt … 
Sechs Jahre später erschießt Eva Backman bei einem Einsatz einen siebzehnjährigen Jungen, bevor dieser eine Bombe unter ein Auto mit einem knutschenden Pärchen werfen konnte. Um der Unruhe wegen der internen Ermittlungen zu entgehen, nehmen sich Backman und Barbarotti eine Auszeit und ziehen sich in die Abgeschiedenheit Gotlands zurück. Als Barbarotti Albin Runge wiederzusehen glaubt, erwachen seine kriminalistischen Instinkte und rollt zusammen mit seiner Kollegin und Lebensgefährtin den ungelösten Fall wieder auf … 
„Was störte ihn am meisten, wenn es um diesen verfluchten Runge ging? Das heißt, abgesehen davon, dass er vielleicht lebte. Sicher, Barbarotti gönnte es ihm, dass er dem Tod entronnen war, aber wie in aller Welt war das nur möglich? Was war passiert? Welches Szenario hatten sie so vollständig übersehen, als sie vor fünf … nein, fünfeinhalb Jahren in dem Fall ermittelten? Rein polizeilich war er doch gelöst und zu den Akten gelegt worden. Dennoch blieb die Frage, was damals eigentlich passiert war.“ (S. 225) 
Mit seinem sechsten Fall um den etwas über fünfzigjährigen Kommissar Gunnar Barbarotti präsentiert der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser wieder einmal einen äußerst kniffligen Fall, in dessen Zentrum zwar die Frage steht, was aus dem 2013 verschwundenen Albin Runge letztlich geworden ist, der aber auch die Natur menschlicher Beziehungen thematisiert. Auf der einen Seite beschreibt Nesser, wie sich innerhalb der fünfeinhalb Jahre zwischen dem Verschwinden und dem vermeintlichen Wiederauftauchen von Albin Runge die Beziehung zwischen Barbarotti und der einige Jahre jüngeren Eva Backman von einer rein kollegialen zu einer Liebesbeziehung entwickelte, vor allem wird aber die weitaus komplexere Ehe von Albin Runge und Karin Sylwander seziert. 
Indem der Autor zwischen den Jahren und den Protagonisten hin- und herspringt, hält er geschickt die Spannung hoch. Albin Runge lässt er dabei vor allem durch seine eigenen Notizbuch-Eintragungen selbst charakterisieren, wobei die darin zum Ausdruck kommende Unscheinbarkeit und Lebensmüdigkeit durch die erste Begegnung mit Eva Backman noch verstärkt wird. Wie Backman und Barbarotti während ihrer Auszeit in Gotland schließlich den Fall wieder aufrollen, ist vor allem durch Barbarottis zwischenzeitlichen philosophischen Betrachtungen und dem damit korrespondierenden leichten Humor seiner Lebensgefährtin besonders lesenswert, aber auch die Art und Weise, wie die Geheimnisse in Runges Vergangenheit nach und nach gelüftet werden, sorgen dafür, dass die Leser bis zum Finale glänzend unterhalten werden. 

John Irving – „Das Hotel New Hampshire“

Samstag, 26. September 2020

(Diogenes, 600 S., Tb.) 
Um die Studiengebühren für seinen Aufenthalt in Harvard zu finanzieren, nimmt Win Berry im Sommer einen Aushilfsjob in dem Hotel Arbuthnot-by-the-Sea an, wo er neben seiner späteren Frau Mary auch den jüdischen Schausteller Freud und dessen Motorrad fahrenden Bären Earl kennenlernt. Für 200 Dollar und seine besten Kleider kauft Win dem Schausteller sowohl das Gefährt als auch den leidlich dressierten Bären ab und beginnt, seine Leidenschaft für Hotels auszuleben. Anfangs zieht er mit seiner rasch anwachsenden Familie mit den Kindern Frank, Frannie, John, Lilly und Egg noch von Hotel zu Hotel, dann funktionieren sie in Dairy, Maine, eine ehemalige Mädchenschule zu einem Hotel um. Zwar erweisen sich die Räumlichkeiten und deren Ausstattung als denkbar ungeeignet für den Hotelbetrieb, aber von solchen Widrigkeiten lassen sich die Berrys nicht abschrecken, auch wenn das erste Hotel New Hampshire alles andere als Gewinn abwirft. 
So nimmt Win gern das Angebot von Freud an, ihm bei seinem Hotel in Wien als Manager unter die Arme zu greifen. Allerdings nehmen Mary und Egg einen anderen Flug und stürzen ab. In Wien müssen die anderen Berrys mit dem Umstand fertig werden, dass das Hotel, in das das Familienoberhaupt schon viel Geld für den Umbau investiert hat, vor allem einerseits von Prostituierten wie Kreisch-Annie, die Alte Billig und die Dunkle Inge bewohnt wird, andererseits von sogenannten „Radikalen“, deren politische Absichten allerdings nicht näher definiert werden. Freud ist nicht nur sichtlich gealtert, sondern auch erblindet, Hilfe bekommt er vor allem von einem sprechenden Bären, der sich als Susie entpuppt, die sich als so hässlich empfindet, dass sie ihr Leben nur in einem Bärenkostüm erträgt. Doch als die Berrys auf beherzte Weise einen verheerenden Bombenanschlag der Radikalen auf die nahe gelegene Oper verhindern, werden sie so prominent, dass ihnen auf einmal alle Türen offenstehen. 
Der homosexuelle Frank, der sich während seiner Zeit in Wien für die Volkswirtschaftslehre erwärmt hat, handelt einen lukrativen Vertrag für die stets klein gebliebene Lilly und ihren autobiographischen Debütroman „Wachstumsversuche“ aus, so dass Familie Berry wieder in die USA zurückkehren kann. Dank Lillys Einkommen kann es sich die Familie leisten, im New Yorker Stanhope Hotel zu wohnen, wo die Kinder endlich damit beginnen, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die in Maine von ihrem Schwarm Chipper Dove und seinen beiden Kumpels bei einem Bandenstich vergewaltigte Frannie sieht endlich eine Möglichkeit, sich an ihrem Peiniger zu rächen. John, der schon seit der Kindheit ein besonders inniges, mehr als nur geschwisterliches Verhältnis zu Frannie gepflegt hat, bekommt endlich die Gelegenheit, auf ungewöhnliche Weise über seine Schwester hinwegzukommen. Nur Lilly droht an ihrem eigenen literarischen Anspruch zu scheitern … 
„… wir waren es natürlich alle gewohnt, mit Phantasien zu leben. Vater ging ganz darin auf: seine Phantasie war sein eigenes Hotel. Freud konnte nur dort sehen. Franny, in der Gegenwart ganz gefasst, blickte ebenfalls in die Zukunft – und ich blickte immer vor allem auf Franny (und erhoffte mir Signale, wichtige Zeichen, Anweisungen). Von uns allen gelang es Frank wohl am besten, seine Phantasie umzusetzen; er erdachte sich seine eigene Welt und blieb dort für sich.“ (S. 391f.) 
Drei Jahre nach seinem internationalen Bestseller „Garp und wie er die Welt sah“ veröffentlichte John Irving 1981 mit „Das Hotel New Hampshire“ eine irrwitzige Familienchronik, in der sich Humor und Tragik stets die Waage halten. Genüsslich portraitiert Irving eine Familie, deren durch und durch skurrile Mitglieder zunächst von dem Traum ihres Oberhauptes Win durch ein abenteuerliches Leben geführt werden. Win Berrys Traum von einem eigenen Hotel führt die Familie vom unscheinbaren Dairy in Maine nach Wien und zurück in die USA, zunächst in die Metropole New York und abschließend nach Arbuthnot-by-the-Sea, wo sich der Kreis schließt und eine ereignisreiche Reise ihren versöhnlichen Abschluss findet. Auch wenn es Irving mit dem Inzest-Marathon in New York vor allem die US-amerikanischen Sittenwächter erzürnte, ist ihm mit „Das Hotel New Hampshire“ ein durchweg amüsantes Panoptikum kurioser Charaktere gelungen, unter denen die beiden Bären Earl und Susie noch am harmlosesten erscheinen. 
Irving erweist sich als Meister darin, jede seiner Hauptfiguren mit so vielen sympathischen Eigenschaften zu versehen, dass man als Leser nie das Gefühl bekommt, er würde sich über sie lustig machen. Stattdessen folgt er ihnen auf sehr unbeständigen Wegen zu ihrem jeweils eigenen Glück oder zumindest ihrer wesentlichen Bestimmung.


Bas Kast – „Das Buch eines Sommers“

Mittwoch, 23. September 2020

(Diogenes, 240 S., HC) 
Nicolas Weynbach hatte gerade sein Abitur in der Tasche, als er den ersten großen Schmerz in seinem Leben verdauen muss. Seine Freundin Katharina wollte nämlich lieber im entfernten Sydney studieren als an seiner Seite zu bleiben. Damals holte ihn sein Onkel Valentin mit seinem Porsche Targa ab und reiste mit ihm „ins Leben“. Nachdem Nicolas‘ Vater, der ein kleines Pharmaunternehmen leitete, Valentin eher abschätzig als „Märchenonkel“ tituliert hatte, der vergebens auf den großen Wurf wartete, hatte sein Onkel nach drei, vier mäßig verkauften Büchern dann doch Erfolg mit einer Reihe von Erzählungen, in denen der lebenskluge Christopher im Mittelpunkt stand. 
So sehr Nicolas die sechs Wochen bis zum Beginn seines Studiums bei seinem Onkel genoss, verwirklichte er anschließend doch nicht seinen Traum, Schriftsteller wie Valentin zu werden, sondern trat in die Fußstapfen seines Vaters. Mittlerweile hat Nicolas seinen Doktor gemacht und die Firma seines Vaters übernommen, mit Valerie einen Wissenschaftsjournalistin geheiratet und mit Julian einen aufgeweckten Sohn, der sich vor allem durch Papas „Quatschgeschichten“ verzaubern lässt. 
Mit Michael und seinen Mitarbeitern arbeitet Nicolas am Methusalem-Projekt, das sich nicht weniger vorgenommen hat als den Alterungsprozess zu verlangsamen. Doch gerade in dem Moment, als die Testreihen nicht das gewünschte Ergebnis bringen, erhält Nicolas die Nachricht vom Tod seines Onkels, den er in den letzten Jahren viel zu selten gesehen hat. Mit seiner Familie reist Nicolas kurzerhand zur Villa seines verstorbenen Onkels, um die Beerdigung zu organisieren. So sehr er den Aufenthalt mit seiner Fmilie dort und die Erinnerungen an Valentin genießt, drückt ihn die Verantwortung seines Jobs. In seinen nächtlichen Träumen begegnet er in der geheimen Bibliothek der Villa einem Mann, der Nicolas darauf aufmerksam macht, worauf es wirklich im Leben ankommt. 
„,Warum hat die Gesellschaft oder die Familie bestimmte Ideale? Sind das auch meine Ideale? Am Ende müssen ja nicht die andern dein Leben leben, sondern du. Und so musst auch du die volle Verantwortung und damit zugleich das volle Risiko für deine Träume und dein Leben übernehmen.‘“ (S. 159) 
Bas Kast ist durch sein Buch „Der Ernährungskompass“ zum internationalen Bestseller-Autor avanciert, doch der Neurowissenschaftler sieht sich alles andere als Ernährungsberater, sondern vor allem als Autor. Schließlich hat er schon vor seinem internationalen Bestseller Bücher wie „Die Liebe und wie sich Leidenschaft erklärt“, „Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft“ oder „Ich weiß nicht, was ich wollen soll. Warum wir uns so schwer entscheiden können und wo das Glück zu finden ist“ veröffentlicht. Auch sein neues Büchlein, das sich mit schmalen 240 Seiten mit großer Schrift präsentiert, kommt mit einem Untertitel daher: „Werde, der du bist“
In seiner autobiografisch anmutenden Erzählung kämpft sein Ich-Erzähler als Neurowissenschaftler gegen des Prozess des Alterns, wird durch Termin- und Erfolgsdruck gehetzt. Dabei hat er nach seinem Abitur durch seinen Onkel bereits mitbekommen, dass es im Leben um mehr geht als seine Funktion in Familie und Gesellschaft zu erfüllen. Was folgt, ist eine absolut unspektakuläre Erzählung, die von vorn bis hinten leider allzu vorhersehbar ist und dem Leser keine wirklich neuen Erkenntnisse anbietet. 
In einer Zeit, in der Lebenshilfe-Bibeln und Ratgeber zu ganzheitlicher Gesundheit ganze Regale in den Buchhandlungen schmücken, wirkt „Das Buch eines Sommers“ eher wie eine nostalgische Reise zu den Anfängen der Überzeugung, dass nur ein selbstbestimmtes Leben glücklich machen kann. Allerdings sind diese letztlich einfachen Weisheiten, die im Alltag doch so schwer umzusetzen sind, schon eindringlicher und inspirierender zu Papier gebracht worden als in „Das Buch eines Sommers“. Weder die kaum ausdifferenzierten Figuren noch die seinem Sohn vorgetragenen „Quatschgeschichten“, schon gar nicht die allzu bekannten „Lebensweisheiten“ oder der überraschungsarme Plot machen dieses Büchlein lesenswert. Da möchte man dem Autor doch lieber raten, bei seinem eigentlichen Betätigungsfeld zu bleiben, nämlich Wissenschaftsbücher zu schreiben, die seinem Publikum auch einen Erkenntnisgewinn bringen. Der bleibt bei „Das Buch eines Sommers“ weitgehend aus, zumal die Herausforderungen, die zum Ausleben der eigenen Bestimmung überwunden werden müssten, hier allzu läppisch erscheinen.

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 5) „Die kleine Schwester“

Montag, 21. September 2020

(Diogenes, 352 S., HC) 
Der 38-jährige Privatdetektiv Philip Marlowe ist seit fünf Minuten hinter einer Schmeißfliege in seinem heruntergekommenen Büro in Los Angeles her, als eine junge Frau mit Kleinmädchenstimme anruft und sich einen ersten Eindruck davon verschaffen möchte, ob Marlowe der richtige Mann für das sein könnte, was sie benötigt. Wenig später sitzt sie auch schon in seinem Büro, Orfamay Quest aus Manhattan, Kansas, und berichtet dem Detektiv, dass sie nach ihrem Bruder Orrin sucht, der nach seinem Studium als Ingenieur für die Cal-Western Aircraft Company in Bay City zu arbeiten begann. Da seine Briefe an Mutter und an sie selbst aber seit Monaten ausgeblieben sind, hat Orfamay sich auf die Reise nach Bay City gemacht, doch aus dem Fremdenheim, dessen Adresse sie von Orrin hatte, ist er ohne bekanntes Ziel ausgezogen, sein Arbeitgeber habe ihn entlassen. 
Obwohl er die zwanzig Dollar Vorschuss von Orfamay letztlich nicht annimmt, ist Marlowes Neugierde geweckt. Nachdem er sich in Orrins alter Absteige umgesehen hat, entdeckt er den Verwalter Lester B. Clausen in seiner Wohnung – mit einem Eispickel im Nacken. Wenig später bekommt es Marlowe nicht nur mit den hartnäckigen Cops French und Maglashan zu tun, weil der Privatschnüffler wenig später einen weiteren Toten mit einem Eispickel im Nacken entdeckt. Seine Ermittlungen führen ihn sowohl in den Dunstkreis des Gangsters Weepy Moyer als auch in die gar nicht so glamouröse Welt von Hollywood. 
„Für wen schneide ich mir diesmal die Halsschlagader auf? Für eine Blondine mit sexy Augen und zu vielen Schlüsseln? Für ein Mädchen aus Manhattan, Kansas? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass nicht alles ist, wie es scheint, und das gute alte Bauchgefühl sagt mir, dass der oder die Falsche den Pott verliert, wenn alle ihre Karten so ausspielen, wie sie ausgeteilt worden sind? Geht mich das etwas an? Weiß ich das? Habe ich es jemals gewusst? Fangen wir nicht damit an. Du bist heute kein Mensch, Marlowe. War ich vielleicht nie, werde ich vielleicht nie sein.“ (S. 111) 
Mit seinem ersten Roman um Philip Marlowe, „The Big Sleep“, gelang dem 1888 in Chicago geborenen, aber zunächst in England lebenden Raymond Chandler gleich ein großer Erfolg. 1946 wurde das Buch durch Howard Hawks mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle auch noch wunderbar verfilmt. Bis zu seinem Tod 1959 erschienen sechs weitere Marlowe-Romane, das unvollendete Manuskript zu „Poodle Springs“ wurde erst 1989 durch Robert B. Parker fertiggestellt. 
Mit dem fünften Band der Marlowe-Reihe, „Die kleine Schwester“, hat Chandler 1949 einen coolen Hardboiled-Krimi geschaffen, der Marlowe wieder mit einigen geheimnisvollen, sexy Frauen zusammenbringt, die den Detektiv lange an der Nase herumführen. Es ist aber weniger der komplexe Plot, der „Die kleine Schwester“ so unterhaltsam macht, sondern die Art und Weise, wie Marlowe als Ich-Erzähler mit flotten, zynischen Sprüchen an sein Ziel zu kommen versucht, die Affäre um ein Foto und die offensichtlich damit zusammenhängenden Morde aufzuklären. 
Interessant sind dabei vor allem seine wehmütigen Erinnerungen, als Los Angeles noch kein heruntergekommener Slum mit Neon-Beleuchtung war, sondern ein sonniger, friedlicher Ort, in dem die Menschen draußen auf der Veranda schliefen. Chandler gelingt es, allein durch die knackigen Dialoge ein Gespür für die Zeit bei seinen Lesern zu entwickeln, für die Atmosphäre, in der Cops, Gauner und Hollywood-Sternchen in ihrem Wirken kaum auseinanderzuhalten sind und die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen lassen. Dass sich die Marlowe-Romane aber mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung immer noch so flüssig lesen lassen, liegt einfach auch an der wahrhaften Beschreibung menschlicher Tugenden und Schwächen, an der Hoffnung, die Marlowe trotz aller Rückschläge tapfer in seinem Herzen trägt. Das ist einfach große Literatur, die in der neuen Übersetzung von Robin Detje ihren ganzen sprachlichen Glanz verbreitet. Dazu hat Michael Connelly der Neuausgabe noch ein Nachwort gespendet, in dem er begründet, warum gerade „Die kleine Schwester“ sein Lieblingsbuch von Chandler ist. 

Stewart O’Nan – „Der Zirkusbrand“

Sonntag, 20. September 2020

(Rowohlt, 510 S., HC) 
Als der Zirkus Ringling Bros. and Barnum & Bailey am 6. Juli 1944 in Hartford, Connecticut, sein Gastspiel gab, kamen geschätzte 8700 Besucher zur Nachmittagsvorstellung an diesem heißen Sommertag. Er war einer der wenigen Eisenbahn-Zirkusse, die die Weltwirtschaftskrise überlebt haben und darauf bauen konnte, dass durch die Kriegsindustrie die Lohntüten der Menschen gut gefüllt waren. Zu den Höhepunkten des Programms zählten das von Strawinsky geschriebene und von Balanchine choreographierte Elefantenballett, die Stars Emmett Kelly und Löwen-Dompteur Alfred Court, die Wallendas, die Cristianis, die Fliegenden Concellos und Menagerieattraktionen wie der Riesengorilla Gargantua und seine Braut M’Toto. Das Programm war sehr patriotisch ausgerichtet, Soldaten hatten freien Eintritt, und es gab Freikarten für die Haupttribüne für diejenigen, die Kriegsanleihen gezeichnet haben. 
Für viele Menschen sollte der Besuch dieser Vorstellung allerdings zum Verhängnis werden: Gerade als May Kovar und Joseph Walsh in zwei getrennten Käfigen ihre Raubtiervorführungen beendeten und die Wallendas zehn Meter nach oben kletterten, um mit ihrer Drahtseilakrobatik zu beginnen, da fing ein Feuer an der unbehandelten Zeltwand hinter der südwestlichen Seitentribüne ungefähr zwei Meter über dem Boden zu lodern an. Als es bemerkt wurde, versuchten einige Platzanweiser mit gefüllten Wassereimern den Brand zu löschen, doch erreichten sie nur den unteren Rand der Flammen, die in der wasserdichten Mischung aus Paraffin und Benzin schnell weitere Nahrung fanden. 
Zwar spielte Merle Evans mit ihrem Orchester noch „The Stars and Stripes Forever“, doch die Panik ließ sich nicht mehr aufhalten. Wer auf den unteren Plätzen nicht schnell genug ins Freie rannte, wurde gnadenlos von den nachströmenden Massen zertrampelt, andere wurden von den siebzehn Meter hohen, nun herunterstürzenden Masten erschlagen, von den Laufgittern eingeklemmt, starben durch Rauchvergiftung oder schwere Verbrennungen. 
Die über 400 Verletzten wurden auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt, die Toten zur Identifizierung ins Waffenarsenal gebracht. 
„Das ganze Land war in ständiger Bereitschaft, und nach der Invasion der Normandie war die Moral der Leute gut. Die Ideale von Opferbereitschaft und gemeinsamer Anstrengung waren ihnen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Viele Menschen verließen ungefragt ihren Arbeitsplatz, um zu helfen, als sie vom Brand hörten. Die Blutbank des Roten Kreuzes in der Pearl Street konnte sich vor Spendern kaum retten.“ (S. 217) 
Stewart O’Nan, der 1993 für seinen Debütroman „Engel im Schnee“ mit dem William-Faulkner-Preis ausgezeichnet wurde und seither zu einem der angesehensten zeitgenössischen Schriftsteller avancierte, hatte eigentlich nicht vor, ein Sachbuch über den verheerendsten Zirkusbrand in der amerikanischen Geschichte zu schreiben. Er hatte während der Recherchen zu einem Roman einen Artikel über das Feuer in einer alten „Life“-Ausgabe gelesen und erinnerte sich daran, als er mit seiner Familie nach Hartford zog, wo er neugierig nach näheren Informationen suchte, aber überraschend feststellen musste, dass diese Katastrophe niemand in Worte gefasst hatte. 
Also begann er, die Menschen in der Stadt zu befragen und Material zu sammeln. Stewart O’Nan wurde zum selbsternannten „Hüter des Brandes“, hatte seinen Roman beendet und Zeit, die Geschichte des Brandes und der Überlebenden zu erzählen. Am Ende erzählt „Der Zirkusbrand“ eine gut fünfzig Jahre umfassende Geschichte der Katastrophe, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Minutiös berichtet er wie ein Dokumentarfilmer über die Vorbereitungen und – leider unzulänglichen - getroffenen Sicherheitsvorkehrungen; schildert, wie verschiedene Familien sich auf den Zirkusbesuch vorbereiteten und die Katastrophe ihren Lauf nahm. Illustriert durch unzählige Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert der Autor den Ausbruch der Panik, die selbstlosen Rettungsversuche einiger tapferer Menschen, die Schwächeren beim Verlassen des Unglücksortes halfen; beschreibt die verheerenden Verletzungen und die verzweifelten Versuche von Ärzten und Krankenschwestern, das Leider der Opfer zu lindern. 
Besonders tragisch entwickelt sich die Suche nach den unidentifizierten Opfern, sechs Stück an der Zahl, darunter ein Mädchen, das als „kleine Miss 1565“ bekannt geworden ist. O’Nan nimmt sich auch hier viel Zeit, die Suche nach der Identität des kleinen Mädchens und letztlich nach den Verantwortlichen der Katastrophe zu beschreiben. Beides zog sich bis in die 1990er Jahre hinein. Es ist ebenso bestürzendes wie faszinierendes Zeitdokument, das Stewart O’Nan mit „Der Zirkusbrand“ vorgelegt hat, eine Art Reportage in Romanform, die manchmal zu sehr ins Detail geht, aber letztlich wirklich alle Aspekte dieser Katastrophe abdeckt. Es ist schwerverdauliche Kost, die durch O’Nans gewissenhafte Arbeit lange im Gedächtnis bleibt und vor allem den Opfern und Helden ein Denkmal setzt.


Andrea De Carlo – „Villa Metaphora“

Mittwoch, 16. September 2020

(Diogenes, 1088 S., HC)
Der prominente Architekt Gianluca Perusato ist endlich am Ziel seiner Träume: Sieben Jahre nach Baubeginn steht sein erstes eigenes Projekt vor der Einweihung durch einige höchst illustre Gäste. Wie oft stand er schon davor, alles hinzuschmeißen, zumal die Baukosten zwischenzeitlich schon auf das Doppelte angewachsen waren. Doch nun blickt er stolz von der Hauptterrasse seines Luxusresorts Villa Metaphora auf das die südlich von Sizilien zwischen Malta und Tunesien liegende Insel Tari umgebende Mittelmeer. Hier hofft er für die internationale Prominenz, die für eine Übernachtung pauschal 5000 Euro hinblättern darf, ein abgeschiedenes, diskretes Refugium geschaffen zu haben, das das grandiose Naturschauspiel der Vulkaninsel mit seinem kühnen Umbau der einst vom Gelehrten, Linguisten, Kosmopoliten und Schriftsteller Baron von Canistraterra ab 1946 erbauten Villa zu einem einzigartigen Kunstwerk verschmilzt.
Zusammen mit seiner Assistentin und Geliebten Lucia erwartet die Ankunft der Gäste, darunter die alkoholsüchtige junge Hollywood-Diva Lynn Lou Shaw, die während der Dreharbeiten zu ihrem neuen Film in Rom einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte und nun mit ihrer Freundin und Assistentin Lara Laremi in der Villa Metaphora wieder zu Kräften kommen will. Während sein spanischer Koch Ramiro Juarez für das leibliche Wohl der Gäste zuständig ist, ist der Bootsmann Carmine Alcuanti für den Transport der illustren Gäste vom Festland zum Resort zuständig. Neben der Schauspielerin sind das die inkognito anreisende französische Hotelkritikerin Simone Poulanc, der mit Lynn Lou verheiratete, kontrollsüchtige amerikanische New-Age-Guru Brian Neckhart und der deutsche Bankier Werner Reitt mit seiner Frau Brigitte sowie seinem Assistenten Matthias. Die schillernde Runde wird durch den italienischen Abgeordneten Piero Gomi, der unbedingt einen Termin mit Reitt ergattern möchte.
Beginnend mit dem Unfalltod eines Fotografen, der Lynn Lou gar nicht so heimlich fotografierte, weil sie den fremden Beobachter entdeckt und sich im Swimming Pool für ihn in sehenswerte Posen geworfen hat, gehen innerhalb einer Woche alle Höflichkeitsformen flöten, werden Beziehungsdramen auf die Spitze getrieben, Sehnsüchte und Ängste geweckt, die zugleich das Beste und das Schlimmste in den hochfeinen Gesellschaftsschichten schonungslos offenbart. Als auch noch ein schwerreicher russischer Unternehmer hemmungslos seine Gelüste in der Villa zu befriedigen versucht und ein Erdbeben nicht nur die Strom- und Wasserversorgung kappt, sondern auch einen Vulkanausbruch ankündigt, liegen die Nerven bei allen Beteiligten mehr als blank …
„Erneut drängen sich Gedanken über unsere Abhängigkeit von technologischen Hilfsmitteln auf und darüber, wie diese künstlichen Erweiterungen unserer Gehirne, unserer Hände, ja sogar unserer Herzen wiederum vom Vorhandensein eines funktionierenden Stromnetzes abhängen. Fällt der Strom aus, ist es in kürzester Zeit – wir reden von Stunden, nicht von Tagen – vorbei mit Informationen, Speichern, Kontaktnetzen, Fernbeziehungen. Ender der täuschenden Geschwindigkeit, Ende der virtuellen Allgegenwart, Ende der permanenten Erreichbarkeit. Plötzlich gilt und zählt nur das, was man vor Augen hat, in der Hand hält, zu Fuß erreichen kann.“ (S. 913f.) 
Was ist nur aus dem Mailänder Bestseller-Autor geworden, der nach seinem Literaturstudium, seiner Karriere als Fotograf, Rockmusiker und Regieassistent von Federico Fellini mit „creamtrain“, „Zwei von zwei“ und „Techniken der Verführung“ in den 1980er und beginnenden 1990er Jahren zum Sprachrohr seiner Generation wurde? Andrea De Carlo hat sich nämlich mit seinem im italienischen Original 2012 veröffentlichten Roman „Villa Metaphora“ – der epische Umfang von knapp 1100 Seiten lässt es fast vermuten – leider mächtig verhoben. Bereits die Grundidee, eine Gruppe von Menschen auf eine Insel zu schicken, von der sie so schnell nicht runterkommen, wirkt schon ausgelutscht. Ärgerlich ist aber vor allem, dass sich De Carlo zwar viel Mühe gibt, seinem durchaus überschaubaren Figuren-Ensemble wortgewaltig Konturen und Persönlichkeit zu verleihen, bedient aber nur die üblichen Klischees von der verzogenen Hollywood-Diva, dem temperamentvoll-launischen und natürlich doch irgendwie korrupten italienischen Politiker, dem ichbezogenen, substanzlosen LifeSolving-Gurus und des deutschen Bankiers, der anderthalb Jahre eine Affäre mit der nicht mal volljährigen besten Freundin seiner Tochter unterhalten hat, was ihm nun zum Verhängnis zu werden droht.
Die dunklen Geheimnisse und persönlichen Abgründe, die nach und nach offenbart werden, wirken so überraschend also nicht und bringen den Plot auch nicht wirklich voran. Letztlich werden über Hunderte von Seiten vor allem die affektiert erscheinenden Befindlichkeiten der Haute Volee seziert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein munteres Zitatenspiel soll am Ende noch etwas tiefschürfenden Sinn und zumindest ein fundiertes Allgemeinwissen der Gäste vermitteln, doch was der Autor am Ende mit seinem misslungenen Versuch einer Satire zu sagen beabsichtigt, bleibt bis zum quälend geschwätzigen Finale unbeantwortet. Einen neuen Blick auf die Welt der Superreichen und Mächtigen gewährt uns De Carlo mit seinem überbetont zivilisationskritischen Roman jedenfalls nicht.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Villa Metaphora"

David Morrell – (Thomas De Quincey: 3) „Der Eisenbahnmörder“

Dienstag, 15. September 2020

(Knaur, 410 S., Tb.)
Als der in der exklusiven Londoner Geschäftsstraße wirkende Jurist Daniel Harcourt am Abend des 22. März 1855 sein Büro verlässt, um den Neun-Uhr-Zug von Euston nach Sedwick Hill zu nehmen, wird er in seinem Abteil von einem Mann erstochen, der dem korpulenten Fünfzigjährigen nicht unbekannt gewesen ist. Zufälligerweise sitzt auch der bekannte „Opiumesser“, Schriftsteller und Ermittler Thomas De Quincey mit seiner 22-jährigen Tochter Emily in diesem Zug und wird durch ungewöhnlichen Lärm aus dem Nachbarabteil aufgeschreckt. Später entdeckt er in einem Tunnel auf den Bahngleisen die Leiche des angesehenen Anwalts. Gegen elf Uhr werden auch die beiden Scotland-Yard-Polizeibeamten Sean Ryan und der fünfzehn Jahre jüngere Becker von dem Vorfall unterrichtet und übernehmen schließlich die Ermittlungen in dem ungewöhnlichen Mordfall. Allerdings bleibt es nicht bei diesem einen Mord.
In kurzer Zeit erschüttern vor allem gezielte Bombenattentate auf die Great Northern Railway rund um London das Vertrauen der Reisenden in die revolutionäre Art des Reisens, so dass auch alle Aktien der Unternehmen rapide im Wert fallen, die irgendwie mit der Eisenbahn zu tun haben. Selbst Königin Victoria, deren geplanten Anschlag auf ihr Leben De Quincey verhindern konnte, ist über die Ereignisse so beunruhigt, dass sie De Quincey bittet, auch in diesem Fall Scotland Yard bei den Ermittlungen zu unterstützen.
Nachdem De Quincey am Tatort ein wertvolles Benson-Chronometer sichergestellt hat, dauert es nicht lange, die Spur zu seinem Besitzer zurückzuverfolgen. Als Lord Palmerston von Commissioner Mayne erfährt, dass es sich bei dem ersten Toten um den Juristen Harcourt handelt, ist der Premierminister nicht von ungefähr beunruhigt, denn wie viele andere Prominente der Londoner Gesellschaft zählte auch er zu Harcourts Mandanten, und vielleicht war sein Mörder an den Geheimnissen und Unterlagen interessiert, die dem Juristen anvertraut worden sind. Als De Quincey mit seinen Ermittlungen beginnt, trifft er auch Carolyn wieder, mit der er als Kind das Schicksal des Bettlerdaseins und ein leer stehendes Haus in der Geek Street geteilt hatte, doch dann trennten sich ihre Wege, als De Quincey nach Eton gegangen war, um den guten Willen seiner Mutter zurückzugewinnen, und nach seiner Rückkehr weder Carolyn noch ihre Leidensgenossin Ann wiedertraf.
Mittlerweile ist Carolyn als Frau von Edward Richmond zu Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung gekommen. Während sich der berühmte Opiumesser und Carolyn über ihre gemeinsame Vergangenheit und ihren jeweils ganz andersartigen Werdegang austauschen, bekommen die Eisenbahnmorde auch eine außenpolitisch brisante Bedeutung. Nach neuesten Informationen ist nämlich der russische Zar vor zwei Wochen verstorben, sein deutscher Leibarzt Dr. von Mandt spurlos verschwunden. Nun verbreiten sich Gerüchte, dass der Deutsche dazu angestiftet worden sei, den Zar zu ermorden, um den Ausgang des Krieges zu beeinflussen, und dass Russen für die Eisenbahnmorde verantwortlich sein könnten. Erst in Sedgwick Hill, wo sich die elitäre, von Dr. Wainwright betriebene Wasserkurklinik befindet, scheinen sich all die losen Fäden zusammenzufügen, werden die Rätsel der Vergangenheit gelöst …
Ein wirkliches Vergessen gibt es nicht, hatte der Opiumesser geschrieben. Tausend Umstände mögen und werden sich wie ein Schleier zwischen das gegenwärtige Geschehen und die geheimen Inschriften in unserem Gedächtnisse legen; aber gleichgültig, ob verschleiert oder unverschleiert, die Inschrift bleibt für immer, geradeso wie die Sterne sich vor dem Tageslichte zurückzuziehen scheinen, während wir doch alle wissen, dass die darauf warten, enthüllt zu werden, wenn das verbergende Tageslicht wieder hinweggezogen ist.“ (S. 307) 
Wer hätte gedacht, dass der berühmte Autor der „Rambo“-Romane, der später vor allem durch Thriller wie „Der Geheimbund der Rose“ und „Creepers“ seinen Bestseller-Status zementierte, auch im Genre des viktorianischen Krimis Meisterleistungen vollbringen würde? Mit der Trilogie um den historisch verbürgten britischen Schriftsteller, Essayisten und Journalisten Thomas De Quincey (1785-1859), zu dessen berühmtesten Werken sein autobiografisches Buch „Bekenntnisse eines englischen Opiumesser“ und das Essay „Der Mord als schöne Kunst betrachtet“ zählen, ist David Morrell eine Reihe durchweg authentisch wirkender, packender Krimis gelungen, die den Leser auf eine unvergleichliche Zeitreise schicken.
In „Der Eisenbahnmörder“, dem wiederum durchweg kurzweiligen Abschluss der Trilogie, beschreibt Morrell zunächst eindringlich, wie das kleine, doch so weltumspannende Reich Großbritanniens durch die Erfindung der Eisenbahn noch einmal an Macht dazugewinnen konnte, denn statt einer Tagesreise auf Schotterstraßen voller Schlaglöcher von Liverpool nach Manchester brauchte die Eisenbahn nur eine halbe Stunde und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur Ausbreitung der Industriellen Revolution.
Der Leser wird in diesem Roman aber auch mit anderen Erfindungen vertraut gemacht, mit einer Phosphorpaste, die eigentlich zum Vertreiben von Ratten gedacht war, hier aber eine Verwendung als Sprengstoff findet, und mit dem Erfrischungsgetränk Gin-Tonic. Doch den Mittelpunkt der Geschichte bilden die vor dem Hintergrund des Krimkrieges ausgeführten Morde, die bis in die höchsten Londoner Gesellschaftskreise reichen und eine ganz persönliche Beziehung aus De Quincey bettelarmen Jugendjahren auffrischt. Natürlich spielen auch die Gefühle, die Ryan und Becker für De Quinceys Tochter Emily hegen, nach wie vor eine Rolle, werden doch eher nebensächlich abgehandelt.
Morrell erweckt das Treiben im viktorianischen London beeindruckend realistisch zum Leben. Dafür hat er aber auch sorgfältig recherchiert, wie er im ausführlichen Nachwort belegt. Die Verbindung von tiefschürfenden Nachforschungen und der Sinn für die Dramaturgie einer komplexer Krimi-Handlung machen „Der Eisenbahnmörder“ wie schon seine beiden Vorgänger „Der Opiummörder“ und „Die Mörder der Queen“ zu einem absoluten Highlight des Genres.
Leseprobe David Morrell - "Der Eisenbahnmörder"

John Grisham – (Bruce Cable: 2) „Das Manuskript“

Mittwoch, 9. September 2020

(Heyne, 368 S., HC)
Bruce Cable ist Buchhändler aus Leidenschaft. Seit über zwanzig Jahren betreibt er in Santa Rosa auf Camino Island die Buchhandlung „Bay Books“, wo nicht nur einfach Bücher an Touristen verkauft werden, sondern in der sich Cable sehr dafür stark macht, hiesige Schriftsteller zu fördern und – neben anderen Events - mindestens vier Lesungen in der Woche zu veranstalten. Besonders freut er sich über den Erfolg von Mercer Mann, die in Santa Rosa ihre zweimonatige Lesereise beendet und deren zweiter Roman „Tessa“ beim Publikum ebenso gut ankam wie bei den Kritikern.
Wie mit vielen anderen Autorinnen, die Station bei „Bay Books“ machten, hatte Cable auch mit Mercer Mann eine Affäre, doch da sie mit einem neuen Mann nach Santa Rosa angereist kam, ist dieses Kapitel für Cable vorerst beendet. Am Tag vor Mercer Manns Lesung zieht der Orkan Leo über den Atlantik und fegt als Hurrikan der Kategorie vier über die Insel, die weitgehend evakuiert worden ist. Zu den wenigen Menschen, die sich wider jede Vernunft weigerten, die Insel zu verlassen, gehört auch Bruce Cable. Während seine Frau Noelle, mit der er in einer offenen Beziehung lebt, mit ihrem Lover in Europa nach neuen Antiquitäten Ausschau hält, muss er mit eigenen Augen mitansehen, welche Schäden Leo auf Camino Island anrichtet.
Doch richtig schockiert ist er, als er zusammen mit dem Krimiautor J. Andrew „Bob“ Cobb und dem Collegestudenten Nick Sutton die Nachricht erhält, dass sich unter den Toten, die Leo gefordert hat, auch der ehemalige Anwalt Nelson Kerr befindet, der seinen Job an den Nagel gehängt hat und seither drei erfolgreiche Kriminalromane veröffentlicht und einen vierten gerade beendet hat. Am Tatort, wo Cable die Leiche identifizieren soll, äußerst Nick den Verdacht, dass die Kopfwunde eher danach aussieht, als wäre Kerr nicht von herumfliegenden Trümmern getroffen, sondern gleich mehrmals am Kopf verwundet worden. Blutspuren im Haus und das spurlos verschwundene Manuskript zu Kerrs neuen Roman erhärten diese düstere Vermutung.
Während die örtliche Polizei weiterhin von einem tödlichen Unfall ausgeht, machen sich Cable und seine Freunde auf eigene Faust auf Tätersuche und erhalten durch die Schwester des Toten einen USB-Stick mit dem gesuchten Romantext. Kerr thematisierte in „Puls“ einen groß angelegten Betrug von Pflegeeinrichtungen, die die Flüssignahrung für hirntote oder stark demente Patienten mit einem registrierten, aber nicht zugelassenen Medikament anreichern, das dafür sorgt, dass das Herz länger schlägt, so dass die Pflegeeinrichtungen über eine längere Zeit Pflegekosten bei Medicare und Medicaid in Rechnung stellen können.
„,Nelson Kerr hat drei Bestseller geschrieben, aber bei keinem ging es um Medikamente, Gesundheitsversorgung oder etwas in der Art. Er wird von einem Informanten kontaktiert, vermutlich jemandem, der für den Hersteller des Medikaments oder ein Pflegeheim arbeitet, und dieser Informant will auspacken. Er will die bösen Jungs auffliegen lassen.‘“ (S. 220) 
Als sich diese Informationsquelle auch an Cable und seine Crew wendet, wird das Vorgehen gegen die betrügerischen Konzerne zu einem lebensgefährlichen Unterfangen für alle Beteiligten …
Nach „Das Original“ ist „Das Manuskript“ bereits der zweite Band um den umtriebigen Buchhändler Bruce Cable, der alles andere als ein gewöhnlicher Buchhändler ist. Nicht nur seine Vorliebe für junge Autorinnen, denen er regelmäßig den Aufenthalt in Santa Rosa versüßt, fällt aus dem Rahmen, dazu zählt auch der nicht immer einwandfreie Handel mit seltenen Büchern, das ihm bereits ein Vermögen eingebracht hat, das er auf verschiedene Offshore-Konten verteilt hat. Erfrischend für John-Grisham-Fans ist vor allem die Tatsache, dass sich die Geschichten um Bruce Cable jenseits von Anwaltskanzleien und Gerichtssälen abspielen. Dafür bekommt das Publikum interessante, wenn auch oberflächliche Einblicke in den Literaturbetrieb. Durch den Hurrikan Leo bekommt „Das Manuskript“ auch eine sehr menschliche, tragische Note, die allerdings bald durch das ungeheuerliche Gebaren profitgieriger Konzerne überdeckt wird, die durch geheime lebensverlängernde Maßnahmen bei ihren wehrlosen Patienten so viel Geld wie möglich herauspressen wollen. Grisham nimmt sich allerdings wenig Zeit für seine Figuren und reißt den vorhersehbaren und spannungsarmen Plot souverän herunter. Das sorgt zwar für kurzweilige Unterhaltung mit an sich packenden Themen, doch wirklich mitfiebern lässt sich bei diesem oberflächlich konzipierten Schnelldurchlauf nicht.
Leseprobe John Grisham - "Das Manuskript"

Jo Nesbø – „Ihr Königreich“

Samstag, 5. September 2020

(Ullstein, 588 S., HC)
Roy Opgard und sein ein Jahr jüngerer Bruder Carl waren nach dem Tod ihrer Eltern früh auf sich allein gestellt. Während Carl in jungen Jahren nach Amerika gegangen ist, um zu studieren, hat Roy den elterlichen Hof in den norwegischen Bergen übernommen, wo er seit fünfzehn Jahren alleine lebt und die örtliche Tankstelle in Os leitet. Als eines Tages sein Bruder unangekündigt mit einem Cadillac DeVille – jenem Wagen, mit dem sich ihre Eltern totgefahren haben – aufkreuzt, verändert sich alles, denn Carl hat nicht nur eine wunderschöne Frau von der karibischen Insel Barbados namens Shannon im Schlepptau, sondern ehrgeizige Pläne: Carl und die Architektin Shannon wollen in den Bergen ein 400 Millionen Kronen teures Luxus-Hotel bauen und gründen dazu eine Kommanditgesellschaft, die es jedem Bewohner der Dorfgemeinschaft ermöglicht, sich an dem ambitionierten Projekt zu beteiligen, womit ein minimiertes finanzielle Risiko auf viele Schultern verteilt wäre.
Tatsächlich kann der allseits beliebte Rückkehrer Carl bei der Dorfversammlung die meisten der Anwesenden überzeugen und für das Hotelprojekt begeistern. Doch die Dinge entwickeln sich nicht wie geplant. Carl lässt seine Affäre mit Mari, der Tochter des ehemaligen Bürgermeisters Aas, wieder aufleben, Roy verguckt sich seinerseits in Shannon, und Maris Ehemann Dan Krane versucht als Chefredakteur der örtlichen Tageszeitung Stimmung gegen Carls Projekt zu machen, wobei er viel Dreck aufwühlt. Dazu will der Dorfpolizist Kurt Olsen noch immer herausfinden, wie es dazu gekommen ist, dass Roy und Carls Eltern vor fünfzehn Jahren mit dem Cadillac DeVille in den Abgrund gestürzt sind, und Carl und Roy werden immer wieder zu radikalen Maßnahmen gezwungen, um ihr jeweiliges Glück zu retten. Roy muss wie früher die schützende Hand über seinen Bruder halten und alle Hindernisse aus dem Weg räumen, die Carl schaden könnten. Doch seine Gefühle für Shannon verändern die Natur ihrer Beziehung …
„Die Schulden, die ich mit dem Verrat an meinem kleinen Bruder aufgehäuft hatte, musste ich abbezahlen, bis ich ins Gras biss. Jetzt war nur die nächste Rate fällig geworden.“ (S. 156) 
Zwar ist der norwegische Bestseller-Autor Jo Nesbø vor allem durch seine mittlerweile auf zwölf Bände angewachsene Krimi-Reihe um den in Oslo ermittelnden Kommissar Harry Hole bekannt geworden, doch hat er mit „Der Sohn“ und „Macbeth“ auch bewiesen, dass er mit Stand-alone-Romanen sein Publikum zu packen versteht. Mit „Ihr Königreich“ geht Nesbø einen eigenwilligen Weg, indem er Roy, den älteren der beiden Opgard-Brüder, als Ich-Erzähler auftreten lässt und die überraschende Rückkehr seines Bruders Carl aus den Staaten mit der schrittweisen Aufarbeitung ihrer gemeinsamen Vergangenheit verknüpft. Bereits mit dem Prolog macht Roy deutlich, dass er stets derjenige von beiden gewesen ist, der die Dinge in die Hand nimmt, auch die unerfreulichen wie das Töten des eigenen, schwerverletzten Hundes.
Zwar steht der Bau des Luxus-Hotels im handlungstreibenden Mittelpunkt der Geschichte, aber es dreht sich vor allem um eine Geschichte unter Brüdern, die durch allerlei Affären und Ressentiments, von verletzten und rachesüchtigen Frauen geprägt wird, aber auch Männern mit einer ganz eigenen Agenda wie dem Dorf-Polizisten, dem Chefredakteur und dem Kredithai Willumsen.
Nesbø versteht es dabei meisterhaft, stückchenweise die dunklen Familiengeheimnisse der beiden Brüder und die persönlichen Verwicklungen innerhalb der an sich eingeschworenen Dorfgemeinschaft aufzudecken und dabei menschliche Tragödien zu beschreiben, die von Missbrauch, Verrat und Betrug bis zu Mord reichen, wobei Leidenschaft und Gier ganz treibende Faktoren darstellen.
In dieser interessanten Konstellation gewinnen neben dem Ich-Erzähler, der im Verlauf der Geschichte immer mehr von sich preisgibt, vor allem sein Bruder und dessen Partnerin Shannon an Kontur, wobei ihre Persönlichkeiten eine teils bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen und so die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln. Dem Autor ist mit „Ihr Königreich“ zwar nicht der ganz große Wurf gelungen, aber die ungewöhnliche Erzählperspektive, die interessanten Figuren und das bemerkenswerte Setting in den norwegischen Bergen mit dem handlungsintensiven Plot machen die Mischung aus Kriminalroman und Familiendrama sehr lesenswert.
Leseprobe Jo Nesbø - "Ihr Königreich"