James Sallis – „Driver 2“

Sonntag, 6. Februar 2022

(Liebeskind, 156 S., HC) 
Seit seinem Debüt „Die langbeinige Fliege“, dem Auftakt seiner sechs Bände umfassenden Reihe um den Privatdetektiv Lew Griffin, hat der aus Arkansas stammende Schriftsteller James Sallis zwar bereits einige preisgekrönte Romane vorgelegt, doch erst mit dem 2005 veröffentlichten und sechs Jahre später erfolgreich verfilmten Roman „Driver“ hat sich Sallis in den Olymp des literarischen Kriminalromans geschrieben. 2012 legte Sallis mit „Driven“ eine Fortsetzung nach, die dem Vorgänger in nichts nachsteht. 
Vor sechs, sieben Jahren hat Driver seine Karriere als Stuntfahrer in Hollywood-Filmen begonnen, doch wurden seine Talente auch von der Unterwelt zur Kenntnis genommen. Zunächst beschränkte sich Driver nur darauf, die Fluchtwagen zu fahren, später wurde er zwangsläufig mehr in die Überfälle hineingezogen. Als einer der Deals schiefging und Driver selbst zur Zielscheibe seiner Auftraggeber werden sollte, nachdem sie seine Freundin Elsa ausgeschaltet hatten, machte er mit den auf ihn angesetzten Killern kurzen Prozess, schnappte sich die Tasche mit der Viertelmillion Dollars und begab sich auf einen Rachefeldzug, der ihn schließlich zum Mafiaboss Nino führte. 
Mittlerweile ist Driver Anfang Dreißig und noch immer auf der Flucht. Er hat sich mit Paul West eine neue Identität zugelegt und hält nur noch mit seinem alten Kumpel Felix Kontakt. Der war einst als Ranger bei der Operation Wüstensturm beteiligt und verschafft Driver einen Unterschlupf in Phoenix. Doch irgendwie ist Driver wieder auf dem Schirm bei irgendwem gelandet, offenbar bei Leuten, die noch immer eine offene Rechnung mit ihm zu begleichen haben. Einmal mehr muss sich Driver aus seiner Deckung herausbewegen und eine Odyssee zu den Männern unternehmen, die ihm erneut das Licht auspusten wollen … 
„Das war es also, worauf letztlich alles hinauslief. Man saß mitten in der Nacht am Ende der Welt mit einem gescheiterten Killer zusammen und dachte über Standpunkte nach. Hatte er je welche gehabt? Und welche Art von Lügen erzählte er sich selbst? Etwa die, er könnte einen Weg aus all dem hier finden?“ (S. 88) 
Im Grunde genommen erzählt Sallis mit „Driver 2“ die gleiche Geschichte des Vorgängers noch einmal, nur dass die Nebenfiguren ausgetauscht werden. Immer wieder wird kurz zurückgeblickt, auf Drivers Beziehung zu Elsas Eltern, auf die Art und Weise, wie ihm einst ein Kumpel das Fahren beigebracht hatte, wie sich die Gewaltspirale bis zu Ninos Ableben entwickelt hat. Dieses Spiel beginnt mit „Driver 2“ nun von vorn. Sallis entwickelt den Plot auf wieder nicht mal 160 Seiten in kurzen Sequenzen, die mehr Lücken aufweisen als sie Fragen beantworten. Sallis hat es mit seiner höchst assoziativen Sprache zur Meisterschaft darin gebracht, den Leser so in die Handlung und die Köpfe seiner Protagonisten hineinzuführen, dass er die Leerstellen selbst ausfüllt. 
Angereichert werden die kurzen Begegnungen mit Drivers kurzzeitigen Weggefährten und Kontrahenten regelmäßig mit philosophischen Ideen, die in kurze, knackige Sätze verpackt werden. Auch bei den Actionszenen hält sich Sallis nicht lange auf. Drivers Attentäter tauchen wie aus dem Nichts auf und werden innerhalb kürzester Zeit aus dem Rennen genommen, mal auf der Straße, wo sich Driver natürlich am wohlsten und sichersten fühlt, dann aber auch in schummrigen Gassen oder in seiner vorübergehenden Unterkunft. Die Action treibt letztlich nur die Handlung voran und ist für Sallis eher nachrangig. Ihm geht es eher um die Welt, in der sich Driver bewegt und behaupten muss. Mit lakonischer Lässigkeit bleibt Driver einfach am Leben, da er kaum eine Alternative sieht. Sein Leben lang unterzutauchen ist nicht seine Sache, also sucht er die finale Konfrontation, taucht tief in die triste Dunkelheit großstädtischer Pestilenz ab und räumt mit dem Müll auf. 
Auch wenn die Handlung gegenüber „Drive“ wenig Neues präsentiert, ist die Art und Weise, wie Sallis seinen Figuren und ihrer Umgebung Leben einhaucht, einfach einmalig. 

 

James Sallis – „Driver“

Samstag, 5. Februar 2022

(Liebeskind, 160 S., HC) 
James Sallis war im deutschsprachigen Raum nur durch die drei schmalen in der leider nur kurzlebigen DuMont-Noir-Reihe veröffentlichte Bändchen „Die langbeinige Fliege“, „Nachtfalter“ und „Deine Augen hat der Tod“ bekannt, ehe sein 2005 veröffentlichter Roman „Drive“ zwei Jahre später unter dem Titel „Driver“ bei Liebeskind erschien und mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde. Nicht zuletzt durch die 2011 erfolgte Verfilmung des Romans durch Nicolas Winding Refn hat Sallis‘ noch überschaubares Gesamtwerk endlich die verdiente Aufmerksamkeit in der Gemeinde des literarischen Krimis gewonnen. 
In der Anonymität der amerikanischen Großstädte kennt man ihn nur als Driver. Der junge Mann, der zum bekanntesten Stuntfahrer in Hollywood avanciert ist, hat nichts anderes gelernt, als mit Autos umzugehen. Schon als Junge wurde er von seinem Vater auf Diebstahl-Touren mitgenommen. Da er bis zum zwölften Lebensjahr für sein Alter recht klein gewesen war, passte er nämlich durch die kleinsten Öffnungen. Eines Tages hatte seine Mutter aber genug von ihrem Mann, schlitzte ihm mit einem Messer am Esstisch die Kehle auf und landete in der Psychiatrie. 
Driver wuchs bei Pflegeeltern in Tucson auf, lernte von einem Kumpel das Autofahren, bis er ein paar Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag seine Sachen packte, sich den Ford Galaxie von Mr. und Mrs. Smith schnappte und Richtung Kalifornien fuhr, wo er in einer Kneipe den bekannten Stuntfahrer Shannon kennenlernte. Dieser verschaffte ihm die ersten Jobs in Hollywood, nebenbei verdingte sich Driver als Fluchtwagenfahrer. Mittlerweile hält es Driver selten länger an einem Ort. Seine Sachen sind stets schnell gepackt, Spuren hinterlässt er so gut wie keine. Doch dann macht er bei einem Deal mit, den er eigentlich nicht überleben sollte. Driver begibt sich auf eine Rachemission. Schließlich hat er in den Drehpausen so einige Tricks von den Stuntleuten aufgeschnappt. Auf dem Weg zu Nino hinterlässt Driver einige Leichen, denen er Gutscheine von Ninos Pizzeria anheftet, so dass ihr Auftraggeber schnell erfahren wird, was da auf ihn zukommt … 
„Etwas schnürte ihm den Hals ab. Scheiße – Draht? Er zerrte daran, wusste aber, dass es nichts nützen würde. Irgendwer hinter ihm zog immer fester zu. Und das Warme auf seiner Brust, das musste dann wohl Blut sein. Als er fieberhaft versuchte, nach unten zu sehen, fiel ein glutiger Fleischbrocken, sein Fleisch, auf seine Brust. Das war’s dann also, dachte er, in dieser beschissenen Gasse, mit vollgeschissener Hose. Verdammte Scheiße. Driver steckte dem Espresso-Mann einen Coupon von Nino’s in die Jackentasche. Vorher hatte er die Worte ,Wir liefern auch außer Haus‘ rot eingekreist.“ (S. 119) 
Auch in seinem elften Roman braucht James Sallis nicht viele Worte, um die turbulente Geschichte eines jungen Mannes zu erzählen und nebenbei auch noch ein erschöpfendes Bild eines Landes zu zeichnen, in dem der American Dream längst zum Alptraum für die meisten Menschen geworden ist. In einer Zeit, in der die Städte immer hässlicher werden und ihre verlassenen Ränder mit den dort verbliebenen Menschen vor sich hin faulen, erzählt Sallis die Geschichte eines jungen Kerls, der gerade mal Anfang Zwanzig ist und so ziemlich alles verloren hat, was in seinem Leben mal Wert gehabt hat, vor allem die Familie. 
Nach den eigenen Eltern hat er auch seine Pflegeeltern hinter sich gelassen, Driver verliert Freunde und Ersatzväter wie Shannon und Doc. Ganz auf sich allein gestellt und so gut wie nur möglich in der Anonymität lebend kann sich Driver nur auf seine versierten Künste als Monteur und Fahrer verlassen. Sallis beschreibt in seiner unnachahmlichen Sprache eine durch und durch korrupte Welt, in der nur die Stärksten und Cleversten überleben. Selbst den Leuten, denen er am meisten zu vertrauen bereit ist, verraten ihn ohne Hemmungen. Geld und Macht scheint alles zu sein, was zählt. Driver wird in diese düstere Welt hineingesogen, kann sich behaupten, verlässt sich nur auf sich selbst, schlägt sich durch, strandet immer wieder in heruntergekommenen, anonymen Motels. Auf Rachefeldzug geht er nur, um selbst am Leben zu bleiben. Spaß bereitet es ihm nicht, hinter sich aufzuräumen, aber gewisse Dinge müssen einfach getan werden. Dabei gestatten sich Sallis und sein Protagonist keine Gefühlsduseleien. Liebe und Mitleid haben hier keinen Platz. Sallis wechselt ständig Ort und Zeit, lässt Driver in Träumen und Erinnerungen schwelgen, so dass sich erst nach und nach das Puzzle seines Lebens zusammensetzt. Das ist so temporeich und spannend geschrieben wie ein düsterer Action-Thriller, der einige Jahre später zum Glück mit „Driver 2“ noch seine Fortsetzung finden wird. 

 

James Sallis – „Deine Augen hat der Tod“

Montag, 31. Januar 2022

(Liebeskind, 192 S., HC) 
Nach den ersten drei Romanen um den Privatdetektiv Lew Griffin und vor der Trilogie um den Ex-Cop John Turner und dem preisgekrönten, auch erfolgreich verfilmten Roman „Driver“ präsentierte der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis 1997 mit „Death Will Have Your Eyes“ einen Roman, der in seiner komplexen Struktur mit einem minimalistisch umrissenem Plot typisch für dem Autor werden sollte. In seinem früheren Leben ist David Auftragskiller für die Agency der Regierung gewesen, aber das ist bereits neun Jahre her. Mittlerweile hat er Karriere als Künstler gemacht und ist mit seiner Lebensgefährtin Gabrielle sesshaft geworden. Bis er eines frühen Morgens einen Anruf erhält, der ihn auf Schlag in sein früheres Leben zurückversetzt. 
David geht zum Joggen in den Part, ruft von einer Telefonzelle zurück. Die Agency hat bereits alles arrangiert. Bereits um zehn Uhr wird er unter dem Namen Dr. John Collins eine Maschine der American Airlines nach St. Louis besteigen, dann geht es weiter nach Memphis. Kaum hat er aufgelegt, wird David von zwei Räubern angegriffen. Wie auf Knopfdruck ist er wieder ganz der Alte, schaltet die beiden unerfahrenen Angreifer im Nu aus. Gabrielle bittet er, ein paar Sachen zu packen und irgendwo unterzutauchen. Als er wie geplant das für ihn reservierte Motelzimmer bezieht, retten ihm seine alten Instinkte das Leben. Offenbar hat die Agency jemanden geschickt, ihn auszuschalten, doch David geht mit seinem Attentäter eine friedliche Kooperation ein. 
Im Büro seines alten Chefs Johnsson wird David darüber informiert, dass er ebenso wie sein früherer Kollege Luc Planchat Teil eines bestimmten Programms gewesen sei, deren Spuren die Agency nun löschen will. Das Problem ist, dass Planchat sich ebenso wie David von der Agency losgesagt hat, aber mit einigen mysteriösen Todesfällen in der Vergangenheit in Verbindung gebracht wird. David bleibt nichts anderes übrig, als Jagd auf Planchat zu machen, um nicht selbst ins Visier der Attentäter zu geraten, aber auch, um Gabrielle zu finden. 
„All diese Biegungen und Verzweigungen, die Dunkelheit und Desorientierung, die Suche nach einem weisen Mann, Informationen sammeln, wie man sagt – all das war meine eigenwillige, blinde Fahrt von Washington nach Süden. Und als mir das klar wurde, wusste ich plötzlich auch, dass Gabrielle der Grund dafür war, dass ich meinen Weg nach New Orleans gesucht und gefunden hatte, wenn auch umständlich und vorsichtig. Es hatte wenig oder gar nichts mit Planchat und den anderen zu tun, die möglicherweise dort draußen waren.“ (S. 149) 
Mit „Deine Augen hat der Tod“ hat Sallis einen ganz und gar unkonventionellen Thriller abgeliefert, der nichts mit den action- und wendungsreichen Plots à la James Bond und Jason Bourne zu tun hat. Sallis führt seinen Protagonisten nur kurz mit dessen Reaktivierung ein. Die Wege von David und Gabrielle trennen sich so schnell, kaum dass wir Gabrielle als Tochter einer irischen Mutter und eines mexikanischen Vaters kennengelernt haben. Fortan begleitet der Leser David bei seinem Road Trip durch die Staaten, führt ungewöhnliche Dialoge mit seinen alten Weggefährten Johnsson und Blaise, trifft auf merkwürdige Weise mit Attentätern zusammen und lernt Amerika aus der Perspektive des einsam Reisenden kennen, die Cafés und Diners, die Motels und Städte für Piltdown, das eine exakte Nachbildung des britischen Oxford darstellt. 
Immer wieder flicht Sallis detaillierte Beschreibungen der Stationen auf Davids Reise ein, was den Erzählfluss der recht kurzen Geschichte zwar hemmt, dafür bringt der Autor seinem Publikum intime Eindrücke und Erinnerungen seines Protagonisten näher. Ohnehin spielt die Handlung selbst nur eine untergeordnete Rolle und dient nur dazu, auf rudimentäre Weise die Grundzüge des Agenten-Thrillers abzudecken. Viel mehr zeichnet Sallis wie so oft das vielschichtige Portrait eines Menschen außerhalb der Gesellschaft, auf der Suche nach sich selbst und der Bedeutung seiner Erinnerungen und Erfahrungen. Dieses Geflecht wirkt nicht immer nachvollziehbar, sinnvoll oder logisch – es ist letztlich so verworren wie die Reise des Lebens selbst. Das in wenigen Sätzen abzubilden und dabei ganze Seelenlandschaften zu evozieren ist Sallis‘ große Kunst. 

 

James Sallis – „Der Killer stirbt“

Samstag, 29. Januar 2022

(Liebeskind, 251 S., HC) 
Nicht nur mit seinen beiden Reihen um den Privatdetektiv Lew Griffin und den Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater John Turner hat sich der US-amerikanische Autor James Sallis in die Herzen von Kritikern und Lesern geschrieben, populär wurde er vor allem durch seinen 2008 mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Roman „Drive“, den Nicolas Winding Refn drei Jahre später mit Ryan Gosling in der Hauptrolle verfilmte. 2011 legte Sallis mit „Der Killer stirbt“ erneut einen mehrfach (u.a. mit dem Hammett Prize und dem Grand prix de littérature policière) ausgezeichneten Roman vor, der zwar von Mord und Tod und Ermittlungen handelt, aber jede Erwartung an einen konventionellen Kriminalroman unterläuft. 
Der alternde und sterbende Auftragsmörder Christian soll den unbedeutenden Buchhalter John Rankin ausschalten. Tagelang verfolgt der Killer den sehr strukturierten Tagesablauf des Hyundai fahrenden Mannes und muss dann erstaunt feststellen, dass ihm offensichtlich ein anderer Kollege zuvorgekommen ist, es aber vermasselt hat. Als der angeschossene Rankin aus dem Bürogebäude getragen und ins Krankenhaus gefahren wird, versucht Christian herauszufinden, was da genau passiert ist und wie seine Auftraggeber auf die gescheiterte Mission reagieren. 
Währenddessen träumt der elfjährige Jimmie davon, wie dem ihm unbekannten Wayne Porter die Kehle durchgeschnitten wird. Im Wachzustand versucht er das Leben in dem Haus zu regeln, in dem er seit einem Jahr schon ganz allein lebt. Erst war seine Mutter von einem Tag auf den anderen verschwunden, wenig später suchte auch sein Vater das Weite. Jimmie verkaufte das Auto seines Vaters, die Silbermünzen seiner Mutter und fing schließlich an, übers Internet Sachen zu kaufen und zu verkaufen, so dass er von der Gesellschaft und den Institutionen unbemerkt sein eigenverantwortliches Leben führen kann. Einzig die aufmerksame Nachbarin Mrs. Flores weiß von seinem Geheimnis und versorgt den Jungen, der jede Woche im Altenheim aus einem Buch vorliest, gelegentlich mit Essen. 
Die beiden Cops Sayles und Graves versuchen, den Mordanschlag auf Rankin zu untersuchen, kommen aber keinen Schritt weiter. Sayles ist ohnehin in Gedanken oft bei seiner Frau Josie, die im Hospiz auf ihren Tod wartet. Schließlich kreuzen sich die Wege von Christian und Sayles … 
„Sayles beugte sich zum Bett hinunter. Ihm fielen alle möglichen Dinge ein, die er sagen könnte. Über das Verständnis, was jetzt wichtig war. Dass es okay war, loszulassen. Ruhe zu finden. Aber was er flüsterte, mit den Lippen nur Zentimeter vom Ohr des Mannes entfernt, war etwas viel Einfacheres: Du bist nicht allein.“ (S. 247) 
Bereits in seinen ersten Romanen um den Privatdetektiv, Literaturdozenten und Autor Lew Griffin hat James Sallis sich von den gängigen Konventionen von Dramaturgie und Erzählfluss entfernt und sich darauf konzentriert, durch detailliert geschilderte Augenblicke und Erinnerungsfetzen ein Gefühl für seine Figuren zu entwickeln. Mit „Der Killer stirbt“ hat Sallis diese Kunst perfektioniert. Es nimmt etwas Zeit in Anspruch, bis sich der Leser in die letztlich miteinander verwobenen Einzelschicksale hineinfindet. Die beiden Detectives Sayles und Graves versuchen ebenso wie der allmählich von seiner tödlichen Krankheit gezeichnete, langsam erblindende Killer Christian herauszufinden, wie es zu dem Attentat auf den unbedeutenden Buchhalter gekommen ist. 
Doch die Aufklärung wird zur Nebensache, schließlich muss sich Christian mit seiner eigenen Sterblichkeit und Sayles mit dem nahenden Tod seiner Frau auseinandersetzen. Jimmie ist schließlich durch seine Alpträume mit Christian verbunden, sucht den Sinn des Lebens im Internet, wo er auf ein interessantes Blog stößt, in dem ein Autor namens Traveler mit seinen Beiträgen das Leben seiner Leser verändert hat. 
Sallis geht es nicht darum, eine klassische Whodunit-Geschichte zu erzählen. Er bringt auf einzigartige Weise die Schicksale einzelner Menschen zusammen, verzichtet auf chronologische Kohärenz, wechselt ständig zwischen den Figuren und ihren Gedanken, Erinnerungen, Träumen und Erlebnissen hin und her. Verlust und Tod und Angst verbindet sie alle miteinander, doch die Beziehungen zwischen ihnen sind fragil, lassen sich lange Zeit nur erahnen. 
Mit seinen gerade mal 250 Seiten ist „Der Killer stirbt“ zu kurz geraten, um sich auch nur mit einer der Figuren identifizieren zu können, die kaum miteinander ins Gespräch kommen, aber in den messerscharf formulierten Beobachtungen und Gedanken kommt die ganze Tragik des menschlichen Daseins zum Ausdruck. Das ist vielleicht weniger ein gelungener Kriminalroman als große, wenn auch sperrige Literatur. 

 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 18) „Eine Zelle für Clete“

Donnerstag, 27. Januar 2022

(Pendragon, 544 S., Pb.) 
Seit der aus Louisiana stammende Schriftsteller James Lee Burke 1987 mit „The Neon Rain“ den ersten Roman um den Vietnam-Kriegsveteranen, Alkoholiker und Cop Dave Robicheaux und seinen besten Freund und Partner Clete Purcel veröffentlichte, ist der Südstaaten-Autor aus der internationalen Krimi- und Literaturszene nicht mehr wegzudenken. Die meist um die 500 Seiten starken Romane tauchen nicht nur tief in die außergewöhnliche Atmosphäre der Landstriche ein, in der die Narben der Sklaverei längst nicht verheilt sind, sondern machen den Leser mit den dunkelsten und hellsten Seiten der menschlichen Seele vertraut. Das trifft vor allem auf den mittlerweile 18. Band der preisgekrönten Reihe zu, in der es Robicheaux und Purcel mit einer Reihe von bestialischen Morden an jungen Frauen zu tun bekommen. 
Als Detective Dave Robicheaux im Iberia Parish die Morde an sieben jungen Frauen untersucht, erhält er einen Tipp von dem Häftling Elmore Latiolais. Eines der Opfer war nämlich seine Schwester Bernadette, die allerdings, wie er betont, keine Prostituierte wie die anderen Mädchen gewesen sei. Für ihren Tod macht er allerdings den Zuhälter Herman Stanga verantwortlich. Robicheaux verhört den Mann, bekommt aber keine weiteren sachdienlichen Informationen aus dem Mann heraus. Mit etwas mehr Nachdruck versucht es später Robicheaux‘ Kumpel Clete. Im betrunkenen Zustand prügelt er Stanga halbtot, wenig später wird Stanga ermordet aufgefunden. 
Während Robicheaux alle Hände voll zu tun hat, seinen Kumpel vor dem Knast zu bewahren, sorgt er sich auch noch um seine Adoptivtochter Alafair, die ihre erste große Liebe mit dem bekannten Schriftsteller Kermit Abelard erlebt. Allerdings wirkt der Mann in den Augen des Cops und fürsorglichen Vaters alles andere als koscher, hängt er doch mit dem schmierigen Ex-Knacki Robert Weingart ab. Robicheaux vermutet, dass die beiden Männer Alafair nur ausnutzen, da sie ihren ersten Roman durch die Kontakte der beiden wahrscheinlich besser in einem Verlag unterbringen könnte. Doch je mehr sich Robicheaux und Purcel in die Angelegenheiten der einst mächtigen Abelard-Familie und des Knast-Autors Weingart einmischen, umso mehr wühlen sie Dreck auf, bei dem ein soziales Hilfsprojekt und Landnutzungsrechte eine große Rolle spielen und nach weiteren Todesfällen auch auswärtige Auftragskiller auf den Plan rufen. Aber vor allem mit Clete Purcel ist nicht zu spaßen … 
„Dass er sich für die gerechte Sache einsetzte, befreite ihn in seinen Augen von jeder Schuld, so als wären seine Verfehlungen nur ein Opfer, das er für die gute Sache brachte. Doch er war in seiner Naivität nicht allein. Ich selbst ermittelte in Angelegenheiten, für die ich nicht zuständig war, meine Einschätzungen waren oft von Vorurteilen beeinflusst, meine Hartnäckigkeit grenzte wahrscheinlich an Besessenheit. In den Augen der anderen war vieles, was ich tat, genauso verrückt wie Cletes Eskapaden. Und da waren wir nun, die zwei Hofnarren in Louisiana, die es mit Angehörigen der gesellschaftlichen Elite aufnahmen, ohne den kleinsten Beweis in der Hand zu haben.“ (S. 419) 
Einmal mehr wühlen Detective Dave Robicheaux und sein ehemaliger Partner im Vietnam-Krieg und im New Orleans Police Department, Clete Purcel, mächtig im Dreck, den die herrschende Schicht im Iberia Parish stets so gut zu verbergen versteht. Die beiden „Bobbsey Twins“ nehmen dabei nicht immer Rücksicht auf rechtliche Vorgaben und Dienstvorschriften. Wenn sie erst einmal das Gefühl haben, dass eine Sache stinkt, lassen sie nicht mehr locker, bis die Pestbeule ausgemerzt ist – oft sehr zum Missfallen von Robicheaux’ Chefin Helen Soileau, die aber auch weiß, dass Robicheaux meist auf der richtigen Spur ist. Sein Kumpel Clete ist da weniger zimperlich und als Privatdetektiv ohnehin etwas offener in seiner Vorgehensweise. 
James Lee Burke inszeniert ein fein gesponnenes Netz aus menschlichen Abgründen und unheilvollen Beziehungen, die zu dem schmerzlichen Tod sieben junger Frauen geführt haben, aber viel tiefer in die über Jahrhunderte gewachsene Geschichte der Südstaaten reicht. Auch hier kommen wieder mafiöse Verbindungen und ein Menschenbild zum Vorschein, das zeigt, dass die Sklaverei noch tief in den Köpfen der Menschen verwurzelt ist. Der Plot ist durchweg fesselnd und so geschickt konstruiert, dass fortwährend interessante Verknüpfungen und Hintergründe aufgedeckt werden, die allerdings schwer zu beweisen sind und die Bobbsey Twins zu drastischen Maßnahmen zwingen, denn ihre Gegner erweisen sich weit skrupelloser bei ihren Verbrechen. Etwas kurz kommt allerdings Robicheaux‘ Familie. Da Alafair direkt an dem Geschehen beteiligt ist, bekommt sie etwas Raum zur Entwicklung, aber Robicheaux‘ Frau Molly spielt die kleinste Nebenrolle, die man sich nur vorstellen kann. 
Dafür sind Burke die Charakterisierungen seiner beiden Protagonisten, aber auch der undurchsichtigen Typen im Umfeld der Abelards und Blanchets ausgesprochen tiefgründig und faszinierend gelungen, die Dialoge und Action herrlich spritzig formuliert. „Eine Zelle für Clete“ gehört fraglos zu den besten Romanen der großartigen Robicheaux-Reihe. 

 

Paul Auster – „Mond über Manhattan“

Freitag, 21. Januar 2022

(Rowohlt, 384 S., HC) 
Im Herbst 1965 kommt der 18-jährige Student Marco Stanley Fogg nach New York, um an der Columbia Literaturwissenschaft zu studieren. Als er nach neuen Monaten das Studentenwohnheim verlassen kann und in der West 112th Street ein Apartment bezieht, sind es die von seinem Onkel Victor geerbten Bücherkisten, mit denen der junge Mann die Räumlichkeiten möbliert. Als dieser im Frühjahr 1967 unerwartet im Alter von 52 Jahren verstirbt, verliert Fogg nicht nur seine letzte familiäre Bindung – seine Mutter kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als Fogg elf war, einen Vater hat es nie gegeben, so dass sein Onkel zum Vater-Ersatz wurde - sondern auch den Halt in seinem Leben. 
Mit dem geerbten Geld kann Fogg sein Studium nicht zu Ende finanzieren, er leidet Hunger, verliert die Wohnung, deren Besonderheit vor allem darin besteht, dass mit der kleinen Aussicht auf den Broadway auch die Leuchtreklame eines chinesischen Restaurants zu sehen ist. Der „Moon Palace“-Schriftzug lässt Fogg an die Moon Men denken, an die Band seines Onkels, dessen Bücher er nach und nach verkauft, um von dem mickrigen Erlös Miete und Essen zu bezahlen. Als das nicht reicht und Fogg die Wohnung räumen und das Studium schmeißen muss, zieht Fogg als Obdachloser durch die Straßen, nächtigt im Central Park, hungert bis auf die Knochen ab, bis ihn die Zufallsbekanntschaft der 19-jährigen Kitty Wu vor dem sicheren Tod bewahrt. 
Sie besorgt ihm eine Bleibe bei seinem früheren Studienkollegen David Zimmer, wo er allmählich wieder zu Kräften kommt und schließlich eine Stelle als Vorleser beim exzentrischen, blinden und reichen 86-jährigen Thomas Effing bekommt. Dem alten, an den Rollstuhl gefesselten Mann liest er allerdings nicht nur vor, sondern er unternimmt auch Spaziergänge mit ihm und schreibt seine obskure Lebensgeschichte auf. Demnach hieß Effing früher Julian Barber, kam zufällig an viel Geld, als er an die Westküste reiste, und begann unter neuem Namen ein neues Leben. 
Als Effing stirbt, schreibt Fogg, der seinen Vornamen auf die Initialen M.S. verkürzt hat, wie vom alten Herrn gewünscht dessen Nachruf und beginnt, Effings Sohn Solomon Barber ausfindig zu machen. Als Barber nach einem Auslandsaufenthalt für ein langes Wochenende nach New York kommt, um mit Fogg über seinen Vater zu reden, findet der junge Mann heraus, dass seine Mutter eine der Studentinnen des Geschichtsprofessors war, der als Siebzehnjähriger einen biografisch gefärbten, nie veröffentlichten Roman über seinen Vater geschrieben hatte. Als sich Fogg mit dem Manuskripts auseinandersetzt, fügen sich die Puzzleteile seines Lebens allmählich zusammen, und er macht sich selbst auf eine abenteuerliche Reise in den Westen, um die Höhle zu suchen, die Effing in seiner Geschichte erwähnt hat … 
„Vielleicht war es die schiere Aussichtslosigkeit des Unternehmens, was bei mir den Ausschlag gab. Wenn ich auch nur die geringste Möglichkeit gesehen hätte, dass wir die Höhle finden könnten, würde ich mich wohl kaum auf die Suche eingelassen haben, aber die Vorstellung, auf eine sinnlose Suche auszuziehen, zu einer Reise aufzubrechen, die ein Fehlschlag werden musste, sagte meiner derzeitigen Sicht der Dinge zu. Wir würden suchen, aber wir würden nicht finden. Nur die Reise als solche war wichtig, und am Ende bliebe uns nichts als die Vergeblichkeit des Strebens.“ (S. 359) 
Von Beginn an in seiner schriftstellerischen Karriere hat sich bei Paul Auster Biografisches mit fiktionalen Geschichten vermischt. Neben den (auto-)biografischen Titeln „Die Erfindung der Einsamkeit“, „Das rote Notizbuch“, „Von der Hand in den Mund“ und „Die Geschichte meiner Schreibmaschine“ hat er auch in seinen frühen Romanen „Die New-York-Trilogie“ und „Im Land der letzten Dinge“ stets außergewöhnliche, wenn auch fiktionale Lebensgeschichten veröffentlicht, die bereits Austers Talent für die einfühlsame Beschreibung der Innen- und Außensicht seiner Figuren dokumentiert. 
Mit seinem 1989 veröffentlichten Roman „Moon Palace“, der im folgenden Jahr in deutscher Übersetzung von Werner Schmitz erschienen ist, schickt Auster seinen jungen Protagonisten Marco Stanley Fogg auf eine Sinnsuche von wortwörtlicher existentieller Bedeutung. Fogg, der sich aus großen Reisenden wie Marco Polo, Henry Morton Stanley und Phileas Fogg aus dem Roman „In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Verne zusammensetzt, muss seit seiner Kindheit lernen, ohne Eltern aufzuwachsen, findet in seinem Jazz-Klarinette spielenden Onkel einen passenden Vater-Ersatz und muss auf die harte Tour die Herausforderungen des Erwachsenwerdens meistern – das alles unter den Begleiterscheinungen der ersten Mondlandung und dem Vietnamkrieg. 
Doch bevor auch Fogg fremde Welten erkunden kann, landet er ganz tief unten, bis auf die Knochen abgemagert lernt er schließlich eine unermessliche Woge an Hilfsbereitschaft und Liebe kennen, lernt aber auch, die Welt mit anderen Augen zu sehen, als er gezwungen wird, für seinen blinden Arbeitgeber Mr. Effing ganz alltägliche Dinge zu beschreiben. Als er sich auf eine hoffnungslose Reise begibt, nachdem er auch seine Liebe verloren hat, fügen sich die Puzzleteile seines Lebens endlich zusammen. 
Auster erweist sich bei dieser abenteuerlichen Odyssee als bravouröser Stilist, der mit seinen bildhaften Beschreibungen den Leser in die Handlung mit hineinzieht. Erst als sich Auster mit den zunehmend abenteuerlichen Lebensläufen von Foggs Verwandten, Vorfahren und Weggefährten auseinandersetzt, schleichen sich auch Längen ein, doch findet „Mond über Manhattan“ einen versöhnlichen Abschluss. Der Roman zeigt auf vielfältige Weise auf, welch ungewöhnliche Geschichten doch hinter unscheinbar wirkenden Menschen stecken, wie Wahrnehmung und Einstellung das Schicksal eines Menschen beeinflussen können.  

Jo Nesbø – (Harry Hole: 6) – „Der Erlöser“

Dienstag, 11. Januar 2022

(Ullstein, 508 S., HC) 
In seinem sechsten Fall ermittelt der Osloer Kriminalkommissar Harry Hole im Todesfall des Junkies Per Holmen. Der heroinabhängige Junge wurde in einem Container auf dem Hafengelände von Bjørvika erschossen aufgefunden, die Pistole neben sich. Doch so recht will sich der Alkoholiker Hole mit dem offensichtlichen Selbstmord nicht zufriedengeben, besucht das Café der Heilsarmee, in der sich Obdachlose und Abhängige immer mal wieder aufwärmen und kommt in Holmens Familie den wahren Umständen von Pers Tod auf den Grund. Währenddessen hat Harry Hole mit etlichen Veränderungen in seinem Leben zu kämpfen. 
Sein früherer Chef Bjarne Møller lässt sich auf eigenen Wunsch nach Bergen versetzen, um dort das Dezernat für Gewaltverbrechen zu leiten. Zum Abschied erhält Hole von ihm eine zu laut tickende Armbanduhr, die er eines Nachts frustriert aus dem Fenster wirft. Møllers Nachfolger Gunnar Hagen nervt Hole nicht nur mit seinen Erzählungen über die Tapferkeit japanischer Soldaten, sondern versucht Hole auch noch etwas Disziplin beizubringen. Während seine frühere Lebensgefährtin Rakel einen neuen Liebhaber hat, macht Hole allmählich wieder Bekanntschaft mit seinem vertrauten Feind Alkohol. Ebenso schwierig erweisen sich die Ermittlungen im Mordfall von Robert Karlsen, einem bekannten Soldaten der Heilsarmee, der während eines Konzerts mitten in der Vorweihnachtszeit auf Norwegens bekanntester Straße aus kürzester Distanz erschossen wurde. 
Anhand der Bilder, die das Dagbladet als Mitorganisator der Konzerte am Egertorg gemacht hat, fällt ein Mann mit einem auffälligen roten Schal auf, den die Polizei als den kroatischen Auftragsmörder Stankic identifiziert. Der wartet bereits am Flughafen auf den Rückflug nach Zagreb, doch spielt ihm das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Durch den zwangsläufig verlängerten Aufenthalt in Oslo erfährt Stankic, dass er den falschen Karlsen erschossen hat. Offensichtlich hatte Robert kurzfristig mit seinem Bruder Jon, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, den Dienst getauscht. 
Während „der Erlöser“ seinen Irrtum korrigieren will, sterben weitere Menschen, so Jon Karlsens wohlhabende Geliebte Ragnhild und Holes junger Kollege Jack Halvorsen, der seinen Verletzungen nach einem Messerangriff im Krankenhaus erliegt. Hole reist auf eigene Faust nach Zagreb, um Stankics Auftraggeber zu ermitteln, und stellt fest, dass Jon Karlsen das eigentliche Opfer des Attentats werden sollte. Zurück in Oslo beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn Hole will auf jeden Fall verhindern, dass Stankic weitere Morde ausübt, doch dann läuft alles anders als geplant … 
„Er spürte einen Kloß im Hals, der immer dicker wurde, und dachte an etwas, das Møller bei ihrer letzten Begegnung hier oben gesagt hatte: Es sei verrückt, dass man vom Zentrum Norwegens zeitgrößter Stadt nur sechs Minuten mit der Seilbahn fahren musste und sich plötzlich in eienr Gegend befand, in der sich ein Mensch verlaufen und zu Tode kommen konnte. Dass man im Zentrum von etwas, das man selbst als Gerechtigkeit empfand, plötzlich jede Orientierung verlieren und zu etwas mutieren konnte, das man normalerweise selbst bekämpfte.“ (S. 507) 
Es geht hoch her in „Der Erlöser“, dem sechsten Band um den 1,93 Meter großen, alkoholkranken Kommissar Harry Hole. Mit dem einführenden Fall des toten Junkies in einem Container beweist Hole sich und den Lesern, dass er noch immer mit dem Gespür eines brillanten Ermittlers gesegnet ist. Dieses braucht er dann auch im aufsehenerregenden Mord an dem Heilsarmee-Soldaten Robert Karlsen. Je tiefer Hole und seine Kollegen in die Organisation der Heilsarmee bekommen, desto verworrener erscheinen auch die Beziehungen zwischen den Beteiligten. Affären, Korruption, Missgunst und Hass sind hier offenbar ebenso an der Tagesordnung wie in der regulären Welt. 
Tatsächlich entwickelt Nesbø hier seine größten Stärken, wenn er nach und nach dieses komplexe Geflecht entwirrt und dabei geschickt Stück für Stück elementare Ereignisse aus der Vergangenheit sowohl der beiden Karlsen-Brüder als auch deren gemeinsame Bekannte Martine freilegt, mit der Hole selbst gern etwas anfangen würde. Allerdings schleichen sich in dem 500-Seiten-Krimi auch so einige Längen ein, die der Autor durch unnötige Spielereien und kleine falsche Fährten einfügt. Dafür ist das furiose und temporeiche Finale dramaturgisch erstklassig inszeniert und bekommt am Ende für Hole auch noch eine sehr persönliche, überraschende Note. Es bleibt also weiterhin spannend in Holes Leben und Karriere! 

 

Garry Disher – (Wyatt: 7) „Dirty Old Town“

Sonntag, 2. Januar 2022

(Pulp Master, 324 S., Tb.) 
Der australische Schriftsteller Garry Disher hat sich breit aufgestellt. Zwar ist er vor allem durch seine Krimi-Reihen und den Berufsdieb Wyatt und Inspektor Challis bekannt geworden, hat aber auch etliche Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher geschrieben. Nach den sechs erfolgreichen Wyatt-Romanen „Gier“ (1991), „Dreck“ (1992), „Hinterhalt“ (1993), „Willkür“ (1994), „Port Vila Blues“ (1996) und „Niederschlag“ (1997) schien die Geschichte von Wyatt zunächst auserzählt, doch nach 13 Jahre Pause legte Disher mit „Dirty Old Town“ (2010) den siebten Roman der erfolgreichen Reihe nach, auf die bislang noch zwei weitere Abenteuer folgten. 
Einst ist Eddie Oberin als Bankräuber und Fluchtwagenfahrer aktiv gewesen. Mittlerweile schiebt er als Hehler und Informant eine ruhigere Kugel. Ihm hat Wyatt den Tipp mit dem überschuldeten Hafenmeister des Port of Melbourne zu verdanken, der es sich gut bezahlen ließ, Schiffe nicht in Quarantäne zu schicken. Bei einem der Geldübergaben ist Wyatt zur rechten Stelle, doch die Polizei auch. Wyatt gelingt zwar die Flucht, doch die erbeutete Aktentasche enthält nur 1600 australische Dollar und sonst nur Papier zwischen den Ober- und Unterseiten der vermeintlichen Geldbündel. Einträglicher wirkt der nächste Coup, an dem der altmodische Dieb beteiligt ist. 
Wyatt hat weder Interesse, sich mit den ausgeklügelter Elektronik zu befassen, noch mit Drogen zu handeln. Stattdessen konzentriert er sich ganz auf das Geschäft mit Geld, Juwelen und Gemälden. Oberin hat durch seine Ex-Frau Lydia Stark den Tipp bekommen, dass die Gebrüder Henri und Joe Furneaux Schmuck der Extraklasse herstellen. Statt ihren Laden zu überfallen, wollen sie eine Lieferung kapern. Um die Probleme zu umgehen, die mit der wenig ertragsreichen Liquidierung der Schmuckstücke zusammenhängen, kommt mit dem französischen Kurier Alain Le Page eine weitere Komponente ins Spiel. Neben seiner legalen Fracht aus Edelsteinen, Goldketten und kleinen Goldbarren transportiert Le Page nämlich auch gestohlene Exemplare von Luxusmarken wie Breitling, Rolex, Piaget, Georg Jensen etc., auf die es Stark, Oberin und Wyatt abgesehen haben. 
Doch der Überfall verläuft anders als geplant: Oberin und seine Geliebte Khandi Cane ziehen den Deal auf eigene Rechnung durch, schießen Lydia an. Wyatt nimmt sich der verletzten Frau an und entwickelt dabei mehr Gefühle für sie, als ihm lieb ist. Doch auch Eddie Oberin kommt nicht ungeschoren aus der Sache raus. Die ehrgeizige Polizistin Rigby gelangt nämlich an den Koffer, an dem sich statt des erwarteten Klunkers Wertpapiere befanden. Nun machen die geprellten Partner Jagd aufeinander … 
„Er fragte sich, was Eddie wisse oder vermute, und logischerweise auch, wie er, Wyatt, sich an seiner Stelle verhielte. Ganz sicher würde er die Nachrichten im Radio und Fernsehen verfolgen. Er würde sich fragen, warum man nicht von Leichen in der Nähe des brennenden Audi berichtete. Und das würde ihn aus der Bahn werfen. Wenn er glaubt, dass ich noch lebe, dachte Wyatt, wird er es mit der Angst zu tun bekommen. Wenn er glaubt, dass ich tot bin, wird er sich fragen, warum die Cops dazu schweigen.“ (S. 136) 
Eigentlich stellt „Dirty Old Town“ ein klassisches Heist-Szenario mit unübersehbaren Noir-Elementen dar. Disher muss seinen Protagonisten Wyatt nicht groß einführen. Die Art, wie er die Hafenmeister-Geschichte durchzieht, sich bei Ma Gadd eine neue Waffe besorgt und dabei das unerwünschte Interesse ihres grobschlächtigen Neffen Tyler auf sich zieht, präsentiert einen durch und durch abgekochten und fokussierten Dieb, der seine Coups ebenso sorgfältig plant und nachbereitet, wie er sie durchzieht. 
Nachdem der vermeintliche Luxus-Schmuck-Coup aber fürchterlich aus dem Ruder gelaufen ist, beginnt die eigentliche Story, die Disher aus den verschiedenen Perspektiven aller Beteiligten erzählt. Das sorgt für Tempo und allerlei Verstrickungen. Zwar verpasst der Autor seinen Figur jeweils eine eigene Vita und Kontur, aber so richtig erwärmen mag man sich als Leser für niemanden, weshalb sich auch kein Bedauern einstellt, wenn eine Figur nach der anderen aus dem Spiel ausscheidet und sich Wyatt zum knackigen Finale nur noch mit seinem Endgegner herumschlagen muss. Das ist durchaus unterhaltsam geschrieben, fesselt allerdings nicht über die gesamte Strecke. Dazu nimmt der Plot zu viele Umwege in Kauf. 
So bietet „Dirty Old Town“ zwar ein turbulentes Wiedersehen mit Wyatt, doch dafür hätte Garry Disher seinen Helden nicht unbedingt reaktivieren müssen. 

 

Rick DeMarinis – „Götterdämmerung in El Paso“

Montag, 27. Dezember 2021

(Pulp Master, 320 S., Tb.) 
Als Sohn des italienischen Gangsters „Big Al“ DeMarinis ist Rick DeMarinis (1934-2019) früh mit der Welt in Kontakt gekommen, die er zwischen 1975 und 2015 in Romanen und Kurzgeschichten thematisiert hat. Zwar ist sein schriftstellerisches Werk innerhalb dieser 40 Jahre recht überschaubar geblieben, wurde aber immer wieder ausgezeichnet, so mit dem Jesse H. Jones Award des Texas Institute of Letters und dem Independent Publishers Award. Mit „El Paso Twilight“ erschien leider schon sein letzter Roman, der 2012 bei Pulp Master in deutscher Übersetzung vorgelegt wurde und wunderbar respektlos mit den Konventionen des Krimi-Genres aufräumt. 
Luther Penrose und J.P. Morgan sind schon seit der Schule enge Freunde. Da sich Luther in der Schule als großkotziger Streber präsentierte und von seinem besten Kumpel vor den Rowdys beschützt werden musste, etablierte sich diese Beziehung auch ihrem Einsatz bei Desert Storm. Als Millionenerbe war es Luther vergönnt, sich seiner Schriftstellerei zu widmen, während J.P. Morgan eine Karriere als Versicherungsdetektiv einschlug und nach seinem Rausschmiss dort nun auf eigene Rechnung Aufträge übernimmt. 
Luther ist gerade mit seinem neuen Werk beschäftigt, einem historischen Bildungsroman mit dem Titel „Der Entfesselte Parsifal“, als er seinen Freund damit beauftragt, seine Frau Carla wieder zurückzubringen. Die Dozentin für Lateinamerikanische Studien der Universität von Texas in El Paso setzt sich als leidenschaftliche Aktivistin für mexikanische Illegale ein und scheint mit dem Doktoranden Hector Martinez durchgebrannt zu sein, so Luthers Vermutung. Er setzt dabei nicht allein auf J.P.s Loyalität, sondern heuert auch noch die Detektei Hamilton Scales & Partner an. J.P. gelingt es, das vermeintliche Liebespaar in Las Vegas ausfindig zu machen, entdeckt aber, dass Carla und Hector eher durch ihre ehrenamtlichen Missionen verbündet sind als durch amouröse Leidenschaften. Es dauert nicht lange, da hängen J.P. auch die Kopfgeldjäger, Texas Ranger und eine obskure Nazi-Bruderschaft sich an die Fersen von Carla, Hector und J.P. Denn wie sich herausstellt, ist eine Menge Geld im Spiel … 
„Für mich sah die Sache folgendermaßen aus: Sie würde niemals nach Chihuahua City fahren. Sie würde einfahren. Auch Hector würde nicht nach Chihuahua City fahren. Höchstwahrscheinlich war er bereits tot. Und ich würde todsicher keine zehntausend Dollar von jemanden bekommen, der im Knast war oder tot. Dieses irre Vorhaben war bereits gescheitert und die Folgen würden alles andere als angenehm werden.“ (S. 183) 
Bereits in „Kaputt in El Paso“ hat DeMarinis das US-Grenzstädtchen am Rio Grande, auf dessen anderer Seite Juárez liegt, zum Mittelpunkt einer grenzüberschreitenden Handlung in bester Noir-Tradition gemacht. Mit „Götterdämmerung in El Paso“ bekommen das Flüchtlingsthema und vor allem rassistische Ressentiments, wie sie später in der Donald-Trump-Ära auf die Spitze getrieben wurden, eine besondere Bedeutung. So wie J.P. Morgans exzentrischer und selbstgefälliger Schriftsteller-Freund Luther in seinem neuen Roman, für den er tatsächlich einen Verleger findet, Hitler und Richard Wagner in einen Topf wirft, erhält die nationalistische Note durch die von verschiedenen Seiten organisierte Jagd auf Luthers Frau und ihrem Liebhaber weiteren Treibstoff. 
Es ist eine mehr als blutige Hetzjagd, die sowohl die Gesuchten als auch J.P. selbst nach Vegas, Phoenix bis nach Albuquerque treibt und immer wieder neue Aspekte zutage treten lässt, die die Geschichte ebenso abstrus wie bedrohlich real erscheinen lassen. DeMarinis präsentiert mit „Götterdämmerung in El Paso“ einen grotesken Road Trip, der die tiefe Zerrissenheit innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerung und ihrem Verhältnis zu ihren Nachbarn aus Mexiko offenbart. 

 

Alan Parks – (Harry McCoy: 3) „Bobby March Forever“

Freitag, 24. Dezember 2021

(Heyne Hardcore, 428 S., Pb.) 
Mit John Niven und Irvine Welsh hat Heyne Hardcore bereits zwei schottische Schriftsteller mit ganz eigener Stimme im Programm, über die ihr Landsmann Alan Parks mit seiner Reihe um den in Glasgow agierenden Cop Harry McCoy auf andere Weise verfügt. Während ihm zwar der derbe Humor seiner berühmten Kollegen abgeht, fesselt er mit atmosphärisch stimmigen und fesselnden Krimis. Nach „Blutiger Januar“ und „Tod im Februar“ folgt mit „Bobby March Forever“ nun der dritte Teil in der McCoy-Reihe. 
Für den damals 17-jährigen Bobby March ging ein Traum in Erfüllung, als er mit seiner Band The Beatkickers und ihrem Manager Tom im Februar 1964 im Zug nach London saß, um bei dem berühmten Parlophone-Label eine Aufnahmesession zu absolvieren. Knapp zehn Jahre später hat Bobby vor allem als Gitarrist Karriere gemacht und wurde sogar von den Rolling Stones gebucht. Doch nun wird seine Leiche mit einer Nadel im Arm in seinem Hotelzimmer in Glasgow entdeckt. Für Detective Harry McCoy von der Glasgower Police Force scheint der Fall schnell geklärt: Überdosis. Doch als er mit Bobbys heruntergekommenen Vater redet, erwähnt dieser eine beige Tasche, die sein Sohn immer in seiner Nähe hatte, doch im Hotelzimmer war sie nicht aufzufinden. 
McCoy hat aber dringendere Aufgaben zu erledigen. So wird seit fünfzehn Stunden die dreizehnjährige Alice Kelly vermisst, und der korrupte wie geschniegelte Detective Inspector Bernard „Bernie“ Raeburn schickt seinen verhassten ehemaligen Partner McCoy zunächst von Tür zu Tür für die Befragungen der Nachbarn, dann schanzt er ihm eine Reihe von ungelösten Raubüberfällen zu, nur damit er aus seinem Umfeld verschwindet. Als hätte der dreißigjährige Cop nicht schon genug zu tun, bekommt er von seinem ehemaligen Vorgesetzten Chief Inspector Hector Murray den inoffiziellen Auftrag, dessen fünfzehnjährige Nichte Laura wieder nach Hause zurückzubringen, nachdem sie offensichtlich mit dem berüchtigten Donny MacRae durchgebrannt ist. 
Als Raeburn einen psychisch labilen Jungen für den mutmaßlichen Mord an Alice einem brutalen Verhör unterzieht, kommt es zur Katastrophe, worauf Raeburn seinen Hass gegenüber McCoy offen auslebt. Der versucht mit Raeburns Partner Douglas „Wattie“ Watson Licht in die verschiedenen Fälle zu bekommen, wobei sich ihre Wege mit McCoys früheren Kumpel Steven Cooper kreuzen, der mit seinen Handlangern Billy Weir und Jumbo Mühe hat, die Zügel in Glasgows Unterwelt in der Hand zu behalten, ist er doch selbst von dem Stoff abhängig geworden, den er vertickt. Als McCoy zu einer Beerdigung nach Belfast fährt, gerät er auch noch mitten in die Konflikte mit der IRA. Aber auch wieder zurück in Glasgow erlebt McCoy einige böse Überraschungen … 
„Was ihn betraf, so hatte der einzige Mensch, dem er vertraute, gerade die Grenze überschritten. Und wenn dieser Mensch die Grenze überschritten hatte, dann war die Schlacht verloren. Dann konnte er genauso gut auch aufgeben. Wenn Murray die Grenze überschritten hatte, dann würde die Polizei bald nur noch aus Raeburns bestehen. Ignoranten Arschlöchern, die ihre Macht ausspielten, in die eigene Tasche wirtschafteten, das Gesetz auslegten, wie es ihnen am besten in den Kram passte. Und damit wollte er nichts zu tun haben.“ (S. 394) 
Offensichtlich plant Parks, mit seiner Reihe um Harry McCoy jeden Monat des Jahres abzudecken. Dabei trägt sein dritter Band den März nur im Namen des viel zu früh verstorbenen Rockstars, dessen Karriere Parks immer wieder in kurzen Rückblenden Revue passieren lässt. Hier demonstriert Parks ein ähnlich ausgeprägtes Gespür für Rockmusik und das Umfeld, in dem sie entsteht, wie er die Atmosphäre im an allen Ecken und Enden abgefuckten Glasgow wunderbar einzufangen versteht. Es ist allerdings eine dreckige Welt, in der Gewalt, Folter, Korruption, Entführungen, Überfälle, Drogenmissbrauch, Erpressung und Drohungen den Alltag bestimmen. Selbst McCoy muss einiges an Prügeln über sich ergehen lassen, schlägt aber auch mal zu, wenn es die Situation erfordert. 
McCoy bleibt kaum etwas anderes übrig, die Pubs abzuklappern und seine Kontakte zur Glasgower Unterwelt aufzufrischen, um all die vertrackten Fälle zu lösen, die ihm Raeburn auf den Tisch geknallt hat. Parks gelingt das Kunststück, durch die geschickte Verknüpfung der Spuren, die sein sympathischer Protagonist in den verschiedenen Fällen verfolgt, ein hohes Tempo beizubehalten und sukzessive die Spannung zu erhöhen. Dabei nimmt sich der Autor aber auch die Zeit, seine Figuren und die Umgebung, in der sie leben und arbeiten, so lebendig zu beschreiben, als wäre sein Roman ein Drehbuch für das Kino im Kopf des Lesers. Vor allem die authentisch wirkenden Dialoge und die Schilderung der Musik- und Pubszene machen „Bobby March Forever“ zu einem stimmungsvollen Pageturner, bei dem am Ende vielleicht etwas zu konstruiert alle Fälle gelöst werden. Auf jeden Fall hat Alan Parks mit Harry McCoy einen charismatischen, lebensecht wirkenden Cop geschaffen, der uns hoffentlich noch lange begleiten wird.  

William Lindsay Gresham – „Nightmare Alley“

Mittwoch, 15. Dezember 2021

(Heyne, 510 S., Pb.) 
Gleich mit seinem ersten, 1946 veröffentlichten Buch „Nightmare Alley“ wurde William Lindsay Gresham (1909-1962) weltberühmt, erwarb Hollywood doch für 60.000 $ die Filmrechte und machte 1951 unter dem deutschen Verleihtitel „Der Scharlatan“ mit Tyrone Power in der Hauptrolle einen Film daraus. An diesen Erfolg konnte Gresham Zeit seines Lebens nicht mehr anknüpfen. Zwar schrieb er anschließend noch vorwiegend non-fiktionale Bücher wie „Monster Midway: An Uninhibited Look at the Glittering World of the Carny“ (1954), „Houdini: The Man Who Walked Through Walls“ (1959) und „The Book of Strength: Body Building the Safe, Correct Way“ (1961), doch setzte er seinem Leben 1962 mit einer Überdosis Schlaftabletten vorzeitig ein Ende. 
Es ist Guillermo del Toro („Hellboy“, „Shape of Water“) zu verdanken, diesen Klassiker der amerikanischen Literatur wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgeholt zu haben. Am 22.01.22 startet seine Neuverfilmung mit Bradley Cooper, Cate Blanchett und Toni Colette in den Hauptrollen in den deutschen Kinos, der Roman zum Film erschien nun einer Neuauflage bei Heyne Hardcore. 
In der Wanderzirkustruppe Ten-o-One präsentiert Clem Hoatley vor allem abnorme menschliche Kreaturen, die als sogenannte Geeks zum Gespött des Publikums werden, aber auch sein Interesse und seine Sensationslust ansprechen, z.B. mit Herculo den perfektesten Mann der Welt, mit Major Mosquito den kleinsten je gemessenen Menschen und mit Joe Plasky einen Halbmensch-Akrobaten. Stan Carlisle beginnt als Hellseher in der Show, wickelt das Publikum mit kleinen Tricks um den Finger und fängt eine Affäre mit der Wahrsagerin Zeena an, die mit dem alkoholkranken Pete verheiratet ist und bei der Stan als Assistent aushilft. Nachdem Stan Pete versehentlich mit Spiritus umgebracht hat (eigentlich wollte er ihm nur seinen ersehnten Alkohol besorgen), rückt Stan zu Zeenas Partner in ihrer Nummer auf und erfährt dabei, dass ihm größere Möglichkeiten offenstehen. 
Er macht sich mit der ebenfalls im Zirkus engagierten 15-jährigen Molly in die Stadt davon und beginnt dort erfolgreich, mit Mollys Hilfe die Reichen der Stadt auszunehmen, indem er als Spiritist Kontakt zu ihren geliebten Menschen im Jenseits aufnimmt. Als er dem anhänglichen Mädchen überdrüssig wird, hält sich Stan an die Psychologin Lilith Ritter, die allerdings gerissener ist, als Stan es für möglich gehalten hat. Als er den skeptischen Industriellen Grindle von seinen Fähigkeiten überzeugt hat, scheint nun das große Geld zu winken, doch dann beginnen die Dinge schiefzulaufen … 
„In Stanton Carlisle machte sich eine Angst ohne Gestalt oder Namen breit. Der Tod und Geschichten über das Sterben oder Brutalität gingen ihm unter die Haut wie Zecken und lösten Infektionen aus, die sich durch seinen Körper bis ins Gehirn vorarbeiteten und an ihm nagten.“ (S. 464) 
Im Alter von 29 Jahren wartete William Lindsay Gresham nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg auf seine Heimkehr in die Vereinigten Staaten, als er in einem Dorf nahe Valencia von die Geschichte eines Mannes erzählt bekam, der sogar die Köpfe von Hühnern und Schlangen abbiss, um an den ersehnten Alkohol zu kommen. 
Die Geschichte faszinierte den jungen Mann so sehr, dass er sie selbst in seinem ersten Roman verarbeitete. Dabei kam nicht nur seine Faszination für die Welt der Jahrmärkte und ihrer bunten Welt der Verführung und Täuschung zum Ausdruck, sondern auch sein Interesse an der Psychoanalyse, von der er hoffte, dass sie ihn von seinen inneren Dämonen befreien würde. Genau so wirkt „Nightmare Alley“ schließlich auch. Gresham beschreibt eindringlich die Atmosphäre, wie sie in den sensationsheischenden Jahrmärkten im 19. Jahrhundert herrschte, vor allem auch die Faszination, wie sein Protagonist immer deutlicher wahrnimmt, mit welchem Talent er gesegnet ist und wie er dieses gewinnbringend einsetzen kann. Es ist der altbekannte amerikanische Traum vom großen Glück, der Stan Carlisle seine Trickkiste auspacken lässt, wobei er immer skrupelloser vorgeht, um an das Vermögen seiner Klienten zu gelangen. Geschickt tarnt er seine Aktivitäten unter dem Deckmantel einer religiösen Vereinigung, gräbt besonders vertrauliche Informationen aus dem Lebenslauf seiner Opfer aus und überzeugt sie schließlich mit spektakulären Darbietungen, die jeden Zweifel an seiner Redlichkeit ausräumen. Allerdings wird er dabei von einem übersteigerten Ehrgeiz angetrieben, dass er nicht das größere Unheil wahrnimmt, das ihn in den Abgrund stürzt. 
Es kommt nicht von ungefähr, dass Gresham eine Psychologin ebenfalls in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt, war der Autor doch selbst von Persönlichkeiten wie Freud und Ouspensky fasziniert, benennt die Kapitel in seinem Roman nach der Großen Arkana im Tarot. Gresham gelingt es, die bewegende Odyssee seines Protagonisten mit einer lebendigen Sprache und einem guten Gespür für Atmosphäre, Tempo und Charakterisierungen zu schildern. Zum Finale hin schleichen sich zwar auch einige Längen ein, aber „Nightmare Alley“ stellt ein faszinierendes Werk dar, das Grand Guignol mit der Noir-Tradition ebenso verbindet wie mit Tod Brownings „Freaks“ und Ray Bradburys „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“

 

James Sallis – (Turner: 3) „Dunkles Verhängnis“

Mittwoch, 8. Dezember 2021

(Heyne, 190 S., Tb.) 
Mit dem Privatdetektiv und Schriftsteller Lew Griffin sowie dem Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater John Turner hat der US-amerikanische Schriftsteller, Kritiker, Musiker und Übersetzer James Sallis sehr lebendige, charismatische Figuren geschaffen, die irgendwie durch das Leben gestrauchelt sind, ohne richtigen Plan von einem Job zum nächsten, ganz anders gearteten. Während es die Reihe um Lew Griffin, mit der Sallis 1992 seine Karriere erfolgreich startete, immerhin auf sechs Bände brachte, hat er sich bei John Turner von vornherein auf eine Trilogie beschränkt. Viel Neues hat der nach „Dunkle Schuld“ und „Dunkle Vergebung“ abschließende Band „Dunkles Verhängnis“ zwar nicht zu bieten, dafür aber Sallis‘ einzigartig lakonische wie bildhafte Sprache, mit der er eine Lebensweisheit nach der anderen hervorbringt. 
Als vor zwei Jahren seine Freundin Val von einem Auftragskiller in ihrem eigenen Haus und in Turners Gegenwart erschossen worden ist, hat sich nicht nur für den Aushilfssheriff das Leben in Cypress Grove für immer verändert. Doc Oldham hat seine Praxis aufgegeben und sie an einen jungen Mann abgegeben, der noch grün hinter den Ohren zu sein scheint. Nun sitzt er meistens draußen irgendwo herum und gibt kluge Sprüche und Erkenntnisse von sich, wobei er in Turner einen regelmäßigen Zuhörer findet. 
So schwadroniert der unter Grauem Star leidende Doc darüber, wie fragil das Leben so sei, dass jeder seine eigene Version davon habe, was die Wahrheit, das Leben, den eigenen Werdegang angeht. Turner erinnert sich dagegen an eine ihm überlieferte Episode, deren Quintessenz darauf hinausläuft, dass man einfach sehen müsse, wie viel Musik man noch mit den Mitteln machen könne, die einem bleiben. In diese philosophischen Betrachtungen hinein erreicht Turner die Nachricht, dass Billy, der Sohn des ehemaligen Sheriffs Lonnie Bates, mit einem unbekannten Wagen ins Rathaus gefahren sei. Wenig später erliegt er seinen Verletzungen im Krankenhaus. Er war zuvor bei Kneipenschlägereien, Verkehrsvergehen und Hausfriedensbruch auffällig gewesen, hatte dann Milly geheiratet und wieder seinen Job im Baumarkt aufgenommen. 
Wie sich herausstellt, gehörte das Auto einer alten Dame aus Hazelwood, für die Billy und an Besorgungen gemacht hatte. Wenig später wird Milly vermisst und verletzt in einem Autowrack gefunden. Die Männer, die sie entführt haben, sind in einen Streit geraten, worauf der eine den anderen erschoss. Zu allem Überfluss taucht auch noch Eldon auf, der mit Val auf Tour gehen wollte, und erzählt Turner, dass er in Texas vielleicht jemanden umgebracht habe, er könne sich nicht erinnern … 
„Immer häufiger und ohne besonderen Anlass steigen Erinnerungen in uns auf, und es kommt so weit, dass alles uns an irgendetwas zu erinnern beginnt. Wir, unsere Handlungen, unser Leben, werden symbolisch. Wir stellen uns vor, die Welt würde dadurch tiefer, reicher; tatsächlich wird sie nur abstrakter. Wir reden uns ein, wir wüssten jetzt, auf was es wirklich ankommt im Leben, tatsächlich geht es nach wie vor nur darum, die tägliche Routine am Laufen zu halten.“ (S. 90) 
Mehr noch als in den beiden vorangegangenen Turner-Romanen dient in „Dunkles Verhängnis“ die Kriminalgeschichte nur als grobe Klammer, die den Erinnerungsfetzen, Assoziationen und Erkenntnissen, die Turner in seinem durchaus abwechslungsreichen, aber auch richtungslosen Leben angesammelt hat und die in der vermeintlichen Einöde eines Provinznestchens immer dann in seinem Geist widerhallen, wenn er einmal mehr mit den Kuriositäten des Lebens konfrontiert wird. 
Was letztlich zu Billy Bates‘ geheimnisvoller Fahrt ins Rathaus geführt wird, löst Sallis am Ende ebenso lapidar auf, wie sein vom Leben etwas müder Protagonist mit seinen philosophischen Betrachtungen um sich wirft. Besonders erheiternd wirkt die Turner-Trilogie nicht, aber sie spendet Trost denjenigen, die ebenso wie Turner und seine Weggefährten das Gefühl haben, ihr Leben nicht selbst in der Hand zu haben, sondern einfach dahinzutreiben. 
Bei aller Lebensmüdigkeit und Gewalt begegnet Turner seinen Nächsten allerdings mit ungebändigter Empathie, hat stets ein offenes Ohr für jene, die ein Problem haben, auch wenn er selten etwas beitragen zu können scheint, um diese aus der Welt zu schaffen. Diese schwierige Balance meistert Sallis wie kein Zweiter. 

James Sallis – (Turner: 2) „Dunkle Vergeltung“

Dienstag, 7. Dezember 2021

(Heyne, 236 S., Tb.) 
Bereits mit seiner sechsbändigen, zwischen 1992 und 2001 veröffentlichten Reihe um den Privatdetektiv, Teilzeitlehrer und Schriftsteller Lew Griffin hat James Sallis die Konventionen des Krimi-Genres geschickt umschifft und mit ganz eigener Stimme vom Suchen und Sich-Verlieren und Finden, von Gegenwart und Vergangenheit, von Lebensentwürfen und geplatzten Träumen erzählt. Während von diesen sechs Bänden leider nur zwei ins Deutsche übersetzt und von DuMont veröffentlicht worden sind, erging es der nachfolgenden Trilogie um den Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater Turner hierzulande besser. 
Alle drei Romane sind unter den einheitlichen deutschen Titeln „Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“ und „Dunkles Verhängnis“ bei Heyne verfügbar. 
Eigentlich hatte sich Turner in das kleine, zwischen Memphis und Little Rock gelegene Nest Cypress Grove zurückgezogen, um seine Ruhe zu haben. Sowohl seine Tätigkeit als Cop als auch als Therapeut hat ihn im Leben nicht wirklich vorangebracht, doch musste er schnell feststellen, dass seine Erfahrungen vom örtlichen Sheriff bei einem Ritualmord durchaus nützlich sein könnten. Am Ende der Ermittlungen musste Sheriff Lonnie Bates angeschossen ins Krankenhaus eingeliefert werden, sein Deputy Don Lee wurde zum kommissarischen Sheriff ernannt, während Turner sich bereit erklärte, hin und wieder als Deputy auszuhelfen. 
In dieser Funktion kommt er gerade nach einem Gefangenentransport aus Marvell zurück, als Don Lee davon erzählt, wie er einen Mann festgenommen hat, der mit seinem Mustang mit hundertdreißig Meilen durch die Stadt gerast war und nun eine der beiden Arrestzellen belegt. Wie sich herausstellt, befinden sich im Kofferraum des Mustangs zweihunderttausend Dollar. Der Gefangene namens Judd Kurtz macht seinen Anruf, wenig später wird er gewaltsam befreit, wobei Don Lee und June verletzt werden. Turner braucht nicht lange, um festzustellen, dass Kurtz offenbar als Geldkurier für die Mafia in Memphis unterwegs gewesen ist. Er sucht dort seinen alten Kollegen Sam Hamill auf, räumt in der Stadt ein wenig auf und kehrt wieder nach Cypress Grove zurück, wo ihn seine Tochter J.T. aus Seattle, ebenfalls Polizeibeamtin, besucht. Natürlich braucht die Mafia nicht lange, um den Verantwortlichen für den Vergeltungsschlag in Memphis ausfindig zu machen. Fortan lebt Turner in ständiger Gefahr … 
„Man fängt an zu glauben, dass man eine Möglichkeit entdeckt, die Welt mit klarem Blick zu sehen, während man in Wirklichkeit lediglich eine Sprache lernt – eine gefährliche Sprache, weil sie den Blick verengt und uns vorgaukelt, man verstehe, warum die Menschen tun, was sie tun. Aber wir verstehen es nicht. Wir verstehen so wenig von allem.“ (S. 205) 
Wie wenig es bei James Sallis – sowohl in seiner Lew-Griffin-Reihe als auch in seiner Turner-Trilogie – um die klassische Auflösung von Verbrechen geht, untermauert der Autor mit seiner Art, die Gegenwart immer wieder mit Episoden aus der Vergangenheit seiner Protagonisten zu konfrontieren. 
In „Dunkle Schuld“, dem ersten Turner-Roman, wechselte Sallis sogar konsequent nach jedem Kapitel von einer Zeit in die andere. Im Vergleich dazu wirkt „Dunkle Vergeltung“ mehr wie aus einem Guss, auch wenn der Ich-Erzähler immer wieder Anekdoten von früheren Fällen wie dem vierfachen Kindermörder Lou Winter zum Besten gibt, die Tuners pessimistische Weltsicht illustrieren. Sallis nimmt sich Zeit, seine Beziehungen zur Anwältin Val, die mit einem schwarzen Musiker losziehen will, um auf verschiedenen Festivals zu spielen, und zu seiner Tochter J.T. zu beschreiben, die ihr Leben in Seattle aufgibt, um fortan Dienst in der Nähe ihres Vaters zu tun. 
Die Auseinandersetzung mit der Mafia gerät da fast zur Nebensache – wenn auch mit tragischen Folgen. Vielmehr macht Sallis in bester Noir-Tradition deutlich, was jedwede Entscheidung, ob bewusst getroffen oder nicht, mit dem Leben eines Menschen macht. Doch trotz aller Erschütterungen gibt Turner nicht auf. Er ist für seine Mitmenschen ein verlässlicher Freund, ein Mann der Tat, der bei all dem Tod um ihn herum den Humor nicht verliert – und seine Zuversicht, doch noch den einen oder anderen Lichtblick am Horizont zu erheischen. 

James Sallis – (Turner: 1) „Dunkle Schuld“

Montag, 6. Dezember 2021

(Heyne, 302 S., Tb.) 
Seinen Debütroman „The Long-Legged Fly“, Auftakt seiner Serie um den Privatdetektiv, Lehrer und Schriftsteller Lew Griffin, veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller, Poet, Kritiker, Übersetzer und Musiker James Sallis 1992 – da war er selbst bereits 48 Jahre alt. Mittlerweile wurde Sallis mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis (für „Driver“), dem Hammett Prize und dem Grand prix de littérature policière, und zählt zu den eigenwilligsten und bedeutendsten Krimi-Autoren unserer Zeit. Nach den sechs Lew-Griffin-Romanen (von denen leider nur die ersten beiden ins Deutsche übersetzt wurden) folgte 2003 der Auftakt einer Trilogie um den ehemaligen Soldaten, Polizisten, Gefangenen und Therapeuten Turner. 
Turner ist die Stadt leid, vor allem aber den Menschen, den die Stadt aus ihm gemacht hat. Nachdem er in einen Krieg geschickt worden war, den er nicht wollte, als Cop seinen Partner erschossen hatte, elf Jahre im Gefängnis gesessen hatte, um dann festzustellen, dass er auch als Therapeut nur wenig tun konnte, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, zieht er sich nach Cypress Grove zurück, einem Kaff im Nirgendwo zwischen Memphis und Little Rock. Doch auch hier hat er nicht lange Ruhe. Sheriff Lonnie Bates weiß natürlich von Turners früherer Vergangenheit als Großstadt-Cop und bittet ihn als Berater um Unterstützung bei einem Mord, der wie eine rituelle Tötung inszeniert worden ist. Das Opfer wurde an die Seite eines Carports mit ausgestreckten gekreuzigt und von einem Holzpflock durchbohrt. 
Die Spur führt zu einem offenbar kultisch verehrten Trash-Filmemacher mit den Initialen BR, von dessen mutmaßlichem letzten Meisterwerk „The Giving“ nur eine Szene dokumentiert ist, in der ein Schauspieler ebenso zu Tode gepfählt wird wie der Mann, der als Carl Hazelwood identifiziert wird und für einen Herumtreiber ungewöhnlich weiche Hände hatte. Für Turner, der in Cypress Grove viele neue Freunde wie die Anwältin Val Bjorn und eben Sheriff Bates findet, geht es weit mehr als um die Suche nach dem Täter, sondern die Ermittlungen führen ihn tief in seine eigene Vergangenheit, vor allem in die Zeit seines Gefängnisaufenthalts. 
„In dieser Kiste, die dein Zuhause und dein zweiter Körper geworden ist, erhält jeder noch so kleine Laut ein übertriebenes Gewicht. Das Entlangstreifen des Wärterknüppels über die Gitterstangen, der rasselnde Atem des Mannes auf der Pritsche unter dir, Unterhaltungen, die sich aus Nachbarzellen oder dem gegenüberliegenden Trakt einschleichen, ein Husten, das von Wand zu Wand prallt.“ (S. 171) 
James Sallis hat sich bereits mit seiner Lew-Griffin-Reihe wenig um Konventionen des Krimi-Genres geschert und die nicht immer erfolgreich abgeschlossenen Suchen seines Protagonisten nach vermissten Personen stets mit philosophischen Betrachtungen und Rückblicken in die bewegte Vergangenheit des Privatdetektivs und Schriftstellers unterfüttert. 
In „Dunkle Schuld“, dem Auftakt der nachfolgenden Trilogie um einen Ex-Cop, Ex-Sträfling und Ex-Therapeuten, der dem Moloch der Großstadt entkommen wollte und nun in der Provinz wieder in den Polizeidienst einsteigt, geht Sallis in dieser Hinsicht sogar noch strukturierter vor, wechselt mit jedem Kapitel von der Gegenwart in Turners Vergangenheit und wieder zurück. So bekommt der Leser mit jedem weiteren Kapitel aus Turners Vorgeschichte einen besseren Einblick in die irgendwie verloren wirkende Seele des sympathischen und unaufdringlich agierenden Mannes. 
Sein Einsatz in Vietnam, die versehentliche Tötung seines Partners während der Schlichtung eines Ehestreits, die elfjährige Haftstrafe und die unbefriedigende Tätigkeit als Therapeut haben tiefe Wunden in Turners Seele hinterlassen, aber das hindert ihn nicht, seine ganze Erfahrung einzubringen, um einen wirklich seltsamen Mordfall aufzuklären, der immer kuriosere Züge annimmt. 
Turner lernt dabei einen Filmfreak kennen, der sich auf Trashfilme spezialisiert hat und dem Ermittler seine persönliche Erkenntnis auf den Weg gibt, dass Trashfilme die Gesellschaft so zeigen, wie sie ist, während die Hochglanz-Produktionen aus Hollywood eher die Gesellschaft präsentiert, wie sie sich selbst gerne sieht. In gewisser Weise trifft das auch auf James Sallis‘ Werk zu, das weit entfernt davon ist, Trash zu sein. Aber seine Geschichten gehen in die Tiefe, folgen keinem Schema F und nehmen gerade die Biegungen, die auch das echte Leben so unvorhersehbar machen. 

 
Leseprobe James Sallis - "Dunkle Schuld"

James Sallis – (Lew Griffin: 2) „Nachtfalter“

Samstag, 4. Dezember 2021

(DuMont, 254 S., Tb.) 
Lew Griffin hat seine langjährige Tätigkeit als Privatdetektiv längst hinter sich gelassen und verdient in New Orleans seine Brötchen als Teilzeitlehrer und Schriftsteller, weshalb es dem mittlerweile Fünfzigjährigen möglich gewesen ist, seine Unterkunft in den respektablen Garden District zu verlegen. Doch als er in der Kinderintensivstation vor dem Brutkasten mit dem nicht mal 600 Gramm schweren Baby McTell steht, ist Griffin schon längst wieder auf der Spurensuche – und zwar auch auf den Spuren seines eigenen Lebens. Als seine langjährige Freundin LaVerne verstorben ist, taucht ihr letzter Ehemann, Chip Landrieu, bei ihm auf, um ihn zu engagieren. 
LaVerne hat nämlich zu der Zeit ihrer Ehe mit dem Arzt Horace Guidry eine Tochter namens Alouette geboren, zu der sie allerdings den Kontakt verlor, als Guidry nach der Scheidung das alleinige Sorgenrecht zugesprochen bekam. Doch Alouette nahm irgendwann Reißaus, brachte selbst viel zu früh ein Kind zur Welt – nämlich besagtes Baby McTell – und ist nun ihrerseits wie vom Erdboden verschluckt. Die Odyssee zu Alouette führt Griffin immer wieder zu sich selbst zurück, lässt Erinnerungen an vergangene Beziehungen – auch die zu der ehemaligen Prostituierten LaVerne – lebendig werden, aber auch an seine Zeit als Ermittler. Griffin kommt wieder mit all den düsteren Erlebnissen von Kindesmissbrauch und Gewalt in Berührung, die er längst hinter sich gehabt zu haben glaubte … 
„Wenn sich meine Phantasie in höhere Gefilde aufschwingt, denke ich mir Folgendes. Einst gab es Wesen, ein Geschlecht, eine Spezies (man kann es nennen, wie man will), die wahrhaftig auf diese Welt gehörten. Dann zogen sie irgendwann, aus irgendeinem Grund weiter, und wir traten an ihre Stelle. Seither versuchen wir einen endlosen Tag um den anderen, ihre Stelle einzunehmen. Aber wir werden immer Freunde bleiben, wir alle. Und trotz aller Mühen und sosehr wir uns auch verstellen mögen, werden wir nie ganz hierherpassen.“ (S. 108) 
Mit der Reihe um den Privatdetektiv/Lehrer/Schriftsteller Lew Griffin hat der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis eine einzigartige Krimi-Serie geschaffen, in der zwischen 1992 und 2001 zwar sechs Romane erschienen sind, aber nur die ersten beiden – „The Long-Legged Fly“ und „Moth“ – ins Deutsche übersetzt wurden. Sallis‘ Debüt „Die langbeinige Fliege“ (später unter dem Titel „Stiller Zorn“ wiederveröffentlicht) ging im Zeitraffer die Stationen in Griffins Leben durch, machte den Leser mit Griffins unterschiedlichen Tätigkeiten, Aufträgen und Frauenbekanntschaften vertraut, steckte aber auch das Menschenbild und das gesellschaftliche Terrain ab, in dem sich sein belesener Protagonist bewegt. 
Mit dem Nachfolgeroman „Nachtfalter“ präsentiert sich Sallis etwas orthodoxer, aber noch immer jenseits der Genrekonventionen. Es mag zwar vor allem die Suche nach der Tochter seiner langlebigen Freundin sein, die die Handlung hier vorantreibt, aber Griffin schweift immer wieder in philosophische Betrachtungen und seine eigene Vergangenheit ab, lässt Beziehungen zu den ganz unterschiedlichen Frauen in seinem Leben und Fällen Revue passieren, die auf grausame Weise seiner momentanen Suche ähneln. Im Gegensatz zu konventionellen Krimis baut sich auch bei „Nachtfalter“ kein gewöhnlicher Spannungsbogen auf. 
Dafür überzeugt Sallis mit seinem einzigartigen Gespür für Sprache und Musik, den Rhythmus der Großstadt, das Elend und die Gewalt, die prekären Abhängigkeiten von Drogen oder schlechten Menschen. Fans von Bestseller-Thriller-Autoren, deren Plots nach Schema F gestrickt sind, werden sich mit Sallis und seiner Lew-Griffin-Reihe kaum anfreunden können, doch wer sich auf sprachlich gewandte, philosophisch unterfütterte Gegenwartsliteratur mit kriminellen Elementen einlassen kann, wird fürstlich belohnt.