Jonas T. Bengtsson – „Auf Bewährung“

Mittwoch, 1. Februar 2023

Jonas T. Bengtsson – „Auf Bewährung“ 
(Heyne Hardcore, 351 S., HC) 
Seit seinem 2005 veröffentlichten Romandebüt „Aminas breve“, das drei Jahre später in deutscher Übersetzung als „Aminas Briefe“ im Tropen Verlag veröffentlicht wurde, hat der dänische Autor Jonas T. Bengtsson eine erstaunliche Karriere hingelegt, wurde nicht nur mit dem Dänischen Debütantenpreis ausgezeichnet, sondern erhielt 2010 auch den Per-Olov-Enquist-Preis. Sein zweiter Roman „Submarino“ wurde vom dänischen Kultregisseur Thomas Vinterberg („Am grünen Rand der Welt“, „Der Rausch“) verfilmt. Nun legt Bengtsson mit „Auf Bewährung“ seinen vierten Roman und damit seinen Einstand im Wilhelm Heyne Verlag vor. 
Der letzte seiner vielen Gewaltausbrüche hat Danny acht Jahre Knast eingebracht. Nun hat ausgerechnet der alternde Kommissar Ivertssen, der für seine Inhaftierung verantwortlich war, dafür gesorgt, dass er zwei Jahre vor seiner eigentlichen Entlassung überraschend auf Bewährung freikommt. Dannys Jugendfreunde Christian und Malik haben ganz andere Karrieren eingeschlagen. Während der hochintelligente Äthiopier Malik ein Zahnmedizinstudium begonnen hat und alles dafür tut, das Restaurant seines Vaters vor dem Ruin zu retten, ist ausgerechnet Christian bei der Polizei gelandet und nimmt mit seinem Partner Thomas den Kampf gegen die Drogendealer auf. 
In Kopenhagen kommt er zunächst in einem Resozialisierungszentrum für Junkies unter und macht sich auf die Suche nach seinen Freunden. Im Restaurant von Maliks Vater erfährt er allerdings, dass Malik seit einigen Tagen verschwunden ist. Maliks Schwester Aisha verspricht er, ihn ausfindig zu machen. In dessen Wohnung stößt er allerdings auf keine nennenswerten Hinweise auf seinen Verbleib, stellt nur fest, dass Malik offensichtlich mit einer Frau zusammen gewesen ist. Malik soll sich allerdings auch 80.000 Kronen von einem rothaarigen Typen namens Erik geliehen haben. Leider weiß nicht mal Christian Näheres. 
Er verschafft Danny erst einmal eine eigene Wohnung und muss die erschütternde Einschätzung verarbeiten, dass das bei einer Versteigerung erstandene Haus, von dem seine Frau so geträumt hat, völlig marode ist. Danny freundet sich mit seiner Nachbarin aus der über ihm liegenden Wohnung an, muss bei seinen weiteren Nachforschungen aber feststellen, dass Malik offensichtlich in einen Bandenkrieg geraten ist… 
„Natürlich hat er sich verändert. Und vielleicht ist dieser Film doch nicht so schnulzig. Er bedient sich einiger billiger Effekte, daran besteht kein Zweifel. Er spielt mit Emotionen. Aber vielleicht ist es doch kein netter, schöner Film, der dem Zuschauer Tränen in die Augen treibt. Malik hat einen Bandenkrieg ausgelöst. Es gab Schießereien, ein paar Leute sind tot. Das waren Kriminelle. Sie hatten eine Wahl getroffen, die der Rest der Welt nicht verstehen kann. Nur die, die ihnen am nächsten standen, werden sie vermissen. Und keiner von ihnen war schlimmer als Danny.“ (S. 300f.) 
Es ist eine ungewöhnliche Freundschaft, die Bengtsson in seinem vierten Roman als Ausgangspunkt für eine triste Milieubeschreibung in einem von Armut, Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum und Kriminalität geprägten Stadtviertel von Kopenhagen nimmt. In einer klaren wie bildreichen Sprache begleitet Bengtsson seine drei Protagonisten durch ihren Alltag, wobei die Malik-Kapitel komplett in der Vergangenheit spielen und den Weg vorzeichnen, der zu seinem Verschwinden führt. 
Ganz nüchtern beschreibt der Autor den wenig erbaulichen Alltag von Danny und Christian, immer wieder liegt Gewalt in der Luft. Sympathieträger und Identifikationsfiguren findet man hier definitiv nicht. Aber Bengtsson enthält sich auch einer Verurteilung, macht den ständig gewaltbereiten Kriminellen Danny zum Ermittler und den Roman zu einem Neo-Noir, der sich für eine Verfilmung durch seinen Landsmann Nicolas Winding Refn („Pusher“, „The Neon Demon“) geradezu anbietet. 
Auch wenn die Geschichte selbst nicht besonders originell ist, funktioniert „Auf Bewährung“ als pointierte Milieustudie und als kurzweiliges, in bedächtigem Tempo inszeniertes Drama über drei Männer, die ungewöhnliche Entwicklungen während ihrer langjährigen Freundschaft durchgemacht haben und sich irgendwie durchzuschlagen versuchen. 

Bret Easton Ellis – „The Shards“

Dienstag, 31. Januar 2023

(Kiepenheuer & Witsch, 736 S., HC) 
Der 1964 in Los Angeles geborene Bret Easton Ellis hat zwar schon im zarten Alter von 21 Jahren seinen ersten Roman „Unter Null“ veröffentlicht, aber selbst nach dem Erfolg seiner nachfolgenden, jeweils ebenfalls erfolgreich verfilmten Romane „Einfach unwiderstehlich“ und „American Psycho“ keine Veranlassung gesehen, seinen Output zu forcieren. 
So ist sein neuer Roman „The Shards“ (dt. „Die Scherben“) erst sein siebter Roman in fast vierzig Jahren, sein erster in dreizehn Jahren nach „Imperial Bedrooms“ (sein Sachbuch „Weiß“ aus dem Jahr 2019 nicht mitgezählt). Dabei bleibt sich Ellis seinem Lieblingsthema treu, der expliziten Schilderung ausschweifender Drogen- und Sex-Eskapaden verwöhnter Teenager und Hedonisten, wobei die hier scheinbar autobiografischen Ereignisse vor der Zeit von „Unter Null“ angesiedelt sind. Wie Ellis in seinem ausführlichen Vorwort erklärt, haben ihn die Geschehnisse im Jahr 1981 immer wieder beschäftigt, doch auch wieder so traumatisiert, dass er erst jetzt, mit 58 Jahren, darüber schreiben kann. Schließlich geht es um nicht weniger als die Begegnung mit einem „Trawler“ benannten Serienmörder, der das San Fernando Valley im Spätfrühling des Jahres 1980 heimzusuchen begann und Ellis‘ Oberstufenklasse in der exklusiven Buckley Prep School im folgenden Jahr direkt betreffen sollte… 
Mit siebzehn Jahren steht Bret Ellis kurz vor dem Schul-Abschluss und genießt seine sturmfreie Bude am Mulholland Drive, während sich seine Eltern auf einer ausgedehnten Europa-Reise befinden. Bret ist mit Debbie liiert, der einzigen Tochter des erfolgreichen Filmproduzenten Terry Schaffer, der ebenso wie Bret mehr oder weniger schwul ist und Bret anbietet, mit ihm sein Drehbuch durchzugehen, an dem er arbeitet. Natürlich läuft alles auf Sex in einer Hotelsuite hinaus. 
Bret ist noch zu naiv, um das Spiel der Reichen, Schönen und Mächtigen gänzlich zu durchschauen, und hält die Beziehung mit Debbie eher als Tarnung aufrecht. Denn eigentlich ist Bret auf Typen wie den Football-Star Thom Wright scharf, der seit zwei Jahren mit der Buckley-Schönheitskönigin Susan Reynolds zusammen ist, aber auch Matt Kellner und Ryan Vaughn haben es ihm angetan. 
Doch als mit Robert Mallory ein neuer Schüler an der Buckley auftaucht, nehmen die Dinge einen unheilvollen Verlauf. Bret erfährt, dass Robert in einer psychiatrischen Anstalt gewesen ist, und ist fest davon überzeugt, ihn bereits vor einiger Zeit in einer Kinovorstellung von Stanley Kubricks „Shining“ gesehen zu haben, was der ebenso charismatische wie zwielichtige Robert kategorisch abstreitet. Roberts Auftauchen an der Buckley fällt mit den Morden an drei jungen Frauen zusammen, die monatelang vermisst und erst nach Hinweisen eines anonymen Anrufers an abgelegenen Orten gefunden worden waren. 
Im Zusammenhang mit den Ermittlungen wurde bekannt, dass der Täter zuvor Einbrüche verübte, Möbel umstellte und die dort lebenden Haustiere entwendete, verstümmelte und die Leichen der Mädchen damit „dekorierte“. Bret bekommt immer mehr das Gefühl, dass Robert etwas mit den Vorfällen zu tun habe, und macht sich Sorgen um seinen Kumpel Matt, der immer mehr Zeit mit dem Neuen verbringt… 
„So gingen Trickbetrüger vor: Robert hatte in Bezug auf das Village Theater gelogen, wodurch ich mich unmittelbar zu ihm hingezogen gefühlt hatte, es war eine Art Verführung. Und wenn ich zwangsläufig in seine Machenschaften hineingezogen wurde, wenn selbst mir das passierte – dem wachsamen, aufmerksamen Autor, der nun wusste, wozu Robert Mallory fähig war -, wie würde es dann erst dem unbedarften, ahnungslosen, verwundbaren Matt Kellner ergehen?“ 
Der Autor tritt in „The Shards“ als 17-jähriger Ich-Erzähler auf und verortet sich in der fast erwachsenen Clique der Reichen und Schönen rund um Hollywood, wo man mit dem BMW, Jaguar, Mercedes 450 SL oder Porsche zur Schule fährt, sich mit Antidepressiva, Kokain und anderen Drogen zudröhnen, in der Gegend herumfahren, Partys feiern und hemmungslosen Sex haben, alles untermalt mit dem Soundtrack der 1980er Jahre, wobei Ultravox‘ „Vienna“ und „Icehouse“ von Icehouse eine Schlüsselrolle für das emotionale Befinden der Hipster in Los Angeles einnehmen. So richtig viel passiert eigentlich nicht auf den über 700 Seiten. 
Ellis beschreibt eher die bedrohliche Stimmung, die eine besondere „Erzählung“ ergibt, immer wieder beißt sich der Protagonist an seiner Vorstellung fest, dass Robert Mallory für die Morde an den drei jungen Frauen verantwortlich gewesen sei. Aber eine obskure Sekte treibt ja auch noch ihr Unwesen in der Gegend. Das führt zu manchmal nervig langen Dialogen, die nur aus den vorgebrachten Vorwürfen und deren wiederholter Leugnung bestehen. 
Auf der anderen Seite erweist sich Ellis als begnadeter Beobachter, der in einfacher Sprache teils drastische, schonungslos brutale Handlungen beschreibt, und die unablässig eingestreute Erwähnung der Songs, die zu dieser und jener Gelegenheit zu hören sind, verstärken den filmischen Charakter der Erzählung. 
Allzu ernst sollte man den proklamierten Wahrheitsgehalt von „The Shards“ nicht nehmen, doch Ellis-Fans werden an diesem von Paranoia, unverschämtem Luxus, hemmungslosen Drogenkonsum und wilden Sex- und Gewalt-Phantasien geprägten Drama ihre Freude haben. 

Daniel Silva – (Gabriel Allon: 20) „Der Geheimbund“

Dienstag, 24. Januar 2023

(HarperCollins, 446 S., Tb.) 
Als ehemaliger Top-Journalist des renommierten US-amerikanischen Fernsehsenders CNN und langjähriger Auslandskorrespondent im Nahen Osten, Ägypten und am Persischen Golf weiß Bestseller-Autor Daniel Silva um die geopolitische Lage in der Welt. Als er mit seinem vierten, 2000 veröffentlichten Roman „The Kill Artist“ (dt. „Der Auftraggeber“) die Figur des israelischen Top-Agenten Gabriel Allon einführte, durfte er noch nicht geahnt haben, dass er neben James Bond, Jack Reacher, Alex Cross und Jason Bourne eine der langlebigsten Reihen ins Leben gerufen hat. 
Mit „Der Geheimbund“ legt Silva bereits den 20. Band seiner Reihe um Allon vor, der mittlerweile zum Direktor des israelischen Geheimdienstes aufgestiegen ist. Ermüdungserscheinungen zeigt die Reihe nach wie vor nicht. 
Erzbischof Luigi Donati, Privatsekretär von Papst Paul VII., ist wie nahezu jeden Donnerstagabend bei seiner langjährigen Freundin und ehemaligen Geliebten, Dr. Veronica Marchese, Direktorin des Museo Nazionale Etrusco, zum Abendessen zu Besuch, als ihn kurz vor Mitternacht der Anruf von Kardinal Domenico Albanese erreicht, dass der offensichtlich herzkranke Papst verstorben sei. Albanese habe ihn kurz nach 22 Uhr tot in der Kapelle aufgefunden. 
Die Umstände seines Todes sind Donati allerdings nicht ganz geheuer, weshalb er seinen langjährigen Freund Gabriel Allon informiert, der zufälligerweise mit seiner Frau Chiara und den beiden Kindern gerade Urlaub bei seiner Schwiegermutter in Venedig macht. Da die Beerdigung für den kommenden Dienstag und das Konklave mit der Wahl und Ernennung des neuen Papstes zehn Tage später erfolgen soll, bleiben Donati und Allon allerdings nicht viel Zeit, um die rätselhaften Umstände des Todes von Papst Paul VII. aufzuklären. Zunächst machen sie sich auf die Suche nach dem Schweizergardisten Niklaus Janson, der an diesem Abend für die Sicherheit des Papstes zuständig war und nun spurlos verschwunden ist. 
Allon kann Janson zwar mit Hilfe der Cyberkrieger der Mossad-Einheit 8200 ausfindig machen, doch wird der junge Mann vor seinen Augen erschossen. Und dann ist da noch der verschwundene Brief, den der Papst an seinen alten Freund Allon verfasst hat. 
„Das päpstliche Handschreiben betraf ein Buch, das Seine Heiligkeit im Vatikanischen Geheimarchiv entdeckt hatte. Ein Buch, das angeblich auf den Memoiren des römischen Statthalters in Judäa basierte, der Jesus zum Tod am Kreuz verurteilt hatte. Ein Buch, das der Schilderung von Jesu Tod in den kanonischen Evangelien widersprach, die das Fundament zu einem oft mörderischen Antisemitismus gelegt hatte, der seit nunmehr zweitausend Jahren grassierte.“ (S. 251) 
Wie Allon bald feststellt, setzt der reaktionäre katholische Helenenorden alle Hebel in Bewegung, dieses Buch, das eine ganz neue Sicht auf die Kreuzigung Jesu Christi werfen würde, zu vernichten, den nächsten Pontifex Maximus aus den eigenen Reihen wählen zu lassen und Westeuropa ins Dunkel seiner faschistischen Vergangenheit zurückzuführen. Die Pläne des Ordens zu durchkreuzen gestaltet sich jedoch schwierig, denn die hochrangigen Mitglieder sind bestens vernetzt, absolut skrupellos und verfügen über immense Ressourcen… 
Dan Brown hat es mit seiner mittlerweile auch erfolgreich von Ron Howard verfilmten Romanreihe um den Symbologen Robert Langdon vorgemacht und die geheimnisvollen und manchmal auch dunkleren Seiten der katholischen Kirche thematisiert und eine furiose Schnitzeljagd auf äußerst spekulative, aber hochspannende Weise inszeniert. Ähnlich temporeich geht auch Daniel Silva im 20. Band um den langsam in die Jahre gekommenen israelischen Geheimdienstchef und Hobby-Restaurator Gabriel Allon zu Werke. So wie Allon kommt auch der Leser kaum zur Ruhe, wenn der Mossad-Chef von Jerusalem über Venedig, Rom und Florenz nach Freiburg, in die Schweiz, nach Bayern und wieder zurück nach Italien hetzt, um den Spuren zu dem ominösen Buch und den Drahtziehern des Helenenordens zu folgen. 
Bei so vielen beteiligten Figuren bleibt natürlich kein Raum für differenzierte Charakterisierungen. Dafür nutzt Silva die anstehende Papstwahl in seinem Thriller und die problematische Vergangenheit der katholischen Kirche, um die aktuelle Sorge vor zunehmend rechtsgerichteten, populistischen Staatsoberhäuptern zu thematisieren. 
Vor allem im ausführlichen Nachwort beschreibt der Autor die historischen Zusammenhänge zwischen einer realen, in der Schweiz gegründeten reaktionären Priesterbruderschaft und dem Umgang der katholischen Kirche mit den Juden und ihrer systematischen Verfolgung. All das hat Silva leicht verständlich in einen packenden Plot gegossen, der kurzweilige Thriller-Unterhaltung bietet – aber – trotz des höchst aktuellen Themas - auch nicht viel mehr. 

 

Robert Bloch – „Ein mysteriöser Tod“

Donnerstag, 19. Januar 2023

(Kurt Desch, 157 S., Tb.) 
Robert Bloch (1917-1994) ist zwar vor allem als Autor der Romanvorlage von Alfred Hitchcocks Spannungs-Klassiker „Psycho“ (1960) weltberühmt geworden, hat während seiner langjährigen Karriere als Schriftsteller aber auch Science Fiction, Horror und Krimis sowie Drehbücher zu Fernsehserien und Hollywood-Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Totentanz der Vampire“ und „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ verfasst. In seinem 1958 veröffentlichten Roman „Shooting Star“, der erstmals 1968 in der Reihe „Die Mitternachtsbücher“ im Verlag Kurt Desch als „Ein mysteriöser Tod“ und dann 2009 bei Rotbuch unter seinem Originaltitel veröffentlicht wurde, ist Hollywood der Schauplatz mehrerer Verbrechen. 
Einst hatte Mark Clayburn ein gutgehendes Büro am Strip, wo er als Literaturagent tätig war. Mittlerweile gehen die Geschäfte längst nicht mehr sehr gut. Nun unterhält er ein schäbiges Büro in der Olive Street, nachdem er ein Auge, seine Klienten, Angestellten und den größten Teil seiner Ersparnisse verloren hatte, und bestreitet seinen Lebensunterhalt u.a. als Notar und Privatdetektiv. 
Vor einem halben Jahr wurde der Schauspieler Dick Ryan ermordet in seinem Wohnwagen aufgefunden wird, doch die Polizei konnte den Mord bislang nicht aufklären. Nun engagiert der Hollywood-Agent Harry Bannock den Detektiv, um die wahren Hintergründe seines Todes ans Licht zu bringen und ihn so möglicherweise zu rehabilitieren. Bannock hat die Rechte an der Western-Serie „Lucky Larry“ von dem unabhängigen Produzenten Abe Kolmar aufgekauft, doch droht Bannocks lukrativer Deal mit der Produktionsfirma See More mit Wiederholung der 39 bislang gedrehten Folgen und der möglichen Fortsetzung der Serie nach dem Skandal um Ryans Drogenkonsum zu platzen. 
Nach den bisherigen Ermittlungen der Polizei bekam Ryan am fraglichen Abend in seinem auf der Ranch von Kolmar abgestellten Wohnwagen Besuch von seinen Filmpartnern Polly Foster, Tom Trent und Estrellita Juarez, nachdem Ryan seinen Chauffeur und Kammerdiener Joe Dean gefeuert hatte. Doch kaum beginnt Clayburn mit eigenen Ermittlungen, erhalten sowohl Bannock als auch er selbst anonyme Warnungen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, doch Bannock ermuntert Clayburn, den Auftrag wie abgesprochen weiterzuverfolgen. Schließlich würde das von Bannock in Aussicht gestellte Honorar in Höhe von elftausend Dollar dafür sorgen, dass sich Clayburn wieder eine Existenz aufbauen könnte. 
Als der Detektiv die Beteiligten der tödlichen Privatparty in Ryans Wohnwagen zu befragen beginnt, fällt mit Trent der nächste von Kolmars Zugpferden dem Mörder zum Opfer, und der Druck auf Clayburn nimmt zu… 
„Er war hier gewesen. Er hatte in meinem Stuhl gesessen, in meiner Wohnung; er hatte Marihuana geraucht. Er hatte mir eine weitere Warnung zukommen lassen; und wenn ich sie nicht beherzigte, kam er vielleicht zurück. Nur würde er sich dann nicht mehr mit einer Warnung begnügen. Von Rauschgift wird man blau. Es war ein verrücktes Risiko gewesen, einen Stummel wie diesen zurückzulassen. Aber vielleicht war er eben verrückt.“ (S. 35) 
Zwar ist Robert Blochs Protagonist Mark Clayburn weit von dem Typus des Hardboiled-Detektivs entfernt, wie ihn Raymond Chandler mit Philip Marlowe, Dashiell Hammett mit Sam Spade oder Robert B. Parker mit Spenser etabliert haben, da er moralisch weit integrer erscheint, sich nicht auf zwielichtige Verhältnisse mit schönen Frauen einlässt und Drogen meidet, aber deren Hartnäckigkeit teilt er zweifellos. Bloch schrieb „Shooting Star“, bevor er selbst in Hollywood ein gefragter Drehbuchautor wurde und aus dem ländlichen Wisconsin in die Filmmetropole zog, doch beweist er hier schon ein gutes Gespür für die Gesetzmäßigkeiten und die Atmosphäre in Hollywood. 
Geschickt fügt Bloch durch die Gespräche, die Clayburn mit den Zeugen und Verdächtigen führt, Puzzleteil für Puzzleteil zusammen und lässt sich auch von weiteren Morden nicht von seiner Mission abbringen, die Wahrheit herauszufinden, die sich natürlich erst auf den letzten Seiten in einer gelungenen Auflösung offenbart. „Ein mysteriöser Tod“ bietet ebenso schnörkellose wie kurzweilige Krimi-Spannung mit einem sympathischen Protagonisten, einigen wunderbar undurchschaubaren Typen und dem für Robert Bloch typischen Humor. 


 

Jo Nesbø – (Harry Hole: 1) – „Der Fledermausmann“

Dienstag, 17. Januar 2023

(Ullstein, 416 S., Tb.) 
Der 1960 in Oslo geborene Jo Nesbø hatte bereits eine Karriere als Makler, Journalist und Sänger/Komponist der Pop-Band Di Derre hinter sich, als er 1997 seinen ersten Roman und damit den Start einer bis heute erfolgreichen Krimi-Reihe um den alkoholkranken Polizisten Harry Hole vorlegte. Der von ihm durch übermäßigen Alkoholkonsum verursachte Autounfall, bei dem sein Kollege auf dem Beifahrersitz getötet und ein junger Mann ab dem Hals abwärts gelähmt wurde, verfolgt Harry Hole bis heute. Statt ihn zu suspendieren, haben seine Vorgesetzten den Vorfall jedoch unter den Teppich gekehrt, indem sie den getöteten Beifahrer zum Fahrer erklärten, so dass Hole nach außen hin unbeschadet aus der Sache herauskam. 
Nun wird er nach Sydney geschickt, um bei den Ermittlungen zum Mord an der 23-jährigen norwegischen Staatsbürgerin Inger Holter zu assistieren, die nahezu nackt in der Nähe eines Parks aufgefunden wurde, nachdem man sie vergewaltigt und dann erwürgt hatte. Er wird dem Aborigine Andrew Kensington zugeteilt, mit dem er zunächst die Bar „The Albury“ aufsucht, in der das Mordopfer gearbeitet hatte. 
Offenbar hat Ingers Chef wohl vergeblich versucht, bei ihr zu landen. In einem Brief, die sie einer gewissen Elisabeth schreiben wollte, den man in ihrer Wohnung sichergestellt hat, schwärmt sie von einem 32-jährigen Evans und von der Möglichkeit, in einer norwegischen Serie mitzuspielen. Schließlich nimmt Kensington seinen norwegischen Partner mit in den Zirkus, wo ein Gerichtsprozess präsentiert wird, bei der ein Clown, der Ludwig XVI. darstellen soll, zum Tode verurteilt und durch eine Guillotine enthauptet wird. 
So lernt Hole, der in Australien Holy genannt wird, den homosexuellen Clown-Darsteller Otto Rechtnagel, dann den Aborigine Toowoomba kennen, der für Andrew fast wie ein Sohn ist. Doch als Hole allmählich einen Überblick über die Lebensumstände sowohl des Mordopfers als auch seines australischen Partners zu bekommen beginnt, werden weitere blonde Frauen aufgefunden, die auf eine ähnliche Weise zu Tode gekommen sind wie Inger Holter. 
Tatsächlich werden drei weitere Vergewaltigungen in unterschiedlichen Teilen des Landes in weniger als zwei Monaten entdeckt, bei denen die Opfer blond waren und gewürgt wurden, die aber nie den Täter beschreiben konnten. Um den möglichen Serienmörder zu fassen, scheut Hole nicht davor zurück, seine blonde Freundin Birgitta als Lockvogel einzusetzen… 
„Vorsichtig versuchte er, seine eigenen Gefühle auszuloten. Vorsichtig, weil er sich nicht erlauben konnte, sich ihnen hinzugeben. Noch nicht, jetzt noch nicht. Zuerst die guten Gefühle. Nur ganz wenig. Er wusste nicht, ob sie ihn stärker oder schwächer machen würden. Birgittas Gesicht zwischen seinen Händen, die Reste eines Lachens, das noch in ihren Augen lag. Dann die schlechten Gefühle. Sie waren es, die er noch für eine Weile aus seinem Leben verdammen musste, aber er versuchte, ihnen nachzuspüren, wie um sich einen Eindruck von ihrer Kraft zu verschaffen.“ 
Jo Nesbø findet einen ungewöhnlichen Weg, seinen Protagonisten Harry Hole einzuführen, nämlich fern seiner norwegischen Heimat. In der australischen Metropole Sydney ist er von Polizeichef Neil McCormack eigentlich zum Zuschauen verdammt, während sein ihm zugeteilter ortsansässiger Kollege Andrew Kensington ihn souverän mit den scheinbar richtigen Leuten aus dem Umfeld der ermordeten norwegischen jungen Frau bekannt macht. Dabei nutzt Nesbø die ausführlichen Gespräche zwischen Hole und dem Aborigine, um sowohl den Hintergrund des alkoholkranken Norwegers einzuführen als auch eine Geschichtslektion über das Verhältnis zwischen der australischen Ureinwohner und ihrer englischen Besatzer zu erteilen. 
Man merkt, dass Nesbø seine Hausaufgaben gemacht hat und sich bemüht, seine Figuren sorgfältig einzuführen, ohne zu viel preiszugeben. Für das Verständnis von Holes Charakter scheint hier der tragische, von ihm verursachte Autounfall und seine Jugendliebe Kristin von Bedeutung zu sein, für Kensington die Art und Weise, wie er sich als Aborigine einen Platz in der weißen Gesellschaft erkämpft hat. 
Die Ermittlungsarbeit droht dabei schon fast zum Nebenschauplatz zu werden. Nesbø hat in seinem Romandebüt noch nicht das ideale Tempo gefunden, um die Dramaturgie der Geschichte stimmig voranzutreiben, aber ein vielversprechender Anfang ist auf jeden Fall gemacht.  

Garry Disher – „Stunde der Flut“

Samstag, 14. Januar 2023

(Unionsverlag, 334 S., HC) 
Der 1949 geborene Garry Disher zählt seit seinen ersten, zu Beginn der 1980er Jahre veröffentlichten Büchern zu den vielseitigsten australischen Schriftstellern. Obwohl er auch Sachbücher (über australische Geschichte und die Kunst des Schreibens) und Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, ist er vor allem ein gefeierter Krimi-Autor verschiedener Reihen (Wyatt, Inspector Challis, Constable Hirschhausen) sowie einiger Stand-alone-Werke, zu denen auch sein neues, wieder von Peter Torberg souverän übersetztes Buch „Stunde der Flut“ zählt. 
Charlie Deravin hat erst 1999 die Polizeiakademie abgeschlossen und muss im Januar 2000 mitansehen, wie die Erinnerungen an seine Kindheit verschwinden. Seine Eltern stehen vor der Scheidung, Charlies Vater, Detective Sergeant in Menlo Beach auf der Peninsula, wird wohl das Haus verkaufen müssen, aber mit Fay hat sein Vater bereits eine neue Freundin am Start. 
Hier in der Tidepool Street kauften Charlies Dad und seine Kumpel und Kollegen in den späten Siebzigern günstig Ferienhäuser und Wochenenddomizile, die sie zu Familienheimen umwandelten, doch lange hielten die Frauen das alkoholgeschwängerte Machogehabe ihrer Männer nicht aus. Charlies Mutter Rose, eine Lehrerin, hat am längsten durchgehalten. Nun lebt sie in einer abgewrackten Hütte im Außenbezirk mit einem, wie Charlie und sein Bruder Liam finden, unpassenden Untermieter namens Shane Lambert, dessen Sachen die beiden Brüder schnell zusammenpacken, bevor sie ihn vor die Tür setzen. Als Charlie zurück in Swanage ist, wird er mit einem Vermisstenfall betraut. Der neunjährige Billy Saul ist während eines Aufenthalts seiner Grundschulklasse im Jugendlager spurlos verschwunden, wenig später wird der Wagen von Charlies Mutter leer aufgefunden, mit Blut am noch im Schloss steckenden Schlüssel und auf der Straße verstreuten Sachen aus ihrer Handtasche. Zwanzig Jahre später werden sowohl Billy Saul als auch Charlies Mutter immer noch vermisst. 
Charlie ist nach Tätlichkeiten gegen seinen Vorgesetzten vom Dienst suspendiert worden, lebt im Haus seiner alten Familie, ist seit zwei Jahren mit Anna Picard liiert, die er als Geschworene bei einem Prozess gegen einen beliebten Football-Spieler wegen Vergewaltigung kennengelernt hat, und hat bereits eine erwachsene Tochter namens Emma. Er nutzt seine freie Zeit, um privat weiter das Verschwinden seiner Mutter zu untersuchen. Sein ursprünglicher Verdacht, dass Shane Lambert sich an Charlies Mutter rächen wollte, weil er damals auf die Straße gesetzt worden ist, erhärtet sich nicht, da Lambert zum Zeitpunkt von Rose Deravins Verschwinden wegen Trunkenheit in Rosebud über Nacht eingesperrt war. Doch auch Charlies Vater hätte ein Motiv gehabt, Rose umzubringen, um das Haus nicht verkaufen zu müssen. Allerdings sind Charlie auch die ehemaligen Kollegen seines Vaters, vor allem der omnipräsente Mark Valente, verdächtig… 
„Charlie dachte all die Jahre zurück und suchte nach seinem Vater. Nach seinem veränderlichen, wechselhaften Vater. Ein liebenswürdiger – meist liebenswürdiger – Unruhestifter, wenn sie zu viert daheim waren. Ein Mann, der einen zum Lachen bringen konnte, der einen packte und kitzelte. Wenn er aber in Gesellschaft von Valente und seinen anderen Polizeikumpels war, ging Charlie auf, dann war er anders. Das Lächeln wirkte gezwungener; der Blick war wachsam. Nach einer Weile verging die Unruhestifterei völlig, er lernte eine andere Frau kennen, die Familie fiel auseinander, und seine Frau verschwand…“ (S. 251) 
Garry Disher nutzt die zwei Zeitebenen vor allem dazu, die Entwicklung der Strukturen zu beschreiben, die dazu führten, dass eine einst glückliche Polizistenfamilie auseinandergefallen ist. Gemächlich setzt der Autor aus der Perspektive seines Protagonisten aus Erinnerungen ein Bild zusammen, das von enttäuschten Erwartungen, mehr oder weniger latenten Verdächtigungen und zerbrochenen Träumen handelt, von den schwierigen Beziehungen zwischen sich entfremdeten Brüdern, aber auch von den unterschiedlichen Welten und Zeiten, die die Brüder von ihren Vätern trennen. 
Polternde Action wird man in „Stunde der Flut“ nicht finden. Disher ist eher – sieht man von seiner Wyatt-Reihe ab, die aber auch einen Kriminellen als Protagonisten aufweist – ein Autor der leisen Töne und des gemächlichen Erzählens. Er nimmt sich viel Zeit, um nach und nach die Beziehungen seiner Figuren zueinander, aber auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie sich bewegen, einzufangen. Das klingt wenig spektakulär, trifft aber immer wieder einen Nerv und bezieht auch aktuelle Entwicklungen wie den Beginn der Covid-Pandemie mit ein, die auch Charlies Vater während einer Kreuzfahrt nach Japan erwischt. 
Am beeindruckendsten ist Disher aber seine Hauptfigur gelungen, so dass man sich wünschen möge, dass der unerbittliche Ermittler Charlie Deravin noch einige weitere Fälle zu knacken bekommt. 

Joe R. Lansdale – „Moon Lake“

Sonntag, 8. Januar 2023

(Festa, 464 S., HC) 
Mit seinen bislang zehn hierzulande veröffentlichten Bänden seiner einzigartigen „Hap & Leonard“-Reihe und einer Reihe von u.a. mit dem Bram Stoker Award und Edgar Allan Poe Award preisgekrönten Büchern und Erzählungen („Die Wälder am Fluss“, „Ein feiner dunkler Riss“, „Blutiges Echo“) hat sich der texanische Autor Joe R. Lansdale in die Herzen auch der deutschen Krimi- und Horror-Liebhaber geschrieben. Nachdem seine Werke bislang hierzulande von Shayol, Suhrkamp, Rowohlt, Dumont, Golkonda, Tropen und Heyne verlegt worden sind, feiert Lansdale mit „Moon Lake“ seinen Einstand bei Festa, wo mittlerweile auch ehemals so populäre Schriftsteller wie Richard Laymon, Dean Koontz, Clive Barker und Joe Hill eine Heimat gefunden haben. 
Im Oktober 1968 machten sich der damals 14-jährige Daniel Russell und sein Vater vor dem Gerichtsvollzieher aus dem Staub und fuhren in einem klapprigen Buick zum Moon Lake. Zu diesem Zeitpunkt hatte Daniels Mutter die Familie schon vor Monaten verlassen. Als sie auf der Brücke am Moon Lake parkten, erzählte Daniels Vater, dass unter dem Moon Lake eine Stadt namens Long Lincoln läge, in der er geboren worden wäre und seine Frau kennengelernt hätte. Doch dann hätte irgendjemand entschieden, die Stadt zu verlegen, umzubenennen und die alte Stadt zu fluten. Daniel kannte die Geschichte schon, aber die Art und Weise, wie sein Vater sie am Ursprungsort wiedergab, machte dem Jungen Angst. Wenig später fuhr sein Vater den Wagen in den See. 
Der Junge konnte gerettet werden, von dem Wagen und Daniels Vater fehlte jedoch jede Spur. Daniel wurde bei zunächst bei den Candles, einer schwarzen Familie, untergebracht, bis seine Tante June wieder aus Europa zurückkam und den Jungen bei sich aufnahm. Zehn Jahre später kehrt Daniel Russell, der bereits ein Buch veröffentlicht und als Journalist bei einer Kleinstadtzeitung gearbeitet hat, zum Unglücksort zurück. Im Sommer 1978 hat die Dürre den Wasserpegel sinken lassen, so dass nicht nur der Wagen von Daniels Vater wieder aufgetaucht ist, sondern auch dessen Überreste sowie weitere körperliche Überreste im Kofferraum, die die Polizei zunächst Daniels verschwundener Mutter zuordnet. 
Daniel besucht mit Ronnie Candles, der gleichaltrigen schwarzen Polizistin, die ihn einst aus dem See gezogen hat, den Fundort, wo sie weitere Fahrzeuge und Knochenreste in den Kofferräumen vorfinden. Daniel erfährt durch Mrs. Candles und Nachforschungen in der örtlichen Bibliothek, dass offensichtlich der mächtige Stadtrat etwas mit der Flutung von Long Lincoln zu tun gehabt haben könnte, wobei wissentlich die meist schwarzen noch in ihren Häusern lebenden Bewohner ertränkt wurden. Doch der Stadtrat findet Mittel und Wege, Daniels Bemühungen zur Wahrheitsfindung auch mit Gewalt zu torpedieren… 
„Der Stadtrat, ein Club ritueller Mörder, hatte seine Existenz durch Vorstellungskraft und Gier transformiert. Es waren verschrobene Verfechter der freien Marktwirtschaft und des amerikanischen Traums. Die schlimmste Manifestation dieses Traums. Sie hatten sich selbst zu denjenigen ernannt, die die Suppe zubereiteten. Wir Restlichen wurden darin gekocht, während man uns einredete, dass uns lediglich warm sei, dass es einen Gott im Himmel gebe und die Welt in Ordnung sei, obwohl wir in Wahrheit nur existierten, damit wir mit der Suppenkelle in die Schüsseln unserer Meister gestoßen und von ihnen verspeist werden konnten.“ 
Als Texaner ist sich Joe R. Lansdale ähnlich wie seine Kollegen James Lee Burke, Larry Brown oder Tom Franklin sehr bewusst, dass der Rassismus mit dem Ende der Sklaverei längst nicht ausgerottet ist. Dass sich der Autor selbst wenig um die Trennung von Schwarz und Weiß schert, hat er bereits eindrucksvoll mit den humorvollen „Hap & Leonard“-Romanen bewiesen, in denen das titelgebende Duo aus einem heterosexuellen weißen Kriegsdienstverweigerer und einem schwulen schwarzen Vietnamveteran besteht. 
Eine ähnliche Konstellation findet sich bei „Moon Lake“. Der weiße Ich-Erzähler Daniel Russell freundet sich mit der gleichaltrigen Schwarzen Ronnie an, die ihn einst aus dem im Moon Lake versunkenen Buick seines Vaters gerettet hat und mit der er die mysteriösen Ereignisse rund um Long Lincoln und dem Moon Lake aufzuklären versucht. Lansdale driftet dabei gelegentlich in das ihm vertraute Horror-Genre ab, doch vor allem entlarvt er die Vorkommnisse in der Kleinstadt als Resultat der Gier der Stadtväter nach Macht und Reichtum, wobei sie sich schändlicher Rituale, Korruption und Betrug bedienen, um den Status Quo aufrechtzuerhalten. Lansdale fesselt seine Leserschaft mit einem flüssigen Schreibstil, einfühlsamen Charakterisierungen und bildhaften wie humorvollen Vergleichen, die man bereits in seinen früheren Werken zu schätzen gelernt hat. 
Auch wenn „Moon Lake“ nicht an so eindringliche Meisterwerke wie „Kahlschlag“, „Die Wälder am Fluss“ und „Dunkle Gewässer“ anknüpfen kann, ist Lansdale doch ein fesselnder Thriller gelungen, der einzig durch die Überzeichnung einiger Figuren wie Jack Sr., Jack Jr. und vor allem Flashlight Boy für leichte Misstöne sorgt.  

Stephen King – „Cujo“

Donnerstag, 5. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.) 
Schon früh in seiner schriftstellerischen Karriere hat Stephen King mit Castle Rock eine fiktive Kleinstadt geschaffen, in der viele seiner Geschichten angesiedelt sind, nach der Novelle „Die Leiche“ und dem Roman „Dead Zone – Das Attentat“ auch der 1981 veröffentlichte Roman „Cujo“, der in einer Zeit entstanden ist, als der Autor noch stark alkohol- und kokainsüchtig gewesen war und an die er sich eigenen Angaben zufolge kaum noch erinnern kann. Unter diesen Umständen ist mit ihm mit „Cujo“ ein unterhaltsamer und überwiegend sehr realistischer Horror-Thriller gelungen, der mit einem überschaubaren Ensemble und einer ebenso übersichtlichen Handlung auskommt. 
Wenn man in Castle Rock, Maine, von Ungeheuern spricht, ist damit der Polizist Frank Dodd gemeint, der in den 1970er Jahren sechs Frauen getötet und sich selbst gerichtet hatte, bevor ihn ein Mann namens John Smith identifizieren konnte. 1980 kommt das Grauen in Gestalt eines Bernhardiners in die Kleinstadt zurück. Der Werbefachmann Victor Trenton hat der New Yorker Werbeindustrie den Rücken gekehrt und sich mit seinem Kumpel Roger Breakstone selbstständig gemacht. Doch die Geschäfte von Ad Worx laufen schlecht, der größte Kunde, der Frühstücksflocken-Hersteller Sharp, droht abzuspringen, nachdem ein Farbstoff in den Himbeerflocken für unerwünschte, wenn auch ungefährliche Nebenwirkungen gesorgt hatte. 
Um den Sharp-Etat zu retten, fliegt Vic mit Roger für zehn Tage nach Boston und New York, allerdings kommt die Geschäftsreise mehr als ungelegen, da es um die Ehe von Vic und Donna nicht zum Besten steht. Tatsächlich hat Donna eine Affäre mit dem Dichter und Tennisspieler Steve Kamp beendet, der darüber so erbost ist, dass er Vic über die Affäre informiert. 
Donna fährt mit ihrem vierjährigen Son Tad den Ford Pinto derweil in die Werkstatt von Joe Camber am Rande der Stadt, wo sie das Nadelventil reparieren lassen will. Der Wagen hat es gerade noch bis in die Auffahrt geschafft, danach gibt der Motor kaum noch einen Ton von sich. Joe Camber trifft sie allerdings nicht an, und auch sonst niemanden. Seine Frau Charity ist mit dem gemeinsamen Sohn Brett zu ihrer Schwester Holly gefahren, Joe und sein Freund Gary wurden bereits von Cujo getötet. Der ansonsten liebenswürdige, aber ungeimpfte Bernhardiner wurde bei einer Kaninchenjagd von tollwütigen Fledermäusen gebissen und hat es nun auf die im Wagen eingesperrte FRAU und den JUNGEN abgesehen. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände sitzt Donna mit ihrem Sohn nun in der brüllenden Junihitze in einem defekten Wagen fest, und niemand scheint zu wissen, in welcher Notlage sie sich befinden… 
„Dass Vic für zehn Tage weggefahren war … damit hatte es angefangen. Dass Vic schon heute Morgen anrief, war Zufall Nummer zwei. Wenn er sie nicht erreicht hätte, wäre er gewiss besorgt gewesen und hätte es immer wieder versucht. Er hätte sich gefragt, wo sie sein könnten. Die Tatsache, dass alle drei Cambers nicht zu Hause waren und, wie es schien, über Nacht wegbleiben würden, war Zufall Nummer drei. Mutter, Sohn und Vater. Sie waren alle weg. Aber sie hatten den Hund zurückgelassen. Oh ha. Sie hatten… Plötzlich kam ihr ein grauenhafter Gedanke (…) Wenn sie nun alle tot in der Scheune lagen?“
Zwar beginnt „Cujo“ mit einem Albtraum, der den vierjährigen Tad nachts aufstehen lässt, weil er im Schrank ein Ungeheuer entdeckt zu haben glaubte, und auch wenn dieses Bild immer wieder im Laufe der Handlung neu aufgerollt wird, bleibt dies doch der einzige Verweis auf vage übernatürlich generiertes Grauen. 
Der eigentliche Horror spielt sich nämlich auf dem verlassenen Grundstück der Cambers ab, in dem verzweifelten Überlebenskampf von Donna Trenton und ihrem vierjährigen Sohn Tad, die keine Möglichkeit finden, aus dem liegengebliebenen Ford Pinto zu fliehen, ohne von dem tollwütigen Cujo angefallen zu werden. Um die recht profane Geschichte mit Leben zu füllen, nimmt sich King viel Zeit, die Familienprobleme der Trentons und der Cambers zu sezieren, wobei er ganz seine Stärke ausspielt, das einfache Leben von ganz gewöhnlichen Menschen zu beschreiben und so ein hohes Identifikationspotenzial bei seiner Leserschaft bereitzustellen. 
Was bei den Cambers vor allem wirtschaftliche Nöte sind, die durch einen Lotteriegewinn gerade etwas abgemildert werden und Charity die Reise zu ihrer Schwester ermöglichen, kommt bei den Trentons in Form einer Ehekrise und Affäre zum Ausdruck. King wechselt immer wieder geschickt die Erzählperspektive und damit auch den Ort des Geschehens, versucht auch gelegentlich, die Wahrnehmung des tollwütigen Hundes zu schildern, wenn er von den kleinsten Geräuschen und Gerüchen malträtiert wird und die im Wagen sitzende FRAU und den JUNGEN für sein Leid verantwortlich macht. So gelingt es King, mit einer recht simplen Geschichte, von Beginn an, einen dramaturgisch geschickt konstruierten Spannungsbogen aufzubauen, der sich in einem Finale entlädt, das durchaus überzeugender hätte gestaltet werden können. 
„Cujo“ ist zwar kein Meisterwerk aus der Feder des „King of Horror“, aber doch ein gemeiner, kleiner Reißer, der 1983 von Lewis Teague auch verfilmt worden ist. 

 

Stephen King – „Feuerkind“

Montag, 2. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 479 S., Tb.) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Debütroman „Carrie“ hat sich Stephen King zu einem der meistgelesenen Autoren weltweit entwickelt und gilt bis heute als „King of Horror“, dessen Werke vielfach verfilmt worden sind, vor allem seine Frühwerke – von „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ über „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Dead Zone – Das Attentat“ bis zu seinem 1980 veröffentlichten Roman „Firestarter“, der 1984 zunächst von Mark L. Lester mit Drew Barrymore in der Hauptrolle verfilmt wurde und 2022 eine Neuverfilmung erfuhr. 
Ähnlich wie schon in „Carrie“ und „Shining“ thematisiert King in „Feuerteufel“ die übersinnlichen Fähigkeiten eines Kindes. 
Weil er knapp bei Kasse war und die 200 angebotenen Dollar gut gebrauchen konnte, hat Andy McGee während seiner Studienzeit an einem von Dr. Wanless im Auftrag der Geheimdienstorganisation „Die Firma“ durchgeführten medizinischen Experiment teilgenommen, bei dem ihm und anderen Probanden ein Mittel namens Lot Sechs zugeführt worden ist, eine geheime Mischung aus einem Hypnotikum und einem milden Halluzinogenikum. 
Als Folge des Experiments brachten sich allerdings einige Teilnehmer um, seine Freundin Vicky Tomlinson entwickelte leichte Telekinese- und Telepathie-Fähigkeiten, während Andy selbst in die Lage kam, andere Menschen durch seine Gedanken zu beeinflussen. Weitaus stärker kamen die übernatürlichen Fähigkeiten allerdings bei ihrer Tochter Charlie zum Ausdruck, denn sie kann allein mit ihrem Willen Feuer entfachen, was „Die Firma“ näher erforschen möchte. Als sich die McGees allerdings dem Programm entziehen wollen, töten die Agenten Charlies Mutter und zwingen Andy und das Mädchen zur Flucht. Sie lassen sich mit einem Taxi zunächst von New York zum Flughafen nach Albany fahren und landen schließlich in Hastings Glen auf der abgelegen in den Wäldern liegenden Farm von Irv Manders und seiner Frau. 
Als die Agenten sie dort aufspüren, kommt es zu einer Katastrophe, bei der Charlie nicht nur die Hühner in Flammen aufgehen lässt, sondern auch einige Agenten der Firma sowie die Farm selbst. Andy und Charlie fliehen schließlich zur Hütte seines verstorbenen Vaters, wo sie allerdings nur für einen Winter Unterschlupf finden, bis sie von dem einäugigen indianischen Agenten John Rainbird gefasst ins Hauptquartier nach Longmont, Virginia, gebracht werden. 
Unter der Leitung von Captain Hollister werden Andy und Charlie getrennt untergebracht und auf ihre Fähigkeiten getestet. Bei Andy, an dem die Firma weniger interessiert ist, wird nur noch eine schwächer werdende Fähigkeit zur Gedankenkontrolle anderer Menschen festgestellt, so dass sich die Ärzte und Wissenschaftler sich bei ihm darauf beschränken, ihn mit Thorazin ruhigzustellen. Da sich Charly nach den Ereignissen auf der Farm dazu entschlossen hat, unter keinen Umständen mehr Feuer zu entfachen, entwickelt John Rainbird einen eigenen Plan, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und sie dazu zu bringen, gegen Einforderung von Gefälligkeiten kontrollierte Feuer zu entfachen. Doch damit beginnt Charlie auch, ihre Optionen neu zu überdenken… 
„Die Tests hatten ihren Komplex hinsichtlich des Feuers so weit abgebaut, dass er nur noch einem an vielen Stellen geborstenen Erdwall glich. Die Tests hatten ihr die Praxis vermittelt, die nötig war, um aus einem groben Schmiedehammer ein Instrument zu machen, das sie mit tödlicher Präzision handhaben konnte wie ein Messerwerfer seine Messer. Und die Tests waren für sie ein perfekter Unterricht gewesen. Sie hatten ihr ohne den Hauch eines Zweifels gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Sie.“ 
Stephen King hat schon in seinen früheren Romanen ein erstaunliches Talent entwickelt, Psi-Kräfte bei kindlichen und jugendlichen Protagonisten auf glaubwürdige Weise entwickeln zu lassen. In „Dead Zone – Das Attentat“ stürzte der sechsjährige Johnny Smith beim Schlittschuhlaufen und entwickelte daraufhin hellseherische Fähigkeiten, in „Carrie“ litt das titelgebende Mädchen unter dem religiösen Wahn ihrer alleinerziehenden Mutter und konnte mit Gedankenkraft Dinge bewegen. 
In „Feuerkind“ sind es die außer Kontrolle geratenen Experimente mit Drogen, die unterschiedlich stark ausgeprägte Psi-Kräfte hervorriefen und von den Eltern auf Charlie McGee übertragen wurden. King beginnt seinen etwas ausschweifenden Roman mit der Flucht von Andy McGee und seiner Tochter, nachdem Andys Frau ermordet worden ist. In Rückblicken wird die Zeit rekapituliert, in der Andy und Vicky an den Experimenten teilgenommen und ineinander verliebt haben. 
Immer wieder wechselt King auch die Erzählperspektive, springt von der Flucht der McGees zu ihren Verfolgern hin und her, bis auch der clevere John Rainbird zum Ende hin eine zunehmend wichtigere Rolle im Plot einnimmt. 
Was „Feuerkind“ an Plotentwicklung und Spannung vermissen lässt, macht King durch seine einfühlsame Figurenzeichnung wieder wett, auch wenn dabei kaum Grautöne auszumachen sind und die Handlung äußerst vorhersehbar verläuft. 

 

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 5) „Die Stille vor dem Tod“

Donnerstag, 29. Dezember 2022

(Lübbe, 478 S., HC) 
Der 1968 in Fort Worth, Texas, geborene Cody McFadyen hat sich mit seiner Reihe um die unerschrockene wie geniale FBI-Ermittlerin Smoky Barrett auf eine besondere Nische des literarischen Thrillers spezialisiert, die in der Welt des Films dem Genre des „Torture Porns“ ihre Entsprechung finden würde. Dabei geht es nicht in erster Linie um die besonders raffinierte Lösung komplexer Morde – auch wenn es uns die Klappentexte der Bücher weismachen wollen -, sondern vor allem um die Darstellung der grausamsten Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann. 
Das fängt bei McFadyen bereits damit an, dass er seine Ich-Erzählerin, die kleine, aber taffe FBI-Agentin Smoky Barrett, dem Publikum zunächst als Opfer eines psychopathischen Killers macht. Joseph Sands drang in ihr Haus ein, fesselte ihren Mann Matt, vergewaltigte Smoky vor seinen Augen mehrere Male und zerschnitt ihr mit einem Messer das Gesicht, bevor er Matt tötete. Smoky konnte sich zwar befreien, doch als sie ihren Peiniger töten wollte, erschoss sie auch ihre Tochter Alexa, die er als Schutzschild missbrauchte. 
Nach einer langen Therapie bei Dr. Childs konnte sie wieder ihren Dienst ausüben und machte sich mit ihrem bewährten Team aus dem misanthropischen James, der lebenslustigen Callie und dem zuverlässigen Alan weiter auf die Jagd nach Serienkillern. McFadyen folgt in seiner Dramaturgie den Gesetzen der Hollywood-Sequels von Torture-Porn-Filmen wie „Saw“ und „Hostel“ – mit jedem Teil muss es blutiger und brutaler werden, um das Publikum bei der Stange zu halten. Leider macht McFadyen den Fehler, dieses Gesetz über die Qualität seiner Geschichte zu setzen, so dass er mit „Die Stille vor dem Tod“ am Tiefpunkt der Reihe angelangt ist. 
Obwohl Smoky Barrett bereits seit siebeneinhalb Monaten schwanger ist, lässt sie sich nicht davon abbringen, mit ihrem Team zu einem besonders grausamen Tatort nach Colorado zu fliegen, wo innerhalb eines Wohnblocks drei Familien bestialisch abgeschlachtet wurden. Als Smoky den von Polizisten – eigentlich - abgesicherten Tatort betritt, wird sie von einem Teenager-Mädchen mit einer Schrotflinte bedroht. Sie erzählt Smoky von zwei absolut bösen Männern, die Grausamkeiten nur zu ihrem Vergnügen verüben, sich an der Hoffnungslosigkeit und Resignation ihrer Opfer weiden würden. Das Vorgehen dieser beiden Männer wäre einer Person bekannt geworden, die der Kirche des Fundamentalen Ich angehören, aber einen eigenen Plan verfolgen würde. 
Das Mädchen erzählt Barrett von einem Bunker, der unter dem Gelände liegen würde, und einem Milgram-Experiment, dann wird sie wie von ihr vorhergesagt erschossen. Da sich Smoky vor Angst eingenässt hat, wird sie von Alan und Callie zu den Darbys in der Nachbarschaft gebracht, wo sie sich duschen und umziehen kann. Wenig später gelingt es Ben Darby, seine Frau Veronica zu erschießen, Smoky in seine Gewalt zu bringen und in den Bunker zu entführen, wo sich der Marine-Offizier als sadistischer Psychopath entpuppt. Zwar gelingt es Smoky, Ben zu töten, doch als sie durch die Flure des hochmodern eingerichteten Bunkers streift, packt sie das pure Grauen, denn hier finden sich nicht nur eine exakte Kopie der Bürotoilette, sondern auch eine kunstvolle Videoprojektion, die das Massaker von Nanking im Jahr 1937 wiedergeben, Glaskäfige, in denen nackte Menschen wie Tiere gehalten werden, und sogar eine Vitrine, in der detailgetreu die Nacht nachgestellt wurde, in der Matt und Alexa starben. In den darauffolgenden Monaten hat sich Assistant Director Jones offensichtlich als Verräter erwiesen, der sich ohne ein Abschiedsbrief in seinem Badezimmer erhängte. Außerdem ist Smokys Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt, ihr Mann Tommy hat nach einem Kampf fast ein Auge verloren, und James ist, nachdem seine Mutter getötet wurde, völlig untergetaucht. Natürlich fängt sich Smoky nach den traumatischen Erlebnissen wieder – mit Unterstützung ihres Therapeuten Dr. Childs. Zusammen mit ihrem Team macht sie James in einem Hotel in Las Vegas ausfindig, bringt ihn dazu, zur Gruppe zurückzukehren und Jagd auf die beiden bösen Männer zu machen, die sich als der Wolf und der Folterer der Öffentlichkeit vorstellen und Ungeheuerliches vorhaben… 
„Noch nie bin ich einer Kreatur gegenübergetreten, die eine so schallende Ohrfeige für die Schöpfung war. Ich muss meinen ganzen Willen aufbringen und meinen Verstand beruhigen mit dem Gedanken, dass die Bestie in Ketten ist; schließlich ist es so, dass als säße ich einem leibhaftigen Raubtier gegenüber, so nahe, dass ich seinen stinkenden Atem riechen kann.“ (S. 440) 
Was verbreitet noch mehr Grauen als EIN sadistischer Serienvergewaltiger und -mörder? Na klar: EIN GANZER HAUFEN sadistischer Serienvergewaltiger und -mörder! Nach diesem offenbar simplen Rezept versucht der auf Superlative des Grauens spezialisierte McFadyen in seinem fünften Smoky-Barrett-Roman dem zuvor schon Unvorstellbaren noch eins draufzusetzen. Allerdings hängt er seine Leserschaft diesmal schon auf den ersten fünfzig Seiten komplett ab, wenn er eine hochschwangere FBI-Agentin an einen Tatort mit drei abgeschlachteten Familien ziehen lässt, die dann auch noch unter den unglaublichsten Umständen gekidnappt und in ein „Museum des Todes“ verschleppt wird, das sich als größtes Schreckenskabinett entpuppt, das sich der menschliche Geist in seinen düstersten Winkeln nur vorstellen kann. 
Detailliert beschreibt McFadyen die umfassenden Überwachungssysteme, die Arrangements von Vergewaltigung, Folter und Mord in den ausgestellten Vitrinen; Material, das bis in die intimsten Bereiche auch von Smoky Barretts Leben vordringt. Gut 100 Seiten verbrennt McFadyen mit den Beschreibungen und Empfindungen, die seine Protagonistin beim Durchqueren des groß angelegten Bunker-Projekts erlebt, bis seine Heldin von ihren Kollegen entdeckt wird. 
Statt jedoch endlich mit der Ermittlungsarbeit zu beginnen, fügt der Autor einen Zeitsprung ein, wobei ihm zwei Zeitungs-Kolumnen und ein Internet-Blog dazu dienen, die Ereignisse in der Zwischenzeit zu thematisieren. Da soll auf einmal der so vertrauenswürdige Vorgesetzte von Smoky Barrett, AD Jones, seine eigenen Leute verraten und ein Video von Barretts Vergewaltigung an den Wolf, den Folterer und ihre Gruppe verscherbelt und sich dann umgebracht haben? Merkwürdigerweise wird diese Theorie nicht weiter verfolgt, sondern als gegeben hingenommen, ebenso das Abfackeln von Barretts Haus, wo sich der starke Tommy – mit Unterstützung von Smokys Adoptivtochter Bonnie - natürlich gegen einen russischen Hünen durchsetzen konnte, und der grausame Mord an der Mutter von Smokys Kollegen James, den sie dann erst einmal aus der selbstgewählten Versenkung aufspüren muss. 
Alles in allem ist es einfach starker Tobak, den McFadyen hier präsentiert. Irgendwann lässt der Autor seine Protagonistin fragen: „Glaubst du, das könnte funktionieren? In der wirklichen Welt?“ Diese Frage muss der Leser eindeutig verneinen. Zumal die fadenscheinige Auflösung, wer als Kopf hinter der Bande steckt, dem ganzen Irrsinn noch die Krone aufsetzt. Trotz des offenen Endes will man hoffen, dass „Die Stille vor dem Tod“ das Ende der Smoky-Barrett-Reihe und den schriftstellerischen Ambitionen von Cody McFadyen bedeutet. 

 

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 3) „Das Böse in uns“

Mittwoch, 21. Dezember 2022

(Lübbe, 446 S., HC) 
Mit seinen ersten beiden Romanen um die Top-FBI-Ermittlerin Smoky Barrett, „Die Blutlinie“ und „Der Todeskünstler“, hat der sich kalifornische Weltenbummler und Schriftsteller Cody McFadyen in die internationalen Bestseller-Listen und die Herzen hartgesottener Thriller-Fans geschrieben. Als Markenzeichen entpuppte sich dabei die detailverliebte Brutalität, die nicht nur die ermittelnde Ich-Erzählerin zu spüren bekam, sondern nun auch die Opfer der Serienkiller erleiden müssen, die Barrett mit ihren hochqualifizierten und ebenso motivierten Kollegen James, Alan und Callie zur Strecke bringen wollen. Insofern stellte sich für den nachfolgenden Band die Frage, ob McFadyen in dieser Hinsicht noch einen draufsetzen wollte oder sich auf literarische Qualitäten besinnen würde. 
Auf persönlichen Wunsch von FBI-Direktor Rathbun wird FBI-Agentin Smoky Barrett ins ferne Virginia geschickt, wo sie sich mit dem Mord an der jungen Lisa Reid beschäftigen soll. 
Der Fall ist nicht nur deshalb besonders spektakulär, weil das Opfer in einem Flugzeug 10.000 Meter über der Erde erstochen wurde, was erst nach der Landung aufgefallen ist, sondern sie ist die offiziell verstoßene Tochter des texanischen Kongressabgeordneten Dillon Reid – verstoßen deshalb, weil es sich bei Lisa eigentlich um den transsexuellen Dexter handelt, der sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschieden hat. Die politische Dimension, die eine besondere Sensibilität im Umgang mit der Presse erfordert, macht Smoky aber weniger zu schaffen als die Tatsache, dass bei der Obduktion des Opfers an der Einstichstelle ein Silberkreuz mit einem Totenschädel und der eingravierten Zahl 143 entdeckt wird. Natürlich wird der vermeintliche Sitznachbar der jungen Frau tot in seiner Wohnung aufgefunden. Als wenig später auch in Los Angeles eine junge Frau auf die gleiche Weise ermordet und ebenfalls mit einem Silberkreuz – diesmal mit der Zahl 142 – aufgefunden wird, sind sich Smoky und ihre Kolleg:innen sicher, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben. Dabei entspricht die runde Wunde am rechten Brustkorb jener Stichwunde, die der heilige Longinus Jesus nach dessen Tod mit einem Speer zugefügt haben soll, was Barretts Team in die Kreise katholischer Gemeinden führt. 
Schließlich tauchen im Internet Videos von einem selbsternannten „Prediger“ auf, in denen er seine vermeintlich geläuterten Opfer mit den Sünden ihrer Vergangenheit konfrontiert. Schließlich kündigt der Prediger in seinem neuen Video an, als nächstes ein junges Mädchen zu töten, sollte ihn das FBI vorher nicht geschnappt haben. Barrett und ihrem Team läuft die Zeit davon… 
„Er ist gerissen. Seine Ideen sind nicht neu, doch die Art und Weise, wie er sie verbreitet, lässt Umsicht und eine gewisse Ehrfurcht erkennen. Er verbirgt kein anderes Motiv hinter dem, was er sagt. Er glaubt an seine eigenen Worte. Sie sind es, die ihn vorantreiben. Doch was sind das für Worte? Letztendlich geht es um Wahrheit und Wahrhaftigkeit, um Lügen und Sünde und ihre religiöse Bedeutung.“ (S. 362)
Cody McFadyen überrascht zunächst mit einer gelungenen Einführung, die nicht nur einmal rekapituliert, was Smoky Barrett vor ca. drei Jahren ihr selbst und ihrer Familie durch den Serienkiller Julian Sands angetan worden ist, sondern sehr einfühlsam mit dem Gespräch zwischen der Ermittlerin und der Mutter von Lisa Reid die Probleme thematisiert, die mit der transsexuellen Natur des Kindes einer hochrangigen Politikers zusammenhängen. Allerdings wird dieser Aspekt der Geschichte nicht genauer aufgearbeitet, sondern dient nur als Auftakt weiterer grausamer Morde, die sehr schnell deutlich machen, dass der Täter irgendwie hinter die intimsten Geheimnisse seiner Opfer gekommen sein muss, die ihre Sünden gebeichtet und sich längst auf einem tugendhaften Pfad befunden haben, als der Killer sie vor die Kamera zerrte. 
Zu ¾ des Buches schildert McFadyen nicht nur die einzelnen Schritte der Ermittlungsarbeit von Barretts Team, sondern lässt auch einige private Themen in die Handlung einfließen, so Callies bevorstehende Hochzeit, für die sich die ehemalige CIA-Auftragskillerin Kirby als Wedding Planner engagiert, James‘ überraschendes Outing als Homosexueller sowie der Wunsch von Smokys Adoptivtochter Bonnie, endlich auf eine normale Schule gehen zu dürfen, nachdem sie zuvor von Smokys Freundin Elaina Privatunterricht erhalten hatte. 
Doch je mehr sich das FBI dem Prediger nähert, desto mehr driftet McFadyen wieder in alte Verhaltensmuster zurück, beschreibt die abartigsten Verbrechen, in denen Geistliche Inzest ausüben und zehnjährige Mädchen junge Kätzchen genussvoll erwürgen und verbuddeln. Spätestens wenn McFadyen in die verirrte Gedankenwelt des psychopathischen Predigers einzutauchen versucht, werden bis zum Erbrechen religionsphilosophische Fragen erörtert, die dem überkonstruierten Finale die ganze Spannung rauben. Wer aber eine unbändige Lust verspürt, in die tiefsten nur vorstellbaren Abgründe des menschlichen Denkens und Handelns einzutauchen, ist mit „Das Böse in uns“ bestens bedient. 

 

Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 2) „Der Todeskünstler“

Sonntag, 18. Dezember 2022

(Lübbe, 556 S., HC) 
Mit seinem ersten Roman „Die Blutlinie“ erwies sich der US-amerikanische Schriftsteller Cody McFadyen als besonders kompromissloser Vertreter der Psycho-Thriller-Garde, stellte er mit der FBI-Agentin Smoky Barrett doch eine gerade mal einsfünfzig große Protagonistin vor, die selbst Opfer eines brutalen Verbrechers wurde: Jonathan Sands hat sie nicht nur mehrfach vor den Augen ihres Mannes Matt vergewaltigt und ihr das Gesicht zerschnitten, sondern ihn auch vor ihren Augen ermordet. Als wäre das noch nicht genug des Terrors, hat Smoky bei dem Versuch, Sands zu erschießen, ihre eigene Tochter Alexa, die er als Schutzschild benutzte, getötet. 
Mittlerweile hat sich Smoky wieder so weit erholt, dass sie ihre Freundinnen Callie und Elaina zu sich einlädt, die Sachen von Matt und Alexa zu entsorgen. Ihr Chef AD Jones bietet ihr einen Job als Ausbilderin in Quantico an, doch bevor sie sich entscheiden kann, wird mit einer neuen Mordserie konfrontiert. 
Als Callie Thorne und Lieutenant Barry Franklin zu einem Tatort in Canoga Park gerufen, wo die 16-jährige, blutverschmierte Sarah Kingsley – mit einer Schusswaffe an ihrer Schläfe - ausdrücklich nach Smoky verlangt. In der Wohnung finden die Cops die nackten und ebenfalls blutüberströmten Leichen von Sarahs Pflegeeltern, Mr. und Mrs. Dean, sowie ihres Adoptivbruders Laurel Kingsley, dazu verstörende Gemälde aus Blut. Sarahs Aussage zufolge kennt sie den Killer, den sie den „Todeskünstler“ nennt, seit sie acht Jahre alt ist und er ihre Eltern ermordet hat. Seither hat es sich dieser Psychopath zur Aufgabe gemacht, alle Menschen, die Sarah liebt, zu foltern und zu töten. 
Smoky bringt Sarah bei Elaina und Alan unter, lässt sie von der taffen Kirby Mitchell bewachen und versucht, durch Sarahs Tagebuch auf die Spur des Killers zu kommen. Der hat in Granada Hills einen weiteren Mann und ein junges Mädchen umgebracht. Als das FBI in der Vergangenheit des Mordopfers José Vargas wühlt, stoßen sie auf eine Spur, die ihn mit einem Ring von Menschenhändlern in Verbindung bringt. Je mehr sich Smoky und ihre Kollegen mit Sarahs Tagebuch auseinandersetzen, desto mehr scheint sich als Motiv des Todeskünstlers Rache herauszukristallisieren, doch der Killer keine Spuren hinterlässt, bleibt seine wahre Identität weiterhin verborgen… 
„Killer sind Killer, und was sie tun, ist unverzeihlich, doch es gibt eine gewisse Tragik bei denen, die zu Killern gemacht wurden. Man kann es sehen, an ihrer Wut. Ihr Tun hat weniger mit Lust zu tun, mehr mit Raserei und Brüllen. Sie brüllen den Vater an, der sie missbraucht hat, die Mutter, die sie geschlagen hat, den Bruder, der sie mit Zigaretten verbrannt hat. Sie beginnen mit Hilflosigkeit und enden mit Tod. Man schnappt sie und sperrt sie ein, weil es getan werden muss, doch man spürt keine Befriedigung dabei.“ (S. 514) 
Was Filmemacher wie Eli Roth („Cabin Fever“, „Hostel“), James Wan („Saw“) und Alexandre Aja („High Tension“, „The Hills Have Eyes“) als Torture-Porn-Genre etablierten, fand in der Literatur ihre Entsprechung bei den Horror-Autoren des Splatterpunk bzw. bei Richard Laymon und Jack Ketchum.  
Cody McFadyen wandelte bereits mit seinem Debüt „Die Blutlinie“ eher auf den Pfaden der ultraharten Horror-Linie als seiner prominenten Kollegen James Patterson, Jeffery Deaver, Thomas Harris oder Jilliane Hoffman. McFadyen taucht zwar ebenso tief in die seelischen Abgründe seiner Protagonisten, lässt dabei allerdings nichts der Fantasie offen. Was allein seine taffe FBI-Agentin Smoky Barrett ertragen musste, deckt eigentlich ein Dutzend brutaler Gewaltverbrechen ab, so unvorstellbar wirkt die Kette aus Folter, Mord und Schmerz. Smoky, die mit Bonnie die verstummte Tochter ihrer ermordeten besten Freundin Annie aufzieht, wird auch in „Der Todeskünstler“ als Ich-Erzählerin etabliert, die sich mit ihrem Team aus erstklassigen Spezialisten auf die Jagd nach einem extrem rachsüchtigen Killer macht. 
Bei der Figurenzeichnung kennt der Autor keine Grautöne. Hier sind die Guten, engagierte, witzige und auch schräge Agenten, dort die Bösen, psychisch gestörte Killer, die über keinerlei Skrupel verfügen, auch die bestialischsten Morde an Unschuldigen zu begehen. 
„Der Todeskünstler“ ist kein Stoff für schwache Nerven, aber auch keine große Literatur. McFadyen entwickelt die größtmöglich vorstellbaren Grausamkeiten, die Menschen begehen könnten, und webt daraus einen Stoff, der Albträume verursacht. Das ist zuweilen recht spannend, aber durch die eindimensionalen Figuren und den höchst unglaubwürdigen Plot ist das Lesevergnügen arg eingeschränkt und nur für „Liebhaber“ des ultraharten Thrillers zu empfehlen. 

 

Dan Simmons – (Hyperion: 4) „Endymion - Die Auferstehung“

Dienstag, 13. Dezember 2022

(Goldmann, 864 S., Pb.) 
Ende der 1980er Jahre schuf der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“) mit den zweibändigen „Hyperion-Gesängen“ ein mit einem Locus Award und einem Hugo Award prämiertes Science-Fiction-Epos, auf das 1997 mit „Endymion“ seine unerwartete, doch begeistert aufgenommene Fortsetzung folgte, die nur ein Jahr später mit dem fast 900 Seiten umfassenden „The Rise of Endymion“ ihren Abschluss fand. Hierzulande sind die beiden „Hyperion“-Bände bei Heyne veröffentlicht worden. Die Fortsetzungen erschienen als „Endymion – Die Pforten der Zeit“ und „Endymion – Die Auferstehung“ zunächst in Einzelbänden bei Goldmann, dann als Sammelbände bei Blanvalet und schließlich Heyne. 
„Endymion – Die Pforten der Zeit“ erzählte von Aeneas Verschwinden und der Suche nach ihr durch den Pax auf der einen und den Dichter Martin Silenus auf der anderen Seite. Um die Tochter von Brawne Lamia und Johnny, der KI-Rekonstruktion des Dichters John Keats, aus dem Zeitgrab Sphinx auf Hyperion zurückzuholen, schickte der Pax 30.000 Soldaten, darunter 5.000 Schweizergardisten, zu den Gräbern, während der Dichter nur den Touristenführer, Landschaftskünstler und Barkeeper Raul Endymion entsandte. Durch das Shrike, einer zeitmanipulierenden Kampfmaschine aus der Zukunft, werden die Truppen des Pax vernichtend geschlagen, und Aenea gelingt mit Raul mithilfe der seit dem Fall deaktivierten Farcaster auf die Welten der ehemaligen Hegemonie zu flüchten und mit Unterstützung von Pater Captain de Soya, der das Mädchen eigentlich in den Vatikan schaffen sollte, auf der Alten Erde zu landen. 
„Endymion – Die Auferstehung“ beginnt mit dem Tod von Papst Julius XIV. und der erneuten Ermordung des Gegenpapstes Pater Duré. Währenddessen hat Aenea ihre vierjährige Ausbildung bei der inzwischen verstorbenen Cybrid-Rekonstruktion des Architekten Frank Lloyd Wright beendet und schickt Raul allein zurück auf den Tethysfluss, um das inzwischen reparierte Raumschiff des Konsuls zu suchen. Sie selbst realisiert auf verschiedenen Welten unterschiedliche Bauaufträge als Architektin und setzt ihre von der Kurie gefürchtete Mission fort, als „Die, die lehrt“ die Sprache der Lebenden, die Sprache der Toten und die Musik der Sphären zu verbreiten und vor der parasitären Kruziform zu warnen, die die Kirche des Pax ihren Jüngern als Mittel der ständigen Wiedergeburt anpreist. Mit der Kommunion, bei der Aeneas Anhänger mit ihrem Blut versetzten Wein zu sich nehmen, verzichten diese auf das Tragen der Kruziform. Währenddessen findet Raul zwar das gesuchte Schiff, ist aber so schwer verletzt, dass er vom Autodoc an Bord erst einmal zusammengeflickt werden muss. 
Als Raul seine junge Freundin am vereinbarten Treffpunkt auf dem Planeten T‘ien Shan wiedertrifft, ist Aenea durch die fünfjährige Zeitschuld, die Raul auf sich nehmen musste, mittlerweile 21 Jahre alt und eine attraktive junge Frau, mit der Raul eine romantische, leidenschaftliche Liebesbeziehung eingeht. Doch dann müssen sie sich Nemes stellen, der nichtmenschlichen Kreatur des Techno-Core, die aus dem Lavagefängnis befreit werden konnte, in das sie Pater Captain de Soya eingeschlossen hatte, und nun Aenea und ihre Begleiter endgültig töten will. Schließlich sucht Aenea die offene Konfrontation mit dem Pax und kündigt dem neuen Papst Urban XVI. ihren Besuch im Vatikan auf Pacem an. 
„Was, beim gottverdammten Teufel, sollte das heißen? Wie konnte Aenea nach Pacem gehen und überleben? Unmöglich. Aber wohin sie auch ging, eines wusste ich mit Sicherheit: Ich würde an ihrer Seite sein. Was bedeutete, dass sie mich auch umbrachte, wenn sie zu ihrem Wort stand. Und das tat sie immer. Ich komme nach Pacem. War das nur eine List, um ihre Flotte abzulenken? Eine leere Drohung … eine Möglichkeit, sie aufzuhalten? Ich wollte meine Liebste schütteln, bis ihr die Zähne ausfielen und sie mir alles erklärte.“ (S. 686) 
Es erfordert schon ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration, sich mit dem großen, in jeder Hinsicht epischen Finale der gigantischen Space Opera auseinanderzusetzen, wenn sich die als Erlöserin prophezeite Aenea von einem elfjährigen Kind zu einer charismatischen und weisen jungen Frau entwickelt und für knapp zwei Jahre ohne ihren Geliebten Raul Endymion, der wieder als Ich-Erzähler fungiert, allein durch die Welten ´castet und eine Allianz gegen den Pax und den TechnoCore zu schmieden versucht.  
Dan Simmons gelingt es während der abenteuerlichen Odyssee nicht nur, immer neue Welten und Planeten zu erschaffen, sondern auch weithin philosophische, literarische und evolutionäre Fragen zu thematisieren, die „Endymion“ wie zuvor schon die „Hyperion“-Gesänge prägten. In einem furiosen Epilog werden endlich die wichtigsten der vielen losen Fäden zusammengefügt und etliche Fragen des Ich-Erzählers wie des Lesers beantwortet, auch die Frage nach Aeneas Mann und Kind, die sie während der knapp zweijährigen Zeit gehabt haben soll, über die allseits Unkenntnis herrscht. Vor allem wirft die komplexe Geschichte einen Blick auf die wirklich wichtigen Fragen, nach welchen moralischen und ethischen Grundsätzen die Menschheit in Zukunft leben will. 

 

Carlos Ruiz Zafón – „Der Friedhof der vergessenen Bücher“

Donnerstag, 1. Dezember 2022

(S. Fischer, 224 S., HC) 
Der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón feierte nach seinen ersten drei phantastischen Schauerromanen „Der Fürst des Nebels“, „Mitternachtspalast“ und „Der dunkle Wächter“ vor allem mit seiner Tetralogie rund um den Friedhof der vergessenen Bücher - „Der Schatten des Windes“, „Das Spiel des Engels“, „Der Gefangene des Himmels“ und „Das Labyrinth der Lichter“ – seine größten internationalen Erfolge. 
Nachdem er im Jahr 2020 im Alter von nur 55 Jahren seinem Krebsleiden in seiner Wahlheimat Los Angeles erlag, erschien mit „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ posthum ein Band mit elf Erzählungen rund um den magischen Kosmos, den Zafón auf sprachlich so virtuose Weise erschaffen hat und mit dem er Millionen von Lesern in den Bann zog. 
Der Friedhof der vergessenen Bücher“ erlaubt ein Wiedersehen mit vertrauten Figuren. So rekapituliert David Martin in „Blanca und der Abschied“, wie er als knapp achtjähriger Junge die Selbstsicherheit besaß, die ein bis zwei ältere Blanca kennenlernte und sie zu seiner ersten Leserin machte, als er ihr Abenteuer-, Schauer- und Liebes-Geschichten von Prinzessinnen, Hexern, Zaubersprüchen und infernalischen Bestien erzählte. 
„Ein junges Mädchen aus Barcelona“ wiederum handelt von dem Totenfotografen Eduardo Sentís, der die von seinem Mentor geerbten Schulden abzahlt, indem er seine fünfjährige Tochter Laia an eine Familie verkauft, die ihre Tochter auf tragische Weise verloren hat und in deren Rolle Laia schlüpfen soll. Später erfüllt sie auf andere Weise die Sehnsüchte von Männern, die sich nicht mit Geld kaufen ließen. Mit „Die Feuerrose“ entführt Zafón seine Leser in die Welt des Labyrinthebauers Edmond de Luna, der zur Zeit der spanischen Inquisition damit beauftragt wird, in Konstantinopel ein großes Bücherlabyrinth zu erschaffen, als Lohn aber nur den Schlüssel zur Hölle erhält. 
In der bereits zuvor veröffentlichten Geschichte „Der Fürst des Parnass“ begegnen wir dem Büchermacher Antoni de Sempere wieder, der die Geschichte von Miguel de Cervantes Saavedra und seiner berühmten Schöpfung „Don Quijote“ zum Besten gibt. 
„Damals war Barcelona ein kleiner befestigter Flecken, der zwischen Bergen voller Wegelagerer im Schoß eines Amphitheaters ruhte und sich um Rücken eines weinfarbenen, lichtdurchfluteten Meeres verbarg, auf dem sich die Piraten tummelten. Vor seinen Toren hängte man Räuber und sonstige Schurken, um vor der Gier nach fremdem Eigentum abzuschrecken, und in seinen aus den Nähten platzenden Mauern balgten sich Kaufleute, Weise, Höflinge und Adelige jeder Couleur und Abhängigkeit im Dienste eines Labyrinths aus Verschwörungen, Geld und Alchemien, dessen Ruf die Horizonte erreichte und die Sehnsüchte der bekannten wie der geträumten Welt wachrief.“ 
In „Graue Männer“ soll ein Auftragskiller seinen Lehrmeister töten, „Gaudí in Manhatten“ stellt eine außergewöhnliche Hommage an den berühmten spanischen Künstler dar. Oft sind es nur Fragmente, die uns Zafón in diesen oft nur wenige Seiten umfassenden Geschichten präsentiert, Eindrücke aus einer aus der Zeit gefallenen Welt, in der schauerliche Momente in romantischen Träume, in exotischen Abenteuern und in wunderbaren Märchen münden. 
Der gerade mal gut 200 Seiten umfassende Erzählband „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ fasziniert durch die grandiose Fabulierkunst des Autors, durch die märchenhaften Stimmungen und die Figuren, die in ihren Träumen Großes bewirken. Die Geschichten selbst geraten dabei fast zur Nebensache. Wer sich von den fesselnden Romanen der Tetralogie hat mitreißen lassen, wird vielleicht enttäuscht sein, dass hier nur einzelne Aspekte so manch vertrauter Gefährten ausgeschmückt werden, bevor das nachfolgende Kapitel schon wieder den Beginn einer ganz neuen Geschichte einläutet. 
Auch wenn auffällig viele Motive der viktorianischen Schauerliteratur bemüht werden, finden sich in dem Sammelband letztlich ganz unterschiedliche Genres wieder, von der erwähnten Gothic Novel über den Bildungs- bis zum Abenteuer-, Liebes- und Historienroman präsentiert Zafón auf den überschaubaren Seiten ein erstaunlich buntes Potpourri, das einem stimmigen Gesamteindruck etwas zuwiderläuft. Doch für Fans gibt es hier allerlei zu entdecken, zumal die Sammlung von Geschichten noch durch ein kurzes Interview mit dem Schriftsteller und ein Nachwort des Herausgebers ergänzt wird.