Sinclair McKay – „Berlin – 1918-1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte“

Donnerstag, 8. Juni 2023

(HarperCollins, 556 S., HC) 
Der Zweite Weltkrieg hat es dem Briten Sinclair McKay angetan. Sein auch hierzulande unter dem Titel „Die Nacht als das Feuer kam - Dresden 1945“ veröffentlichtes Werk „Dresden. The Fire and the Darkness“ zählte 2020 bei der Sunday Times zu den besten Büchern des Jahres. Davon abgesehen bereitete er mit „The Lost World of Bletchley Park: The Illustrated History of the Wartime Codebreaking Centre“ die Bedeutung der Frauen von Bletchley Park auf, jener geheimen militärischen britischen Dienststelle, die im Zweiten Weltkrieg – vor allem deutsche - kodierte Nachrichten entschlüsselte. Unter dem weitreichenden Titel „Berlin – 1918-1945. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte“ setzt sich McKay nun mit den Auswirkungen auseinander, die der Zweite Weltkrieg vor allem auf das Leben der Ost- und West-Berliner mit sich brachte. 
Für Sinclair McKay ist Berlin eine „nackte Stadt, (…) die ihre Wunden und Narben offen zur Schau stellt“, wie der Literaturkritiker der britischen Zeitungen „The Telegraph“ und „The Spectator“ sein ausführliches Vorwort zu seinem neuen Sachbuch einleitet. Darüber, was die angesprochenen Wunden und Narben verursacht hat, lässt sich der Brite auf den folgenden mehr als 500 Seiten in aller Breite aus, angefangen bei den Nachwehen der Weimarer Republik, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und den Kämpfen zwischen den Kommunisten und dem von der Regierung unterstützten Freikorps über die Machtübernahme der Nazis, den Entbehrungen und des Genozids während des Zweiten Weltkriegs und der Trennung der Stadt im Machtkampf zwischen der kommunistischen Sowjetunion einerseits und den demokratischen Siegermächten USA, Frankreich und England auf der anderen Seite bis zum erlösenden Fall der Mauer im Jahr 1989. 
Der Autor spannt dabei einen weiten Bogen über das Leben und die Kultur in Berlin, setzt sich mit der Architektur von Bauhaus-Gründer Walter Gropius, Heinrich Tessenow und Albert Speer ebenso auseinander wie mit den Filmproduktionen von später in die USA emigrierten Regisseuren wie Billy Wilder und Fritz Lang, den Werken der Schriftsteller Erich Kästner und Berthold Brecht, den weltberühmten Berliner Philharmonikern und dem jungen Dirigenten Herbert von Karajan. Berücksichtigung finden auch so einflussreiche Wissenschaftler wie Albert Einstein, Otto Hahn, Gustav Hertz und Lise Meitner sowie Wernher von Brauns Raketenexperimente. Auf leicht zu lesende populärwissenschaftliche Weise verknüpft McKay Biografien der vorgestellten Personen mit dem Alltag der Berliner Menschen, untermauert seine Beschreibungen immer wieder mit Anekdoten einfacher Menschen, deren Schicksale vor allem von der ZeitZeugenBörse in Berlin dokumentiert werden – bis zum Fall der Berliner Mauer. 
„Die Teilung war absolut. Für manche Künstler und Schriftsteller gelten Mauern als Symbol für den Tod, da man nicht sehen kann, was dahinterliegt. Die krasse Unerbittlichkeit der Berliner Mauer verlieh ihr sofort eine globale Relevanz als Grenze des neurotischen Kalten Krieges, als Trennlinie mit Bedeutung für die ganze Welt. Von Anfang an ertrugen manche Berliner die neue Begrenzung ihres Lebens nicht. Das waren jedoch nicht die Insulaner, sondern die Ost-Berliner, die theoretisch die Freiheit eines ganzen Kontinents im Osten hatten.“ (S. 496) 
Dabei wird vor allem deutlich, dass sich die Berliner nie haben unterkriegen lassen, während des Krieges monatelang hungernd und frierend in unterirdischen Räumen ausgeharrt, aber nie ihren Humor verloren haben. Auch wenn McKays Berlin-Buch kaum neue Erkenntnisse vermittelt, beschreibt er auf anschauliche Weise die Auswirkungen von wissenschaftlichen Entwicklungen, künstlerischen Strömungen und politischen Entscheidungen auf das Leben in Berlin. Wer allerdings hofft, dass der Autor die Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso ausführlich abhandelt wie die Kriegsjahre, wird enttäuscht. Die Jahre bis zum Bau und dem Fall der Mauer werden vergleichsweise kurz thematisiert, ebenso der Einfluss, den die Entwicklung in Berlin auf das 20. Jahrhundert gehabt haben soll. Ausgewählte Schwarzweiß-Bilder und ausführliche Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln runden das Werk gelungen ab.  

Kent Haruf – „Das Band, das uns hält“

Dienstag, 6. Juni 2023

(Diogenes, 310 S., HC) 
Der aus Pueblo, Colorado stammende Kent Haruf war bereits 41 Jahre alt, als er 1984 mit „The Tie That Binds“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Es war der erste von insgesamt sechs Romanen, die allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados angesiedelt sind. Berühmt wurde er durch seinen letzten, 2015 – posthum - veröffentlichten Roman „Our Souls at Night“, der hierzulande als „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen und 2017 mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt worden ist. Nun erscheint mit „Das Band, das uns hält“ endlich die deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kent Haruf, der 2014 verstarb. 
Kurz vor ihrem achtzigjährigen Geburtstag liegt Edith Goodnough im Krankenhaus und wartet darauf, dass ihr der Prozess gemacht wird. Ihr Nachbar Sanders Roscoe scheint der einzige in Holt, Colorado, zu sein, der die Geschichte hinter dem mutmaßlichen Verbrechen kennt, doch lässt er auch einen Reporter von der Denver Post abblitzen. Stattdessen erzählt Roscoe dem in der Stadt weilenden Leser die wahre Geschichte, die im Jahr 1895 mit der Heirat des 25-jährigen eigenbrötlerischen und raubeinigen Roy Goodnough und der zwei Jahre älteren Ada Twamley beginnt, mit einer Reise von Iowa nach Colorado, wo Roy ein Stück Land erwirbt, das er bewirtschaften kann, und seiner Frau ein Holzhaus baut. Wenig später bringt die zarte Ada erst Edith und dann Lyman zur Welt. 
Als Ada 1914 stirbt und Lyman Haus und Hof verlässt, um die Welt kennenzulernen, ist es an Edith, sich um den Haushalt und das Melken der Kühe zu kümmern. Eine Beziehung zu ihrem Nachbarn John Roscoe unterbindet der griesgrämige Roy, der bei einem Unfall fast alle Finger verliert und Edith noch mehr terrorisiert. Den einzigen Trost findet sie in den Postkarten, die Lyman ihr aus all den Städten schickt, die er besucht. Als er nach zwanzig Jahren zurückkehrt, nimmt das Drama seinen Lauf… 
„Egal, wie sehr man es sich wünschte, dass sie mal für eine Weile losließ, wenn auch nur für eine Woche, sagen wir, oder einen Tag oder bloß eine Stunde, sie tat es nicht. Sie tat es einfach nicht. Ich glaube, sie hätte auch gar nicht gewusst, wie man das macht. Es war, als hielte sie die Zügel der Welt mit beiden Händen fest und hätte genug Alte-Männer-Finger gesehen, verstümmelt und mit Spreu bedeckt in den Stoppeln hinter der Mähmaschine, genug Krankenhäuser mit toten Babys, Fehlgeburten nach einem Autounfall, und hätte einfach Angst loszulassen, wenn auch nur für eine Minute.“ (S. 260) 
Bereits mit seinem Romanerstling bewies Haruf Mitte der 1980er Jahre ein ausgeprägtes Gespür für die seelischen Befindlichkeiten seiner Landsleute im ländlichen Colorado. Aus der Perspektive eines Nachbarn, der in der Rolle des Ich-Erzählers von allen Außenstehenden die Lebensgeschichte der Goodnough-Familie am besten kennt, entfaltet der Autor die zermürbende Eintönigkeit eines fremdbestimmten Lebens, das unter durchaus vorstellbaren anderen Umständen einen glücklicheren Verlauf hätte nehmen können. Mit einfühlsamer Präzision schildert Haruf das Psychogramm eines narzisstischen Patriarchen, der nicht nur seine Frau frühzeitig unter die Erde gebracht hat, sondern auch das Leben seiner Kinder zur Tortur werden ließ. In vielen kleinen, lebensnah inszenierten Episoden wird nach Lymans Weggang deutlich, wie Ediths Lebenskraft unter dem ständigen Druck, die Farm am Laufen zu halten und sich um den psychisch wie physisch angeschlagenen Vater zu kümmern, dahinwelkt, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, dem Leid ein Ende zu bereiten. 
Auch wenn Haruf und sein Ich-Erzähler früh erkennen lassen, welchen Verlauf die Geschichte nimmt, entfaltet die Erzählung einen packenden Sog um Themen wie Pflichtbewusstsein, zerstörerische Familienbande, aufgegebene Träume und tödliche Verzweiflung, die aus jahrzehntelanger Entbehrung erwächst.  

Don Winslow – (Danny Ryan: 2) „City of Dreams“

Dienstag, 30. Mai 2023

(HarperCollins, 368 S., HC) 
Mit seinen teilweise verfilmten – „Bobby Z“ als „Kill Bobby Z“ (2007) und „Zeit des Zorns“ als „Savages“ (2012) – Büchern hat sich Don Winslow in die erste Garde US-amerikanischer Thriller-Autoren katapultiert, wird von Fans wie Kritikern gleichermaßen verehrt. Entsprechend wehmütig wurde deshalb Winslows Ankündigung vor einigen Jahren aufgenommen, dass er seine schriftstellerische Karriere an den Nagel hängen wolle, um sich in der Politik zu engagieren und so zu verhindern mithelfen, dass Donald Trump noch einmal US-Präsident wird. 
Doch bis es so weit ist, hat der Autor noch eine abschließende Trilogie angekündigt, von der nach dem Auftakt mit „City on Fire“ nun mit „City of Dreams“ endlich der zweite Teil vorliegt, der nahtlos an den ersten Roman anknüpft. 
Im Krieg zwischen der italienischen und irischen Mafia sorgte ein millionenschwerer Heroin-Deal für eine tragische Wendung. Peter Moretti sollte von den Mexikanern vierzig Kilo Heroin auf Kommission empfangen, die der Moretti Captain Frankie Vecchio abfangen wollte, um zu verhindern, dass ihn die Morettis ausschalten. Also bot er der Gegenseite einen Deal an, den Danny Ryan nicht ablehnen konnte, denn indem er den Stoff kaperte, würde er den Morettis den Hahn abdrehen und auf einen Schlag den langjährigen Krieg zwischen den Murphys und den Morettis beenden. 
Allerdings steckte der korrupte FBI-Agent Phil Jardine mit den Italienern unter einer Decke. Dessen Plan sah vor, die Lieferung abzufangen, einen Teil zu beschlagnahmen, den Großteil aber den Morettis – nach Abzug einer hübschen Provision für Jardine – zurückzugeben, während die Murphys in den Bau wandern würden. Der FBI-Mann beschlagnahmte in einer publikumswirksamen Razzia zwölf Kilo Heroin und verfrachtete John Murphy in den Knast, tötete Dannys Bruder Liam. 
Danny Ryan gelang es zwar, zehn Kilo Heroin für sich zu behalten, doch hat er den Stoff letztlich im Meer versenkt. Nun befindet sich Ryan auf der Flucht, denn sowohl die Mafia, als auch das FBI und die Cops wollen Ryan tot oder im Gefängnis sehen. 
Um sich ein neues Leben mit seinem Sohn Ian aufbauen zu können, geht Danny einen Deal mit dem CIA-Mann Harris ein, lässt sich Waffen von ihm beschaffen, um das von Domingo „Popeye“ Abbarca geführte Baja-Kartell um ihr Bargeld zu erleichtern. Doch statt wie geplant unterzutauchen, bekommt Danny Wind von einem Film, „Providence“, der in Hollywood über den Krieg zwischen den Morettis und Murphys thematisiert, und steigt nicht nur in die Produktion des Films ein, sondern verliebt sich auch noch in die psychisch labile Hauptdarstellerin Diane Carson, die seine verstorbene Frau spielt. Das bringt natürlich neue Probleme mit sich, als die Affäre in den Medien ausgeschlachtet wird… 
„Okay, denkt Danny, ich sitze in der Scheiße. Drei Morddrohungen – Petrelli, Harris und jetzt Marks. Und genau in dieser Reihenfolge auch gefährlich. Petrelli wird einen klassischen Mafiamord inszenieren, den Job an einen Untergebenen delegieren, wahrscheinlich Faella, und der sucht sich einen anderen Mafioso, gibt ihm den Auftrag. Das Übliche. Harris ist schon was anderes. Regierung, CIA. Die haben ihre eigenen Killer, Typen vom Militär, sind sich aber auch nicht zu fein, mit dem organisierten Verbrechen zusammenzuarbeiten. Und jetzt Marks, er spricht in Pacos Namen, und der wiederum im Namen der Bosse. Wenn die mich tot sehen wollen, bin ich tot.“ (S. 295f.) 
Wie schon in „City on Fire“ lässt Don Winslow sein Publikum auch in „City of Dreams“ kaum Zeit zum Luftholen. In einem wahnwitzigen Tempo treibt der versierte Autor die Handlung voran, schickt seinen Protagonisten Danny Ryan auf eine abenteuerliche Odyssee, bei der immer neue Überlegungen ins Spiel kommen, eine neue Zukunft für sich, seinen Sohn und seine Crew aufzubauen. Der Plan, unter dem Radar zu bleiben, löst sich mit der medienwirksamen Affäre, die Ryan mit der Schauspielerin Diane Carson beginnt, allerdings in Luft auf. 
Geschickt entwickelt Winslow einen Plot, der Ryan mit neuen Herausforderungen und Verhandlungspartnern konfrontiert. Raum für Figurenentwicklung gibt es allerdings kaum. Bei den unzähligen Beteiligten und Handlungssequenzen sticht vor allem die Hollywood-Episode heraus, die einen schillernden Einblick in eine Filmproduktion präsentiert und die emotionalen Tiefen, in die sich Ryan begibt, etwas mehr auslotet. „City of Dreams“ ist ein echter Pageturner, der ebenso wie sein Vorgänger nach einer Verfilmung schreit und den Abschluss der Trilogie mit Spannung erwarten lässt. 

 
Leseprobe Don Winslow - "City of Dreams"

Jim Thompson – „Der King-Clan“

Donnerstag, 25. Mai 2023

(Diogenes, 272 S., Tb.) 
Obwohl James Myers „Jim“ Thompson bereits 1942 seinen ersten, hierzulande erst 2011 unter dem Titel „Jetzt und auf Erden“ erschienenen Roman veröffentlichte, zumindest in Literaturkreisen einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen und in Hollywood auch als Drehbuchautor (für Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“) arbeiten konnte, wurde er erst posthum auch international für seine rabenschwarzen Noir-Romane geschätzt. Als Sam Peckinpah 1972 mit „Getaway“ die erste Verfilmung eines Thompson-Romans vorlegte, stand der aus Oklahoma stammende Autor bereits am Ende seiner Karriere und veröffentlichte 1973 mit „King Blood“ seinen letzten Roman, bevor er verarmt, von Alkoholsucht und diversen Schlaganfällen dahingerafft, 1977 verstarb. 
Critchfield „Critch“ King hat vor dreizehn Jahren mit seiner Mutter die Ranch seines Vaters Isaac „Ike“ King verlassen und wurde von Raymond Chance, dem Liebhaber seiner Mutter, in die Welt des Betrugs und Verrats eingeweiht. Doch da es an der Zeit ist, dass der alte Ike einen Erben für seine riesigen Ländereien in Oklahoma sucht, ist es für Critch an der Zeit, nicht nur nach Hause zurückzukehren, sondern auch einen so guten Eindruck bei seinem Dad zu hinterlassen, dass dieser nur ihn als rechtmäßigen Erben bestimmen kann. Doch dazu benötigt Critch noch etwas mehr Geld, als er dem Anwalt Dying Horse abgenommen hatte. 
Um seine beiden älteren Brüder Arlington („Arlie“) und Bosworth („Boz“) auszustechen, die auf der Ranch King’s Junction lebten und arbeiteten, muss Critch schon ein anderes Kaliber auffahren. Da kommt ihm die Bekanntschaft einer allein reisenden Frau im Bahnhof von Tulsa gerade recht. Durch einen Trick nimmt er ihr, als sie seinem Vorschlag nachkommt, sich auf der Toilette frisch zu machen, die beiden Koffer ab und versetzt sie beim Pfandleiher. 
Wie sich herausstellt, kommt Critch so in den Besitz von zweiundsiebzigtausend Dollar. Er weiß allerdings nicht, dass die Dame, die er um ihr Geld erleichtert hat, die professionelle Mörderin Anne-Emma ist, die mit ihrer Schwester mehr als vierzig gutbetuchte Männer auf ihrem Gewissen hat. Auf der Ranch angekommen, sieht sich Critch im Nu als Teil eines durchaus blutigen Wettkampfs zwischen den Brüdern, bei denen auch Arlies und Boz‘ Indianer-Frauen Joshie und Kay munter mitmischen… 
„Vorläufig musste er sich zurückhalten. Musste Arlie Zeit lassen, damit dessen Wachsamkeit nachließ und er unvorsichtig wurde; musste sich bei Old Ike noch mehr einschmeicheln; musste sich jeden zum Freund machen, der ihm später vielleicht nützlich sein konnte. Er brauchte nichts weiter zu tun als das, was er die ganze Zeit getan hatte. Arbeiten – und auf eine günstige Gelegenheit warten. Und für zweiundsiebzigtausend Dollar war er bereit, unbegrenzt zu warten.“ (S. 147) 
Mit seinem letzten Roman holt Thompson noch einmal zum großen Schlag aus und präsentiert eine bunte Schar an Dieben, Betrügern, Verrätern und Mördern, wobei er kein Blatt vor den Mund nimmt. Ausgiebig lässt der Autor seine durchweg unsympathischen Protagonisten über ihre kriminellen Pläne und Gewaltfantasien schwadronieren. Vor seinem eigenen biografischen Hintergrund entfesselt Thompson eine wilde Odyssee, bei der nicht nur die drei King-Brüder sich für das anstehende Erbe ihres Vaters in die beste Ausgangsposition manövrieren wollen, sondern die beiden Killer-Schwestern auch die von Critch gestohlenen zweiundsiebzigtausend Dollar zurückholen wollen. 
Beim Sex geht es dabei ebenso derb und unverblümt zu wie bei den immer mal wieder tödlichen oder doch zumindest blutigen Auseinandersetzungen. Im Gegensatz zu den eher subtil agierenden Femmes fatale des Noir-Genres sind Thompsons Weibsbilder in „Der King-Clan“ um keine Anmache und brutalen Attacken verlegen, sie stehen den Männern in nichts nach. Wer also auf bitterbösen, derben und kompromisslosen Thriller-Klamauk steht, ist mit „Der King-Clan“ gut bedient.


David Baldacci – (Amos Decker: 5) „Flashback“

Sonntag, 21. Mai 2023

(Heyne, 542 S., HC) 
Seit seinem von und mit Clint Eastwood verfilmten Romandebüt „Absolute Power“ aus dem Jahr 1996 hat sich der US-amerikanische Schriftsteller David Baldacci zu einem Bestseller-Autor etabliert, der mittlerweile eine ganze Reihe von erfolgreichen Thriller-Serien veröffentlicht hat. Unter den jüngeren Roman-Reihen entwickelt sich neben den ebenfalls bei Heyne erscheinenden Reihen um John Puller und Atlee Pine vor allem diejenige um den sogenannten „Memory Man“ zu einem verlässlichen Bestseller-Garanten. 
Amos Decker leidet seit seinem 22. Lebensjahr nach einem schweren Zusammenstoß auf dem Football-Feld nicht nur unter Synästhesie (was ihn Empfindungen mit bestimmten Farben in Verbindung bringen lässt), sondern auch unter Hyperthymesie, einem nahezu fast perfekten Gedächtnis, was für ihn Fluch und Segen zugleich ist. 
Während diese durch die schwere Hirnverletzung hervorgerufene Fähigkeit in seinem Job als Cop und Berater für das FBI von unschätzbarem Wert ist, kann der Mittvierziger auf der anderen Seite nicht vergessen, wie seine Tochter Molly, seine Frau Cassie und sein Schwager in seinem Haus in Burlington brutal ermordet worden sind, wofür Decker sich nach all den Jahren noch immer die Schuld gibt. Am 14. Geburtstag seiner Tochter reist Decker zusammen mit seiner Partnerin, der FBI-Beamtin Alex Jamison nach Burlington, Ohio, um am Grab seiner Liebsten zu trauern. Auf dem Friedhof wird er von einem ausgezehrten alten Mann namens Meryl Hawkins angesprochen. Er wurde des Mordes an dem Kreditberater Donald Richards, dessen beiden Kindern und dem Restaurantbetreiber David Katz für schuldig gesprochen, nachdem ihn ein Fingerabdruck auf einem Lichtschalter und DNA-Spuren unter den Fingernägeln von Richards‘ Tochter Abigail überführt hatten. 
Es war einer der ersten Fälle für die jungen Detectives Amos Decker und seiner Partnerin, der immer noch in Burlington lebenden Mary Lancaster. Nun behauptet der wegen seiner tödlichen Krebserkrankung vorzeitig entlassene Hawkins, dass er unschuldig gewesen sei, und bittet Decker darum, seinen Namen reinzuwaschen. Doch als Decker den Mann später in seinem Hotel aufsucht, findet er ihn erschossen in seinem Zimmer vor. Als Tatverdächtige gerät zunächst Susan Richards in Betracht, die Witwe des ermordeten Bankers, doch sie verschwindet wenig später spurlos. 
Offenbar scheint mehr an Hawkins‘ Behauptung dran zu sein als zunächst gedacht. Während Jamison mit einem neuen Fall für das FBI beauftragt wird, bleibt Decker in seiner alten Heimatstadt und versucht mit seiner früheren Partnerin Mary und seinem Freund Melvin Mars den alten Fall neu aufzurollen. Doch ein versierter Auftragskiller mit auffälligen Tätowierungen eliminiert sukzessive jeden möglichen Zeugen, der Licht in die damaligen Vorfälle bringen könnte. Außerdem sind Polizeichef Childress und Detective Natty alles andere als begeistert von Deckers Ermittlungen in ihrem Bezirk. 
„Dass Childress ihm nun auch noch im Nacken saß, würde es ihm noch schwerer machen, den Fall aufzuklären. Als wäre es nicht schon schwierig genug. (…) Deckers Gedächtnis war ein machtvolles Werkzeug, das ihm in vielen Situationen die Arbeit erleichterte. Zugleich aber war es ein Kerker, aus dem es kein Entkommen gab.“ (S. 180) 
„Flashback“ ist nach „Memory Man“, „Last Mile“, „Exekution“ und „Downfall“ bereits der fünfte Roman in der Reihe um Amos Decker, den Memory Man, und es lassen sich zum Glück noch keine Abnutzungserscheinungen erkennen. Mit der Rückkehr an den Ort seines traumatischen Verlusts wird Amos Decker als Mann eingeführt, den die Vergangenheit und seine eigene Verantwortung für die tödlichen Vorfälle einfach nicht loslässt. 
Nachdem Decker in den vorangegangenen Fällen vor allem als diensteifriger und ambitionierter Ermittler ohne besondere empathische Fähigkeiten portraitiert worden ist, wirkt er in „Flashback“ von Beginn an einfühlsamer, was offenbar mit seinen von Übelkeit begleiteten Anfällen zusammenhängt, die Decker das Gefühl vermitteln, dass sein Gehirn allmählich die außergewöhnlichen Fähigkeiten verliert. Gerade in den Befragungen von Zeugen und in den Gesprächen mit der an frühzeitiger Demenz erkrankten Mary Lancaster zeigt sich Deckers neues Wesen, was dem Roman spürbar guttut. 
Doch vor allem sorgt die für einige Beteiligte tödliche Auseinandersetzung mit Hawkins‘ Fall für packende Unterhaltung, denn Decker und seine Mitstreiter müssen sehr ausgiebig verschiedenen Spuren folgen, Aussagen bewerten und natürlich lebensgefährliche Situationen überstehen. 
Baldacci erweist sich als mit leichter Sprache hantierender, routinierter Thriller-Autor, der einen komplexen Plot mit interessanten Figuren entwickelt hat, die für die eine oder andere Wendung und Überraschung gut sind. Auch wenn Baldacci vielleicht ein paar Haken zu viel schlägt und zum Finale etwas dick aufträgt, zählt „Flashback“ doch den besten Romanen der Memory-Man-Reihe.  

Andrea De Carlo – „Als Durante kam“

Donnerstag, 18. Mai 2023

(Diogenes, 468 S., HC) 
Mit Romanen wie „Creamtrain“, „Vögel in Käfigen und Volieren“ und „Zwei von zwei“ avancierte der aus Mailand stammende Fotograf, Maler, Filmemacher, Rockmusiker und Schriftsteller in den 1980er Jahren zum internationalen Bestseller-Autor, der hierzulande mit dem Diogenes Verlag seine literarische Heimat gefunden hat. 2010 erschien mit „Als Durante kam“ De Carlos bereits 15. Roman, der fraglos zu den besten Werken des Schriftstellers zählt. 
Pietro und seine österreichische Freundin Astrid haben dem städtischen Treiben den Rücken gekehrt und sich im Val del Poggio, dem östlichen Teil des Apennins, niedergelassen, das von rauem Klima und Menschen geprägt wird, die meist über einen zurückhaltenden und ernsten Charakter verfügen. Hier weben sie Stoffe aus Wolle, Baumwolle und Seide von eigener Hand und verkaufen sie an kleine Geschäfte und Privatkunden. Eines Tages hält ein Mann mit Cowboyhut aus Stroh bei ihnen und fragt nach einem Reitstall im benachbarten Tal. Während Astrid von Durante sogleich fasziniert ist und ihm bereitwillig die Webstühle im Haus zeigt, keimt in Pietro bereits die Eifersucht. Durante heuert bei Ugo und Tiziana Morlacchi als Reitlehrer an, bietet an, die baufälligen Boxen und Paddocks instand zu setzen, und verzückt vor allem die Frauen in der Gegend. Als Durante mit seiner unverblümt offenen, manchmal naiv wirkenden Art auch noch den britischen Historiker Tom Fennymore nach einem Autounfall wie durch ein Wunder aus dem Koma holt, macht sich Durante aber nicht nur Freunde. Besonders Pietro beobachtet ihn mit skeptischem Blick und ist entsetzt, dass Durante nicht nur Astrid in den Bann schlägt, sondern vor allem deren attraktive Schwester Ingrid, in die Pietro verliebt ist, seit er sie – leider erst nach Astrid – kennengelernt hat. Als sich Pietro und Astrid zunehmend entfremden, nimmt sich Astrid eine Auszeit, fährt zurück nach Graz. Durante bietet Pietro an, ihn nach Graz zu fahren, schiebt unterwegs aber unangekündigt immer wieder einen Halt bei einer seiner Teilzeit-Familien an, wo die verschiedenen Mütter seiner Kinder gar nicht so erfreut über den spontanen Besuch sind. Der Road Trip öffnet aber bei Pietro den Blick auf bislang unentdeckte Charaktereigenschaften und Lebensauffassungen… 
„Bald hörte ich auf, mich zu fragen, ob seine Geschichte ganz oder nur teilweise der Wahrheit entsprach, ich war zu fasziniert von seiner Art, etwas Normales überraschend und etwas Überraschendes ganz normal zu finden. Ich verstand einfach nicht, ob seine Haltung gesucht oder schlicht die Äußerung einer Lebenseinstellung war; auch hier änderte ich meine Meinung beinahe von Sekunde zu Sekunde.“ (S. 239) 
Andrea De Carlo entführt seine Leser mit „Als Durante kam“ in eine fiktive Gegend östlich des Apennins und damit in eine nicht nur klimatisch raue Welt. Die Menschen leben hier mehr für sich, die Nachbarn sind meist weiter entfernt, man trifft sich gelegentlich, ohne sich wirklich zu kennen. Mit Pietro hat De Carlo einen Ich-Erzähler etabliert, der stellvertretend für das Wesen der hier lebenden Menschen steht, die sich mehr oder weniger bewusst für ein Leben abseits der Metropolen und der dort herrschenden hektischen Betriebsamkeit entschieden haben. Doch Pietro und Astrid leben und arbeiten eher aus Gewohnheiten miteinander. Als der weltoffene, kommunikationsfreudige Durante auftaucht, hinterfragen nicht nur Pietro und Astrid ihre Beziehung, sondern werden mit einer ungewohnten Sicht auf die Welt konfrontiert, die sie ihre eigene zumindest stark hinterfragen lässt. 
De Carlo gelingt es auf gewohnt sprachlich virtuose Weise, unterschiedlichste Charaktere aufeinandertreffen zu lassen, wobei die lebendigen, mal witzigen, mal nachdenklich stimmenden Dialoge auch voller Lebensweisheiten stecken, die Pietro während der gemeinsamen Autofahrt über Genua nach Graz allmählich zu verstehen lernt. Wie die beiden anfangs so unterschiedlichen Männer zu Freunden werden, wie sie die Probleme des Alltags, aber auch die Fallstricke von Freundschaften und Liebschaften zu meistern lernen, beschreibt De Carlo auf so authentische, lebensnahe Weise, dass man meint, mit den Protagonisten im Wagen zu sitzen. Dabei ist „Als Durante kam“ so leichtfüßig, humorvoll und tiefsinnig geschrieben, dass man hofft, die Reise würde nie zu Ende gehen.


James Herbert – „Moon“

Sonntag, 14. Mai 2023

(Bastei Lübbe, 304 S., Pb.) 
Obwohl der britische Schriftsteller James Herbert bereits Mitte der 1970er mit „The Rats“ und „The Fog“ seine ersten beiden Horror-Romane veröffentlicht hatte, wurde er in Deutschland erst im Zuge der von Stephen King eingeleiteten Horror-Welle bekannt, auf neben heute noch vertrauten US-amerikanischen Autoren wie Peter Straub, Dan Simmons und Dean Koontz auch einige britische Kollegen wie Clive Barker, Ramsey Campbell und eben James Herbert mitschwammen. Von seinen britischen Weggefährten war der 2013 verstorbene James Herbert sicher der literarisch am wenigsten ambitionierte Schriftsteller, aber zumindest mit seinen ersten beiden Romanen „Die Ratten“ und „Unheil“ verbreitete er doch wenigstens handfestes Grauen. Mit seinem 1985 veröffentlichten Roman „Moon“ lieferte er allerdings eines seiner schwächsten Werke ab. 
Vor drei Jahren hat Jonathan Childes mit seinen Vorahnungen dazu beigetragen, einen Serienmörder dingfest zu machen, auch wenn dieser sich vor seiner Entdeckung bereits selbst gerichtet hatte. Die traumatischen Ereignisse, in deren Verlauf Childes selbst in den Fokus der Ermittler geraten war, ließen seine Ehe mit Fran scheitern, seinen Job als Computer-Spezialisten an den Nagel hängen und vom Festland auf eine Insel fliehen, wo er als Teilzeitlehrer an drei schulischen Einrichtungen den Schülern Computer-Kenntnisse vermittelt. Am La Roche Mädchen-College hat Childes auch die junge Kollegin Aimée „Amy“ Sebire kennengelernt, mit der er eine schwierige Beziehung eingeht, denn Amys einflussreicher Vater ist alles andere als begeistert von der Wahl seiner Tochter. Als Amy aber immer mehr Zeit mit Jonathan verbringt, wird sie auch Zeuge, wie ihr Geliebter von unheimlichen Visionen heimgesucht wird, die ihn einmal fast haben ertrinken lassen, dann ausgerechnet bei einem Diner im Haus ihrer Familie zu einem Ohnmachtsanfall geführt haben. Sie stehen in Verbindung mit neuen Mordfällen, bei denen nicht nur die Organe der Opfer entfernt worden sind, sondern auch Mondsteine eine Rolle spielen. 
Die Vorfälle rufen auch Inspektor Overoy auf den Plan, der angesichts der unangemessenen Medienhetze gegen Childes damals das Gefühl hat, bei ihm etwas gutmachen zu müssen. Ihm Gegensatz zu seinem Insel-Kollegen Robillard vertraut Overoy nämlich den übersinnlichen Begabungen des Lehrers und hofft, mit dessen Hilfe auch die neuen Morde aufklären zu können. Besonders beunruhigt wird Childes schließlich durch Visionen, die seine geliebte Tochter Gabby betreffen… 
„Und nun kehrten die Visionen zurück, brachen in seine Gedanken ein, bestürmten ihn mit neuer Intensität. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich über die Boshaftigkeit, die den anderen Geist beherrschte. Für Childes waren die letzten Tage erfüllt gewesen mit äußerster geistiger Konzentration, und allein seine zunehmende Annahme dieser seiner einzigartigen Macht hatte ihm die Kraft für dieses Unternehmen verliehen. Er setzte dem, was er unterbewusst längst kannte, keinen Widerstand mehr entgegen, und dieses persönliche Anerkennen stachelte seine Sinne an und gab seiner rätselhaften Fähigkeit zusätzliche Kraft.“ (S. 273) 
James Herbert lässt „Moon“ mit ein zwei unzusammenhängenden Horror-Szenen beginnen, um dann nahtlos mit dem erneuten Auftreten von Jonathan Childes‘ unheilvollen Visionen anzuknüpfen. Diese unbeholfen wirkende Einführung setzt sich in der dramaturgischen Entwicklung der Geschichte, aber auch in der Charakterisierung der Figuren fort. Während die Beziehung zwischen Childes und Amy den emotionalen Anker von „Moon“ bildet, bleibt alles um die beiden Figuren herum nur Stückwerk. Weder wird die Vorgeschichte von Childes‘ übersinnlichen Fähigkeiten und den Vorfällen vor drei Jahren ansprechend aufgearbeitet, noch gelingt eine atmosphärisch überzeugende Überleitung und Entwicklung der neuen Serienmörder. 
Wie „es“ in den Geist von Childes‘ eindringt und seine eigene Sicht auf die abscheulichen Taten schildert, spottet jeder Beschreibung. Besonders schlimm ist allerdings das vermeintlich actionreiche und spannende Finale ausgefallen. Spätestens hier verliert Herbert seine letzten bis dahin tapfer ausharrenden Leser und bekommt auch nicht mehr die Kurve zu einer sinnvollen Erklärung der Ereignisse. 

 

Michael Connelly – (Harry Bosch: 20) „Zwei Wahrheiten“

Dienstag, 9. Mai 2023

(Kampa, 432 S., Klappenbroschur) 
Der ehemalige Kriminal- und Polizeireporter Michael Connelly zählt nicht von ungefähr zu den beliebtesten Krimi-Autoren, schließlich haben Amazon Studios die 1992 begonnene Reihe um den LAPD-Detective Hieronymus „Harry“ Bosch“ ebenso als Serie adaptiert wie jüngst Netflix die Reihe um Boschs Halbbruder Mickey Haller, den „Lincoln Lawyer“. Mit dem bereits 2017 veröffentlichten, aber erst jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Band „Two Kinds of Truth“ feiert Bosch seinen zwanzigsten Einsatz, doch zeigt die Reihe langsam erste Abnutzungserscheinungen. 
Seit Harry Bosch vor drei Jahren vom LAPD zwangspensioniert worden ist, stellt er seine fachlichen Kompetenzen ehrenamtlich dem San Fernando Police Department zur Verfügung, wo er in einer umgebauten alten Gefängniszelle alte ungelöste Fälle bearbeitet. 
Bevor er sich aber mit dem Fall der seit fünfzehn Jahren vermissten Esme Tavares befassen kann, bekommt Bosch unangekündigten Besuch von der Conviction Integrity Unit, die sich um die Überprüfung nachträglich angefochtener Urteile befasst. Staatsanwalt Alex Kennedy, Boschs frühere Partnerin Lucia Soto und ihr neuer Kollege Bob Tapscott informieren Bosch darüber, dass der zum Tode verurteilte Sexualstraftäter Preston Borders kurz vor seiner Freilassung steht, nachdem Bosch ihn vor dreißig Jahren durch seine Ermittlungen zur Strecke gebracht hatte. Durch die neuen Möglichkeiten, DNA-Spuren zu analysieren, ist auf einem Pyjama des Mordopfers Danielle Skyler ein winziger Spermafleck nun einem anderen, allerdings bereits verstorbenen verurteilten Vergewaltiger zugeordnet worden, Lucas John Olmer. Da Borders behauptet, ein anderes Beweisstück, das zu seiner Verurteilung geführt hatte, sei ihm von Bosch untergeschoben worden, steht nun die Reputation des ehemaligen LAPD-Detectives auf dem Spiel. Bosch beauftragt seinen Halbbruder Mickey Haller damit, herauszufinden, wie der Spermafleck auf den Pyjama in der versiegelten Beweismittelkiste gekommen sein kann. 
Er selbst muss sich allerdings um einen aktuellen Fall kümmern. Mit seiner Partnerin Bella Lourdes wird Bosch zum Tatort eines Doppelmordes in einer Apotheke gerufen. Offenbar sind Vater und Sohn Opfer eines gezielten Attentats geworden. Die ersten Ermittlungen führen zu einer kriminellen Vereinigung, die im großen Stil opiumsüchtige Obdachlose dafür einsetzt, immense Mengen an Oxycodon auf Rezept zu organisieren. Um den Drahtziehern auf die Schliche zu kommen, verschafft sich Bosch in einem riskanten Undercover-Einsatz als Opiumsüchtiger Zugang zur Klinik, in der von einem mit der Drogenmafia zusammenarbeitender Arzt die entsprechenden Rezepte ausstellt. Interessanter entwickelt sich jedoch die Geschichte mit Borders und seinen Mitverschwörern. 
„Er wusste, dass es auf dieser Welt zwei Arten von Wahrheit gab. Die Wahrheit, die das unerschütterliche Fundament des Lebens und der Mission eines Menschen war. Und die andere, formbare Wahrheit, die Wahrheit von Politikern, Scharlatanen, korrupten Anwälten und ihren Mandanten, die Wahrheit, die sich für eigene Zwecke verdrehen und verfälschen ließ.“ (S. 139) 
Ähnlich wie viele seiner Kollegen nutzt auch Michael Connelly in „Zwei Wahrheiten“ ein Setting, in dem zwei unabhängig voneinander thematisierte Fälle durch Wechsel zwischen den Personen, Orten und Sachbezügen Tempo erzeugt wird, was allerdings oft auf Kosten psychologischer Tiefe und der Homogenität in der Dramaturgie geht. Auf der einen Seite ermittelt Bosch recht souverän in dem Doppelmord an den beiden Apothekern, wobei er auch seinen ehemaligen LAPD-Partner Jerry Edgar wiedertrifft, der nun beim Medical Board arbeitet, sich aber wieder nach der Action im Polizeidienst sehnt. In diesem Teil des Romans schildert Connelly recht anschaulich das tatsächlich gravierende Problem der kriminellen Beschaffung von Opiaten auf Rezept, doch verläuft Boschs Undercover-Einsatz trotz seiner Enttarnung unglaubwürdig schnörkellos. 
Da Boschs Kampf um seine eigene Reputation sehr viel Raum einnimmt, bleibt allerdings auch nicht viel Raum, um hier spannende Wendungen einzubauen. Die Zusammenarbeit mit seinem Halbbruder Mickey Haller an dem Preston-Fall bildet auch das eigentliche Prunkstück des Romans, denn gerade das im Gerichtssaal stattfindende Finale erinnert an die besten John-Grisham-Fälle. Zu guter Letzt kehren Connelly und Bosch auch noch zu dem eigentlich dritten Fall, dem Verschwinden von Esme Tavares zurück, aber auch hier verläuft alles zu glatt und zu komprimiert, um überzeugen zu können. 
„Zwei Wahrheiten“ beschert dem Leser neben dem Wiedersehen mit alten Bosch-Vertrauten wie Jerry Edgar, Mickey Haller und dessen Ermittler Cisco kurzweilige, aber weitgehend konventionelle Krimi-Unterhaltung, die immerhin mit einem grandiosen Finale aufwartet, aber sicher nicht zu Connellys besten Werken zählt. 

 

Anthony McCarten – „Going Zero“

Sonntag, 7. Mai 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Der 1961 geborene Neuseeländer Anthony McCarten hatte in den 1980er und 1990er Jahren schon etliche Theaterstücke (u.a. das preisgekrönte „Ladies‘ Night“ und das später als „Familienglück oder andere Katastrophen“ verfilmte „Via Satellite“) aufzuweisen, bevor er 1999 mit „Spinners“ (2011 als „Liebe am Ende der Welt“ in deutscher Übersetzung erschienen) sein Romandebüt vorlegte. Zwar folgten mit „Englischer Harem“, „Superhero“, „Hand aufs Herz“, „Ganz normale Helden“, „Funny Girl“ und den beiden Biopics „Licht“ (über die beiden Erfinder Thomas Edison und J.P. Morgan) und „Jack“ (über das Beatnik-Idol Jack Kerouac) noch weitere Romane, doch in den letzten Jahren fokussierte sich McCarten eher auf die Filmwelt, schrieb die Drehbücher zu den Biopics „Die dunkelste Stunde: Churchill – Als England am Abgrund stand“ und „Die zwei Päpste“ sowie zu den Musikfilmen „Bohemian Rhapsody“ und „Whitney Houston: I Wanna Dance with Somebody“. Auch mit seinem neuen Roman „Going Zero“ legt McCarten, der 2016 in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen worden ist, eine filmreife Geschichte vor. 
Die unscheinbare Bibliothekarin Kaitlyn Day zählt zu den zehn auserwählten Personen, die am „Going Zero“-Betatest der Fusion-Initiative teilnehmen dürfen, einem gemeinschaftlichen Projekt von WorldShare und der Bundesregierung, namentlich der CIA. Kaitlyn und ihre neun Mitstreiter:innen müssen ab dem 1. Mai um 12 Uhr mittags genau dreißig Tage völlig unter dem Radar bleiben, so dass sie nicht mal von den hochspezialisierten Geheimdiensten aufgespürt werden können. Cy Baxter, der einst durch die Erfindung eines Computer-Spiels zum Multimilliardär geworden ist und mit seiner Partnerin Erika Coogan die Fusion-Muttergesellschaft WorldShare gegründet hat, wettet mit der Regierung, dass sein Unternehmen mit seiner neuesten technischen Entwicklung in der Lage ist, jeden Menschen aufzuspüren. 
Sollte ihm das gelingen, winkt ihm ein neunzig Milliarden Dollar schwerer Auftrag, die Geheimdienste zukünftig dabei zu unterstützen, Terroristen und andere Verbrecher möglichst vor geplanten schweren Gewaltakten zu identifizieren und festzusetzen. Schlägt das Experiment fehl, winken jedem der „Going Zero“-Teilnehmer, der am Ende der 30 Tage unentdeckt bleibt, eine Prämie von drei Millionen Dollar. Nach dem Startschuss gelingt es dem Heer von WorldShare-Mitarbeitern recht schnell, anhand von Biografien, Bewegungsprofilen, Kameraüberwachungen, persönlichen Beziehungen und schwer abzulegenden Gewohnheiten viele der Teilnehmer ausfindig zu machen, darunter auch die fünf Kandidaten, die aus dem Umfeld der Geheimdienste stammen und eigentlich bessere Voraussetzungen gehabt haben, länger unter dem Radar zu bleiben. Doch ausgerechnet die unauffällige Bibliothekarin entpuppt sich als harte Nuss für Baxter, der nicht davor zurückscheut, auch illegale Mittel einzusetzen, um Kaitlyn auf die Spur zu kommen. Die verfolgt derweil eine ganz eigene Mission durch ihre Teilnahme an „Going Zero“… 
„Sie ist müde, hat Schmerzen, macht Fehler, kann sich nicht mehr konzentrieren. Sie wird schwächer, aber ihr Gegner behält seine Kraft, ja er wird, je mehr Informationen er sammelt, vermutlich immer stärker. Die Waagschale senkt sich immer mehr zugunsten der anderen. Aber sie hat sie nun, den Probelauf in Boston mitgezählt, schon zum dritten Mal überlistet, und das wird auch ihnen zu denken geben. Die Lösung liegt auf der Hand: Da ihre körperlichen Kräfte schwinden, muss sie die Entschlossenheit erhöhen.“ (S. 165f.) 
Es ist kein allzu futuristisches Szenario, das Anthony McCarten mit „Going Zero“ entfesselt, George Orwells „1984“ und Dave Eggers‘ „The Circle“ lassen grüßen. Schließlich dürfte mittlerweile jedem bekannt sein, welch immensen Daten Google, Facebook & Co. über uns sammeln. Was für die Betreiber sozialer Medien ein wahrer (Geld-)Segen ist, führt bei den Usern schon mal zu mehr als nur leichter Besorgnis. McCarten nutzt dieses Potential, um anschaulich vorzuführen, wie mit Gesichtserkennungssoftware, umfänglichen Recherche-Tools und Analysen vom Nutzungsverhalten der betreffenden Personen ein nahezu vollständiges Persönlichkeitsprofil von nahezu jedem Menschen erstellt werden kann. Der Autor hält sich allerdings wenig mit der Charakterisierung seiner Figuren auf, außer Kaitlyn Day gewinnt kaum eine der Figuren wirklich Profil, nicht mal der skrupellose Cy Baxter, der wie eine überzeichnete Karikatur eines Bösewichts daherkommt und sogar das Klischee erfüllt, mit einer ihm unterstellten, viel jüngeren Mitarbeiterin zu schlafen. 
Was „Going Zero“ an psychologischer Tiefe fehlt, macht der Roman an Tempo wett, aber die teils recht konstruiert wirkenden Wendungen und der nicht gerade originelle Plot lassen „Going Zero“ weit schwächer erscheinen als McCartens vorangegangenen Werke. Fast scheint es, als hätte der Autor schon zu viel Zeit in Hollywood verbracht und darüber vergessen, überraschende Geschichten mit faszinierenden Figuren zu schreiben.  

John Irving – „Der letzte Sessellift“

(Diogenes, 1088 S., HC) 
Der US-amerikanisch-kanadische Schriftsteller John Irving zählte noch nie zu den Bestseller-Autoren, die im Jahrestakt einen Roman veröffentlichen. So sind seit seinem 1968, hierzulande erst 1985 unter dem Titel „Lasst die Bären los!“ veröffentlichten Debüt meist im Abstand von drei bis vier Jahren bis 2015 insgesamt vierzehn Romane erschienen, einige davon sogar sehr erfolgreich verfilmt (u.a. „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“). Mittlerweile ist der Romancier 81 Jahre alt und legt sieben Jahre nach „Straße der Wunder“ mit „Der letzte Sessellift“ sein fast 1100 Seiten umfassendes Opus Magnum vor, ein Generationen und Präsidenten wie Ronald Reagan, Bill Clinton, Barack Obama und Donald Trump übergreifendes Werk, das im vertrauten Ton ebenso vertraute Themen wie Sport, Film, Sex, Gewalt und Tod miteinander vereint. 
Da seine ledige Mutter Rachel „Little Ray“ Brewster als Skilehrerin gerade in den Wintermonaten oft abwesend ist, wächst der am 18. Dezember 1941 und damit, wie seine Mutter immer wieder betont, zehn Tage zu spät geborene Adam bei seinen Großeltern in Exeter, New Hampshire, auf. Für Adam hat der Spruch, das Leben sei ein Film, deshalb eine besondere Bedeutung, weil sein Leben als Drehbuchautor für ihn tatsächlich ein Film ist, wenn auch ein nicht gedrehter. Während seine Mutter zusammen mit der Skiretterin Molly im gut zweihundert Meilen entfernten Stowe lebt, treibt Adam vor allem die Frage nach seinem ihm unbekannten Vater um. Alles, was er darüber weiß, lässt sich auf eine Nacht im Hotel „Jerome“ zurückführen, die seine Mutter dort mit Adams Erzeuger verbracht hat. 
Doch auch ohne die Identität seines Vaters zu kennen, gestalten sich Adams Familienverhältnisse unterhaltsam. Sein Großvater Lewis war einst Rektor an der Phillips Exeter Academy, spricht aber nicht, so dass der Junge früh den Eindruck gewann, sein Grandpa sei schon als Schuldirektor im Ruhestand auf die Welt gekommen. Adams wichtigtuerische Tanten Martha und Abigail haben ständig etwas zu nörgeln und wachen mit Argusaugen über das uneheliche Kind, während ihre Ehemänner, die beiden norwegischen Brüder Johan und Martin Vinter, letztlich dafür verantwortlich waren, dass die Brewster-Mädchen überhaupt erst zum Skifahren gekommen sind. Adam konnte sich allerdings nie fürs Skifahren begeistern und ließ sich stattdessen lieber von seiner Großmutter und Winter-Mom Mildred aus Melvilles „Moby-Dick“ vorlesen. Seine Mutter heiratet schließlich den kleinen Englischlehrer und Wrestling-Coach Elliot Barlow, der eine Geschlechtsumwandlung vollzieht und für Adam zum Ersatzvater wird. Seine lesbische ältere Cousine und Seelenverwandte Nora avanciert mit ihrer Freundin Emily „Em“ MacPherson, die sich zu sprechen weigert, in New York zum erfolgreichen Nischen-Comedy-Duo „Zwei Lesben, eine spricht“. Ein Attentat in der Gallows Lounge verändert das Leben aller Beteiligten für immer. Adam und Em verfolgen ihre Schriftstellerkarrieren und beobachten entsetzt, wie ihr Land erst unter republikanischen Präsidenten und Kardinal O’Connor vor die Hunde geht. 
„In den folgenden Jahren kamen harte Zeiten auf jede Art von Comedy zu. Für Em und mich als Schriftsteller wie für Nora und Em im Gallows würde es immer schwieriger werden, uns über irgendetwas lustig zu machen, egal, was. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie wollten sich heutzutage Zwei Lesben, eine spricht nennen. Heute kann man keine Witze mehr über Hass machen. Ich sage Ihnen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, als der Hass von heute noch in den Kinderschuhen steckte, war die Gegenreaktion schon da.“ (S. 581) 
John Irving hat in seiner langen Schriftstellerkarriere schon einige sehr umfangreiche Romane veröffentlicht. Sowohl „Garp und wie er die Welt sah“ „Owen Meany“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ als auch „Zirkuskind“ und „Bis ich dich finde“ kommen locker über 800 Seiten. 
Nun soll „Der letzte Sessellift“ der letzte „große“ Roman des Bestseller-Autors sein, der einmal mehr eine interessante Sammlung skurriler Persönlichkeiten und ihre Leidenschaften wie Literatur, den Ski- und Ringer-Sport, den Film noir und das Leben an sich vereint. 
Irvings Ich-Erzähler Adam Brewster erweist sich als das große Verbindungsglied zwischen all den Figuren, die sich durch ihre sexuelle Orientierung ebenso auszeichnen wie durch ihren respektvollen, wertschätzenden Umgang miteinander. Natürlich stattet Irving seine Figuren traditionell mit bemerkenswerten Eigenschaften aus, so wird Em nicht nur durch ihre selbstauferlegte Sprachlosigkeit, sondern auch durch ihre ohrenbetäubend lauten Orgasmen beschrieben, Adams Freundinnen scheißen sich entweder ein, bluten ständig oder sind so schwer verletzt, dass der Sex zu einer schwierigen Akrobatik-Nummer wird. 
Irving nutzt die Lebensgeschichten seiner Figuren aber auch, um die gesellschaftlichen Zustände in den USA unter die Lupe zu nehmen. Hier stechen vor allem Präsident Reagan mit seiner Ignoranz zur AIDS-Pandemie heraus, aber generell wird an Republikanern und der katholischen Kirche, aber auch an Demokraten, die die Wahl Trumps (der vor allem als „Mösengrapscher“ tituliert wird) ermöglicht haben, kein gutes Wort gelassen. 
„Der letzte Sessellift“ thematisiert immer wieder das Filmemachen und die Botschaft, dass nicht realisierte Drehbücher besonders lange nachwirken. Irvings Spätwerk wirkt dagegen wie eine erfolgreiche Fernsehserie, die sich über mehrere Staffeln ausführlich mit den Problemen, Herausforderungen, Schlüsselerlebnissen und Reifeprozessen der Figuren beschäftigen kann. Zwar weist der Roman auch einige Längen auf, doch die Figuren schließt man schnell ins Herz, und es ist spannend zu verfolgen, wie sich die Art der Beziehungen zwischen ihnen verändert. Vor allem stellt „Der letzte Sessellift“ ein feinfühliges Plädoyer für mehr Toleranz in Bezug auf sexuelle Orientierungen und Meinungen dar. 

Jim Thompson – „Muttersöhnchen“

Samstag, 22. April 2023

(Diogenes, 230 S., Tb.) 
Seit seinem 1942 erschienenen Debütroman „Now and on Earth“, der erst 2011 in deutscher Übersetzung als „Jetzt und auf Erden“ in der Heyne-Hardcore-Reihe erschienen ist, hat sich Jim Thompson zu einem der renommiertesten Noir-Autoren entwickelt, dem aber trotz seiner Arbeit in Hollywood, wo er in den 1950er Jahren die Drehbücher für Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ ablieferte, und der 1972 einsetzenden Verfilmung seiner Romane (beginnend mit Sam Peckinpahs Klassiker „Getaway“) der verdiente Erfolg versagt geblieben ist. 
Nach mehreren, durch seinen exzessiven Alkoholkonsum verursachten Schlaganfällen starb Thompson verarmt und verbittert 1977 in Hollywood. Sein 1963, vier Jahre nach „The Getaway“ veröffentlichter Roman „The Grifters“ wurde zwar 1990 unter der Regie von Stephen Frears mit Anjelica Huston, John Cusack und Annette Bening verfilmt, zählt aber zu den eher schwächeren Romanen des längst zum Kult-Autor avancierten Thompson
Roy Dillon verdient sich seinen Lebensunterhalt als kleiner Trickbetrüger in Los Angeles, wo in einer Suite im Hotel Grosvenor-Carlton lebt. Seine Freundin Moira Langtry, eine geschiedene Frau in den Dreißigern, drängt darauf, dass er sich beruflich weiterentwickelt, um mit ihr ein gemeinsames Leben aufbauen zu können, doch Roys Mutter Lilly, die gerade mal vierzehn Jahre älter als ihr Sohn ist und mehr als nur mütterliche Gefühle für ihn zu hegen scheint und selbst in der Betrugsbranche für den Buchmacher Bobo Justus tätig ist, verfolgt andere Pläne für ihren Liebling, zumal sie selbst langsam zu alt für das Geschäft wird. 
Nachdem sie einen Einsatz auf der Rennbahn La Jolla verpasst hat und ihrem Chef so ein dickes Loch in der Kasse beschert hat, revanchiert er sich mit der Verbrennung ihrer Hand durch eine Zigarette. Als Roy ebenfalls bei einem Betrugsversuch erwischt und verprügelt wird, lässt Lilly ihren Sohn im Krankenhaus durch die Krankenschwester Carol aufpeppeln und sorgt dafür, dass die ihr verhasste Moira Roy nicht zu sehen bekommt. Obwohl Roy nach einigen Woche wieder genesen ist, lässt Lilly ihren Sohn in ihr Apartment am Sunset Strip östlich der Stadtgrenze von Beverly Hills verfrachten und verlängert die Fürsorge durch Carol, in die sich Roy – wie von Lilly geplant - schließlich verliebt. Doch als Moira versucht, die Dreieinigkeit zwischen Carol, Roy und Lilly zu zerstören, kommt es zur Katastrophe… 
„Vielleicht hatte sie ihn zu hart angefasst; kein Mann ließ sich gern herumkommandieren. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich so sehr für Lilly Dillon zu interessieren; jeder Mann war empfindlich, wenn es um seine Mutter ging. Aber wie auch immer, ihr Vorschlag war richtig und vernünftig. Sie würden beide davon profitieren. Es musste einfach so sein. Und wehe, wenn er nicht…!“ (S. 189) 
Nachdem „The Grifters“ zunächst in der Übersetzung von Jürgen Behrens 1983 bei Ullstein unter dem Titel „Die Abzocker“ veröffentlicht und dann in der gleichen Übersetzung zur Verfilmung des Romans als „Grfiters“ neu aufgelegt worden ist, erschien der Titel 1995 bei Diogenes als „Muttersöhnchen“ – diesmal von André Simonoviescz übersetzt. 
Wieder einmal stammen Thompsons Protagonisten aus eher ärmlichen Verhältnissen, die sich durch Betrügereien über Wasser halten. Insofern bietet „Muttersöhnchen“ wenig Neues. Interessant ist vor allem die Viererkonstellation, in der sich der intelligente, aber wenig ehrgeizige Roy Dillon durch die Hingabe gleich dreier Frauen manövrieren muss, wobei diese teilweise nicht die geringsten Skrupel besitzen, ihre Ansprüche an Roy und seine Ersparnisse durchzusetzen. Im Gegensatz zu Thompsons besseren Werken fehlt es bei diesem Werk an dem psychologischen Einfühlungsvermögen. Dass sich in „Muttersöhnchen“ einmal mehr keine wirklichen Sympathieträger ausmachen lassen, verwundert nicht, aber die überraschungsarme Dramaturgie der Story schon. 

 

Stephen King – „Duddits – Dreamcatcher“

(Ullstein, 827 S., HC) 
Nachdem Stephen King Mitte der 1970er Jahre mit „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und dem apokalyptischen Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“ schnell zum international gefeierten „King of Horror“ avancierte, lieferte er in den folgenden beiden Jahrzehnten nahezu im Jahrestakt – oftmals auch verfilmte - Bestseller wie „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „Stark – The Dark Half“, „Needful Things“, „Dolores“ und „The Green Mile“ ab. Nach einem Autounfall im Jahr 1999 rehabilitierte sich King auf eigene Weise, schrieb das Manuskript zu „Duddits – Dreamcatcher“ mit Patronenfüllfederhalter von Waterman innerhalb eines Jahres und widmete sich einem Thema, das bis heute nur sporadisch in Kings umfangreichen Oeuvre anzutreffen ist, der Invasion der Erde durch Außerirdische. 
Schon als Kinder waren Pete, Jonesy, Henry und Biber in der Kleinstadt Derry, Maine, unzertrennlich gewesen. Ein besonderes Verhältnis entwickelten sie dabei zu Douglas „Duddits“ Cavell, einem Jungen mit Down-Syndrom, den sie vor jugendlichen Rowdys gerettet haben und der telepathisch begabt gewesen ist. Über die „Linie“, die Duddits zu sehen in der Lage ist, haben die fünf Freunde sogar ein vermisstes Mädchen aus einem Kanalschacht retten können. 
Über die Jahre haben die vier Freunde zwar Duddits aus den Augen verloren, seit sie aus Derry weggezogen sind, und sehen sich auch nur noch selten, doch einmal im Jahr treffen sie sich im Herbst zu einem Jagdausflug in Bibers Hütte in den Wäldern von Jefferson Tract. In ihrem erwachsenen Leben ist Joe „Biber“ Clarendon ein neurotischer Tischler geworden, Pete Moore ein alkoholsüchtiger Autoverkäufer, während der als Psychiater praktizierende Henry Devlin mit dem Gedanken an Selbstmord spielt und College-Dozent Gary „Jonesy“ Jones sich von einem schweren Autounfall erholt, bei dem er sich eine gebrochene Hüfte zugezogen hat. Der Jagdausflug im Herbst 1999 steht allerdings unter einem besonderen Stern, als in Jefferson Tract Aliens notlanden und sich wie Parasiten in den Menschen einnisten und mit ihren telepathischen Kräften dafür sorgen, sich in ihre Wirte hineinzuversetzen und sie nach ihrem Willen zu manipulieren. Der psychotische Armee-Offizier Abraham Kurtz versucht, im Auftrag der Regierung die Ausbreitung der „Ripleys“ zu verhindern – so wie sie es im Geheimen seit 1947 praktiziert. Es wird nämlich einfach ohne Rücksicht auf Verluste jedes Leben im von den Aliens beanspruchten Gebiet ausgelöscht. Während dieses Vorhabens begegnet Jonesy während der Jagd dem Anwalt Richard McCarthy, der offensichtlich seit einigen Tagen orientierungslos im Wald herumirrt, unter starken Schmerzen und fürchterlichen Blähungen leidet sowie ein verdächtig aussehendes Mal im Gesicht trägt. Trotz seiner Bedenken nimmt Jonesy den Mann mit in die Hütte, wo er zusammen mit Biber miterleben muss, wie der Mann von innen heraus zu verwesen scheint und eine pilzartige Substanz ausscheidet. Währenddessen besorgen Pete und Henry Nahrungsvorräte im Dorf und geraten bei dem einsetzenden Schneefall in einen Autounfall, in dem eine Frau verwickelt ist, die geistig verwirrt erscheint und der einige Zähne fehlen. Für die vier Freunde entbrennt ein Wettlauf gegen die Zeit, geraten sie doch zwischen die Fronten des Militärs und den parasitären Außerirdischen. Bald wird ihnen bewusst, dass nur Duddits sie aus dem Schlamassel befreien und die Invasion beenden kann, obwohl er bereits selbst im Sterben liegt… 
„Duddits, der in seinem Never-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.“ (S. 659) 
Etwas mehr als zehn Jahr nach dem 1988 veröffentlichten „Tommyknockers – Das Monstrum“ bekommt es die Menschheit erneut mit telepathisch begabten Außerirdischen zu tun, doch dient die Geschichte diesmal vor allem dazu, Stephen Kings Trauma zu verarbeiten, von einem betrunkenen Autofahrer fast tot gefahren worden zu sein, auf jeden Fall während der langwierigen Genesung über ein halbes Jahr erhebliche Schmerzen erlitten zu haben. Vor diesem Hintergrund fällt es dem Leser leicht, in der Figur des College-Dozenten Gary „Jonesy“ Jones eine Art Alter Ego des berühmten Schriftstellers zu sehen, der ebenfalls einen schweren Autounfall überlebt hat und seitdem mit den Folgen seiner gebrochenen Hüfte zu kämpfen hat. Entsprechend authentisch wirken die vielen Beschreibungen körperlicher Schmerzen und die Schilderungen schwerer Verletzungen, bei denen nicht nur Zähne ausfallen und viel Blut fließt, sondern auch an Tränen und allen vorstellbaren menschlichen Ausscheidungen in gasförmiger oder flüssiger Form ebenso wenig gespart wird wie an Kraftausdrücken und derbem Humor. 
Wie in den meisten King-Romanen werden auch in „Duddits“ ganz gewöhnliche Menschen mit einer kaum vorstellbaren Krisensituation konfrontiert. King ließ sich dabei ganz offensichtlich von dem Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ inspirieren, den er auch namentlich erwähnt, und erzielt das Grauen vor allem aus der Vorstellung, dass die Außerirdischen die Menschheit auf der Gedankenebene infiltrieren und gefügig machen wollen. 
Dass die Heimatstadt der fünf Freunde Derry ist, verweist natürlich auf Kings Meisterwerk „Es“, wobei er immer wieder Elemente daraus aufgreift, vor allem den großen Sturm von 1985, der einen Großteil der Stadt verwüstete und dem auch der Wasserturm zum Opfer fiel. Bei aller sprachlicher Könnerschaft wirkt das Verhältnis zwischen Kurtz‘ psychotischen Trieb, die Außerirdischen zu eliminieren, und der berührenden Geschichte der fünf Freunde etwas unausgeglichen. 
Während die militärischen Protagonisten für meinen Geschmack etwas zu viel Raum erhalten und King fast schon ins Schwafeln gerät, hätten die Episoden, die das Leben der fünf Freunde in Derry und danach umfassen, weitaus ausführlicher dargestellt werden können. So wirkt „Duddits“ wie ein auf Action getrimmter Science-Fiction-Horror, den auch Lawrence Kasdan in seiner Verfilmung „Dreamcatcher“ nicht in den Griff bekommen hat. 

 

Philippe Djian – „Kriminelle“

Freitag, 7. April 2023

(Diogenes, 244 S., HC) 
In den 1980er Jahren avancierte der französische Schriftsteller Philippe Djian zum Liebling der Literaturszene. In Romanen wie „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ ließ Djian seinen Ich-Erzähler als sein Alter ego auf erfrischend frivole wie leichtfüßige und humorvolle Weise über Sex, Gefühlschaos und Schreibblockaden schwadronieren, dass es eine Freude war, sich in die turbulenten Stories zu stürzen. Ende der 1990er Jahre war von diesem schwungvollen Flair nur noch wenig übrig geblieben. 
1994 legte er mit „Assassins“ (dt. „Mörder“ bzw. „Ich arbeite für einen Mörder“) den Auftakt einer Trilogie vor, die er zwei Jahre später mit „Kriminelle“ fortsetzte. 
Francis hat es nicht leicht. Er hat keinen Job, einen scheinbar kaputten Rücken, und das Verhältnis zu seiner fünfundvierzigjährigen Freundin Élisabeth gestaltet sich ebenso kompliziert wie das zu seinem Bruder Marc oder seinem Sohn Patrick, der sich in Théos Frau Nicole verguckt hat, was Francis gut nachvollziehen kann, hat er sich, bevor er mit Élisabeth zusammengekommen ist, doch selbst gut ein Dutzend Mal sich auf Nicole einen runtergeholt. Nun will seine Ex-Frau Christine Patrick mit ihrem neuen Mann Robert, der im Zuckerrohrgeschäft tätig ist, nach Guatemala auswandern. 
Zu allem Überfluss muss sich Francis entscheiden, was er mit seinem Vater anstellen soll, der zu einem Pflegefall geworden ist. Mit seinem Bruder, der als Schriftsteller arbeitet, hat er sich immer wieder über den Tod ihrer Mutter in die Haare bekommen, nachdem sie in ihrer Badewanne ertrunken war. Da für Marc seine Mutter sein Ein und Alles gewesen ist, lässt er sich nicht von seiner Überzeugung abbringen, dass sie von dem zur Gewalt neigenden Vater der beiden Brüder umgebracht worden sei. Die befreundeten Paare haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Während Monique verzweifelt ist, dass sie keinen Orgasmus mehr bekommt, ist ihr Mann Ralph nur noch an seinem Rennpferd interessiert. Bei einem Picknick an der Sainte-Bob im Mai treten die Konflikte zwischen den Paaren offen zutage… 
„Ich habe die Abenteuer meiner Ex, Patricks Mutter, nie verkraftet. Ich musste älter als fünfzig werden, um mir einen blasen zu lassen, ohne deshalb alle Frauen zum Kotzen zu finden. Aber man wird diese Sachen nie ganz los. Mit Élisabeth würde ich mich gern im Schlamm wälzen und in weißen Laken wach werden. Ich lebe damit, und ich wüsste nicht, was ich anderes tun könnte. Ich glaube, dass ich mich nicht mehr ändere.“ (S. 102) 
Veränderung ist das große Thema in Djians „Kriminelle“. Insofern passt das dem Roman vorangestellte Zitat „Im Grunde könnte jeder irgendein anderer sein. Man muss sich entscheiden.“ von Richard Ford wie die Faust aufs Auge. Allerdings leidet nicht nur Philippe Djians Ich-Erzähler unter dem Mangel am nötigen Willen dazu, auch Francis‘ Mitmenschen verspüren zwar den Drang zu einer Veränderung in ihrem Leben, werden aber nicht glücklich bei dem Versuch, wenigstens mit kleinen Schritten zu einer Verbesserung ihres Lebensgefühls beitragen zu wollen. 
An Handlung ist „Kriminelle“ so arm wie sonst kaum einer von Djians Romanen. Stattdessen beschränkt sich der einst gefeierte Autor darin, die unterschiedlichen Gefühlswelten seiner Figuren in recht substanzlosen, aber ausufernden Dialogen zum Ausdruck zu bringen, ohne dass sich an der Situation der Beteiligten etwas ändert. Zum Ende hin kommt Francis zur Erkenntnis, dass doch alles ganz einfach sei, worauf Élisabeth entgegnet: „Meine Güte, das sagst du, Francis. So einfach nun doch wieder nicht.“ Diese wenigen Zeilen sind bezeichnend für „Kriminelle“, denn es sind keine wirklich schwerwiegenden Probleme, die Francis & Co. hier zu lösen haben. Sie kreisen einfach um sich selbst, dramatisieren unnötig, kommen nicht voran. Diesen Stillstand vermag Djian zwar wie gewohnt sprachlich brillant einzufangen, doch außer den einfallsreichen Beschreibungen einiger erotischer Momente langweilt „Kriminelle“ einfach nur. 

 

Jim Thompson – „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“

Mittwoch, 5. April 2023

(Diogenes, 268 S., Tb.) 
Die Karriere von Jim Thompson kam erst spät in Gang. Obwohl er seine ersten Romane bereits in den 1940er Jahren veröffentlicht und vergeblich versucht hatte, in Hollywood Fuß zu fassen, blieb er in der Literaturszene ein Geheimtipp und bekam kaum noch seine Alkoholprobleme in den Griff, bevor er in den 1950er Jahren nicht nur eine Flut von Romanen schrieb, sondern auch von Stanley Kubrick beauftragt wurde, die Drehbücher zu seinen beiden Filmen „Die Rechnung ging nicht auf“ (1956) und „Wege zum Ruhm“ (1957) zu schreiben. Doch erst in den 1970er Jahren wurde Thompson so richtig bekannt, als erst Sam Peckinpah „Getaway“ (1972) verfilmte und dann andere Filmemacher nachzogen. So nahm sich der französische Regisseur Bertrand Tavernier 1981 mit „Der Saustall“ des 1964 erschienenen Romans „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“ an, der zu den witzigsten Werken des 1977 verstorbenen Autors zählt. 
Nick Corey ist Sheriff im Potts County und lebt mit seiner anstrengenden, ewig schimpfenden und respektlosen Frau Myra und ihrem leicht debilen Bruder Lennie im 1280-Seelen-Kaff Pottsville. Für seine zweitausend Dollar im Jahr macht Nick eigentlich nichts, außer den Status quo zu erhalten, allerdings beschleicht ihn vor der anstehenden Wahl das mulmige Gefühl, dass die Bürger in dem Bezirk nicht mehr so zufrieden mit ihm sein könnten. 
Wenn er wirkliche Probleme zu lösen hat – wie zum Beispiel die Beseitigung eines öffentlichen Aborts oder die Eliminierung zweier unbequemer Zuhälter -, reist Nick in den Nachbarbezirk zu seinem Kollegen Ken Lacey, der ihm stets mit Rat und Tat zur Seite steht. Doch die wahren Probleme bereiten ihm die Frauen, denn neben seiner pöbelnden Ehefrau haben auch Rose Hauks und die Prostituierte Amy Mason Ansprüche auf den Sheriff angemeldet. Um sich durch diese kniffligen Herausforderungen zu manövrieren, lässt Corey nicht nur Amys Zuhälter und Roses prügelnden Ehemann Tom über die Klinge springen, sondern lenkt die Ermittlungen in den Mordfällen geschickt in die von ihm gewünschte Richtung, so dass andere Verdächtige in den Fokus rücken… 
„Ich war fast soweit gewesen, hatte fast einen Plan gehabt, wie ich mit einem Schlag nicht nur Rose loswerden konnte, ohne sie mehr als einmal zu sehen, sondern auch gleichzeitig noch das Problem mit Myra und Lennie lösen würde. Und dann hatte Amy gesprochen, und Teile des Plans waren in alle Himmelsrichtungen verweht worden. Ich wusste, dass es mir verdammt schwerfallen würde, sie alle wieder zusammenzubringen – wenn es mir überhaupt jemals wieder gelingen würde.“ (S. 186) 
Auch wenn Jim Thompson gemeinhin dem Noir-Genre zugerechnet und mit Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Robert B. Parker in einem Atemzug genannt wird, stechen seine Werke doch in ihrer einzigartigen Konzeption und Figurenzeichnung besonders heraus. „Zwölfhundertachtzig schwarze Seelen“ stellt dabei ein Paradebeispiel für Thompsons zutiefst schwarzen, herrlich lakonischen Humor dar. Sein Protagonist, der ebenso faule wie geile Sheriff Nick Carey, tritt als Ich-Erzähler auf und macht nie einen Hehl daraus, dass er eigentlich nur seine Ruhe haben will, dass er dabei aber alle Mühe hat, die sexuellen Avancen seiner Frauen zu befriedigen und sie glauben zu lassen, dass er ihnen allein gehöre. Zwar wirkt Carey zunächst etwas beschränkt, doch bei der Verschleierung seiner Verbrechen stellt er eine gewitzte Bauernschläue unter Beweis, die Kollegen wie Kontrahenten in arge Bedrängnis bringt. 
Bei aller humorvollen Ausrichtung präsentiert sich „1280 schwarze Seelen“ aber auch als faszinierende Milieustudie der Unterschicht im US-amerikanischen Süden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier werden noch keine raffinierten Beweisführungen verlangt und auch keine rasenden Verkehrssünder zur Rechenschaft gezogen. In Pottsville geht alles seinen langsamen Weg, wird das Miteinander noch von Hörensagen und Rassismus geprägt. Identifikationsfiguren bietet der Roman natürlich nicht, dazu sind sowohl der Ich-Erzähler als auch seine Mitmenschen zu dumpfbackig, zu verdorben oder zu gerissen, aber Spaß macht es natürlich trotzdem. 
Lesenswert ist auch das ausführliche Nachwort von Wolfram Knorr, der nicht nur die eigenartige Natur von Thompsons Helden unter die Lupe nimmt, sondern auch das Werk des heute so gefeierten Schriftstellers mit seinem starken Bezug zur amerikanischen Provinz als „wütende Reflexe eigener Erfahrungen“ beschreibt. 

 

Robert Bloch – „Psycho 2“

Samstag, 1. April 2023

(Heyne, 254 S., Tb.) 
Robert Bloch (1917-1994) hatte zwar schon 1947 angefangen, Romane zu veröffentlichen, aber erst die durch Alfred Hitchcock 1960 verfilmte Geschichte von „Psycho“ wurde Bloch weltberühmt, woraufhin er auch in Hollywood als Drehbuchautor hofiert wurde. So lieferte Bloch die Vorlagen für Filme wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1961), „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ (1966), „Totentanz der Vampire“ (1969) und „Asylum“ (1972). Als die Frage nach einer Fortsetzung von Hitchcocks Spannungs-Klassiker konkreter thematisiert wurde, schrieb Bloch 1982 „Psycho 2“, der allerdings nicht die Vorlage für den gleichnamigen Film aus dem Jahr 1983 liefern sollte. 
Zwanzig Jahre nach den Vorfällen in Bates Motel hat Norman Bates in den Gesprächen mit Dr. Clairborne ein Verständnis dafür entwickelt, dass er nicht seine eigene Mutter, sondern eine Person für sich ist, und fühlt sich geheilt. Schließlich braucht er keine Zwangsjacke mehr, keine Gummizelle und keine Medikamente zur Ruhigstellung. Als Bibliothekar kann er sich in dem Sanatorium sogar recht frei bewegen. Als er Besuch von der Nonne Schwester Barbara erhält, die am College Psychologie studiert hat und sich für den Fall interessiert, nutzt Bates die Chance zur Flucht, indem er erst Schwester Barbara außer Gefecht setzt und sich ihrer Kleidung bemächtigt, dann unterwegs auch ihre Begleiterin Schwester Cupertine mit einem Wagenheber erschlägt. 
Als Norman Bates‘ Flucht bemerkt wird, ist die Aufregung natürlich groß. Während er nach Fairvale unterwegs ist, um sich an Mary Cranes Schwester Lila und ihrem Mann Sam Loomis zu rächen, die erst für die Enthüllung der Morde an Mary Crane und den Detektiv Arbogast gesorgt haben, plant Hollywood-Produzent Marty Driscoll mit „Verrückte Lady“ gerade eine Verfilmung von Norman Bates‘ Geschichte. Als die Filmemacher von Norman Bates‘ Flucht erfahren, droht das Projekt zunächst zu platzen, doch gerade die für die Rolle der Mary Crane vorgesehene Jan Harper sieht in dem Film die letzte Chance, ihre Karriere noch voranzubringen, und setzt sich erfolgreich für die Fortsetzung der Planungen ein, schließlich sorgt die Flucht von Norman Bates für zusätzliche Werbung für den Film. Dr. Clairborne soll als fachlicher Berater fungieren und das Drehbuch von Roy Ames auf Herz und Nieren prüfen. Doch Clairbornes Bedenken wegen der Gewaltverherrlichung werden nicht besonders ernst genommen, denn Sex und Gewalt locken nun mal das Publikum in die Kinos. 
Vor allem Regisseur Santo Vizzini will sich nicht auf die Reduzierung der Gewaltdarstellung einlassen, doch als sich merkwürdige Ereignisse auf dem Studiogelände häufen, werden alle Beteiligten etwas nervös… 
„,Verrückte Lady‘ würde ein Triumph werden, denn der Streifen würde die Wirklichkeit zeigen, beinahe so echt wie der Kokain-Film. Es war das Dokumentarische, worauf es ankam. Driscoll verstand das nicht; das einzige, was ihn interessierte, war Geld. Für ihn war der Bankauszug wichtig, aber für den kreativen Künstler war nur der Film von Bedeutung. Die nackte, ungeschminkte Wahrheit in einer Welt, in der die Frauen ihr schmutziges Geheimnis unter den Röcken verbergen. Man musste ein Mann sein wie er selbst, ein Mann wie Norman, um dieses Geheimnis zu enthüllen, um das Böse zu entlarven und zu bestrafen.“ (S. 218) 
Dass die Universal Studios kein großes Interesse an der Verfilmung von Robert Blochs Romanfortsetzung von „Psycho“ zeigten, lässt sich nur zu gut nachvollziehen. Zunächst spielt Norman Bates in dem Roman „Psycho 2“ nur in den ersten Kapiteln eine tragende Rolle, dann verschwindet er vollkommen in der Versenkung, während sich die Handlung nach Norman Bates‘ Flucht aus der Nervenheilanstalt ganz auf die geplante Hollywood-Produktion konzentriert. Hier kommen nicht nur Robert Blochs intimen Kenntnisse der Filmproduktion zum Tragen, sondern auch sein Faible für psychologisch fundierte Charakterisierungen, die stellvertretend für den Autor der Psychiater Dr. Clairborne und später auch sein Chef Dr. Steiner vornehmen. 
Doch im Gegensatz zu „Psycho“ gelingt es der Fortsetzung nicht, die interessante Ausgangssituation durch Norman Bates‘ Flucht, die mit dem Start der Filmproduktion über sein Leben zusammenfällt, bis zum Finale dramaturgisch packend weiterzuführen. Stattdessen geht Bloch mit der Prämisse von Sex und Gewalt in Hollywood-Produktionen hart ins Gericht, was Universal ein weiterer Dorn im Auge gewesen sein dürfte, um ein eigenes Drehbuch für die Fortsetzung von „Psycho“ in Auftrag zu geben und Robert Bloch bei den Filmvorbereitungen außen vor zu lassen und ihn nicht zu einer Vorführung einzuladen. 
So interessant die Einblicke in die Prozesse und Motivationen hinter einer Filmproduktion auch sind, kommt bei „Psycho 2“ einfach keine Spannung auf. Gerade der psychologisch arg konstruiert wirkende Schluss verleiht dem Roman seinen Todesstoß.