Håkan Nesser – „Ein Fremder klopft an deine Tür“

Dienstag, 17. Oktober 2023

(btb, 368 S., HC) 
Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren hat der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser seit 1993 maßgeblich zur Popularität skandinavischer Krimis vor allem auch im deutschsprachigen Raum beigetragen, doch hat sich Nesser stets bemüht, die Grenzen des Krimi-Genres auszuloten und sich auf literarische Krimis mit philosophischen Zügen zu verlegen. Dazu trugen nicht nur die Romane um Inspektor Barbarotti bei, sondern auch unzählige eigenständige Romane wie zuletzt „Der Fall Kallmann“ und „Der Halbmörder“. Mit seinem neuen Buch bewegt sich Nesser zumindest regional in Van Veeterens Gefilden, nämlich in Maardam, wo nun sein Nachfolger Kommissar Jung seinen Dienst verrichtet. „Ein Fremder klopft an deine Tür“ stellt eine Sammlung von drei unabhängigen Geschichten dar, in denen Jung allerdings nur jeweils eine winzig kleine Nebenrolle verkörpert. 
In „Bewunderung“ verspürt Anna Kowalski ein gewisses Kribbeln, als sie am Valentinstag genau zwischen ihrer eigenen Wohnungstür und der ihrer Nachbarin Wilma Verhoven einen Briefumschlag entdeckt, der nicht beschriftet, sondern nur mit einem gezeichneten Herzen versehen worden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Brief eigentlich eher an die zehn Jahre jüngere, sehr attraktive und. entsprechend begehrte Wilma gerichtet ist, doch nicht zuletzt der Neid lässt Anna den Brief an sich nehmen und öffnen lässt. Der darin enthaltene Schlüssel führt Anna zu einem Schließfach am Bahnhof, dann zu einem begehrten Logenplatz in der Oper, wo der heimliche Bewunderer allerdings nicht auftaucht. Für Anna stellt diese geheimnisvolle Schnitzeljagd eine willkommene Abwechslung zu der zehnjährigen Ehe mit dem Kartonfabrikanten Herbert dar, doch mit der Entdeckung einer Leiche wird aus dem amourösen Spiel auf einmal bitterer Ernst… 
„Buße“ erzählt die Geschichte eines 65-jährigen Mannes, der vor zehn Jahren in das ländliche Lembork gezogen ist, vor fünf Jahren die beiden Islandpferde eines verstorbenen Bauern übernommen und es sich zur Gewohnheit gemacht hat, zweimal die Woche mit dem Bus nach Lindenberg zu fahren, wo er sich in das Café gegenüber der Kirche setzt und zu seinem Kaffee ein Käsebrot verzehrt. Das ist eine willkommene Abwechslung zu der Arbeit an der Übersetzung eines 1300 Seiten umfassendes Werk eines deutschen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert darstellt, mit der der Mann normalerweise seine Zeit verbringt. Immer wieder muss er aber auch an das Mädchen in der dünnen Lederjacke denken, das ebenfalls regelmäßig in dem Bus sitzt und offensichtlich zum Gymnasium in Lindenberg geht. Doch dann macht er eine beunruhigende Beobachtung und folgt dem Mädchen… 
„Ihm ist klar, dass er zurückkehren wird, und wenn an diesem vorerst noch konturlosen Platz etwas erforscht werden muss, wird er Zeit haben, es zu tun. Aber jetzt, während er dort sitzt, sind ihre tiefen Atemzüge, wie sie sich wappnete, ihr Widerwille, die schmale Straße in Moerkerlands Wald hinaufzugehen, wichtig. Das Bild ist auf eine Weise fordernd, mit der er nicht richtig umzugehen weiß. Noch nicht, aber es eilt auch nicht. Wie gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, wird er wissen, was seine nächsten Schritte sein werden.“ (S. 165) 
In der Titelgeschichte erinnert sich die fünfundvierzigjährige Judith Miller an die Ereignisse, die vor fast achtzehn Jahren ihren Anfang genommen haben, als sie einem fremden, verwahrlost aussehenden Mann während eines Unwetters die Tür ihrer Waldhütte öffnete und ihm das Bett überließ, damit er sich einmal richtig ausschlafen konnte. Wie sich nach dieser ungewöhnlichen Nacht herausstellen sollte, hat Judiths nächtlicher Gast zusammen mit zwei weiteren Männern bei einem Einbruch Goldbarren im Wert von einer Million Euro erbeutet. Vor einem halben Jahr hat Judith nun einen Brief mit einer Karte und Erklärungen bekommen, die ihr und ihrer Tochter Nora ein unbeschwertes Leben ermöglichen sollten. Doch auf den verborgenen Schatz hat es noch jemand abgesehen… 
Auch wenn es in jeder dieser drei Geschichten um Verbrechen geht, handelt es sich weniger um klassische Whodunit-Plots, auch nicht um die kriminalistische Auflösung der Fälle, sondern vor allem um die Schilderung einzelner Schicksale, wie sie in Verbindung mit den nachfolgenden Verbrechen gekommen sind. Die Frage nach der Täter-, Mittäterschaft oder des Opfers spielt dabei ebenfalls eine nachgeordnete Rolle. 
Nesser schildert in seiner gewohnt leicht verständlichen, bildreichen und immer wieder auch humorvollen Sprache ausführlich die jeweiligen Lebensumstände der männlichen wie weiblichen Protagonisten und widmet deren Alltag und Handlungen ebenso viel Aufmerksamkeit wie den vielfältigen Gedankengängen, wobei Nessers Sinn fürs Philosophische immer wieder durchscheint. Fans klassischer Krimiliteratur werden wenig erbaut sein von den Plots, in denen das Zufallsprinzip gerade in den nur kurz skizzierten Auflösungen arg überstrapaziert wird. Das hat Nesser früher weitaus besser gelöst. 

James Patterson – (Women’s Murder Club: 19) „Das 19. Weihnachtsfest“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Blanvalet, 382 S., Pb.) 
Nachdem sich James Patterson mit der 1993 gestarteten Reihe um den in Washington lebenden Polizeipsychologen Alex Cross zu einem internationalen Bestseller-Autoren gemausert hatte, veröffentlichte er 2001 nicht nur den bereits siebten Band um Alex Cross, sondern mit „1st To Die“ („Der 1. Mord“) auch den Auftakt einer neuer Reihe, die in San Francisco angesiedelt ist und in der Sergeant Lindsay Boxer mit ihren weiblichen Verbündeten den Kampf gegen das Verbrechen aufnimmt. 
Zunächst war noch Andrew Gross Pattersons Co-Autor, seit dem vierten Band weiß der ehemalige Leiter einer Werbeabteilung die ansonsten unbekannte Maxine Paetro an seiner Seite. Allerdings kommt dieses Arrangement nur Pattersons ohnehin üppig gefülltem Portemonnaie zugute, während die Qualität der Women’s-Murder-Club-Reihe seit Jahren darunter leidet. Da macht „Das 19. Weihnachtsfest“ leider keine Ausnahme. 
Vier Tage vor dem Weihnachtsfest unternimmt Sergeant Lindsay Boxer mit ihrem Mann Joe, ihrer dreieinhalbjährigen gemeinsamen Tochter Julie und ihrer in die Jahre gekommenen Border-Collie-Hündin Martha einen fröhlichen Spaziergang durch die bunt geschmückten Straßen von San Francisco. Ihre Freundin, die Staatsanwältin Yuki Castellano, freut sich mit ihrem Mann Brady, der neben seiner Funktion als Lieutenant der Mordkommission momentan auch noch das Amt des Polizeichefs bekleidet, auf einen gemütlichen Abend im Schlafzimmer. Dieses Vergnügen bleibt der investigativen Journalistin Cindy Thomas und ihrem Lebensgefährtin Rich Conklin verwehrt, hat sie doch ein wichtiges Interview vor sich. Die Pathologin Claire Washburn ist mit ihrem Mann Edmund auf dem Weg nach San Diego, wo sie in den Winterferien ein Kompaktseminar für den Masterstudiengang in Kriminalmedizin abhalten soll. 
Doch die fröhliche Weihnachtsstimmung wird empfindlich getrübt, als Boxer und ihr Partner Conklin während ihrer Mittagspause am 21. Dezember einen Ladendieb erwischen und von ihm im Verhör auf einen spektakulären Raub hingewiesen werden, der von einem mysteriösen Mann namens Loman geplant worden ist. In Folge der Ermittlungen stoßen Boxer und ihre Kollegen allerdings auf verschiedene Orte, wo der Raub stattfinden soll. Neben dem de Young Museum stehen auch eine Internet-Firma, ein Attentat auf den Bürgermeister Caputo und der Flughafen von San Francisco auf der möglichen Liste, was immer mehr polizeiliche und militärische Kräfte der Stadt auf den Plan ruft. Doch was hat dieser Loman wirklich vor? 
Wenn Patterson und Paetro zu Beginn von „Das 19. Weihnachtsfest“ kurz abstecken, wie die einzelnen Mitglieder des Clubs der Ermittlerinnen ihre Vorweihnachtstage verbringen, kommt kurz Hoffnung auf, dass sich der Plot um etwas mehr dreht als nur um einen gewöhnlichen Kriminalfall, doch dagegen spricht schon der knapp bemessene Raum von fast hundert, jeweils ca. dreiseitigen Kapiteln, die schnell von Lindsay Boxer und ihrem Partner Rich Conklin in Beschlag genommen werden, wenn sie auf eine Schnitzeljagd nach irreführenden Hinweisen zu einem spektakulären Raubüberfall gehen, der allerdings nur skizzenhaft thematisiert wird. 
Patterson und seine Co-Autorin setzen allein auf eine forcierte Handlung, bei dessen Inszenierung die Figuren nur schemenhaft umrissen werden und zu denen die Leserschaft keine Beziehung aufbauen kann. Leider ist nicht mal der Loman-Raub ein besonders interessanter Fall, so dass an der Story letztlich nur ungewöhnlich erscheint, dass die anfangs so glücklich beschriebenen Paare über die Feiertage wegen des immensen Arbeitspensums einige Krisen zu bewältigen haben. Es ist allerdings bezeichnend, dass die Chance zu einer psychologisch tieferen Charakterisierung fahrlässig vertan wird. 
Das trifft auch auf die am Rande erwähnten Nebenschauplätze wie Cindys Reportage über die Weihnachtsbräuche von Einwanderern zu, mit der die Autoren die Möglichkeit gehabt hätten, etwas mehr über die soziale Struktur in San Francisco in den Plot einfließen zu lassen. „Das 19. Weihnachtsfest“ erweist als alles andere als ein festliches Vergnügen, da die Protagonistinnen kaum Gelegenheit bekommen, Profil zu gewinnen. Stattdessen wird ein unnötig aufgebauschter Kriminalfall in den Fokus gestellt, dessen Auflösung ebenfalls bar jeder Überraschung ist.  

Stephen King – „Holly“

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.  

Robert Bloch – „Das Regime der Psychos“

Dienstag, 26. September 2023

(Heyne, 128 S., Tb.) 
Zwar ist Robert Bloch (1917-1994) wegen seiner berühmten Romanvorlage zu Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ (1960) vor allem als Autor fantastischen und psychologischen Horrors bekannt, doch hat der Autor, der schon als Jugendlicher Kontakt zu H.P. Lovecraft und seinem Zirkel gepflegt hatte, im Laufe seiner langen Schriftsteller-Karriere auch etliche Science-Fiction-Geschichten geschrieben (hier ist die Sammlung „Die besten SF-Stories von Robert Bloch“ besonders zu empfehlen). 
1971 erschien mit „Sneak Preview“ sogar ein Science-Fiction-Roman aus seiner Feder, der drei Jahre später als „Das Regime der Psychos“ von Heyne im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurde. 
Eigentlich würde Graham, der als junger Regisseur in der Abteilung Weltraumopern dafür zuständig ist, die gewalttätigen Fantasien des Publikums auf andere Welten und schleimige, insektenäugige Ungeheuer umzulenken, gerne einen Dokumentarfilm drehen, doch mit seinem Ansinnen, Gewalt zwischen Menschen zu zeigen, wird er von seinem Produzenten Zank zu einer Auszeit mit der schönen Wanda verdonnert. Es gibt Schlimmeres. Schließlich verliebt sich Graham in Wanda, die ihn allerdings gleich an den Psycho-Chef Sigmond übergibt. 
In der nahen Zukunft haben Kriege, atomare Explosionen und Naturkatastrophen die Erde verwüstet. Nun leben die verbliebenen Menschen unter Kuppeln in ausgesuchten Städten und werden nicht von Politikern regiert, sondern von Psychologen, die bestens mit der Natur des Menschen vertraut sind und deshalb genau wissen, was sie brauchen, um friedlich miteinander auszukommen. Dazu gehört auch, dass jeder Mensch im Alter von fünfzig Jahren zwangspensioniert wird und als Sozialpensionär in den Süden verfrachtet wird, um den Rest des Lebens genießen zu können. Krankheit, Armut und Krieg scheinen besiegt, politische und religiöse Querelen ausgemerzt. 
Auf der anderen Seite haben die dreißig Millionen Menschen auf der Erde Zugang zu Kleidung, Ernährung, Wohnung, medizinischer und psychiatrischer Unterstützung. Damit auch Graham wieder in dieses System eingegliedert werden kann, soll er einer Gehirnwäsche unterzogen werden, doch dann bekommt er unverhofft die Gelegenheit, sich einer gut organisierten Gruppe anzuschließen, die wieder die alte Gesellschaftsform zurückbringen will. 
„Unter den Kuppeln betrachteten die Menschen sich nicht als Schachfiguren der Natur; wenn sie einander umarmten, geschah es nur zur Triebbefriedigung. Vielleicht war es wichtig, dass allen wieder eine Gelegenheit wie diese geboten wurde – unter einem dunklen und weiten Himmel zu stehen und sich im Bewusstsein der eigenen Unwichtigkeit und auf der Suche nach Kraft wie auch zu flüchtiger Erfüllung an einen anderen Menschen zu klammern.“ (S. 97) 
Robert Bloch ist mit „Das Regime der Psychos“ Anfang der 1970er Jahre ein interessanter Science-Fiction-Roman gelungen, der in vielerlei Hinsicht nach wie vor drängende Probleme wie Überbevölkerung, Zerstörung der Natur, Hungersnöte und soziale Ungleichheit thematisiert und als vermeintlichen Ausweg aus der Krise eine nivellierte, kontrollierte und dezimierte Gesellschaft vorstellt, die nicht zuletzt durch manipulative Filmproduktionen auf Kurs gehalten wird. 
Auch nach fünfzig Jahren bietet dieser Roman viel Stoff zum Nachdenken an, konzentriert sich aber auch mehr auf das übergeordnete Thema als auf seine Figuren, und das Ende fällt für Blochs Verhältnisse ungewöhnlich konventionell aus. Aber als Impulsgeber zur Reflexion über die Möglichkeiten und Gefahren einer allzu konditionierten Gesellschaft ist der Roman noch immer sehr lesenswert. 
 

Andrea De Carlo – „Techniken der Verführung“

Dienstag, 19. September 2023

(Diogenes, 424 S., HC) 
Ähnlich wie sein französischer Kollege Philippe Djian weiß auch der aus Mailand stammende Andrea De Carlo, die Schwierigkeiten des künstlerischen Schaffensprozesses zu beschreiben und diesen geschickt mit den Wirren des Künstlerlebens zu verknüpfen. Ein besonders prominentes Beispiel stellt De Carlos - im Original 1991 veröffentlichter - Roman „Techniken der Verführung“ dar. 
Der Mailänder Journalist Roberto Bata hat es satt, als Redakteur mit einem Praktikantenvertrag bei Prospettiva zu arbeiten und sich vom Chefredakteur Tevigati auf übelste Weise herumkommandieren zu lassen. Entsprechend widerwillig nimmt er den Auftrag an, zu einem Theaterstück nach einem Text von Marco Polidori, „Der Traumaktivator – Konzertantes Schauspiel in zwei Akten“, zu besuchen, um die Schauspielerin Maria Blini zu interviewen. Dass er dafür das geplante Abendessen mit seiner Freundin Caterina absagen muss, ist der ohnehin angeschlagenen Beziehung nicht gerade förderlich. Viel lieber würde sich Roberto um die Fertigstellung seines ersten Romans kümmern, doch da er Caterina, die ihren Vertretungsdienst als Augenärztin absolvierte, finanziell unterstützen muss, ist er weiterhin gezwungen, öde Interviews zu führen. 
Doch dann ist er von der Schauspielerin, die er für dreißig Zeilen interviewen soll, ganz hingerissen und begleitet sie zu einem Empfang, wo er nicht nur die Gelegenheit für das geplante Interview findet, sondern auch den berühmten Schriftsteller Marco Polidori kennenlernt. Roberto lässt Polidori sein Manuskript zukommen; der zeigt sich offen begeistert davon und öffnet dem angehenden Schriftsteller einige Türen: Polidori drängt Marco dazu, sich ganz auf seinen Roman zu konzentrieren, und verschafft ihm einen Job bei dem Magazin 360° in Rom, das vom Ministerium für Fremdenverkehr und Veranstaltungswesen finanziert wird. Hier hat Marco genügend Raum und Zeit, um sich ganz auf die Fertigstellung seines Romans zu konzentrieren, doch dann begegnet er zufällig Maria wieder und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihr, die allerdings komplizierter verläuft als erhofft. Und schließlich gibt es für Marco noch die Beziehung zu Caterina zu klären… 
„Mir war, als hätte ich jahrelang vor einem verschlossenen Garten voller unterschiedlicher Farben und Empfindungen und Möglichkeiten gestanden, bis Polidori mir, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, das Tor geöffnet hatte. Ich wollte nur möglichst schnell dorthin zurückkehren: in die reiche, noch unbekannte Vegetation eindringen, der duftenden Spur Maria Blinis folgen.“ (S. 159) 
Andrea De Carlo nutzt die interessante Ausgangssituation, dass ein junger, talentierter Autor von einer bereits fest im Literaturbetrieb verankerten Kulturinstitution protegiert wird, vor allem dazu, die vorhersehbaren Abhängigkeiten nicht nur im kulturellen Leben in Italien zu sezieren, sondern auch die Korruption in der Politik und die Verlogenheiten in persönlichen Beziehungen. 
Polidoris Monologe sind wunderbar ätzend wie präzise, wenn sie die Gesetze der Literaturszene demaskieren, die unverfrorene Gier der Politiker offenbaren. 
Dass der rasante Aufstieg von Roberto nicht ohne Folgen bleibt, enthüllt De Carlo auf ebenso genüssliche, aber leider auch sehr vorhersehbare Weise. Doch von dem plakativen Finale abgesehen, erweist sich der Autor als versierter Erzähler mit sprachgewaltigen Beschreibungen der offenbar erbärmlichen Zustände im italienischen Kulturbetrieb, teilt er doch durch Polidori immer wieder bissige Kommentare dazu aus. Die Liebe und das Geflecht unterschiedlichster Beziehungen kommen auch nicht zu kurz.  
„Techniken der Verführung“ erweist sich als kurzweiliger Ausflug in die letztlich verlogene, abgekartete, von Eigennutz und Abhängigkeit geprägte Welt von Politikern und Kulturschaffenden, unter der letztlich auch die persönlichen Beziehungen zu leiden haben. 

 

Robert R. McCammon – „Höllenritt“

Montag, 18. September 2023

(Knaur, 398 S., Tb.) 
Obwohl der US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon bereits 1978 seinen Debütroman „Baal“ veröffentlicht hat und in der Folge neben Stephen King, Dean Koontz, James Herbert und Peter Straub zu einem der bedeutendsten Autoren des Horror-Genres avancierte, brauchte es zehn Jahre, bis auch das deutsche Publikum in den Genuss seiner Werke kam, als Knaur 1988 begann, seine Romane hierzulande zu veröffentlichen. „Höllenritt“ erschien 1980 in McCammons Heimat unter dem Titel „Bethany’s Sin“ und bedient sich wie McCammons erfolgreiches Romandebüt vor allem mythologischer Elemente, diesmal rund um die griechische Göttin Artemis. 
Nachdem der Vietnam-Veteran Evan Reid seinen Redakteurs-Job in LaGrange verloren hat, zieht er mit seiner Frau Kay und ihrer gemeinsamen Tochter Laurie im Juni 1980 in das beschauliche 800-Seelen Dorf Bethany’s Sin, wo ihm die Immobilienmaklerin Marcia Giles ein traumhaft schönes Haus in der McClain Terrace zu einem mehr als annehmbaren vermittelte. 
Während Kay nach den Sommerferien eine Stelle als Mathematiklehrerin am nahegelegenen George Ross Junior College antritt, will sich Evan auf seine Schriftstellerkarriere konzentrieren. Doch wie in der Vergangenheit wird Evan auch hier von prophetischen Alpträumen heimgesucht, die ihn ebenso beunruhigen wie seine Frau, die am liebsten nichts mehr über sie hören möchte. Bethany’s Sin wirkt jedoch nur auf den ersten Blick so idyllisch. Tatsächlich bemerkt auch der Wanderarbeiter Neely Ames, der vom Bürgermeister für alle möglichen Arbeiten eingestellt wird, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Er mäht Rasen rund um ein verlassen wirkendes Haus und findet auf dem nahegelegenen Schuttplatz die Reste von menschlichen Zähnen. 
Als er nachts von dämonisch wirkenden Frauen auf Pferden angegriffen wird, erzählt er nach ein paar Bieren auch dem Schriftsteller davon, der sich gerade bemüht, etwas von der Geschichte des Dorfes zu erfahren. Als er die ebenso schöne wie geheimnisvolle und aristokratische wirkende Dr. Drago und ihre Historische Gesellschaft kennenlernt, kommt er dem Geheimnis von Bethany’s Sin gefährlich nahe… 
„Diese Augen brannten in seinem Gehirn; auch wenn er seine schloss, sah er sie noch deutlich; feurige Halbkugeln irgendwo hinter seiner Stirn. Jetzt, nach diesem zweiten Traum, wusste er es. Und fürchtete das grässliche Wissen. Etwas in diesem friedlichen Ort Bethany’s Sin jagte ihn. Es kam immer näher.“ (S. 141) 
Nachdem Robert R. McCammon mit „Baal“ einen alten kanaanitischen Gott der Sexualität und des Opfers in den Mittelpunkt seines apokalyptischen Debütromans gestellt hatte, ist es in „Höllenritt“ Artemis, die griechische Göttin der Jagd, der Jungfräulichkeit, des Waldes, der Geburt und des Mondes sowie die Hüterin der Frauen und Kinder, die den Rahmen für eine abenteuerliche Geschichte in einem nur auf den ersten Blick ruhigen und hübschen Dorf bildet und durch die Archäologin Dr. Kathryn Drago nach einer Ausgrabung in der Türkei wiederbelebt worden ist. 
McCammon bleibt in seiner Geschichte vor allem nah an der Reid-Familie, wobei die Ehe durch Evans unheimliche Träume bereits in der Vergangenheit arg gelitten hat. Die Traumata, die Evan durch seine Teilnahme am Vietnam-Krieg erlitten hat, werfen auch einen Schatten über den Neuanfang seiner Familie in Bethany’s Sin, und McCammon nimmt sich viel Zeit, die Auswirkungen von Evans besonderen Träumen auf den Neuanfang zu schildern. Auch die Beschreibung der feinsinnigen Empfindungen in dem neuen Umfeld gelingt dem Autor sehr gut. 
Nachdem er seine Leserschaft aber so geschickt in den Lauf der Geschichte eingebettet hat, braucht es allerdings schon ein enormes Maß an Gutgläubigkeit, um die Ereignisse bei den Ausgrabungen, die Dr. Drago in der Türkei durchgeführt hat, auf die unheimlichen Vorkommnisse in Bethany’s Sin übertragen zu können. 
Anfang der 1980er Jahre, als Stephen King schon so wegweisende Romane wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und „The Stand – Das letzte Gefecht“ veröffentlicht hatte, traf „Höllenritt“ sicher noch den Nerv der Zeit. Heute gefällt vor allem nach wie vor McCammons sprachliche Finesse, während die Originalität der Geschichte bereist Staub angesetzt hat und noch wie eine Fingerübung für spätere Arbeiten wirkt. 

 

Michael Connelly – (Renée Ballard: 4, Harry Bosch: 23) „Dunkle Stunden“

Dienstag, 12. September 2023

(Kampa, 432 S., HC) 
Wenn man wie Michael Connelly in dreißig Jahren einen Protagonisten mit über 20 Romanen zu einer Kultfigur der Kriminalliteratur am Leben erhalten und dabei auf eine über mehrere Staffeln erfolgreiche Fernsehserie mitinitiiert hat, ist es mit Sicherheit nicht leicht, die Romanreihe auf einem qualitativ konstant hohen Niveau zu halten. Also hat der ehemalige Polizeireporter für die Los Angeles Times über die Jahre seine Aufmerksamkeit auch anderen Figuren gewidmet wie Boschs Halbbruder Mickey Haller oder dem Reporter Jack McEvoy. Connellys letzte literarische Erfindung ist die Figur des weiblichen Detective Renée Ballard, die vor einigen Jahren zur Nachtschicht beim LAPD strafversetzt worden ist, wo sich Ballard aber sehr wohl fühlt. Nach ihrem Einstieg mit „Late Show“ ermittelt sie seit dem zweiten Fall „Night Team“ allerdings mit dem mittlerweile pensionierten Detective Harry Bosch zusammen, der auch im mittlerweile vierten Abenteuer die prominenteste Nebenrolle einnimmt. 
Silvester in Los Angeles. Für die Cops bedeutet der Jahreswechsel, dass alle Polizisten zum Dienst in Uniform in Zwölf-Stunden-Schichten verdonnert sind. Um sich vor dem unvermeidlichen Bleihagel zu schützen, hat sich Renée Ballard mit ihrer Kollegin Lisa Moore, die eigentlich in der Tagschicht in der Einheit Sexualdelikte der Hollywood Division eingesetzt wird, mit dem Wagen unter der Cahuenga-Überführung verkrochen. Dabei hoffen sie, Hinweise auf die sogenannten „Midnight Men“ zu bekommen, ein männliches Paar von Sexualstraftätern, das in den vergangenen fünf Wochen jeweils gegen Mitternacht zwei Frauen vergewaltigt hat. 
Als Ballard und Moore nach einer Schießerei zu einem Tatort gerufen werden, finden sie Javier Raffa, den Inhaber einer Autowerkstatt, mit einer tödlichen Kopfwunde vor. Bei der ersten Untersuchung der Leiche stellt Ballard schnell fest, dass der Täter das mitternächtliche Geballere ausgenutzt hat, um Raffa aus nächster Nähe zu erschießen. Während sich Moore an dem Wochenende mit ihrem Freund vergnügt, ermittelt Ballard auf eigene Faust weiter und findet heraus, dass Raffa sich mit 25.000 Dollar aus der berüchtigten Las-Palmas-Bande freigekauft hatte. 
Die zur Tat passende Hülse einer Remington .22 führt zu einem fast zehn Jahre alten Raubüberfall, in dem Harry Bosch der leitende Ermittler gewesen war. Gemeinsam mit dem pensionierten Detective entdeckt Ballard außer der Waffe noch eine weitere Verbindung zwischen den beiden Morden, die bis ins Revier des LAPD reicht, was Ballard vor eine schwierige Entscheidung stellt. 
Aber auch die Jagd nach den Midnight Men entwickelt sich zu einem heiklen Balanceakt, da die Polizei die Medien nicht informiert, um die Täter nicht abzuschrecken, dass sie ihren Modus Operandi ändern. Ballard bringt sich durch ihre eigenmächtige Handlungsweise so sehr in die Bredouille, dass sie ihren Job zu verlieren droht. Doch mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen, hat sie ohnehin schon gespielt… 
Michael Connellys vierter Ballard- und sogar schon 23. Bosch-Band spielt vor dem Hintergrund der Pandemie, die nicht nur mit Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen verbunden gewesen ist, sondern auch zu einem Aufweichen der Arbeitsmoral bei den Cops im LAPD geführt hat. Für diese bedauernswerte Entwicklung steht Ballards Silvesterdienst-Partnerin Lisa Moore, die kein schlechtes Gewissen verspürt, Ballard das Wochenende allein Dienst schieben zu lassen und es sich selbst mit ihrem Freund gutgehen zu lassen. 
„Dunkle Stunden“ fesselt mit zwei unterschiedlichen Fällen, bei denen der Polizeiapparat keine gute Figur macht und Ballard sogar aus dem Spiel zu nehmen droht. Ebenso wie ihr Mentor Harry Bosch ist ihre Einstellung aber nicht korrumpiert, so dass sie sich nicht um die Konsequenzen ihres Handelns schert, wenn es doch der richtigen Sache dient. Connelly erweist sich einmal mehr als kundiger Kenner der Polizeiarbeit. Akribisch beschreibt er die einzelnen Schritte der Ermittlungsarbeit, die allerdings so viel Raum einnimmt, dass die persönlichen Elemente etwas arg kurz kommen und dem Roman eine sehr akademische, sachliche Note verleihen. Dazu sind auch die Spannungs- und Überraschungsmomente sehr moderat ausgefallen. „Dunkle Stunden“ ist zwar kein echtes Highlight in Connellys umfangreicher Werksbiografie, aber doch ein durchweg überzeugender Krimi, der keine Langeweile aufkommen lässt. 

Robert R. McCammon – „Baal“

Samstag, 9. September 2023

(Knaur, 346 S., Tb.) 
Der 1952 in Birmingham, Alabama, geborene Robert R. McCammon gesellte sich in den ausgehenden 1970er Jahren zu der Elite bereits etablierter Horrorautoren wie Stephen King und Dean Koontz hinzu, als er im Alter von 25 Jahren seinen Debütroman „Baal“ veröffentlichte, mit dem der Autor seine Variante des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse thematisierte. 
Als sich die zwanzigjährige Kellnerin Mary Kate Raines nach dem Ende ihrer Schicht auf den Weg zur Bushaltestelle macht, wird sie in einer dunklen Gasse von einem Mann angegriffen und brutal vergewaltigt. Als sie im Krankenhaus untersucht wird, stellt der behandelnde Arzt merkwürdige Verbrennungsmale an ihrem Körper fest, die die Form von Handabdrücken aufweisen, und zwar nicht nur im Unterleib und auf Armen und Schenkeln, sondern auch auf jedem Lid ist ein Fingerabdruck hinterlassen worden. Mary Kate bringt das Kind gegen den Willen ihres Mannes Joe zur Welt, doch stellt sie bald fest, dass ihr Sohn Jeffrey etwas aus der Art geschlagen ist. 
Nachdem Joe unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist, wächst Jeffrey in einem Knabeninternat auf, wo er sich allerdings weigert, auf seinen Namen zu hören, und stattdessen mit Baal angesprochen zu werden fordert. Bald schon versammelt der Junge seine Altersgenossen um sich und beunruhigt mit seinem Verhalten sowohl die Schwestern als auch Pater Dunn. Schließlich brennt das Waisenhaus nieder… 
Jahre später reist Dr. Donald Naughton, Professor der Theologie an der Universität von Boston City, im Rahmen seiner Recherchen über Messiaskulte nach Kuwait, wo ein Mann namens Baal ganze Menschenmassen aus aller Welt mobilisiert hat, ihm zu folgen und sich in wilder Raserei während der Versammlung zu paaren. Als Dr. James Virga, Naughton Vorgesetzter an der Universität, nichts mehr von Naughton hört und schließlich von dessen Frau Judith einen verstörenden Brief ihres Mannes vorgelegt bekommt, reist er selbst nach Kuwait, um seinen Freund ausfindig zu machen, doch was er dort entdeckt, übersteigt jede Vorstellungskraft. 
Virga lernt einen geheimnisvollen Mann namens Michael kennen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Baal bis ans Ende der Welt zu jagen und unschädlich zu machen. Dr. Virga schließt sich dem Mann an und folgt ihm bis nach Grönland, wo Baal nach einem Zwischenfall im Nahen Osten mit einigen seiner Anhänger geflüchtet sein soll… 
„Wo ist Gott? fragte er sich. Ist die Menschheit so hoffnungslos verloren, dass Gott diesen Augenblick ohne einen einzigen barmherzigen Atemzug geschehen lässt? Ist Baal so mächtig geworden, dass selbst Er mit Entsetzen geschlagen ist? Der Gedanke machte ihn frösteln. Ihm schien, als wäre der gewaltige Mechanismus, der die letzten Augenblicke der Menschheit einläutete, in Bewegung gesetzt worden; er tickte die Sekunden fort wie eine gigantische Pendeluhr.“ (S. 238) 
McCammon bezeichnet seinen 1978 veröffentlichten Debütroman in dem 1988 geschriebenen Nachwort als „Zorniger junger Mann“-Roman, als ersten Versuch, aus der Tretmühle eines öden Jobs herauszukommen und seine Brötchen als Schriftsteller zu verdienen. Besonders originell wirkt der Plot dabei nicht. Die kurz abgehandelten Stationen von Baals Lebenslauf von seiner Zeugung über das Aufwachsen bei der überforderten Mutter und in katholischen Internaten bis zu seinen erfolgreichen Methoden, massenhaft Jünger zu rekrutieren, bewegen sich in vertrauten Regionen, die William Peter Blattys „Der Exorzist“ (1971) und dessen erfolgreiche Verfilmung durch William Friedkin sowie Filme wie „Das Omen“ (1976) und „Rosemaries Baby“ (1968) vorgezeichnet haben, um damit eine neue Welle des Horrorkinos loszutreten. 
Das Finale im eisigen Grönland erinnert zudem an Mary Shelleys „Frankenstein“. McCammons „Baal“ zeichnet sich eher durch die exotischen Schauplätze in Kuwait und Grönland aus, die der Autor eindrücklich vor den Augen des Lesers mit Leben erfüllt, und die gut gezeichneten Charaktere, während der Plot doch recht skizzenhaft ausgefallen ist und mehr Tiefe hätte vertragen können. Für einen Debütroman besticht „Baal“ zudem durch eine bildreiche Sprache, die in späteren Werken des Autors noch geschliffener zum Ausdruck kommt. 

 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 6) „Joe Country“

Dienstag, 5. September 2023

(Diogenes, 480 S., Pb.) 
Zwar hat Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studiert hat und dann als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift gearbeitet hat, bereits ab 2003 vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm veröffentlicht, doch erst mit der 2010 begonnenen Reihe um Jackson Lamb und seine beim MI5 in Ungnade gefallenen „Slow Horses“ erreichte der englische Schriftsteller auch ein internationales Publikum. 2018 fing der Diogenes Verlag an, die Reihe auch der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen. Mit „Joe Country“ ist bereits der sechste Roman der Slough-House-Reihe erschienen, die seit 2022 mit Gary Oldman in der Hauptrolle als Fernsehserie bei Apple TV+ ausgestrahlt wird. 
Slough House, die abrissreife, verschimmelte Bruchbude, in der der unter Flatulenz und Abneigung gegen jegliche Höflichkeitsformen leidende Jackson Lamb seine liebevoll und sarkastisch als „Slow Horses“ bezeichnete Agenten führt, bekommt Zuwachs. Lech Wicinski wurde mit Kinderpornographie auf seinem dienstlichen Laptop erwischt und muss bis zur Aufklärung der Sachlage Dienst in Slough House schieben. Dort versucht Louisa Guy noch immer, über den Tod ihres Kollegen und Liebhabers Min Harper hinwegzukommen, als sie einen Anruf von Harpers Frau Clare erhält, die ihren Sohn Lucas vermisst und um Louisas Mithilfe bei der Suche bittet. 
Während River Cartwright seinen Großvater „O.B.“ (Old Bastard) beerdigen muss und dabei mal wieder Kontakt zu seiner egomanischen Mutter bekommt, versammelt sich auf dem Friedhof eine Reihe illustrer Gäste, darunter die neue MI5-Chefin Diana Taverner. Die Zeremonie wird allerdings empfindlich gestört, als unerwartet Rivers Vater, der in Ungnade gefallene Ex-CIA-Agent Frank Harkness, auftaucht und River zu einer ungewohnten Verfolgungsjagd animiert. 
Wie sich herausstellt, ist Harkness mit einem Team von drei Söldnern eingereist Während Louisa mit Hilfe der attraktiven Ex-Polizistin und Ex-Agentin Emma Flyte und ihrem Kollegen Roddy Ho Lucas‘ Handy in Wales ausfindig macht, wo der junge Mann mal als Kellner ausgeholfen hat, erfährt die Alkoholikerin Catherine Standish von ihrem Chef Jackson Lamb, wie und vor allem warum dieser seinen Vorgänger Charles Partner ausgeschaltet hat. 
Im verschneiten Wales spitzen sich die Ereignisse zu, als Louisa und Emma unfreiwillige Bekanntschaft mit Rivers Vater und seiner Crew machen. Die Sache entwickelt sich zu einem brisanten Politikum, bei dem nicht nur der Name eines Royals geschützt werden muss, sondern auch die Beziehung zwischen Lamb und Taverner einmal mehr auf dem Prüfstein steht… 
„Di Taverner hatte der Beerdigung beigewohnt und würde von Lamb genauso wenig vermuten, dass er Harkness‘ Anwesenheit ignorierte, wie sie damit rechnete, dass er sich in die Luft erhob oder die Zähne putzte. Aber das war nicht anders zu erwarten; ein Großteil des Lebens in Slough House wurde durch das ständige Tauziehen zwischen den beiden bestimmt. River hatte mal vorgeschlagen, sie sollten sich ein Zimmer nehmen – am besten schalldicht, abgeriegelt und mit einem Krokodil drin.“ (S. 152) 
Mick Herron hat mit der „Slough House“-Reihe fraglos die amüsanteste Variante des modernen Spionage-Romanes hoffähig gemacht. Während die von Herrons Landsmann Ian Fleming in den 1950er Jahren initiierte Reihe um den MI6-Agenten James Bond immerhin mit einigen pointierten Sprüchen aufwarten konnte, fiel die ebenfalls erfolgreich verfilmten „Jason Bourne“-Romane von Robert Ludlum recht humorlos aus. Da wirken Mick Herrons Plots weitaus erfrischender, die Figuren skurriler, der Humor derber. 
„Joe Country“ wartet nicht nur mit einem spannenden Fall für die lahmen Gäule auf, sondern beleuchtet auch die Beziehungen in Slough House etwas näher. Dabei kommt die Beziehung von River Cartwright zu seiner bislang durch Abwesenheit glänzende Mutter allerdings etwas kurz, wohingegen Jackson Lamb und Catherine Standish ihr Verhältnis ebenso neu definieren wie Di Taverner ihre Stellung beim MI5 durch einen geschickten Schachzug zu zementieren versucht. Die Action spielt sich dagegen in Wales mit allerlei Beteiligten verschiedener Lager ab und sorgt für die spannenden Momente in „Joe Country“. Vergnüglicher lassen sich Spionage-Romane wohl kaum lesen. Mit „Slough House“ und „Bad Actors“ hat Herron bereits zwei weitere Jackson-Lamb-Romane veröffentlicht, so dass wir uns auch hierzulande darauf freuen dürfen, die ungewöhnlichen Abenteuer von Lamb, Cartwright, Taverner & Co. weiter zu verfolgen.


 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 7) „Playback“

Donnerstag, 31. August 2023

(Diogenes, 236 S., HC) 
Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, für einen Hungerlohn ihre Geschichten in zehn Cents teuren Pulp-Zeitschriften zu veröffentlichen, hat es Raymond Chandler (1888-1959) geschafft, ab 1939 auch Romane zu veröffentlichen und mit seiner Figur des moralischen Privatdetektives Philip Marlowe eine Gallionsfigur des von ihm stark mitgeprägten Genres des Hardboiled-Krimis zu schaffen. 1958, fünf Jahre nach „Der lange Abschied“, erschien mit „Playback“ der siebte und letzte Marlowe-Roman. Der einzige nicht verfilmte Marlowe-Roman erschien nun in einer Neuübersetzung von Ulrich Blumenbach und mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
Philip Marlowe soll im Auftrag des Rechtsanwalts Clyde Umney aus L.A., der wiederum für eine einflussreiche Kanzlei in Washington tätig ist, in einem Zug eine junge Frau identifizieren, ihr unauffällig folgen, bis sie sich irgendwo ein Zimmer genommen hat, und dann Bericht erstatten. Angesichts der spärlichen Informationen, die ihm von Umneys Sekretärin Miss Vermilyea übermittelt werden, ist Marlowe fast abgeneigt, den Auftrag nicht anzunehmen, doch sowohl die Sekretärin als auch die zu beschattende Person sehen attraktiv genug aus, um sein Interesse zu wecken. Es handelt sich um die 1,62m große, rothaarige und nicht mal dreißigjährige Eleanor King, der Marlowe bis in ein Hotel nach Esmeralda folgt, wo sie unter dem Namen Betty Mayfield eingecheckt hat. 
Marlowe bekommt jedoch nicht nur das Gefühl, dass ihm wesentliche Informationen vorenthalten worden sind, sondern bekommt es auch noch mit zwei undurchsichtigen Typen zu tun: Larry Mitchell drängt sich Betty Mayfield auf so sichtlich unangenehme Weise auf, dass sie kurzerhand Reißaus nimmt. Und dann scheint Marlowes Berufskollege Ross Goble aus Kansas City ebenfalls auf die junge Frau angesetzt worden zu sein. Marlowe kann die Mayfield zwar in Del Mar ausfindig machen, hat es aber nach seiner Rückkehr nach Esmeralda mit einem weiteren Problem zu tun. Auf dem Balkon der jungen Frau liegt der verhasste Mitchell, mit Mayfields Pistole erschossen. Mayfield macht Marlowe schöne Augen und ein verheißungsvolles Angebot, wenn er sich um die Leiche kümmert. 
Dann findet Marlowe einen weiteren Mann tot vor…
„Ich musste zur Polizei und den Erhängten melden. Nur hatte ich keine Ahnung, was ich ihnen sagen sollte. Warum war ich zu seinem Haus gegangen? Weil er, wenn er die Wahrheit gesagt hatte, Mitchells Aufbruch am Morgen mitbekommen hatte. Und warum hatte das eine Bedeutung? Weil ich hinter Mitchell her war. Ich wollte ein vertrauliches Gespräch mit ihm führen. Worüber? Und von da an hatte ich nur noch Antworten, die zu Betty Mayfield führten…“ (S. 169) 
„Playback“, Raymond Chandlers letzter Philip-Marlowe-Roman, hatte eine schwierige Geburt hinter sich, musste der Autor doch mitten im Schreibprozess den Tod seiner über alles geliebten Frau Cissy verarbeiten, u.a. in einem teuren Privatsanatorium. Dass „Playback“ letztlich nicht ganz die Intensität und komplexe Spannungsdramaturgie aufweist wie beispielsweise „Der tiefe Schlaf“ und „Der lange Abschied“, kann daher kaum überraschen. Aber auch wenn „Playback“ weniger Tote und weniger Spannung aufweist, hat der Roman seine starken Momente, fährt einige interessante Figuren auf, zu denen neben der obligatorischen, unberechenbaren Femme fatale auch der sympathische Polizeicaptain Alessandro und der charismatische Henry Clarendon IV. zählen, und unterhält immer wieder mit einigen knisternd erotischen Momenten, pointierten Dialogen und treffenden Milieubeschreibungen. 
Das macht zwar noch kein Meisterwerk aus, stellt aber einen würdigen Abgang für eine Ikone unter den Privatdetektiven dar. 

 

Dennis Lehane – „Sekunden der Gnade“

Sonntag, 27. August 2023

(Diogenes, 400 S., HC) 
Dennis Lehane weiß, wie man filmreife Geschichten schreibt. Sein 2001 veröffentlichter Roman „Mystic River“ wurde von Clint Eastwood verfilmt, „Shutter Island“ von Martin Scorsese, „Gone Baby Gone“ und „Live by Night“ von Ben Affleck. Dazu schrieb der in Boston geborene und lebende Schriftsteller die Drehbücher zu einigen Folgen von „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“. Mit seinem neuen Roman lässt Lehane eigene Kindheitserinnerungen aufleben, nämlich die Unruhen, die sich im Zuge kontroverser Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung im Jahr 1974 ereigneten. 
Obwohl die 42-jährige Krankenhaushelferin Mary Pat Fennessy Extraschichten in dem Lager der Schuhfabrik eingelegt hat, in dem sie ihrem Zweitjob nachgeht, reicht es nicht, um die Gasrechnung zu bezahlen. Doch mehr Sorgen bereitet ihr der Umstand, dass ihre 17-jährige Tochter Jules eines Nachts nicht nach Hause zurückgekommen ist. Nachdem sie bereits ihren Sohn nach seiner Rückkehr aus Vietnam durch eine Überdosis Drogen verloren hat, ist Jules noch alles, was der Alleinerziehenden im Leben geblieben ist. Mary Pat grast ihre Nachbarschaft in Commonwealth ab, verfolgt nebenbei die geplanten Protestaktionen gegen die richterliche Anordnung, dass im kommenden Schuljahr Kinder aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel gebracht werden sollen. Das betrifft vor allem die beiden Schulen mit der größten afroamerikanischen (Roxbury High School) und mit der größten weißen Schülerschaft (South Boston High School). 
Die Proteste werden von dem Tod des 20-jährigen schwarzen Jungen Augustus Williamson überschattet, dessen Wagen in dem falschen Viertel liegengeblieben war, worauf er in der Columbia Station von einer U-Bahn erfasst worden ist. Als Mary Pat Jules‘ Freunde über den Verbleib ihrer Tochter ausfragt, bekommt sie nur ausweichende Antworten, bis sie erfährt, dass Jules ein Verhältnis mit dem verheirateten Gangster Frank „Tombstone“ Toomey hatte, was ihr offensichtlich am Ende das Leben kostete. 
Nachdem Mary Pat nichts mehr zu verlieren hat, macht sie Jagd auf die Mörder ihrer Tochter und schreckt vor nichts zurück. Selbst der ihr wohlgesinnte Cop Bobby Coyne vermag den Rachefeldzug der verzweifelten Mutter nicht stoppen, zweifelt auch er an der Gerechtigkeit in der Welt. 
„Vier schwarze Jugendliche, die einen weißen vor einen Zug treiben, müssten mit Lebenslänglich rechnen. Bekannten sie sich schuldig, würden bestenfalls zwanzig Jahre strenger Haft daraus. Aber den Kids, die Auggie Williamson vor den Zug gehetzt hatten, drohten nicht mehr als fünf Jahre. Höchstens. Und manchmal schlaucht es, an diese Diskrepanz zu denken.“ (S. 155) 
Dennis Lehane hat im Alter von neun Jahren miterlebt, wie sein Vater auf der Heimfahrt nach Dorchester in South Boston eine falsche Abzweigung genommen und auf Southies Hauptgeschäftsstraße in eine Protestaktion gegen die Einführung von Schultransporten zur Aufhebung der Rassentrennung gekommen war. Dieser Moment erfüllte den jungen Lehane mit so viel Angst, dass er nun passend zum 60. Jahrestag der berühmten „I Have a Dream“-Rede von Bürgerrechtler Martin Luther King einen bewegenden Kriminalroman über den leider nach wie vor nicht aus der Welt geschafften Rassismus und seinen Folgen geschrieben hat. 
Vor dem Hintergrund der sehr plastisch beschriebenen Protestaktion inszeniert der Autor einen filmreifen Plot, bei dem zwar die Morde an einem jungen Schwarzen und einer noch jüngeren Weißen im Mittelpunkt stehen, doch Lehane nutzt dieses Szenario geschickt, um die Ressentiments sowohl der Weißen als auch der Schwarzen gegeneinander zu thematisieren, ohne selbst explizit Stellung zu beziehen. „Sekunden der Gnade“ erzählt von den Folgen einer fehlgeleiteten Erziehung, bei der die „Anderen“ aus Gewohnheit diffamiert werden. Er erzählt von Hass, Gewalt, Drogen- und Waffengeschäften. 
Mit Mary Pat hat er eine komplexe Protagonistin erschaffen, die selbst von Kindheit an mit Gewalt konfrontiert gewesen ist und mittlerweile selbst hart zuzuschlagen versteht. Sie kann sich selbst nicht von rassistischen Ressentiments freisprechen und ist voller ambivalenter Gefühle wie Hass und Mitgefühl, was die Figur so interessant macht. 
Im nachfolgenden Interview sagt Lehane: „Ich fühle mich vom Bösen in den guten Menschen und vom Guten in den schlechten Menschen angezogen, weil die wenigsten von uns etwas anderes sind als ein kompliziertes Sammelsurium von Motiven und Begierden.“ 
Diese Vielschichtigkeit macht auch „Sekunden der Gnade“ aus, der sich als fesselndes Kriminaldrama ebenso gut liest wie als profunde Milieu- und Gesellschaftsstudie mit nach wie vor erschreckend aktuellem Bezug. 

 

Robert Bloch – „Die Pension der verlorenen Seelen“

Mittwoch, 23. August 2023

(Heyne, 141 S., Tb.) 
Zwar hat Robert Bloch (1917-1994) seine schriftstellerische Karriere in Jugendjahren mit der Adaption und Fortsetzung des „Cthulhu“-Mythos seines Idols H. P. Lovecraft begonnen, doch im weiteren Verlauf erweiterte der Bestseller-Autor von „Psycho“ (1959) seine Tätigkeit auf die Genres des Psycho-Thrillers, Horrors und der Science-Fiction. Weniger bekannt sind Blochs Bemühungen im Bereich der humorvollen Fantasy, wurden sie hierzulande doch mit Vorliebe unter dem Etikett „Horror-Stories“ verkauft. Das trifft auch auf den 1969 unter dem passenden Titel „Dragons and Nightmares“ veröffentlichten Band zu, der 1973 bei Heyne seine deutsche Übersetzung als „Die Pension der verlorenen Seelen“ erfuhr. Die drei hier enthaltenen Stories sind gewiss alles andere als „Horror-Stories“. 
Auf der Suche nach einer Arbeit wird einem verzweifelten Schriftsteller in „Die Pension der verlorenen Seelen“ eine Anstellung als Hausdiener beim Millionär Julius Margate vermittelt. Für 800 Dollar und freier Kost und Logis muss der Kandidat allerdings einige besondere Voraussetzungen mitbringen: Er soll nicht nur tierlieb und ein guter Reiter sein, sondern auch auf Bäume klettern können, zur Blutgruppe AB gehören und einen Intelligenzquotienten von mindestens 140 haben. 
 Es dauert nicht lange, bis Margates neuer Hausdiener hinter die Bedeutung der ungewöhnlichen Stellenbeschreibung kommt: Der Vampir Mr. Simpkins ist gegen Blutgruppe AB allergisch – allerdings wurden ihm ohne Vorwarnung gerade beim Zahnarzt alle Zähne gezogen. Zu den weiteren Gästen in Margates Haus zählen der Werwolf Jory, die Baumnymphe Myrte, der Zentaur Gerymanx und die Nixe Trina, in die sich der Hausdiener gleich verliebt. Doch als Margate Captain Hollis nach Griechenland schickt, um ein weiteres mythisches Wesen einzufangen, geraten die Dinge außer Kontrolle, denn Hollis bringt ausgerechnet die Medusa mit, die Margates Truppe im Nu in Stein verwandelt. 
Der unangekündigte Besuch der Hexe Miss Teriös scheint gerade zur rechten Zeit zu kommen, doch gibt sie sich nicht die nötige Mühe, um die Rückverwandlung der versteinerten Wesen ordnungsgemäß zu vollziehen. Stattdessen landen die verschiedenen Persönlichkeiten in anderen Körpern… 
„In dem allgemeinen Durcheinander war die Schaufensterpuppe, die eigentlich keine Seele hatte, offenbar in Myrtes Baum geraten. Trina aber gelangte in den nunmehr vakanten Leib der Puppe. So standen die Dinge also. Ein Vampir im Leib eines Werwolfes, ein Werwolf im Leib eines Vampirs. Ein Mann in der Gestalt eines Zentauren, und der Zentaur in der Gestalt einer Nixe. Die Nixe in der Gestalt einer Schaufensterpuppe, und eine Baumnymphe in Gestalt eines Mannes … Und ich – inmitten all dieser Verwicklungen – in einem Riesenschlamassel.“ (S. 69) 
Die beiden sich ergänzenden Geschichten „Die alten Rittersleut …“ und „Der eifrige Drache oder: Hermann“ greifen einmal mehr die bei Bloch beliebte Zeitreise-Thematik auf. Ein Hühnerfarmer, der von dem Gauner Tommy Malloon regelmäßig um Schutzgeld erpresst wird, macht zunächst die Bekanntschaft mit dem Ritter Pallagyn, der von Merlin in die Zukunft geschickt wurde, um das Kappadokische Taburett zu suchen, was sich als schwieriger erweist als erhofft. In der zweiten Geschichte schlüpft aus einem riesigen Ei ein niedlicher Drache, der für eine Million Dollar an einen Show-Unternehmer verkauft werden soll. Doch da schießt ihm ausgerechnet Tommy Malloon in die Quere… 
Wer mit „Die Pension der verlorenen Seelen“ klassische Gruselgeschichten erwartet – wie die Bezeichnung auf der Titelseite ja verspricht -, wird bitter enttäuscht, denn die drei hier versammelten Geschichten fallen eher in die Kategorie humorvoller Fantasy. Bloch schlägt sich hier zwar wacker, wartet auch mit ein paar originellen Einfällen auf, doch handelt es sich hier doch ganz eindeutig um einen massiven Etikettenschwindel. Fantasy-Freunde wird dieser Band nämlich auch nicht wirklich begeistern…

 

Robert Bloch – „Horror Cocktail“

Sonntag, 20. August 2023

(Heyne, 142 S., Tb.) 
Robert Bloch war bereits im Kindesalter begeisterter Leser der „Weird Tales“ und kam als 15-Jähriger in Kontakt mit Schriftstellern wie H. P. Lovecraft, August Derleth und Clark Ashton Smith, begann ab 1930, eigene Kurzgeschichten im Stile Lovecrafts zu verfassen, bis er sich mit seinem 1947 veröffentlichten Debütroman „The Scarf“ (dt. „Der Schal“) auch im Krimi-Genre einen Namen machen konnte. Nicht zuletzt durch seinen von Alfred Hitchcock verfilmten Roman „Psycho“ (1959) ist Bloch auch hierzulande bekannt geworden. 
Neben weiteren Romanen wie „Werkzeug des Teufels“ und „Shooting Star“ sind bereits ab den 1960er Jahren auch etliche Kurzgeschichten-Sammlungen von Robert Bloch erschienen. „Horror Cocktail“, 1972 im Heyne Verlag veröffentlicht, vereint acht ursprünglich zwischen 1953 und 1960 publizierte Geschichten, die zwar als „Horror-Stories“ deklariert werden, allerdings eher dem Krimi und der Science-Fiction zuzuordnen sind. 
In „Studienkreise“ macht Don Freeman, verantwortlicher Leiter der Playlights-Produktion, in einer Bar die Bekanntschaft von Professor Herbert Claymore, Leiter der Physikalischen Fakultät an der Yardley-Universität, der sich als Zeitreisender entpuppt und Freeman die zündende Idee für eine neue Show liefert. „Partnertausch“ erzählt die Geschichte von Willis T. Millaney, der sich als Agent beispielsweise darum kümmert, dass seine Stars in den Fernsehshows unterzubringen und ihre Verträge einhalten. Bei Buzzie Waters gestaltet sich dieser Part mal wieder als schwierig, da er nicht zur verabredeten Zeit am Set erschienen ist und spurlos verschwunden zu sein scheint. Millaney findet seinen Zögling zwar, sieht sich allerdings zu drastischen Maßnahmen mit tödlicher Wirkung gezwungen, so dass er nun Joe Traskin als Buzzies Double aufbauen muss, um nicht aufzufliegen. 
In der „Der letzte Meister“ kommt ein gewisser John Smith mit einer mysteriösen Kugel aus dem Jahr 2903, um einige berühmte Gemälde von Rembrandt, Tizian, Raphael, El Greco, Gauguin, Holbein, van Gogh u.a. zu besorgen, um sie vor der Zerstörung durch den ihm bereits bekannten Krieg zu retten. Doch die Millionen Dollar, mit denen er diese zu kaufen versuchte, sorgen für Probleme, mit denen der Zeitreisende offensichtlich nicht gerechnet hat. 
„Die ganz oben“ handelt von der Verwirrung, die das aufgehende Hollywood-Sternchen Kay Kennedy anrichtet, als sie den Produzenten Edward Stern kennenlernt. Sie imponiert ihm mit ihrem profunden Wissen der Filmgeschichte. Während ihr Begleiter Mike Charles Stern anbettelt, ihn mit einem neuen Regieprojekt zu betrauen, drängt Kennedy den einflussreichen Produzenten dazu, dass sie ebenfalls in den elitären Club der Leute aufgenommen wird, die immer etwas zu sagen haben, solange sie auch im Geschäft sind. Doch die Bedingungen zur Aufnahme bei Dr. Loxheim haben es in sich… 
In „Kain und Abel“ betritt der junge Abel die antiquarische Buchhandlung von Mr. Kain und verlangt nach drei ungewöhnlichen Büchern, mit denen er zu erkennen gibt, dass er von Mr. Kains besonderer Profession weiß, nämlich die Einführung in das Morden. Doch das Lehrer-Schüler-Verhältnis nimmt eine ungewöhnliche Wendung. 
„Als er seine Mission beendet hatte, kehrte er in den Buchladen zurück und verbarg sich hinter der Perücke, dem Schnurrbart und der Brille. Nach einer Weile hat er sich eingelebt. Und nach einer weiteren kleinen Weile kamen die ersten Schüler. Die Bücherei blieb im Geschäft. Man findet solche Geschäfte in den Seitenstraßen jeder großen Stadt. Und manchmal fragt man sich, wie es der Besitzer wohl fertigbringt, davon zu leben…“ (S. 106) 
Während „Das Geschenk“ die Geschichte von dem Agenten Gibson erzählt, der die attraktive Lani als Model aufzubauen versucht, die dann aber die Bekanntschaft des schwerreichen Öl-Prinzen Ahmed macht, finden sich vier Kleinkriminelle auf einmal im Jahr 1766 wieder, um einen Goldschatz in Philadelphia an sich zu bringen, der ihre Sorgen in der Gegenwart lösen soll. 
„Dreimal recht tödlich“ vereint am Ende drei kurze unspektakuläre Episoden über das Töten. 
Die Inhaltsangaben machen bereits deutlich, dass es hier weniger um übernatürliches Grauen geht, sondern dass es vor allem die Doppelgänger-Thematik und das Spiel mit den Zeitreisen, nicht zuletzt ganz primitive Motive des Mordens aus Habsucht und Rache, oft im Dunstkreis von Hollywood, im Zentrum der einzelnen Geschichten stehen. Das ist wunderbar kurzweilig und amüsant, aber selten packend und einfallsreich. 

 

Dan Simmons – „Ilium“

Samstag, 19. August 2023

(Heyne, 828 S., Pb.) 
Kaum hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons mit seinen ersten beiden, jeweils preisgekrönten Romanen „Göttin des Todes“ und „Kraft des Bösen“ im Horror-Sektor etabliert und Kollegen wie Stephen King zum Staunen gebracht, setzte er mit „Hyperion“ und „Das Ende von Hyperion“ neue Meilensteine – diesmal im Science-Fiction-Genre. In der Folge ließ sich Simmons nie auf ein Genre festlegen. Auf die Kurzgeschichten-Sammlungen „Styx“, „Lovedeath. Liebe und Tod“ und „Welten und Zeit genug“ folgten weitere Horror-Werke wie „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ ebenso wie die Thriller „Die Feuer von Eden“, „Fiesta in Havanna“ und „Das Schlangenhaupt“, die Action-Trilogie um den Privatermittler Joe Kurtz und die Fortsetzung der „Hyperion“-Saga mit „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“
Bevor sich Simmons auch noch auf epische historische Abenteuer-Romane verlegte, erschien 2003 mit „Ilium“ ein weiteres Science-Fiction-Epos, mit dem sich der Autor der Herausforderung stellte, alte griechische Sagen mit klassischer Literatur und Science-Fiction zu verknüpfen. 
Thomas Hockenberry hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Professor für Philosophie an der University of Indiana gelehrt und wurde nach seinem Tod von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um als Zeitzeugen vom Kampf um Troja zu berichten. Neun Jahre nach seiner Wiedergeburt lebt Hockenberry in einer Scholiker-Kaserne mit anderen kenntnisreichen „Ilias“-Forschern, um der Muse Melete am Olymp Bericht über die Entwicklungen im Trojanischen Krieg zu berichten, ohne zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen. Mithilfe von spezieller High-Tech-Ausrüstung ist es Hockenberry und seinen Kollegen möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen, ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, und ebenso schnell wieder zu verschwinden. Allerdings muss der Scholiker bald feststellen, dass zwischen Homers epischer Erzählung und den eigenen Beobachtungen signifikante Diskrepanzen bestehen… 
„Ich kann es einfach nicht fassen. Nicht nur, dass ich den Angelpunkt nicht gefunden und keinerlei Veränderung bewirkt habe, jetzt ist auch noch die gesamte Ilias aus der Bahn geraten. Über neun Jahre war ich als Scholiker hier, habe zugesehen, beobachtet und der Muse Bericht erstattet, und kein einziges Mal hat es eine tiefe Kluft zwischen den Ereignissen in diesem Krieg und Homers Bericht in seinem Versepos gegeben. Und nun … das. Wenn Achilles heimfährt, und alles spricht dafür, dass er genau das bei Tagesanbruch tut, werden die Achäer besiegt, ihre Schiffe verbrannt, Ilium gerettet, und Hektor, nicht Achilles, wird der große Held des Epos sein. Auch Odysseus‘ Odyssee wird dann wohl kaum stattfinden … und schon gar nicht so, wie sie besungen worden ist. Alles hat sich verändert.“ (S. 496) 
Währenddessen werden auf dem Mars bedrohlichen Quantenaktivitäten gemessen, denen ebenso intelligente wie empathische Cyborgs von den Jupitermonden mit einer Expedition auf den Grund gehen sollen. Zu diesen sogenannten Moravecs zählen auch Mahnmut, Erforscher der Meerestiefen auf Europa und Shakespeare-Experte, und Orphu, ein Hochvakuum-Moravec von Io und Proust-Kenner. Nachdem ihr Raumschiff in einer Mars-Umlaufbahn von einem Streitwagen abgeschossen worden ist, sind sie allerdings die einzigen, die schwer lädiert ihr Ziel erreichen und mit neuen Gefahren konfrontiert werden, aber auch hilfsbereiten kleinen grünen Männchen (KGM) begegnen 
Und schließlich hat sich auch auf der Erde einiges getan. Verschiedene Katastrophen haben dazu geführt, dass der einst blaue Planet in der Zukunft nur noch von einigen hunderttausend sogenannten „Altmenschen“ bewohnt wird, denen es bestimmt ist, genau 100 Jahre alt zu werden und während ihres Daseins kontinuierlich von Servitoren und Voynixen betreut und beschützt werden, da die Wälder von genetisch rekonstruierten Sauriern bevölkert sind. 
Dan Simmons hat sich einiges vorgenommen für sein neues, wiederum wenigstens zweibändiges Science-Fiction-Epos, das 2005 mit „Olympos“ seine Fortsetzung gefunden hat. Simmons‘ Publikum wird nicht nur mit den unzähligen Göttern, Musen und Gestalten aus Homers „Ilias“ konfrontiert, sondern ebenso mit Verweisen auf die Werke von Shakespeare, Marcel Proust, Robert Ranke-Graves und Alfred Lord Tennysons „Ulysses“ bombardiert, dass man sich ebenso verloren und verwirrt fühlt wie Simmons‘ eigene Protagonisten. 
Unter denen nimmt der von den Göttern des Olymps wiederbelebte Gelehrte Hockenberry als Ich-Erzähler zwar eine Schlüsselstellung ein, doch durch die immer wieder eingeschobenen Handlungsstränge auf dem Mars und der alten Erde wird das Figurenarsenal doch sehr schnell unübersichtlich. Auf besonders tiefgreifende Psychologisierungen verzichtet Simmons zugunsten einer höchst komplexen Erzählstruktur, die verschiedene Zeitebenen, Planeten und Figurenkonstellationen miteinander verknüpft. Das erfordert eine beständig hohe Aufmerksamkeit, zumal die Verbindungen zwischen all den Göttern und ihren Weggefährten für den Nicht-Ilias-Kundigen schwer nachzuvollziehen sind.  
Dan Simmons hat mit „Ilium“ fraglos ein packendes, wenn auch zu verspieltes, überdimensioniertes Science-Werk-Epos geschaffen, erreicht allerdings nicht die Intensität, erzählerische Finesse und Sogkraft seiner gefeierten „Hyperion“-Tetralogie. 

Henning Mankell – „Der Chinese“

Sonntag, 6. August 2023

(Zsolnay, 606 S., HC) 
Zwar begann der Schwede Henning Mankell bereits in den 1970er Jahren seine Schriftsteller-Karriere, doch erst mit den zu Beginn der 1990er Jahre initiierten Romanen um Kriminalkommissar Kurt Wallander wurde Mankell international berühmt und löste auch hierzulande eine Mankell-Mania aus, in deren Folge viele weitere skandinavische Autoren die Bestseller-Listen stürmten. Nach dem 8. Band „Die Brandmauer“ schien jedoch Schluss zu sein. Es folgten noch der Sammelband „Wallanders erster Fall und andere Erzählungen“ sowie mit „Vor dem Frost“ der angedeutete Auftakt einer neuen Reihe, in der Linda Wallander die Arbeit ihres Vaters fortsetzt.  
Mankell versuchte, sich mit den Romanen „Tiefe“ (2005), „Kennedys Hirn“ (2006) und „Die italienischen Schuhe“ (2007) auf anderen literarischen Pfaden zu etablieren, doch wiesen sie nach wie vor vertraute Krimi- und Thriller-Elemente auf, die zunächst auch Mankells 2008 veröffentlichten Roman „Der Chinese“ prägen. Doch dann verhebt sich der Autor an einer sehr persönlichen Geschichtslektion über das Reich der Mitte. 
Als der Fotograf Karsten Höglin auf der Suche nach Motiven für seine Dokumentation über verlassene Dörfer und von der Entvölkerung bedrohte Ortschaften von Hudiksvall nach Hesjövallen fährt, macht er eine grausige Entdeckung. Offenbar wurden bis auf ein Alt-Hippie-Pärchen und eine alte senile Frau alle achtzehn Bewohner des Dorfes und ein kleiner Junge auf bestialische Weise in ihren Häusern getötet. Die Polizei steht vor einem Rätsel, zumal kein Motiv zu erkennen ist. Vivi Sundberg und Erik Huddén, die die Ermittlungen leiten, stellen schnell fest, dass die Opfer den Familien Andersson, Andrén und Magnusson angehörten, die durch Heirat allesamt miteinander verwandt waren. Als die Richterin Birgitta Roslin in der Zeitung von dem Massaker liest und dabei entdeckt, dass einige der Toten den Namen Andrén trugen, ahnt sie sofort, dass ihre Adoptiveltern August und Britta Andrén unter den Mordopfern sind. 
Zwar nimmt die Polizei bald einen geständigen Mann fest, doch die Richterin ist fest davon überzeugt, dass mehr hinter dem Massaker steckt. Sie besucht mit Sundberg das Haus ihrer Adoptiveltern und nimmt aus einer Schublade Tagebücher mit und erfährt bei einer Internetrecherche, dass auch im US-Bundesstaat Nevada eine Schlosserfamilie namens Andrén brutal ermordet worden ist. 
Bei der Lektüre der Tagebücher entdeckt sie schließlich einen Zusammenhang zwischen den Morden in den USA und Schweden mit chinesischen Arbeitern, die in Mitte der 1800er Jahre in den USA das Schienennetz verlegten, das den Westen mit dem Osten des Landes verbinden sollte. Als sich der Verdächtige in seiner Zelle erhängt hat, nimmt Birgitta Roslin eigene Ermittlungen auf und reist mit ihrer Freundin Karin nach Peking… 
„Es war zu groß, dachte sie. Nicht dass ein zielbewusster Mann es nicht allein durchführen konnte. Aber ein Mann, der in Hälsingland lebt und nur ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung hat? Er gesteht etwas, was er nicht begangen hat. Dann zeigt er der Polizei eine selbstgeschmiedete Waffe und erhängt sich in seiner Zelle. Natürlich kann ich mich irren. Aber etwas stimmt hier nicht. Seine Festnahme verlief viel zu glatt. Und was für eine Rache konnte das sein, die er als Motiv nannte?“ (S. 316) 
Henning Mankell hat sich mit seinem Roman „Der Chinese“ viel vorgenommen. Der auf zunächst knapp 150 Seiten entwickelte Kriminalfall mit dem Abschlachten fast aller Bewohner eines kleinen Dorfes in Schweden dient nur als Auftakt für einen Exkurs, der die Ereignisse lebendig macht, die die Richterin Birgitta Roslin in den von ihren Adoptiveltern aufbewahrten Tagebüchern entdeckt. Hier steht die erschütternde Reise der drei verarmten und durch den Mord an ihren Eltern verwaisten Brüder San, Wu und Guo Si, die im Jahr 1863 aus einem abgelegenen Dorf in der chinesischen Provinz Guangxi nach Kanton fliehen, entführt und wie Tausende anderer armer chinesischer Bauern nach Amerika gebracht werden, wo sie unter der Führung eines schwedischen Vorarbeiters das Gebirge abtragen, das den Weg frei für die Eisenbahn machen soll, die durch den ganzen Kontinent führt. 
Ein weiterer Handlungsstrang eröffnet sich, als Birgitta Roslin nach China reist, wo ihr zunächst die Handtasche gestohlen wird und dann die Bekanntschaft der undurchsichtigen hohen Beamtin Hong macht. Mit der Feindschaft zwischen Hong und ihrem mächtigen Bruder Ya Ru thematisiert Mankell die enorme Herausforderung, mit der das kommunistische China die Armut im eigenen Land bekämpfen will. Ya Ru macht sich dafür stark, dass Millionen von armen Bauern nach Afrika umgesiedelt werden, um dort in fruchtbaren Flussgebieten sich eine neue Existenz aufbauen zu können. 
Die Krimihandlung gerät dabei komplett in den Hintergrund, und das rote Band, das am Tatort in Hesjövallen gefunden wird und zu einem China-Restaurant führt, verkommt zu einem Hitchcock-typischen MacGuffin. Vielmehr ist dem Autor daran gelegen, sich mit der Geschichte Chinas auseinanderzusetzen und dabei vor allem den Maoismus in den Vordergrund stellt. So interessant seine Ausführungen auch sind, nehmen sie dem Krimi-Plot die Zugkraft, und in den konstruierten Verbindungen zwischen den Schweden, Chinesen, Amerikanern und zuletzt auch Afrikanern verliert Mankell vollends den Faden. Zwar versucht er zum Ende hin, die losen Fäden wieder zusammenzufügen, doch gelingt ihm das nur sehr bedingt. Damit zählt „Der Chinese“ mit seinem überfrachteten, überambitionierten Plot und der am Ende recht eindimensionalen Analyse der chinesischen Kultur und Politik zu den schlechteren Romanen des 2015 verstorbenen Autors.