Henning Mankell – „Der Chinese“

Sonntag, 6. August 2023

(Zsolnay, 606 S., HC) 
Zwar begann der Schwede Henning Mankell bereits in den 1970er Jahren seine Schriftsteller-Karriere, doch erst mit den zu Beginn der 1990er Jahre initiierten Romanen um Kriminalkommissar Kurt Wallander wurde Mankell international berühmt und löste auch hierzulande eine Mankell-Mania aus, in deren Folge viele weitere skandinavische Autoren die Bestseller-Listen stürmten. Nach dem 8. Band „Die Brandmauer“ schien jedoch Schluss zu sein. Es folgten noch der Sammelband „Wallanders erster Fall und andere Erzählungen“ sowie mit „Vor dem Frost“ der angedeutete Auftakt einer neuen Reihe, in der Linda Wallander die Arbeit ihres Vaters fortsetzt.  
Mankell versuchte, sich mit den Romanen „Tiefe“ (2005), „Kennedys Hirn“ (2006) und „Die italienischen Schuhe“ (2007) auf anderen literarischen Pfaden zu etablieren, doch wiesen sie nach wie vor vertraute Krimi- und Thriller-Elemente auf, die zunächst auch Mankells 2008 veröffentlichten Roman „Der Chinese“ prägen. Doch dann verhebt sich der Autor an einer sehr persönlichen Geschichtslektion über das Reich der Mitte. 
Als der Fotograf Karsten Höglin auf der Suche nach Motiven für seine Dokumentation über verlassene Dörfer und von der Entvölkerung bedrohte Ortschaften von Hudiksvall nach Hesjövallen fährt, macht er eine grausige Entdeckung. Offenbar wurden bis auf ein Alt-Hippie-Pärchen und eine alte senile Frau alle achtzehn Bewohner des Dorfes und ein kleiner Junge auf bestialische Weise in ihren Häusern getötet. Die Polizei steht vor einem Rätsel, zumal kein Motiv zu erkennen ist. Vivi Sundberg und Erik Huddén, die die Ermittlungen leiten, stellen schnell fest, dass die Opfer den Familien Andersson, Andrén und Magnusson angehörten, die durch Heirat allesamt miteinander verwandt waren. Als die Richterin Birgitta Roslin in der Zeitung von dem Massaker liest und dabei entdeckt, dass einige der Toten den Namen Andrén trugen, ahnt sie sofort, dass ihre Adoptiveltern August und Britta Andrén unter den Mordopfern sind. 
Zwar nimmt die Polizei bald einen geständigen Mann fest, doch die Richterin ist fest davon überzeugt, dass mehr hinter dem Massaker steckt. Sie besucht mit Sundberg das Haus ihrer Adoptiveltern und nimmt aus einer Schublade Tagebücher mit und erfährt bei einer Internetrecherche, dass auch im US-Bundesstaat Nevada eine Schlosserfamilie namens Andrén brutal ermordet worden ist. 
Bei der Lektüre der Tagebücher entdeckt sie schließlich einen Zusammenhang zwischen den Morden in den USA und Schweden mit chinesischen Arbeitern, die in Mitte der 1800er Jahre in den USA das Schienennetz verlegten, das den Westen mit dem Osten des Landes verbinden sollte. Als sich der Verdächtige in seiner Zelle erhängt hat, nimmt Birgitta Roslin eigene Ermittlungen auf und reist mit ihrer Freundin Karin nach Peking… 
„Es war zu groß, dachte sie. Nicht dass ein zielbewusster Mann es nicht allein durchführen konnte. Aber ein Mann, der in Hälsingland lebt und nur ein paar Vorstrafen wegen Körperverletzung hat? Er gesteht etwas, was er nicht begangen hat. Dann zeigt er der Polizei eine selbstgeschmiedete Waffe und erhängt sich in seiner Zelle. Natürlich kann ich mich irren. Aber etwas stimmt hier nicht. Seine Festnahme verlief viel zu glatt. Und was für eine Rache konnte das sein, die er als Motiv nannte?“ (S. 316) 
Henning Mankell hat sich mit seinem Roman „Der Chinese“ viel vorgenommen. Der auf zunächst knapp 150 Seiten entwickelte Kriminalfall mit dem Abschlachten fast aller Bewohner eines kleinen Dorfes in Schweden dient nur als Auftakt für einen Exkurs, der die Ereignisse lebendig macht, die die Richterin Birgitta Roslin in den von ihren Adoptiveltern aufbewahrten Tagebüchern entdeckt. Hier steht die erschütternde Reise der drei verarmten und durch den Mord an ihren Eltern verwaisten Brüder San, Wu und Guo Si, die im Jahr 1863 aus einem abgelegenen Dorf in der chinesischen Provinz Guangxi nach Kanton fliehen, entführt und wie Tausende anderer armer chinesischer Bauern nach Amerika gebracht werden, wo sie unter der Führung eines schwedischen Vorarbeiters das Gebirge abtragen, das den Weg frei für die Eisenbahn machen soll, die durch den ganzen Kontinent führt. 
Ein weiterer Handlungsstrang eröffnet sich, als Birgitta Roslin nach China reist, wo ihr zunächst die Handtasche gestohlen wird und dann die Bekanntschaft der undurchsichtigen hohen Beamtin Hong macht. Mit der Feindschaft zwischen Hong und ihrem mächtigen Bruder Ya Ru thematisiert Mankell die enorme Herausforderung, mit der das kommunistische China die Armut im eigenen Land bekämpfen will. Ya Ru macht sich dafür stark, dass Millionen von armen Bauern nach Afrika umgesiedelt werden, um dort in fruchtbaren Flussgebieten sich eine neue Existenz aufbauen zu können. 
Die Krimihandlung gerät dabei komplett in den Hintergrund, und das rote Band, das am Tatort in Hesjövallen gefunden wird und zu einem China-Restaurant führt, verkommt zu einem Hitchcock-typischen MacGuffin. Vielmehr ist dem Autor daran gelegen, sich mit der Geschichte Chinas auseinanderzusetzen und dabei vor allem den Maoismus in den Vordergrund stellt. So interessant seine Ausführungen auch sind, nehmen sie dem Krimi-Plot die Zugkraft, und in den konstruierten Verbindungen zwischen den Schweden, Chinesen, Amerikanern und zuletzt auch Afrikanern verliert Mankell vollends den Faden. Zwar versucht er zum Ende hin, die losen Fäden wieder zusammenzufügen, doch gelingt ihm das nur sehr bedingt. Damit zählt „Der Chinese“ mit seinem überfrachteten, überambitionierten Plot und der am Ende recht eindimensionalen Analyse der chinesischen Kultur und Politik zu den schlechteren Romanen des 2015 verstorbenen Autors. 

 

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