Håkan Nesser – „Die Perspektive des Gärtners“

Samstag, 5. März 2011

(btb, 320 S., HC)
Vor vierzehn Monaten beobachtete der Schriftsteller Erik Steinbeck am Küchenfenster seines Hauses in Saaren, wie ein Mann seine vierjährige Tochter Sarah im Garten ansprach und sie in sein grünes Auto einsteigen ließ. Bevor Erik an der Straße ankam, war der Wagen über alle Berge, die Polizei fand bis jetzt nicht einen einzigen Anhaltspunkt, was mit Sarah geschehen sein könnte. Vor allem Eriks Frau Winnie, die schon einmal eine Tochter in Sarahs Alter durch einen gewaltsamen Tod verloren hat, kam mit dem erneuten Verlust ihres Kindes nicht klar, verbrachte eine Zeit in einer psychiatrischen Anstalt und schlug schließlich vor, nach New York zu ziehen, um einen Neuanfang zu starten.
Doch Erik und Winnie finden nicht mehr zueinander und verbringen ihre Zeit meist getrennt voneinander. Während Winnie an einem fast fotografisch detaillierten Bild arbeitet, das die Entführungsszene aus Eriks Sicht darstellt und nur noch auf das Gesicht des Mannes wartet, an dessen Züge sich Erik aber nicht erinnern kann, arbeitet Erik in der Bibliothek an seinem neuen Roman. Als er Winnie zweimal überraschend in der Stadt sieht, leugnet sie jeweils, sich dort befunden zu haben. Dann behauptet sie plötzlich, Sarah sei noch am Leben. Erik macht sich Sorgen, dass Winnie wieder in ihren krankhaften Zustand nach dem Verschwinden ihrer Tochter zurückfällt.
„… wenn nun meine Ehefrau behauptet, unsere Tochter sei tatsächlich am Leben, dann will ich das nicht als Zeichen sehen, dass sie auf dem Weg zurück in die Dunkelheit ihrer Krankheit ist. Obwohl es natürlich so ist. Ich brauche eine gesunde Winnie – zumindest eine einigermaßen gesunde Winnie -, meine Kräfte reichen nicht für eine neue Welle des Wahnsinns. Guter Gott, denke ich, lass sie nicht den Verstand verlieren, lass nicht alles den Bach runtergehen. Lass etwas geschehen, das uns wieder ein bisschen Hoffnung gibt. Aber dass Sarah tatsächlich am Leben sein soll? Ich wage diesen Gedanken kaum zu denken.“ (S. 112f.)
Erik macht in der Bibliothek, in der er fast täglich arbeitet, die Bekanntschaft von Mr. Edwards, einem pensionierten Privatdetektiv, der dem Schriftsteller anbietet, herauszufinden, was Winnie mit ihrer Zeit, die sie nicht in ihrem Atelier verbringt, so treibt. Offensichtlich hat sie eine Parapsychologin namens Grimaux aufgesucht, und Erik fällt sofort der Zusammenhang mit dem gleichnamigen französischen surrealistischen Poeten auf, der ein Gedicht verfasst hat, das auf mysteriöse Weise Winnie und Erik einst zusammengeführt hat. Und je mehr Erik den immer geheimnisvolleren Hinweisen auf Winnie und Sarah folgt, desto mehr Rätsel geben Erik zu denken …
Dass der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser nicht nur Krimis nach Schema F produziert, hat er bereits mit „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ bewiesen. Sein neuer Roman ist in New York angesiedelt, wo der Autor einige Jahre gelebt hat, und trägt von Beginn an jene surrealistischen Züge, die auch einige Romane des New Yorker Schriftstellers Paul Austers tragen.
„Die Perspektive des Gärtners“ wirft immer wieder Fragen nach Namen und Identitäten auf, lässt die Grenzen zwischen Realität, Traum, Vorsehung und Wahnsinn miteinander verschmelzen und immer wieder neue Rätsel die bisherigen Merkwürdigkeiten in neuem Licht erscheinen. Dabei tritt Sarahs Schicksal nicht unbedingt in den Hintergrund, aber zunehmend geht es auch um die Frage, was es mit Winnie auf sich hat. Dadurch, dass der Leser das Geschehen allein aus Eriks Perspektive verfolgen muss, bleibt lange Zeit ungewiss, inwieweit vielleicht Erik selbst dem Wahnsinn verfallen ist. Nesser erweist sich wieder einmal als sprachlich versierter Autor, der mit viel Liebe zum psychologischen Detail einen außergewöhnlichen wie verstörenden Roman geschaffen hat, der mit einem ebenso überraschenden Ende aufwartet.
Lesen Sie im Buch: Nesser, Håkan - Die Perspektive des Gärtners

Simon Beckett – (David Hunter: 4) „Verwesung“

(Wunderlich, 444 S., HC)
Vor acht Jahren wurde der forensische Anthropologe Dr. David Hunter von Detective Chief Superintendent Simms nach Dartmoor gebeten, um dort eine Leiche im Moor zu identifizieren. Offensichtlich handelte es sich um eines der Mädchen, die dem verurteilten Serienmörder und Vergewaltiger Jerome Monk zum Opfer gefallen sind und deren Leichen noch nicht gefunden werden konnten. Doch die Ermittlungen standen unter keinem guten Stern. Hunter muss sich nicht nur dem besserwisserischen forensischen Archäologen Prof. Leonard Wainwright unterordnen, sondern hatte es auch mit Terry Connors zu tun, dessen Selbstgefälligkeit und Angeberei schon immer ein Dorn in Hunters Augen gewesen sind.
Nachdem die Torfleiche als Monks drittes Opfer Tina Williams identifiziert werden konnte, folgte eine großangelegte Suchaktion im Moor, hoffte man doch, die anderen beiden noch vermissten Leichen zu finden. Monk erklärte sich bereit, bei der Suche zu helfen, kann sich vor Ort aber an nichts erinnern, und die psychologische Ermittlungsberaterin Sophie Keller stößt nur auf einen Dachskadaver. Nach diesem Fiasko verschlug es Hunter an den Balkan, um an der Bergung eines Massengrabes mitzuwirken, dann verlor er seine Frau Kara und Tochter Alice bei einem Autounfall.
Acht Jahre später bekommt Hunter überraschenden Besuch von Terry Connors, der ihm erzählt, dass Jerome Monk aus dem Gefängnis geflohen ist, dann erhält er einen panischen Anruf von Sophie Keller, die ihn bittet, sich mit ihr in Dartmoor zu treffen. Als Hunter dort eintrifft, liegt Sophie allerdings auf der Intensivstation, wenig später kommt Leonard Wainwright zu Tode. Offensichtlich befindet sich Jerome Monk auf einem Rachefeldzug gegen alle, die damals mit seinem Fall zu tun gehabt haben. Er verfügt über das übliche Täterprofil:
„Mit fünfzehn Jahren war Monks Lebensweg vorgezeichnet. Von Geburt an verwaist, war er schon als Kind in doppelter Hinsicht ausgeschlossen, gemieden wegen seiner körperlichen Defekte und gefürchtet wegen seiner abnormen Kraft. Die wenigen Familien, die den störrischen, unberechenbaren Jungen in Pflege nahmen, schickten ihn bald wieder voller Entsetzen zurück. Bereits in der Pubertät war er kräftiger als die meisten erwachsenen Männer, sein Leben wurde durch Gewalt und Einschüchterung geprägt.“ (S. 357)
Simon Beckett beginnt seine David-Hunter-Romane stets mit der Schilderung nüchterner Fakten rund um den Verwesungsprozess, was an sich höchst informativ ist, doch leider setzt sich dieser abgeklärte Stil auch auf die Beschreibung der Handlung und der Zeichnung seiner Figuren fort. „Verwesung“ weist sicherlich alle Merkmale eines Bestsellers auf, eine interessante Hauptfigur, die nach „Die Chemie des Todes“, „Kalte Asche“ und „Leichenblässe“ zum vierten Mal im Mittelpunkt des Geschehens steht, einen mysteriösen Fall um einen mutmaßlichen Serienmörder und etliche persönliche Konflikte, die dem Geschehen seine „Würze“ verleihen. Doch man wird das Gefühl nicht los, dass Beckett in jeder Hinsicht auf Nummer sicher gehen wollte. Der Plot und die „überraschende“ Wendung zum Ende hin wirken wie am Reißbrett konstruiert, und Becketts abgeklärter Stil lässt nicht wirklich Sympathien für seine Figuren entwickeln, die aber immerhin alle ihre Päckchen zu tragen haben, auch David Hunter selbst, der sich immer noch Vorwürfe wegen des Todes seiner Familie macht. Sicher bietet „Verwesung“ spannende Unterhaltung, aber schon im vierten David-Hunter-Fall sind die Abnutzungserscheinungen nicht zu übersehen.
 Leseprobe “Verwesung”

Cody McFadyen – „Der Menschenmacher“

Donnerstag, 3. März 2011

(Lübbe, 605 S., HC)
Ein halbes Jahr nachdem David Rhodes seine alleinerziehende Mutter durch einen Autounfall verloren hatte, wurde er der sechsjährige Junge von einem Mann namens Robert Gray adoptiert, ebenso wie die fast gleichaltrigen Charlie Carter und Allison. Nahezu zehn Jahre lang wurden die drei Kinder von ihrem Ziehvater auf jede erdenkliche Art misshandelt, gequält, im dunklen Keller weggesperrt. Jede nicht erfüllte Anforderung, die dazu dienen sollte, die Kinder in ein höheres Dasein zu „evolvieren“, wurde bitter bestraft.
Doch eines Tages konnten die Kinder ihrem Gefängnis entkommen und ihren Peiniger töten. Seither hat jeder auf seine eigene Weise alles daran gesetzt, sein Leben dem Kampf gegen Kinderpornographie und Kinderprostitution zu widmen. David wurde Schriftsteller und erreichte bereits mit seinem ersten Thriller einen internationalen Bestseller. Seine Fähigkeit, die Menschen mit seinen Worten zu fesseln, kam seiner Stiftung Innocence Foundation zugute, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kindern in Not zu helfen, Kinderpornographieringe auszuheben und Menschenhändlerbanden auffliegen zu lassen. Charlie hat sich zu einem Elitesoldaten ausbilden lassen und übernimmt den schmutzigen Teil der Aufgabe. Mit dem Wissen, wie ihre Brüder gegen die Grausamkeit Kindern gegenüber vorgingen, konnte Allison jedoch nicht mehr ihren Dienst beim FBI ausüben. Doch nach zwanzig Jahren werden die drei Adoptivgeschwister mit ihrer grausamen Vergangenheit konfrontiert. Eine Videobotschaft an jeden von ihnen und Geiselnahmen machen deutlich, dass das Böse aus ihrer Vergangenheit offensichtlich noch nicht vollständig ausgemerzt worden ist. Wenn sie nicht binnen 36 Stunden eine bestimmte Ärztin, die Abtreibungen vornimmt, töten, müssen auch die ihnen nahestehenden Geiseln dran glauben. David, Charlie und Allison machen sich auf eine erschreckende Odyssee in ihre alte Heimat und stoßen auf entsetzliche Hintergründe:
„Wir wissen, dass Bob, als Kind selbst misshandelt wurde. Er wurde von seiner Mutter gequält. Sein Vater war Prediger und starb wahrscheinlich schon, als Bob noch ein kleiner Junge war. Nach allem, was wir wissen, war der Vater ein ultra-fanatischer religiöser Eiferer. Ein christlicher Fundamentalist sozusagen. Wir wissen außerdem, dass Bob noch kein Killer war, bevor er nach Vietnam ging, aber er war mit Sicherheit einer, als er zurückkam. Er kannte kaum noch Grenzen. Er war ein abgebrühter, brutaler Psychopath, lange bevor er uns drei adoptiert hat.“ (S. 426)
Nach vier Bestsellern um die psychisch wie physisch mit Narben übersäte Polizistin Smoky Barrett hat Cody McFadyen mit seinem neuen Roman „The Innocent Bone“, der etwas arg reißerisch als „Der Menschenmacher“ ins Deutsche übertragen wurde, einen kleinen Exkurs unternommen und sich eines brisanten wie schrecklichen Themas angenommen. Zwar bemüht er die üblichen Erklärungen von religiösem Fanatismus, Brutalität in der Erziehung und philosophische Verwirrungen, um das kaum vorstellbare Grauen zu erklären, dass nicht nur die drei Adoptivgeschwister, sondern auch ihre Angehörigen erleiden müssen, aber McFadyen schildert ihre schreckliche Geschichte sehr überzeugend, psychologisch nachvollziehbar und letztlich auch spannend, um „Der Menschenmacher“ in einem furiosen Finale münden zu lassen, das es wirklich in sich hat.
Lesen Sie im Buch: Mcfadyen, Cody - Der Menschenmacher

Ralf Husmann – „Vorsicht vor Leuten“

Mittwoch, 23. Februar 2011

(Scherz, 279 S., HC)
Als Autor von „Stromberg“, der deutschen Antwort auf die britische Comedy-Serie „The Office“, hat Ralf Husmann nicht nur den bemitleidenswerten Titel-Antihelden zur Kultfigur der deutschen Comedy-Szene erhoben, sondern sich selbst als „Pate des deutschen Humors“ („Die Welt online“) etabliert. Wie gut das auch verschriftlich funktioniert, bewies Husmann mit seinem großartigen Romandebüt „Nicht mein Tag“, dem er nun „Vorsicht vor Leuten“ folgen lässt.
Als Sachbearbeiter im Referat Planung und Bauaufsicht der Stadt Osthofen in Nordrhein-Westfalen hat der gut vierzigjährige Lorenz Brahmkamp keine große Lobby, weder bei seinem mürrischen, stark erkälteten Chef, noch bei seinen Kollegen, leider auch nicht mehr bei Katrin, seiner Kollegin aus dem Referat Haushalt und Finanzen, die ihn jüngst verlassen hat.
Doch Lorenz lässt sich nicht hängen und entwirft sogleich einen Schlachtplan, um sein verwurstetes Leben wieder in den Griff und vor allem Katrin wieder zurückzubekommen. Da heißt es 1. Abnehmen, 2. Job sichern, 3. Ehrlich werden und schließlich als das große Übermotto: Leben ändern.
Seine große Chance sieht Lorenz kommen, als er krankheitsbedingt für seinen Chef und dessen Stellvertreter das Treffen mit dem erfolgreichen Unternehmer Alexander Schönleben bestreiten soll, der in Osthofen aus der alten Bauschuttdeponie einen „Megapark“ machen will. Lorenz erkennt als Gewohnheitslügner schnell, dass Schönhofen ihm Geschichten auftischt, doch Schönhofen sieht in Lorenz fortan einen Verbündeten im Kampf gegen die Bürokratie. Schließlich sei auch für ihn was drin. Und ehe er sich versieht, sitzt Lorenz mit dem Selfmade-Millionär in einem Boot und hofft so, Katrin etwas bieten zu können. Eine neue Dusche steht ganz oben auf der Prioritätenliste, um Katrin zur Heimkehr zu bewegen.
„Er lässt es krachen. Katrin hatte recht. Er hat vieles zu lange schleifen lassen. Sie wird Augen machen, wenn sie demnächst wieder nach Hause kommt. Leben ändern mit einem Duschtempel. Irgendwo muss man ja anfangen. Der Corsa ist randvoll. Lorenz fährt quasi blind, vertraut aber darauf, dass das Schicksal kein Arschloch ist. Das Leben macht nicht erst Hoffnung und schickt einem dann von rechts einen Siebentonner, den man nicht sieht. Und tatsächlich: Alles geht gut. (…) Wie geht das also mit dem Duschtempel? Die Anleitung schreckt ab. Mehrsprachig. Mit Zeichnungen, die aussehen, als sei die Montage nicht so einfach. So schwer wird es aber wohl nicht sein. Aufstellen, ausmessen, andübeln, das wird er schon hinkriegen, denkt Lorenz. Heute ist ein guter Tag. Heute geht das. (…) Ein zweiter Mann wäre gut, denkt Lorenz, einer, der die scheiß Wand mal halten kann, während man die verschissenen Markierungen auf die Kacheln malt. Wie sich diese Genies vom Duschtempel ‚Sanistar deluxe‘ das wohl vorstellen? Wie soll man das alleine hinkriegen? Oder gehen die davon aus, dass der Mensch vier Arme hat? Oder Freunde?“ (S. 86f.)
Ralf Husmann schildert den Alltag des „kleinen Mannes“ mit gewohnt lässigem, kultverdächtigen Humor, ohne seinen einfachen Helden von der Straße zu demaskieren. Vielmehr entdeckt jeder Mann etwas in Lorenz wieder, das selbst in ihm schlummert und nagt, aber selten ausgesprochen wird. Wie sich Lorenz und Schönhofen schließlich auf Mallorca mit ihren Lügengeschichten die Bälle zuspielen, ist schon großartig. Immer wieder hat Husmann dabei einen coolen Spruch parat, aber darüber hinaus ist „Vorsicht vor Leuten“ auch einfach eine amüsante, abwechslungsreiche Geschichte, der man ebenso gern folgt wie den markanten Pointen, die Husmann gekonnt zu setzen versteht.
Leseprobe “Vorsicht vor Leuten”

Ray Bradbury – „Medizin für Melancholie“

Dienstag, 22. Februar 2011

(Diogenes, 223 S., Tb.)
Mit Meisterwerken wie „Fahrenheit 451“ oder den „Mars-Chroniken“ hat sich der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury bereits zu Lebzeiten unsterblich gemacht. Quer durch die Genres der Fantasy, der Science-fiction oder des Horrors hat er vor allem herausragende Kurzgeschichten verfasst, von denen 22, die zwischen 1948 und 1959 entstanden sind, in dem kleinen Band „Medizin für Melancholie“ versammelt sind.
Als George und Alice Smith in Biarritz absteigen und vor allem George ganz begeistert ist, sich in „Picasso-Land“ aufzuhalten, begegnet er wenig später seinem großen Idol am Strand, wie er mit einem Eisstiel etliche Figuren in den Sand zeichnet („Zur warmen Jahreszeit“). In „Der Drache“ lauern zwei berittene Männer einem Ungetüm auf, von dem gesagt wird, dass es alle Menschen frisst, die allein von der Stadt in die nächste reisen:
„Über das düstere Land, voll Nacht und Leere, aus der Tiefe des Moores sprang der Wind auf, voll Staub von Uhren, die die Zeit mit Staub anzeigten. Schwarze, brennende Sonnen waren im Herzen dieses neuen Windes und Millionen verbrannter Blätter, die er von Herbstbäumen hinter dem Horizont herabgeschüttelt hatte. Dieser Wind schmolz Landschaften, zog die Gebeine wie Wachs in die Länge und trübte und verdickte das Blut zu einer schlammigen Ablagerung im Hirn. Der Wind war tausend sterbende Seelen und die ganze verworrene, vorübergehende Zeit. Es war ein Nebel in einer Dunkelheit, und dieser Ort hier gehörte niemandem, und es gab kein Jahr und keine Stunde, sondern nur diese Männer in der gesichtslosen Leere mit ihrem plötzlichen Frost, Sturm und weißen Donner, der hinter der großen fallenden Scheibe des Blitzes rollte. Ein nasser Windstoß fuhr über das Torfmoor, und alles verging, bis nichts mehr war als die Stille ohne Atem und die beiden Männer, die mit ihrer Wärme allein in der kalten Jahreszeit warteten.“ (S. 17f.)
In diesem wunderbar fabulierenden Ton geht es weiter, und so fantastisch die Sprache über die Seiten schwebt, so fantasievoll sind auch all die Geschichten geraten, die Ray Bradbury aus seinem wunderbaren Hut zaubert. Er lässt ein krankes Mädchen, dem keine Medizin helfen will, bei Vollmond draußen verweilen, bis ihm die einzig wahre Medizin begegnet („Medizin für Melancholie“). Sechs Mexiko-Amerikaner erstehen zusammen einen eiscremefarbenen Anzug und wechseln sind mit dem Tragen stündlich ab, um endlich ihr Glück zu erleben, eine Familie fliegt zum Mars und hängt dort fest, ein Mann hängt in der Dachkammer seines Hauses den Erinnerungen an jede erdenklichen Zeiten nach:
„Hier im irisierenden Glas der Kronleuchter schimmerten Regenbögen, Morgen und Mittage hell wie frische Bäche, die unaufhörlich durch die Zeit zurückflossen. Das zuckende Licht seiner Taschenlampe fing sie ein und weckte sie, die Regenbogen sprangen auf und drängten die Schatten mit Farben zurück, mit Farben wie Pflaumen, Erdbeeren und Trauben, mit Farben wie Zitronen und wie der Himmel, wenn nach dem Sturm die Wolken fortziehen und das Blau wieder hervorkommt. Und der Staub der Dachkammer war brennender Weihrauch und brennende Zeit, und man brauchte nur in die Flammen zu schauen. Sie war wirklich eine große Zeitmaschine, diese Dachkammer, das wusste und fühlte er …“ (S. 100)
In gewisser Weise geht es dem Leser ähnlich wie Mr. Finch in „Der Duft von Sarsaparilla“; Ray Bradbury lässt mit wunderbar poetischen Geschichten vergangene Zeiten und ihren ganz besonderen Zauber wiederauferleben, was für seine Sci-fi-Geschichten ebenso gilt wie für seine „Märchen“, die tief in die Ängste und Sorgen und Hoffnungen und Träume der Menschen eintauchen und sie zu zauberhaften Analogien webt.

Miriam Toews – „Die fliegenden Trautmans“

Sonntag, 13. Februar 2011

(Berlin Verlag, 255 S., HC)
Als die 28-jährige Hattie Trautman mitten in der Nacht einen Anruf von ihrer 11-jährigen Nichte Thebes erhält, wird ihr schnell der Ernst der Lage bewusst gemacht. Hatties Schwester Min liegt nur noch vollgedröhnt im Bett, Thebes‘ 15-jähriger Bruder Logan hat ständig Ärger in der Schule, und die Kleine ist schlichtweg überfordert, sich um alles zu kümmern. Da Hattie aber ohnehin in Paris ihre Vision des Künstlerdaseins nicht verwirklichen konnte und zudem von ihrem Freund Marc abserviert wurde, fällt es ihr nicht allzu schwer, die Zelte dort abzubrechen und nach Kanada zu fliegen, wo sie das vollkommene Chaos erwartet.
Min liegt mit schweren Depressionen im Krankenhaus und will niemanden sehen. Logan ist von der Schule geflogen, weil er mit bekannten Gang-Mitgliedern abhängt. Also tut Hattie das, was sie für das einzig Richtige hält: Sie fährt mit den Kindern Richtung South Dakota, wo sie deren Vater Cherkis zu finden hofft.
„Wir kamen allmählich auf die Zielgerade. Murdo war ein kleiner, unspektakulärer Fleck auf der Landkarte, aber für uns, jedenfalls für mich, baute es sich nun drohend vor uns auf wie King Kong Schatten oder Kandahar aus der Sicht einer amerikanischen Panzerbesatzung. Mir wurde mulmig. Ich hatte ja gar keinen richtigen Plan. Oder doch, ein geplantes Ergebnis immerhin. Bloß keinen Plan, der mich zwingend zu diesem Ergebnis führen würde, das natürlich darin bestand, Cherkis zu finden und zu beknien, dass er sich um seine Kinder kümmert. Ich wollte das nämlich nicht übernehmen – und konnte es auch gar nicht. Ich wusste überhaupt nicht, was ich zu ihnen sagen oder wie ich sie trösten sollte. Wahrscheinlich würde es Min nie wieder so gut gehen, dass sie nach Hause konnte, jedenfalls nicht als die Mutter, die die beiden brauchten. Ob Min an eine willkürliche Welt glaubte oder an eine mit einem göttlichen Sinn dahinter? Es gab so vieles, über das wir nie gesprochen hatte, und jetzt war es vermutlich zu spät.“ (S. 89)
Immer wieder ruft Hattie von unterwegs bei Min in der Psychiatrie an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, muss sich dabei immer wieder selbst vergewissern, dass sie gerade das Richtige tut und erinnert sich an eine glücklichere Kindheit. Während der Fahrt erzählt sich die neu gefundene Familie eine skurrile Geschichte nach der anderen, übernachtet in heruntergekommenen Motels, trifft die merkwürdigsten Menschen auf dem Trip, der das Trio auf der Route 66 weiter nach Twentynine Palms und bis zur mexikanischen Grenze führt.
Miriam Toews stattet ihre jenseits aller gängigen Vorstellungen von „normal“ befindlichen Charaktere mit liebenswürdigem Charme aus und dabei so detailliert, dass diese kaum wie erfundene Romanfiguren, sondern wie Fleisch und Blut wirken. Es braucht nur wenige Zeilen, um sich auf die Seite der anfangs völlig überforderten, im Liebeskummer taumelnden Hattie zu schlagen, und dann verfolgt der Leser die spannende Odyssee in den Süden meist mit einem Schmunzeln, gelegentlich auch mit ehrfürchtigem Staunen und echtem Mitgefühl. Die lebendige Sprache, immer ganz nah am Jugendjargon und der Popkultur, trägt ihr übriges dazu bei, „die fliegenden Trautmans“ mit wachsendem Vergnügen zu verschlingen. Schade, dass die familiäre Selbstfindung und der amüsante Roadtrip schon nach gut 250 Seiten vorbei ist …

Stieg Larsson - (Millennium: 1) „Verblendung“

Donnerstag, 10. Februar 2011

(Heyne, 688 S., Tb.)
Wie jedes Jahr bekommt der Großindustrielle Henrik Vanger auch zu seinem 82. Geburtstag anonym eine gepresste Blume in einem Bilderrahmen zugeschickt, so wie es seine Großnichte Harriet seit 1958 zu tun pflegte. Allerdings ist Harriet seit damals spurlos verschwunden. Der alte Vanger vermutet, dass sie umgebracht wurde, doch ihre Leiche konnte nie gefunden werden. Vor dreißig Jahren war das alljährliche Eintreffen der jeweils unterschiedlichen Blumen noch Gegenstand von kriminaltechnischen Analysen gewesen, mittlerweile wissen nur noch ein pensionierter Kommissar, Vanger selbst und der mysteriöse Versender von den seltsamen Geburtstagsblumen, die mal aus Madrid oder Bonn, aus Paris oder zuletzt aus Stockholm kamen.
Um dieses Rätsel endlich zu lösen, engagiert Vanger den Journalisten Carl Mikael Blomkvist, der gerade von einem Gericht zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe und 150000 Kronen Schadenersatz verurteilt worden ist, weil er den Industriellen Hans-Erik Wennerström in einem Artikel in der Zeitschrift „Millennium“ beschuldigt hatte, staatliche Mittel, die für Investitionen in Polen gedacht waren, für Waffengeschäfte missbraucht zu haben. Viel schlimmer als die empfindliche Strafe trifft Mikael allerdings der Verlust des Vertrauens in seinen journalistischen Spürsinn. Henrik Vangers Auftrag, das Verschwinden von Harriet aufzuklären, kommt ihm gerade recht, um Abstand zu der Sache zu bekommen und sich zu überlegen, wie es mit „Millennium“ und seiner Karriere weitergehen soll. Vanger hat seinen Anwalt
Frode beauftragt, den Background von Blomkvist zu überprüfen, worauf dieser Milton Security mit der Recherche beauftragte. Die überaus unkonventionelle, mit etlichen Tattoos und Piercings versehene Lisbeth Salander erstattet Frode ausführlich Bericht und lässt die Vermutung verlauten, dass Blomkvist bei der Wennerström-Affäre hereingelegt worden ist.
Als es für Blomkvist darum geht, die Geschichte der Familie Vanger auf der Insel Hedeby zu recherchieren, nimmt er die Mithilfe von Salander in Anspruch, weil sie sich als raffinierte Computer-Spezialistin erweist. Aber sie trägt auch ihre eigene problematische Geschichte mit sich herum. Nachdem sie ihren Vater in dessen Auto mit Benzin übergossen und angezündet hatte, wurde sie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und schließlich unter Vormundschaft gestellt. Doch ihr neuer Vormund, der Anwalt Bjurman, hat nichts Besseres zu tun, als Lisbeth zu vergewaltigen.
Als Blomkvist nach zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen wird, stößt er in einem Fotoalbum auf ein Bild, das Harriet bei einem Straßenumzug zeigt und wie sie verängstigt oder zornig jemand Bekannten ansieht. Doch bevor sie Henrik davon erzählen konnte, verschwand sie. Blomkvist und Salander stoßen auf komplizierte Verhältnisse und dunkle Machenschaften in der Vanger-Familienchronik …
Mit dem ersten Teil seiner „Millennium“-Trilogie präsentiert der leider schon 2004 verstorbene schwedische Autor Stieg Larsson auf den ersten Blick einen Kriminalfall, der über dreißig Jahre lang ungeklärt geblieben ist. Doch in erster Linie geht es um „Männer, die Frauen hassen“, wie der schwedische Originaltitel „Män som hatar kvinnor“ übersetzt lautet. Das ist nicht nur der Hintergrund der Familientragödie, die sich damals auf der durch einen Unfall abgeriegelten Insel zugetragen hat, sondern auch die ganz persönliche Geschichte der 26-jährigen Ermittlerin Lisbeth Salander, die mit dem engagierten Wirtschaftsjournalisten Mikael Blomkvist ein merkwürdiges, aber faszinierendes Team abgibt. Larsson nimmt viel Mühe auf sich, nicht nur die Vanger-Familiengeschichte zu enträtseln, sondern Mikael Blomkvist Lebenswandel und Salanders komplizierte Psyche zu beschreiben. Am Ende sind zwar der eigentliche Fall gelöst und Blomkvists Reputation wieder hergestellt, aber vor allem Salanders Background bleibt weiterhin größtenteils im Dunkeln. Da bringen erst die folgenden Teile „Verdammnis“ und „Vergebung“ die ersehnte Auflösung.