Joe Hill – „Blind“

Sonntag, 8. Februar 2015

(Heyne, 432 S., HC)
Als Sammler von okkulten Kuriositäten ist der 54-jährige Rockstar Jude Coyne Feuer und Flamme, als er von seinem Assistenten Danny erfährt, dass eine Frau den Geist ihres kürzlich verstorbenen Stiefvaters verkauft. Tatsächlich erhält Jude bei der Auktion den Zuschlag und hält wenige Tage später eine herzförmige Schachtel in den Händen, die den Sonntagsanzug des Verstorbenen enthält. Als sich Judes Freundin Marybeth, die er nur Georgia nennt, den Finger an einer Stecknadel im Anzug verletzt, beginnt sich dieser schmerzhaft zu entzünden, dann ertönen aus dem Radio beängstigende Sprüche. Offensichtlich ist der Geist des Toten auf Rache aus.
Jude nimmt Kontakt mit der Verkäuferin auf und erfährt, dass Jessica Price die Schwester von Anna May McDermott ist. Jude war mit ihr vor Georgia zusammen und hat sie irgendwann genervt von ihrer Art rausgeschmissen. Wie Jessica ihm erzählt, hat sich Anna zuhause irgendwann in die Badewanne gelegt und sich die Pulsadern aufgeschnitten, nachdem er nicht auf ihre Briefe reagiert hatte. Und nun scheint Craddock McDermott sowohl seine Wut über Judes nachlässige Art als auch seine Profession als Hypnotiseur in die Waagschale zu werfen, um Jude das Leben zur Hölle zu machen. Jude und Georgio sehen nur einen Ausweg: Sie machen sich auf den Weg zu McDermotts verwitweter Stieftochter und wollen dem Spuk ein Ende bereiten …
„Craddock hatte den Großteil der Woche darauf verwendet, Jude dazu zu bringen, sich selbst umzubringen. Jude war so davon in Anspruch genommen gewesen, sich zu wehren, dass er sich nicht gefragt hatte, ob der Preis des Überlebens nicht vielleicht höher war, als wenn er dem toten Mann gab, was er wollte. Er würde sicher den Kürzeren ziehen, hatte er gedacht, und je länger er sich gegen Craddock wehrte, desto wahrscheinlicher war es, dass er Marybeth mit sich reißen würde. Denn die Toten ziehen die Lebenden nach unten.“ (S. 297). 
Hinter dem Namen Joe Hill verbirgt sich niemand Geringeres als Stephen Kings ältester Sohn. Allerdings wurde sein Debütroman „Blind“ im Jahre 2007 nicht mit der prominenten Beziehung beworben, was auch gar nicht nötig gewesen ist. Joe Hill erweist sich nämlich als durchaus eigenständige Stimme in der Horror-Literatur. Sein Debüt fasziniert mit einem originellen Plot und interessant gezeichneten Figuren. Judas Coyne ist nicht zwingend ein Protagonist, den man von Beginn an ins Herz schließt. Tatsächlich erscheint er dem Leser zunächst als narzisstisches Arschloch. Doch wie er schließlich alle Hebel in Bewegung setzt, um seine Freundin Georgia nicht auch zu Craddocks Opfer werden zu lassen, ringt einem schließlich doch Respekt ab. Tatsächlich zählt die Wandlung, die Jude Coyne während der abenteuerlichen Fahrt nach Jacksontown durchmacht, zu den großen Stärken eines Romans, der einem wirklich Gänsehaut verursacht.
Leseprobe Joe Hill - "Blind"

David Baldacci – (John Puller: 2) „Am Limit“

Freitag, 30. Januar 2015

(Heyne, 558 S., HC)
Nachdem er bei seinem letzten Einsatz in einer kleinen Bergbaustadt in West Virginia fast ums Leben gekommen wäre, hat sich John Puller, Spezialagent der Criminal Investigation Division (CID), wo Verbrechen innerhalb der Army bearbeitet, etwas Urlaub gegönnt, doch die Pause währt nicht allzu lange. Durch seinen Bruder Robert, der für den Rest seines Lebens in den United States Disciplinary Barracks in Fort Leavenworth, dem Gefängnis für die gefährlichsten Kriminellen des Militärs, untergebracht ist, erfährt er, dass ihr Vater, der an Demenz erkrankte John Puller senior, in der Veteranenklinik einen besorgniserregenden Brief von dessen Schwester Betsy erhalten hat. Demzufolge gehen in Paradise, Florida, merkwürdige Dinge vor. Puller begreift, dass seine Tante mit diesem Brief um seine Hilfe bittet. Doch als Puller seine Tante in Paradise aufsuchen will, entdeckt er an ihrem Haus Hinweise auf ein Verbrechen. Wie er von der örtlichen Polizei erfährt, ist aber nicht nur seine Tante gestorben, sondern auch ein Ehepaar am Strand, das mit Pullers Tante bekannt gewesen ist.
Puller will nicht glauben, dass ein Unfall die Todesursache bei seiner Tante gewesen ist, und macht sich mit Hilfe der attraktiven Polizistin Landry und dem Ein-Stern-General Julie Carson auf die Suche nach Ursachen für die ungewöhnlichen Todesfälle in Paradise. Schließlich kommt Puller einem Ring von Menschenhändlern auf die Spur, die vor nichts zurückschrecken, um ihr profitables Geschäft zu schützen.
„Illegale Einwanderer erwarteten, frei zu sein und wenigstens einen geringen Lohn ausbezahlt zu bekommen. Sklaven erwarteten gar nichts. Sie hofften nur, nicht sterben zu müssen. Alles, was darüber hinausging, war ein Bonus für sie – nicht, dass es etwas gegeben hätte, das man als Bonus für diese Menschen hätte betrachten können.“ (S. 372) 
Mit „Zero Day“, dem ersten Band der neuen Serie um den CID-Ermittler John Puller, weckte Bestseller-Autor David Baldacci („Absolute Power“) die Hoffnung, seine Riege an interessanten Figuren und Geschichten auf lesenswerte Weise erweitert zu haben. Immerhin etablierte er mit dem taffen John Puller einen tatkräftigen Ermittler, der den Dingen auf den Grund zu gehen versteht. Vielversprechend schien auch das familiäre Umfeld, Pullers mit allen Ehren ausgezeichneter Armeeveteran auf der einen Seite, sein Bruder Bobby, der im Militärgefängnis versauern muss, auf der anderen.
Wer nun gehofft hat, im Folgeband „Am Limit“ etwas mehr über die Familienverhältnisse der Pullers zu erfahren, wird nahezu auf ganzer Linie enttäuscht. Einzig Pullers verstorbene Tante bringt eine zusätzliche persönliche Note in die Geschichte, ansonsten fokussiert Baldacci seine Erzählung ganz auf den Thriller-Plot. In dieser Hinsicht dominiert die Action: Nahkämpfe, Schusswechsel, kriegsähnliche Auseinandersetzungen am Strand und abscheuliche Verbrechen in Serie, denen Puller mit seinem kleinen, aber feinen Team zu Leibe rückt.
Von der Komplexität der „Jason Bourne“-Reihe beispielsweise sind die Puller-Romane – so viel lässt sich nach zwei Titeln schon feststellen – weit entfernt. Baldaccis Stil und Inszenierung sind ebenso schnörkellos wie überraschungsarm, und bei über 550 Seiten schleichen sich auch schon mal einige Längen in die schlicht gestrickte Handlung ein. Nach dem vielversprechenden Auftakt mit „Zero Day“ wirkt „Am Limit“ wie ein liebloser Schnellschuss, dem es an Originalität und persönlichen Zügen fehlt.
Es bleibt zu hoffen, dass Baldacci in den nächsten Werken an diesen Punkten nachbessert.
Leseprobe David Baldacci - "Am Limit"

John Niven – „Kill Your Friends“

Sonntag, 18. Januar 2015

(Heyne, 380 S., Tb.)
Steven Stelfox steht als A&R-Manager einer großen Plattenfirma stark unter Druck. Im England der ausgehenden 90er Jahre ist es noch immer leicht, bei geringen CD-Produktionskosten eine Menge Geld selbst mit völlig untalentierten Acts zu verdienen. Allerdings hat sich Stelfox im Laufe der Jahre so alle Laster der Welt zugelegt und dabei weit mehr Geld ausgegeben, als selbst sein fürstliches Gehalt abdecken könnte. Zynisch macht er sich über seine Kollegen, seine Angestellten und vor allem über die Musiker lustig, während er sich Unmengen an Koks reinzieht, Massen an Alkohol vernichtet und jede Frau besteigt, die es darauf ankommen lässt. Doch als der „Head of A&R“-Posten frei wird und sein verhasster Kollege Waters die Stelle bekommt, dreht Stelfox durch und erschlägt seinen Kontrahenten in dessen Wohnung.
Auch der ehrgeizige Parker-Hall, der bei der EMI den angesagten Newcomer Ellie Crush unter Vertrag genommen hat, ist Stelfox ein Dorn im Auge. Stelfax muss nicht nur den Detective und Freizeit-Musiker Woodham bei Laune halten, der Stelfox immer wieder zu den Umständen von Waters‘ Ableben befragt und hofft, mit seiner Musik mal einen Verlagsdeal zu bekommen, sondern auch seinen eigenen Act Songbirds zum Laufen bringen.
„Der Dex & Del Mar-Remix liegt uns inzwischen vor und es wird Zeit, ihn ‚an die Clubs rauszugeben‘. Aber taugt er überhaupt was? Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Ich sollte es wohl wissen, nehme ich an. Man bezahlt mich immerhin dafür, diese Dinge zu wissen. Aber ich bin müde. Es ist dermaßen ermüdend, immerzu alles wissen zu müssen. Ständig wird von einem erwartet, dass man auf sein ‚Bauchgefühl‘ hört. ‚Hör einfach auf dein ‚Bauchgefühl‘‘, sagen sie zu dir. Aber ich weiß es nicht. Alles, was ich von meinem Bauch höre, ist ein unbestimmtes Rumpeln, das mir sagt, ich sollte mehr Geld verdienen, mehr und hübschere Tussen vögeln, in besseren Restaurants essen und mehr Respekt von Dumpfbacken wie Dunn entgegengebracht bekommen.“ (S. 304f.) 
Bevor sich die Musikindustrie mit den Herausforderungen durch das Internet konfrontiert sah, schien sie eine Lizenz zum Gelddrucken zu besitzen. A&Rs feierten sich auf Musikmessen in der ganzen Welt, konsumierten Drogen und Frauen bis zum Exzess und katapultierten billig produzierte Acts in die Charts, um richtig abzusahnen. Dass die Musikszene so getickt hat, wie sie John Niven in seinem zweiten Roman so zynisch beschreibt, mag sicherlich zu dramaturgischen Zwecken etwas übertrieben sein, doch ebenso darf der Leser davon ausgehen, dass mehr als ein Körnchen Wahrheit in dem steckt, was Niven hier vorlegt.
Schließlich hat er selbst in den 1980er Jahren Gitarre bei der Indieband The Wishing Stones gespielt und war in den 90ern als A&R-Manager bei einer Plattenfirma tätig, bevor er sich 2002 dem Schreiben zuwandte.
„Kill Your Friends“ räumt gründlich mit den Annahmen von Talent, harter Arbeit und verdientem Erfolg ab. In der Musikindustrie geht es wie in der Lotterie zu, teilt uns Insider John Niven unverblümt mit. Mit welchen Regeln diese Lotterie allerdings gespielt wird, führt uns der schottische Autor ebenso plastisch wie desillusionierend vor Augen. Der aggressiv zynische Ton, mit dem Nivens Protagonist seinen Alltag beschreibt, ist zwar nichts für zarte Gemüter, aber wie sich dieser Antiheld durchs Leben vögelt, rauscht und schlägt, ist schon eine Wucht und wirkt wie ein Faustschlag ins Gesicht all derer, die noch daran glauben, dass Talent der Schlüssel zum Erfolg im Musikbusiness ist.
Leseprobe John Niven - "Kill Your Friends"

David Guterson – „Schnee, der auf Zedern fällt“

Samstag, 10. Januar 2015

(Hoffmann und Campe, 512 S., HC)
Im Dezember 1954 wird dem Lachsfischer Kabuo Miyamoto im County-Gericht auf der kleinen Insel San Piedro der Prozess gemacht. Der Amerikaner japanischer Herkunft ist angeklagt, Carl Heine, seinen Kollegen und früheren Freund aus Kindertagen, bei dichtem Nebel in den pazifischen Gewässern im US-amerikanischen Nordosten kaltblütig ermordet zu haben. Staatsanwalt Alvin Hooks ist mit dem Motiv schnell zur Hand: Bevor die Japaner Pearl Harbor bombardierten, hatten die Väter von Kabuo und Carl einen Vertrag geschlossen, der den Miyamotos ermöglichte, sieben Morgen Land für die Erdbeerzucht zu erwerben. Doch bevor die letzten beiden Raten gezahlt werden konnten, wurden alle Japaner 1942 aus San Piedro deportiert.
In der Zwischenzeit ist Carl Heine Senior verstorben, seine Frau Etta konnte das Land nicht mehr bewirtschaften und verkaufte es an Ole Jurgensen. Als Kabuo Miyamoto aus dem Krieg zurückkehrte, in dem er für die Amerikaner gegen die Deutschen kämpfte, hat er zunächst vergeblich versucht, das Land seiner Familie zurückzubekommen, und schließlich mit seinem alten Freund Carl neu verhandelt. Über den Prozess im vom unerbittlichen Schneesturm umklammerten Gerichtssaal berichtet auch Ishmael Chambers, der mit Kabuos Frau Hatsue einst seine erste Liebe erfahren durfte, deren tragisches Ende er noch immer nicht verwunden hat. Nach den Zeugenaussagen wird es immer wahrscheinlicher, dass die Geschworenen den stolzen wie unergründlichen Miyamoto für schuldig befinden. Da gelangt Ishmael an eine Information, die dem Prozess die entscheidende Wende bringen könnte.
„Er stand da und betrachtete die Zerstörung im Hafen und wusste, dass er etwas Unverletzliches in sich trug, von dem andere Männer nichts ahnten, und zugleich hatte er nichts. Zwölf Jahre lang hatte er gewartet, das wusste er. Er hatte gewartet, ohne es zu merken, und das Warten hatte sich in etwas Tieferes verwandelt. Er hatte zwölf lange Jahre gewartet. Die Wahrheit lag nun in Ishmaels Tasche, und er wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte, und die Leichtfertigkeit, mit der er auf alles reagierte, war ihm so fremd wie die Schaumkronen der Brecher, die über die verschneiten Boote und die Anlegedalben am überschwemmten Hafen von Amity Harbour hinwegrollten. Nirgendwo war eine Antwort zu finden, weder in den auf der Seite liegenden Booten, noch in der vom Schnee niedergeworfenen Weißtanne, noch in den abgebrochenen Ästen der Zedern. Er empfand nichts als die kühle Leichtfertigkeit, die ihn überfallen hatte.“ (S. 471f.) 
Gleich mit seinem 1994 veröffentlichten Romandebüt „Schnee, der auf Zedern fällt“ ist dem amerikanischen Schriftsteller David Guterson („Der Andere“, „Ed King“) der internationale Durchbruch gelungen. Meisterhaft verbindet der Autor in diesem epischen Werk die unglückliche Jugendliebe zwischen Hatsue und Ishmael, einen außergewöhnlichen Gerichtsprozess, in dem vor allem der verborgene Rassismus zwischen Amerikanern und Japanern zum Tragen kommt, und eine Milieustudie über das Leben von Lachsfischern auf einer kleinen Insel.
Indem Guterson seine Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und Zeitebenen erzählt, wird vor allem die unglücklich verlaufene Liebesgeschichte zwischen Hatsue und Ishmael mit all ihren zugrundeliegenden kulturellen Differenzen schön ausgearbeitet, aber auch die wechselhafte Entwicklung der Beziehung zwischen den Heines und Miyamotos sowie Ishmaels Schwierigkeiten, sich aus dem übermächtigen Schatten seines geschätzten Vaters zu lösen, bilden Schwerpunkte in der dramaturgisch geschickt erzählten und wunderbar atmosphärisch dichten Geschichte, die 1999 von Scott Hicks („Shine – Der Weg ans Licht“, „Hearts In Atlantis“) kongenial mit Ethan Hawke, Sam Shepard und Max von Sydow kongenial verfilmt worden ist.
Leseprobe: David Guterson – „Schnee, der auf Zedern fällt“

Philippe Djian – „Ich arbeitete für einen Mörder“

Samstag, 3. Januar 2015

(Diogenes, 247 S., HC)
Nach einem Unfall in der Chemiefabrik in der französischen Kleinstadt Hénochville sind Geschäftsführer Marc und sein langjähriger Freund Patrick um Schadensbegrenzung bemüht. Während Marc den Inspektor, der den Vorfall untersucht, mit einer Tasche voller Geld und dem Freudenmädchen Laurence besticht, klappert Patrick die Bauernhöfe, die ihn oft genug bereits mit einem Korb mit toten Fischen empfangen, entlang des Flusses ab und versucht ihre Gemüter mit Steakplatten und anderen Lebensmittelzuwendungen zu beruhigen.
„Ich arbeitete für einen Mörder“, denkt sich Patrick, doch versteht er es nicht, einen Ausweg aus seinem ganz persönlichen Dilemma zu finden. Während er sich von Marc für alles einspannen lässt, was der Firma und Marc selbst die Rettung bescheren könnte, liegt auch Patricks eigenes Leben in Trümmern. Seit seine Frau ihn verlassen hat, unterhält er mit seiner Nachbarin Jackie eine sporadische sexuelle Beziehung, von der ihr Mann Thomas natürlich nichts ahnt.
Als versehentlich die Wohnung inseriert wird, die nach dem Tod seiner Mieterin frei geworden ist, bringt die aus Irland stammende Eileen weitere Verwirrung in Patricks Leben. Zunächst kommunizieren die beiden nur über kleine Briefchen. Schließlich lädt er die junge Frau zu einem Picknick ein, zu dem sich Thomas und Jackie mit Marc und Patrick verabredet haben. Allerdings verläuft das Treffen anders als erwartet: Marc bringt zu dem Picknick nämlich noch einen Überraschungsgast mit: im Kofferraum seines Wagens liegt der mit Schlafmitteln betäubte Inspektor, nachdem ihn Laurence aus Notwehr niedergeschlagen hatte.
Als schließlich sintflutartiger Regen die Hütte wegzuschwemmen droht, liegen die Nerven bei einigen Kurzurlaubern ziemlich blank …
„Der Fluss hatte eine hypnotisch beruhigende Wirkung. Es war nicht nötig, große Pläne zu machen und auf totale Befreiung zu hoffen. Man musste jedesmal all seine Kräfte zusammennehmen, um einen Schritt voranzukommen. Da war kein Opfer, das nicht zu erbringen war. Man gab nie alles, was man hatte. Wenn ein Problem bewältigt war, tauchte ein neues auf.“ (S. 230) 
Philippe Djian hat bereits in seinen früheren Werken (u.a. in „Blau wie die Hölle“, „Rückgrat“ und „Verraten und verkauft“) eine Meisterschaft darin entwickelt, die persönlichen Nöte seiner Protagonisten auf ebenso psychologisierende wie humorvolle Weise in Geschichten zu gießen, die letztlich kaum dazu angedacht waren, die Probleme zielorientiert zu lösen.
In „Ich arbeitete für einen Mörder“ reicht eine fast kammerspielartige Bühne, denn bis auf wenige Ausnahmen spielt sich die Geschichte nur in Patricks Haus und um die Hütte herum ab, in der die Freunde ein Wochenende verbringen. Hier spitzt sich nicht nur die Beziehung zwischen Patrick und Marc zu, der mit dem gekidnappten Inspektor seinem kriminellen Spektrum eine weitere brisante Komponente hinzufügt, sondern auch zwischen Patrick und Jackie, die eifersüchtig beobachten muss, wie Patrick und Eileen einander näherkommen. Das Unwetter mag stellvertretend für die Turbulenzen stehen, die Patrick mit seinen Problemen verursacht, die er aber auch nicht in den Griff bekommt.
Djian erweist sich einmal mehr als Autor, der seinen Figuren ein interessantes Leben einzuhauchen versteht, der mit scharfzüngigen Dialogen und geschliffener Sprache einen faszinierenden Sog erzeugt, der den Leser bis zur letzten Seite fesselt.

Jim Thompson – „Blind vor Wut“

Mittwoch, 31. Dezember 2014

(Heyne, 369 S., Tb.)
Nach seinem Verweis von der Militärschule ist der achtzehnjährige Allen Smith mit seiner Mutter gerade in eine schicke Wohngegend am East River gezogen. Wenn er mit ihr zu Fuß zur Schule am Fluss entlanggeht, kann er hinter Hell Gate die Skyline Manhattans sehen. Doch statt sich der Annehmlichkeiten seines Lebens zu erfreuen, macht ihm der Umstand, dass er der Mischlingssohn eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter ist, rasend vor Wut.
Mit ihrer koketten Art wickelt seine als Edelprostituierte arbeitende Mutter zunächst den Direktor von Allens Schule um den Finger, doch auch von ihrem Sohn holt sie sich immer wieder die Art von Zuneigung, die sie braucht, während sie Allen diese Lust versagt. Allen reagiert seinen Frust an seinen Mitmenschen ab, an den einfältigen Geschwistern Steve und Liz Hadley ebenso wie an Schuldirektor Velie und dem schwarzen Mitschüler Doozy, der eine Art Black-Power-Club gründen will. Einzig die Polizistentochter Josie Blair, die im Vorzimmer des Schuldirektors aushilft, scheint es gut mit Allen zu meinen. Doch das hält den Jungen nicht davon ab, alle um sich herum in den Abgrund zu schicken, in dem er sich seiner eigenen Meinung nach schon längst befindet …
„Ich hatte mir endlose Entschuldigungen für Mutter zurechtgelegt, hatte ihr zigtausend Mal verziehen; hatte mir die Schuld gegeben, mir selbst nie verziehen. Und gleichzeitig hatte ich sie gehasst, ihr nichts verziehen und mir dagegen alles. Ich hatte versucht, wann und wo auch immer alles recht zu machen. Doch in meinem Verstand sind Recht und Unrecht so miteinander verwoben, dass man sie nicht auseinanderhalten kann, also hatte ich mir meine eigenen Vorstellungen davon zurechtlegen müssen.“ (S. 265) 
Bevor der 1906 geborene Jim Thompson von der Schriftstellerei leben konnte, hat er sich mehr schlecht als recht als Glücksspieler, Alkoholschmuggler, Ölarbeiter und Sprengstoffexperte durchgeschlagen, war selbst dem Alkohol sehr zugetan und immer wieder von Depressionen geplagt. Später verfasste er Drehbücher für Regisseure wie Stanley Kubrick („Wege zum Ruhm“, „Die Rechnung ging nicht auf“) und lieferte die Romanvorlagen für die Filme „Getaway“ (1972 und 1994), „Der Mörder in mir“ (1976 und 2009), „After Dark, My Sweet“ (1990) und „Grifters“ (1990). Doch berühmt wurde er vor allem durch seine Noir-Romane, mit denen Thompson die dunkle Seite des amerikanischen Lebens beschrieb.
In dieser Hinsicht bildet sein 1972 veröffentlichtes Spätwerk „Blind vor Wut“ zwar keine Ausnahme, bemerkenswert ist allerdings die Hinterhältigkeit, mit der sein Protagonist Allen Smith agiert und seine Mitmenschen böswillig genau dorthin manövriert, wo er sie hinhaben will. Dabei berührt Thompson jedes Tabu, das ihm in den Sinn kam. Inzest, Rassismus, Schwulenfeindlichkeit und sexuelle Perversionen vermischt Thompson zu einem politisch ebenso fragwürdigen wie diskussionswürdigen Psycho-Thriller, der die Ausnahmestellung des Autors eindrucksvoll unterstreicht, aber sicherlich nicht jedermanns Sache ist.
Als Bonus ist dem Roman noch die gut 90-seitige Novelle „Ein Pferd in der Badewanne“ beigefügt, die sich wie eine Fingerübung zu „Blind vor Wut“ liest.
Leseprobe Jim Thompson - "Blind vor Wut"

Peter Straub – „Schattenland“

Sonntag, 28. Dezember 2014

(Heyne, 559 S., Tb.)
Zu der Zeit, als John Kennedy noch Senator von Massachusetts war, schmale Krawatten erstmals in Mode kamen und McDonalds erst zwei Millionen Frikadellen verkauft hatte, besuchten Tom Flanagan und Del Nightingale die Carson-Schule, eine eher zweitklassige Höhere Schule für Jungen. Nach dem Tod seiner Eltern lebte Del bei seinen Taufpaten und wünschte sich nichts mehr, als dass Tom Flanagan sein Freund werden möge.
Er lädt Tom ein, mit ihm zusammen die Weihnachtsferien bei seinem Onkel zu verbringen, und da Tom gerade den Tod seines eigenen Vaters zu verarbeiten hat und zudem das dringliche Gefühl hatte, seinen Freund beschützen zu müssen, nimmt er die Einladung an. Wie sich bald herausstellt, befinden sich die beiden Jungs tatsächlich bald in höchster Gefahr, denn Coleman Collins – so der selbsterwählte Name des ehemaligen Arztes Nightingale – nutzt seine magischen Fähigkeiten dazu, die beiden Jungs in die Geheimnisse des märchenhaften Reiches namens Schattenland einzuweihen.
Del, der bereits ein geübter Kartentrickzauberer ist, ist sich sicher, dass Collins ihn zu seinem Nachfolger ausbilden wird, doch tatsächlich sieht Collins in dem Flanagan-Jungen sein wahres Erbe. Geschickt spielt er nicht nur die beiden Jungen gegeneinander aus, sondern schickt mit Rose auch noch ein geheimnisvolles Mädchen ins Spiel, um dessen Gunst sich die Jungen streiten. Am Ende wissen die Jungen nicht mehr, wem sie überhaupt noch trauen können …
„ … er dachte, dass Schattenland, ein hässlicher Name für ein Haus, heimlichtuerisch und böse sei, und dass es Schatten verdiene, weil die Leute hier das Licht hassten. Schattenland implizierte die Enteignung. Und Coleman Collins schien ein Mann, der sich in seinen eigenen Kräften verirrt hatte, ein Schatten in einer Schattenwelt, substanzlos. Ein alter König, der wusste, was er unter den Händen seines Nachfolgers würde erleiden müssen.“ (S. 382) 
Ein Jahr nach seiner überragenden Gothic Novel „Geisterstunde“ (1979) und vier Jahre vor seinem internationalen Durchbruch mit dem epischen Fantasy-Horror-Werk „Der Talisman“ (1984), das er mit Stephen King geschrieben hat, bewies der amerikanische Autor Peter Straub mit „Schattenland“, dass er zu den versiertesten Vertretern seiner Zunft zählt.
„Schattenland“ erzählt nicht nur von der außergewöhnlichen Freundschaft der beiden Jungen Flanagan und Nightingale, der ersten Liebe und den mannigfaltigen Verführungen durch die Magie, sondern rekapituliert auch die Geschichte eines Magiers, der seine Fähigkeiten während seiner ärztlichen Tätigkeiten im Ersten Weltkrieg entdeckte und als Fahnenflüchtiger im Verborgenen weiterentwickelte, der die Bekanntschaft mit Aleister Crowley machte und sich mit den magischen Werken der Renaissance ebenso auskannte wie mit Gurdjieff und Ouspensky. 
Straub lässt in seine komplexe Geschichte, die immer wieder zwischen den Zeiten und verschiedenen Orten wechselt, märchenhafte Schilderungen einfließen und sogar die Gebrüder Grimm zu Wort kommen.
Am Ende schlägt Straub vielleicht den einen oder anderen Haken zu viel und driftet auch sprachlich in komplexe Formulierungen ab, aber Straub versteht es geschickt, den Leser in seine magischen Welten zu entführen und die Faszination für Schattenland und das Schicksal der jugendlichen Protagonisten stets aufrechtzuerhalten.