Robert Bloch – „Die Couch“

Mittwoch, 23. November 2022

(Kurt Desch, 142 S., Tb.) 
Durch seine Romanvorlage für Alfred Hitchcocks Spannungs- und Horror-Klassiker „Psycho“ (1960) wurde Robert Bloch weltberühmt und immer wieder von Fernseh- und Filmstudios damit beauftragt, ähnliche Stoffe für ihre Produktionen abzuliefern. Bevor er die Drehbücher zu erfolgreichen Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1962), „Er kam nur nachts“ (1964), „Die Zwangsjacke“ (1964), „Der Puppenmörder“ (1966) und „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ (1967) verfasste, lieferte er 1962 mit dem Drehbuch zu „The Couch“ eine – übrigens von Blake Edwards mitentwickelte - Story ab, die den Autor von „Psycho“ auf nahezu jeder Seite durchscheinen lässt. Die Romanversion des Films, der hierzulande unter dem Titel „Immer Punkt 7“ zu sehen war, erschien 1967 in der Reihe „Die Mitternachtsbücher“ im Verlag Kurt Desch. 
Lieutenant Kritzman von der Mordabteilung des Polizeidepartments Los Angeles hat es mit einem besonders gewieften Killer zu tun, der seine Morde pünktlich um sieben Uhr abends begeht und diese kurz zuvor telefonisch ankündigt. Seine Opfer wählt der 7-Uhr-Killer scheinbar wahllos aus. Mitten in einer Menschenmenge sticht er zu, und ehe sein Opfer tödlich getroffen zu Boden sinkt, ist er auch schon untergetaucht. Kritzman und seine Kollegen stehen vor einem Rätsel, denn ein Zusammenhang zwischen den Opfern ist nicht erkennbar, noch weniger ein Motiv. 
Währenddessen sucht Charles Campbell seinen Psychiater Doktor W. L. Janz auf. Der ist bereits von Campbells Chef darüber informiert worden, dass er wegen der sexuellen Belästigung einer Mitarbeiterin gerade gefeuert worden sei. Campbell spielt die Angelegenheit herunter, freundet sich mit Lanz‘ Nichte Terry an, die neben ihrem Studium in der Praxis ihres Onkels aushilft. Bei ihrem gemeinsamen ersten Ausflug erzählt Campbell der jungen Frau, dass das Gericht ihn damals dafür verantwortlich gemacht hatte, dass seine Schwester tödlich bei einem Verkehrsunfall verunglückt sei. Doch statt von dieser Enthüllung entrüstet zu sein, verliebt sich Terry in den Mann, der unter einer seltsamen Angst vor Couches leidet… 
„Er war Gott. Das war das Geheimnis. Diese anderen, alle anderen waren nichts als einfache Leute. Kleine, alberne Menschen, die hierhin und dorthin hasteten, sich zwischen Arbeit und Ruhe hin- und herbewegten, zwischen Schmerz und Vergnügen, in einem endlosen Zyklus vor und zurück pendelten. Nur Gott konnte das aufhalten. Er konnte sie aufhalten. Deshalb war er Gott.“ (S. 52) 
Robert Bloch hat mit „Die Couch“ einen kleinen, aber unterhaltsamen Psycho-Thriller geschrieben, der vor allem aus der Perspektive des Killers erzählt wird. Er ist auch die einzige Figur, die in dem Kurzroman an Kontur gewinnt und überhaupt das Interesse sowohl des Autors als auch des Lesers weckt. Bloch entfaltet dabei sukzessive das Psychogramm eines Mannes, der unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und eine viel zu enge Beziehung zu seiner Schwester entwickelte, die die Rolle der verstorbenen Mutter einnehmen musste. 
Gerade bei den Inneneinsichten des Killers fühlt man sich an die Schlussszene von „Psycho“ erinnert, als Norman Bates in einem inneren Monolog den Zuschauern offenbarte, was für eine gespaltene Persönlichkeit er ist. Im Vergleich zu seinem Welterfolg „Psycho“ wirkt „Die Couch“ wie der unbeholfene kleine Junge, der in die viel zu großen Fußstapfen seines großen Bruders zu treten versucht, aber nicht mehr als eine schwache Kopie hinbekommt. Dafür bietet die Geschichte zu wenig Raum, um die Figuren für die Leser wirklich greifbar zu machen, und ehe man sich mit ihnen vertraut gemacht hat, ist die am Ende doch etwas unglaubwürdige Story auch schon zu Ende. 
Immerhin hat Bloch gelegentlich seine schwarzhumorigen Pointen immer wieder in die Kapitel gestreut, so dass der eigentliche Unterhaltungswert eher aus diesen Elementen als der Kriminalgeschichte genährt wird. 

 

Seamus Smyth – „Spielarten der Rache“

Dienstag, 22. November 2022

(Pulp Master, 266 S., Tb.) 
Dass sich die katholische Kirche unvorstellbarer Missbrauchsskandale zu verantworten hat, ist zwar mittlerweile weithin bekannt, aber mitnichten wirklich aufgearbeitet. So wurde in der 1995 ausgestrahlten Dokumentation „States of Fear“ das Ausmaß aufgedeckt, mit welchem die katholische Kirche und 200 von ihr geleitete Einrichtungen in Irland über Jahrzehnte lang Tausende Kinder ausgebeutet, misshandelt und sexuell missbraucht hat. 
Als der irische Schriftsteller Seamus Smyth die Dokumentation sah, hat er sein Entsetzen über die grausamen Verbrechen, für die sich der irische Premierminister erst 1999 öffentlich bei den Opfern entschuldigte, auf eine Weise verarbeitet, die lange nachhallt, in einem Roman, der schonungslos aufzeigt, was diese Gräueltaten bei den Opfern angerichtet haben. 
Als Robert „Red“ Dock aus dem von katholischen Ordensbrüdern geleiteten Kinderheim entlassen wird, hat er längst einen Plan entwickelt, wie er sich dafür rächt, dass sein Zwillingsbruder Sean nach einem seiner Arbeitseinsätze von einem geistlichen Bruder misshandelt und schließlich totgetreten wurde. Seine Rache gilt allerdings nicht der menschenverachtenden Bruderschaft oder der katholischen Kirche, die diese Art der Einrichtungen leitet, sondern den Menschen, von denen sich Red Dock verraten glaubt. Das sind vor allem seine drei älteren – ehelichen – Geschwister Conor, Edna und Amy sowie der Mann, der das das Zwillingspaar ins Waisenhaus brachte, nachdem, Teresa Donovan, die Mutter der beiden Jungen, am Steg der Fähre nach Liverpool tot zusammengebrochen war. 
Als erstes lässt Red Dock die Tochter von Detective Sergeant Chilly Winters entführen und das Baby vor den Türen eines Waisenhauses ablegen. Winters war der Mann, der Red und Sean einst dem gut funktionierenden Missbrauchssystem zugeführt hatte. Während das entführte Winters-Mädchen als Lucille Kells aufwächst, zwingt den Arzt der Donavans dazu, eine Geburtsurkunde auf den Namen Frances Anne Donavan auszustellen, womit sich Frances sich später bei ihrer „richtigen“ Familie vorstellen und der Spaß richtig beginnen kann. Bis dahin ist es jedoch ein langer Weg. Vierzehn Jahre später macht Dock die junge Frau in Dublin ausfindig, bietet ihr einen Job in seiner Bar an, macht sie sich sexuell gefügig und sorgt dafür, dass sie auf die von ihm gefälschte Geburtsurkunde stößt. Doch gerade als Red Docks Plan Formen anzunehmen beginnt, kreuzen sich seine Wege mit dem berüchtigten Serien-Killer Picasso, als dieser Lucille in seine Gewalt bringt. Wie sich jedoch bald herausstellt, steckt hinter dem Killer, der Kunstwerke aus Körperteilen junger Mädchen kreiert, Docks ehemaliger Leidensgenosse Cornelius Hockler. Der gewiefte Rächer weiß sich auch diesen Umstand für seinen Plan nutzbar zu machen… 
„Nun, Sie fragen sich bestimmt, weshalb ich nicht hineinging, um Lucille zu befreien, oder Swagsy & Co. anrief, damit die es taten. So verhalten sich die Guten. Ich gehöre zu den Bösen. Sie müssen mich dafür hassen. Ich bin der Kerl, den man verabscheuen muss. Leute wie ich begegnen Ihnen in den Geschichten über wahre Kriminalfälle, nicht in Romanen, die von liebenswerten Helden handeln. Vergessen Sie das nicht. Vielleicht bekommen Sie dann eine Vorstellung davon, was mich antreibt.“ (S. 158)
Es gibt ja ganze Filmreihen wie „Saw“, „Hostel“ und „Final Destination“, deren Unterhaltungswert sich allein darauf beschränkt, dem Publikum auf möglichst ungefilterte Weise die ungewöhnlichsten, brutalsten und sadistischsten Folter- und Tötungsmöglichkeiten vor Augen zu führen. Diese Torture-Porn- und Splatter-Streifen überlassen den Zuschauern nicht den Hauch der Fantasie. Davon ist Seamus Smyth meilenweit entfernt, obwohl die ausgeklügelten Todesfallen, die Red Dock ersinnt, genau in diese Spielarten des Horror-Kinos passen würden. 
Doch Smyth geht es eben nicht um die bloße Aneinanderreihung unfassbarer Foltermethoden und Tötungsdelikte, die nur notdürftig mit fragwürdigen moralischen Grundsätzen untermauert werden – wenn überhaupt. Im Gegensatz zu Filmschaffenden wie Eli Roth, Ti West, James Wan und Darren Lynn Bousman verzichtet der Ire auf explizite Sex- und Folterdarstellungen. Ihm geht es vor allem darum, aufzuzeigen, was das jahrzehntelang von Staat und Kirche etablierte Missbrauchssystem mit seinen Opfern angerichtet hat. 
Natürlich überschreitet Smyth in „Spielarten der Rache“ dabei unvorstellbare Grenzen, kümmert sich aber nicht um Genre-Konventionen. Bei der emotionsgeladenen Thematik würde man eher erwarten, dass sich die Rache von Typen wie Hockler und Red Dock gegen die Einrichtungen wenden würde, die die Misshandlungen der Kinder zu verantworten hatten. Stattdessen entwickelt sich Hockler zu einem künstlerisch ambitionierten Schänder junger Frauen, während sich Red Dock an einer ganzen Reihe von Menschen rächt, die seiner Meinung mehr oder weniger direkt dafür verantwortlich gewesen sind, dass sein Zwillingsbruder und er selbst überhaupt in so einer Einrichtung gelandet sind. 
So raffiniert Smyth diese Rachepläne inszeniert und er den Leser durch direkte Ansprachen ins Geschehen hineinzuziehen versucht, stellt sich von Beginn an eine starke Verstörtheit beim Leser ein. Das liegt nicht allein an dem schwer erträglichen Stoff, den uns der Autor hier auftischt, sondern auch an der nicht kohärenten Erzähldramaturgie. Dass Smyth seine Protagonisten Red Dock, Picasso und Lucille jeweils als Ich-Erzähler implementiert, eignet sich zwar dazu, eine direktere Verbindung zwischen den Figuren und der Leserschaft aufzubauen, doch wirken diese Episoden nicht zusammenhängend. Der Kontext wird oftmals erst spät nachgereicht oder erschließt sich gar nicht. Das grundlegende Thema bleibt dabei nur unterschwellig präsent. 
Smyth ist auf jeden Fall ein wortgewandter Schriftsteller mit einer starken Vision, die sich in „Spielarten der Rache“ aber nur ungenügend niederschlägt. So sehr man mit den Opfern des erschreckend effektiv organisierten Missbrauchs mitleidet, schießt Smyth mit seiner arg konstruierten Rache-Geschichte doch über das Ziel hinaus. Dass er in seiner Heimat keinen Verlag für dieses extrem polarisierende Werk gefunden hat, kann kaum überraschen. 

 

Amor Towles – „Lincoln Highway“

Samstag, 19. November 2022

(Hanser, 576 S., HC) 
Der 1964 in Boston, Massachusetts, geborene Amor Towles veröffentlichte erst 2011 mit „Eine Frage der Höflichkeit“ sein Romandebüt, bevor er mit seinem Zweitwerk „Ein Gentleman in Moskau“ (2016) nicht nur zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times stand, sondern auch Finalist des Kirkus Prize in Fiction & Literature war und 2018 für den International Dublin Literary Award nominiert wurde. Nun legt er mit „Lincoln Highway“ eine Road Novel vor, in dem vier ganz unterschiedliche Jungen und junge Männern im Juni 1954 einen abenteuerlichen Trip auf der ersten Autobahn Amerikas unternehmen. 
Als der 18-jährige Emmett Watson aus der Besserungsanstalt in Salina entlassen wird, kehrt er nach in seine Heimatstadt Morgen in Nebraska zurück, wo nicht nur sein kleiner Bruder Billy auf ihn wartet, sondern auch der Bankier seines zwischenzeitlich verstorbenen Vaters. Mr. Obermeyer eröffnet Emmett, dass sein ohnehin verschuldeter Vater mit den Hypothekenzahlungen im Rückstand war und dass deshalb nun das Haus an die Bank übergehen würde. Da auch die Familie von Emmetts Opfer, Jimmy Snyder, der sich nach einem Gerangel mit Emmett auf tödliche Weise den Kopf aufgeschlagen hatte, viele Freunde und Verwandte in der Gegend haben, bleibt Emmett nichts anderes übrig, als mit Billy im dem 48er blauen Studebaker, den sich Emmett selbst verdient hat, auf den Weg zu machen. Billy hat bereits eine genaue Vorstellung davon, wohin die Reise gehen soll, fand er doch eine Dose mit acht Postkarten, die ihre Mutter schrieb, nachdem sie ihren Mann und die beiden Kinder vor acht Jahren verlassen hatte. Billy hat recherchiert, dass ihre Mom auf dem 1912 gebauten Lincoln Highway unterwegs war, von Ogallala und Cheyenne über Rock Springs, Salt Lake City und Sacramento bis nach San Francisco. 
Doch bevor sich Emmett und Billy mit einem Rucksack und dreitausend angesparten Dollar auf den Weg nach Kalifornien machen, stehen Emmetts Mithäftlinge Duchess und Woolly vor der Tür. Sie hatten sich im Kofferraum des Direktors versteckt, als dieser Emmett nach Morgen bringen wollte. Sie überreden die beiden Brüder, zunächst in die Adirondacks zu fahren, wo ein Erbe über 150.000 Dollar auf sie wartet, die sie mit Emmett und Billy teilen wollen. Da dies das Startkapital für ein neues Zuhause in Kalifornien sein könnte, lässt sich Emmett auf den Deal ein. 
Doch die Reise läuft anders als erwartet und entspricht in etwas den Abenteuern, von denen Billy in seinem Buch „Professor Abacus Abernathes Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden“ mit nicht nachlassender Begeisterung gelesen hat. 
„Sieht man sich den Highway auf der Landkarte an, könnte man denken, dass dieser Mr. Fisher, von dem Billy geredet hatte, sein Lineal genommen und eine Linie quer durch den Kontinent gezogen hatte, ohne Rücksicht auf Berge und Flüsse. Er musste sich vorgestellt haben, dass das Highway eine angemessene Fahrrinne für die Beförderung von Waren und Ideen von einem Meeresufer zum anderen darstellen und darin das Schicksal seine endgültige Erfüllung finden würde. Doch wer immer hier unterwegs war, schien zufrieden mit dem Gefühl der eigenen Zwecklosigkeit.“ 
Amor Towles ist mit seinem dritten Roman „Lincoln Highway“ ein zutiefst berührender Abenteuer-Roman über vier vaterlose Jungen gelungen, die Mitte der 1950er Jahre eine Fahrt ins Ungewisse unternehmen. Für Emmett und vor allem für seinen kleinen Bruder Billy heißt das Ziel, zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli in San Francisco zu sein, weil sie wissen, dass ihre Mutter früher das Feuerwerk so geliebt hat. Es scheint die einzige Chance zu sein, ihre Mutter, von der sie seit acht Jahren nichts gehört haben, wiederzusehen. 
Towles wechselt immer wieder die Erzählperspektive, um die vier Jungen zu charakterisieren und ihre jeweiligen Pläne und Gedanken darzustellen. Dabei wird schnell deutlich, dass sich die unterschiedlichen Pläne nicht unbedingt konfliktfrei unter einen Hut bringen lassen. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, dass man als Leser*in Verständnis für alle vier Jungen aufbringt und mit ihren nicht immer ungefährlichen Begegnungen mit falschen Pastoren, arbeitslosen Schauspielern, einem riesigen Schwarzen namens Ulysses, der ebenfalls auf der Suche nach seiner Familie ist, Clowns und Frauen wie Sarah und Sally, denen die Jungen besonders am Herzen liegen, bis zum Schluss mitfiebert. Dabei ist „Lincoln Highway“ voller Poesie und versteckter Weisheiten, witzig und melancholisch, aber vor allem von einer wohltuenden Gelassenheit und empathischem Tiefgang. Die Geschichte ist so fesselnd geschrieben, dass man sich am Ende wünscht, dass Towles bald eine Fortsetzung nachlegt. 

Håkan Nesser – „Der Halbmörder“

Dienstag, 15. November 2022

(btb, 286 S., HC) 
Mit seinen Romanreihen um die Kommissare Van Veeteren und Barbarotti hat sich Håkan Nesser auch außerhalb seiner schwedischen Heimat eine treue Fangemeinde aufbauen können. Auch wenn es vielleicht kein Alleinstellungsmerkmal darstellt, haben sich Nessers Romane nicht allein um die Aufklärung von Verbrechen gedreht, sondern sind stets tief in die Persönlichkeit der Figuren eingetaucht und waren doch wieder von einer einzigartigen Mischung aus philosophischen Betrachtungen und lakonischem Humor umwoben. 
Sein neues Werk trägt den bereits wegweisenden Untertitel „Die Chronik des Adalbert Hanzon in Gegenwart und Vergangenheit, von ihm selbst verfasst“ und lässt mehr als nur erahnen, dass Nesser einmal mehr die konventionellen Krimi-Strukturen auf eigenwillige Weise umschifft. 
Der dreiundsiebzigjährige Adalbert Hanzon verbringt seinen Lebensabend in einer nur kurz und anonym als M bezeichneten Stadt und hat verschiedene Methoden entwickelt, seinen Verstand gegen die Vergesslichkeit zu wappnen, indem er sich Sonntagabends eine Liste mit sieben Namen von Personen – samt Beschreibung auf der anderen Seite – erstellt, um sich dann jeden Morgen anhand der Beschreibungen an die Namen zu erinnern. 
Zu den Höhepunkten seines Alltags zählen die regelmäßigen Besuche bei Henry Ullberg, der schräg gegenüber wohnt und mit dem er Whisky mit Trocadero-Limonade trinkt, Zigaretten raucht und oft genug heftig streitet. Sein Leben gerät allerdings völlig aus den Fugen, als er in der Apotheke seinen Nachschub an Samarin gegen sein Sodbrennen auffüllen will und auf einem der Stühle eine Frau wiederzuerkennen glaubt, die vor über vierzig Jahren die einzige Liebe in seinem Leben gewesen war und dann spurlos verschwand. Natürlich traut sich Adalbert nicht, die Frau, die er als Andrea Altman kennt, anzusprechen, aber Gewissheit will er natürlich schon haben, also beauftragt er seine Cousine, im Schwimmbad nach einer Frau Ausschau zu halten mit einer Tätowierung „14/6“ über ihrer Brust. Sein Trinkkumpan schaltet sich ebenfalls eigenmächtig in Adalberts Ermittlungen ein, aber erst ein engagierter Privatdetektiv findet heraus, dass die Adresse mit der Frau heraus, die sich nun Beate Bausen nennt. 
Adalbert Hanzon hat da längst angefangen, eine Chronik über die unverhoffte Wiederbegegnung mit seiner alten, großen Liebe zu verfassen. Dabei schweift er immer wieder in die Vergangenheit ab, rekapituliert wichtige Stationen seiner Kindheit und Jugend bis zur Anstellung als stellvertretender Schul-Hausmeister und der ersten Begegnung mit Andrea, die er als Anhalter kennenlernte. Die Einzelteile seiner Geschichte werden erst nach und nach enthüllt, vor allem die Gründe für seinen Gefängnisaufenthalt… 
„Es reicht nicht, darauf zu warten, dass etwas geschieht. Hoffen mag ja groß sein, aber Handeln ist größer. Letzteres finde ich in dem Herbst in einem Buch. Die Handlung, die der Hoffnung den Taktstock abnimmt. Aber welche Handlung? Was muss ich tun? Bis jetzt, in all meinen achtundzwanzig Jahren, ist mein Leben von Zufällen gelenkt worden, ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Entscheidung von größerer Tragweite getroffen zu haben.“ (S. 175) 
So kurios bereits der Titel „Der Halbmörder“ anmutet, so unbestimmt entwickelt sich auch die Geschichte von Adalbert Hanzon, der als älterer Herr ohne besondere Ambitionen seinen Alltag in der Kleinstadt M bestreitet und die beste Voraussetzung für den „unzuverlässigen Erzähler“ mitbringt, nämlich neben dem fortgeschrittenen Alter auch einen Hang nicht nur zu Hexenschüssen, sondern auch zur Vergesslichkeit. 
Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Liebesgeschichte zwischen Adalbert und Andrea. Immer wieder springt der Ich-Erzähler zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bis sich – wenig überraschend – der Grund für seine Gefängnisstrafe enthüllt. „Der Halbmörder“ entpuppt sich als erstaunlich unspektakuläre Geschichte, die vor allem durch Nessers locker-flüssigen Schreibstil und die eingangs erwähnte Mischung aus philosophischen Erkenntnissen und manchmal sogar etwas schwarzem Humor geprägt wird. Davon abgesehen entwickelt sich Adalbert Hanzons Chronik als erschreckend vorhersehbar. Punkten kann „Der Halbmörder“ vor allem durch die stimmige Atmosphäre. Die eindringlichen Beschreibungen lassen die Empfindungen, Überlegungen, Hoffnungen und Ängste des Ich-Erzählers gut nachempfinden, doch für einen fesselnden Roman reicht das nicht aus.  

Quentin Tarantino – „Cinema Speculation“

Samstag, 12. November 2022

(Kiepenhauer & Witsch, 400 S., HC) 
In seiner beeindruckenden, von Fans wie Kritikern gleichermaßen gefeierten Werksbiografie hat sich der passionierte Filmemacher Quentin Tarantino („Reservoir Dogs“, „Pulp Fiction“, „Kill Bill“, „Django Unchained“) stets auch als Film-Fan präsentiert, der mit seinen Filmen immer wieder ganzen Genres huldigte. So wie „Kill Bill“ eine Hommage sowohl an die Rache-Filme der 1970er Jahre als auch an die Kung-Fu-Filme aus der Schmieder der Shaw Brothers darstellte und „Django Unchained“ und „The Hateful 8“ an die Italo-Western, suchte er sich auch die Titel zu seinen ikonischen Soundtracks meist aus seiner persönlichen Soundtrack-Sammlung zusammen, oft genug mit italienischen Komponisten wie Ennio Morricone, Luis Bacalov, Riz Ortolani, Pino Donaggio und anderen coolen Leuten wie Quincy Jones, Isaac Hayes, Lalo Schifrin und Johnny Cash
Mittlerweile hat Tarantino auch das Schreiben für sich entdeckt. Nachdem er ohnehin schon die Drehbücher zu den meisten seiner Filme verfasst hatte, legte er nicht nur mit „Es war einmal in Hollywood“ den Roman zu seinem letzten Film vor, sondern mit „Cinema Speculation“ auch eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit den Filmen, die in den 1970er Jahren seine Liebe zum Film weckten. 
Der 1963 geborene Quentin wuchs quasi schon als kleiner Junge in den Kinos am Hollywood Boulevard und Sunset Boulevard auf. Als Siebenjähriger nahmen ihn seine Mutter Connie und sein Stiefvater Curt in eine Doppelvorstellung von „Joe – Rache für Amerika“ und Carl Reiners „Wo is‘ Papa?“ mit, und fortan war es für den kleinen „Q“ das größte Wochenende, nicht nur in Filme mitgenommen zu werden, die in seinem Alter noch keiner sehen durfte, sondern vor allem den anschließenden Gesprächen über die Filme zu folgen, die seine Mom mit Curt führte. 
Tarantino beschreibt eindringlich, wie er nicht nur die erste Welle der „New Hollywood“-Bewegung mit Filmemachern wie Peter Bogdanovich, Steven Spielberg, Robert Altman, Francis Ford Coppola, Brian De Palma und Martin Scorsese mitbekam, sondern auch die Horror-Filme von Wes Craven und Tobe Hooper und die Action-Filme von Sam Peckinpah und Don Siegel. Nach der langen Einführung stellt Tarantino nicht nur einige der Filme vor, die ihn besonders beeindruckten – darunter Klassiker wie „Bullitt“, „Dirty Harry“, „The Getaway“, „Taxi Driver“ und „Flucht von Alcatraz“ -, sondern stellt sie gleich in einen größeren Zusammenhang. 
So erklärt er in seinem Essay über „Bullitt“ (1968), dass Steve McQueen von den drei populärsten Darstellern jener Zeit – außer ihm noch Warren Beatty und Paul Newman – in den 1970ern die besten Filme drehte, was vor allem seiner Frau Neile zu verdanken war, die die Drehbücher las und für ihren Mann aussiebte.  
Tarantinos Ein- und Ansichten zu den vorgestellten Filmen sind deshalb so unterhaltsam, weil der Filmemacher nicht nur über ein fotografisches Gedächtnis zu verfügen scheint, das ihm nicht nur ermöglicht, einzelne Szenen und die Leistung der Darsteller detailliert zu analysieren, sondern auch sie mit ähnlichen Filmen und anderen Schauspielern zu vergleichen, die für die Rollen in Frage gekommen oder geeignet gewesen wären. Zudem verfügt Tarantino über einen direkten Draht zu Filmemachern und Drehbuchautoren wie Walter Hill, Brian De Palma, Paul Schrader und Martin Scorsese, die immer wieder zitiert werden und interessante Perspektiven auf die thematisierten Filme werfen. 
Das geht sogar so weit, dass sich Tarantino dem titelgebenden Kapitel darüber auslässt, wenn nicht Martin Scorsese Paul Schraders Drehbuch zu „Taxi Driver“ verfilmt hätte, sondern Brian De Palma, der das Skript vorher gelesen hatte. 
Tarantino beschreibt die Filme und ihren Kontext so lebendig, dass man mit diesem Hintergrundwissen im Kopf gern noch mal die besprochenen Filme ansehen möchte bzw. diejenigen, die einem bislang entgangen sind, zu entdecken. 

John Grisham – „Die Heimkehr“

Mittwoch, 9. November 2022

(Heyne, 382 S., HC) 
Im Gegensatz zu seinen Verlagskollegen wie Stephen King, Joe Hill, Peter Straub oder Dan Simmons hat es Bestseller-Autor John Grisham nie zu kompakteren Erzählformen wie der Kurzgeschichte oder der Novelle hingezogen. Allerdings bewegt sich Grisham mit seinen Justiz-Thrillern, Sport-Romanen und Jugendbüchern auch in anderen Genres. Dass Grisham nichtsdestotrotz auch mit dem Bereich des Kurzromans vertraut ist, bewies er bereits mit der Weihnachtsgeschichte „Das Fest“. Nun legt er mit „Die Heimkehr“ aber erstmals drei Kurzromane in dem Metier vor, für das er einst berühmt geworden ist, des Justiz-Thrillers. 
Die Titelgeschichte „Die Heimkehr“ beschert der Leserschaft ein Wiedersehen mit dem in der Kleinstadt Clanton praktizierenden Anwalt Jake Brigance, der nach seinem ersten Auftritt in Grishams Bestseller „Die Jury“ zuletzt in den beiden Romanen „Die Erbin“ und „Der Polizist“ schwierige Aufgaben zu bewältigen hatte. Nun bekommt der unterbeschäftigte Anwalt Besuch von einem sonnengebräunten Ehepaar aus Memphis, das gerade von einem vierwöchigen Urlaub in Costa Rica zurückgekehrt ist und Jake einen Brief von seinem alten Freund Mack Stafford überbringt. 
Nach siebzehn Jahren als Anwalt hatte Stafford vor drei Jahren Insolvenz angemeldet, sich von seiner Frau Lisa scheiden lassen und sich spurlos aus dem Staub gemacht. Schnell machten Gerüchte die Runde, dass Mack Mandantengelder veruntreut haben musste. Mit dem Brief lädt Mack Jake und seine Frau Carla zu einem Urlaub nach Costa Rica ein, wo er mit Jake über eine mögliche Rückkehr nach Hause sprechen möchte. Jake und Carla nehmen das Angebot an, doch Macks geplante Rückkehr erweist sich als problematisch. Eine Einreise wäre natürlich nur möglich, wenn gegen Mack keine Anklage oder ein Haftbefehl vorliegt. Allerdings hat Mack, wie Jake erfährt, tatsächlich Vergleichszahlungen für seine Mandanten unterschlagen, die Opfer defekter Sicherheitsvorkehrungen an Kettensägen geworden waren. Mack speiste zwei der vier Mandanten mit einem Bruchteil der vertraulich vereinbarten Schadenssumme ab und baute sich in Costa Rica mit über gut 450.000 Dollar eine neue Existenz auf. Das Gerücht, dass Mack Stafford nach Clanton zurückgekehrt sei, verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Stadt und ruft das FBI wegen Insolvenzbetrugs auf den Plan. Macks krebskranke Ex-Frau will nichts mehr von ihm wissen, dafür aber seine Tochter Margot. Als Mack von den FBI-Aktivitäten Wind bekommt, muss er seine Pläne ändern… 
In „Erdbeermond“ wartet der junge Cody auf die Vollstreckung seines Urteils. Der damals fünfzehnjährige Junge hatte mit seinem Bruder ein vermeintlich leeres Haus ausrauben wollen. Bei der Schießerei mit dem überraschten Hausbesitzer wurde nicht nur Codys Bruder Brian, sondern auch das Ehepaar in dem Haus getötet, Cody von einer Jury schließlich für schuldig befunden und zum Tod verurteilt. Cody hat die vierzehn Jahre im Todestrakt des Gefängnisses nur überlebt, weil ihm eine nette alte Dame aus Nebraska regelmäßig Taschenbücher schickte, die mittlerweile die Regale an drei der vier Wände in seiner Zelle füllten. Die letzten drei Stunden seines Lebens verbringt Cody mit dem Direktor, dem Pfarrer, seinem Anwalt, dem Wärter Marvin und einem überraschenden Gast… 
„Sparringspartner“ erzählt schließlich die Geschichte der Kanzlei Malloy & Malloy, die in dritter Generation von den beiden einander verhassten Brüdern Rusty und Kirk sowie der zwischen ihnen vermittelnden Geschäftsführerin Diantha Bradshaw in St. Louis geführt wird. Rustys und Kirks Vater Bolton Malloy sitzt derweil seit fünf Jahren im Gefängnis, weil er seinem eigenen Geständnis zufolge seine in allen Belangen unangenehme Ehefrau getötet hatte. Allerdings wacht der alte Herr, obwohl ihm natürlich die Zulassung als Anwalt entzogen worden ist, noch immer über die Geschicke der Kanzlei und lässt sich monatlich die Umsatzberichte vorlegen. Seine Söhne sind extrem beunruhigt, dass ihr Vater vorzeitig entlassen werden könnte. Tatsächlich scheint er sogar den Gouverneur bestechen zu wollen, um eine Begnadigung zu erreichen. Nachdem Rusty wieder mal krachend einen Prozess verliert, steht der Kanzlei das Wasser bis zum Hals. Aber da gibt es noch Millionen auf verschiedenen Offshore-Konten, auf die der alte Bolton die Vergleichszahlungen eines Tabakkonzerns transferieren lässt. Um den Alten weiter im Gefängnis schmoren zu lassen und an die Tabakgelder zu kommen, schmieden Rusty, Kirk und Diantha einen perfiden Plan… 
Mit seinen drei Novellen beweist Grisham, dass er auch in kompakteren Formaten sein nachgewiesenes Talent als Erzähler ausspielen kann. Dabei versteht er es, ausgefallene juristische Fälle mit den damit verbundenen menschlichen Schicksalen eindringlich zu verbinden. So kommt Mack Stafford in der Titelgeschichte nicht umhin, die Fehler seiner Vergangenheit zu bereuen, vor allem seine Töchter im Stich gelassen zu haben. Ebenso wie die Anwälte in „Sparringspartner“ ist auch Stafford von der Gier nach Geld korrumpiert worden und muss diese Entgleisung teuer bezahlen. 
Grisham zeichnet in diesen beiden Geschichten einmal mehr das Bild von Menschen, die sich in ihrer Funktion und gesellschaftlichen Stellung so privilegiert sehen, dass sie glauben, über dem Gesetz zu stehen, doch lässt Grisham sie dafür teuer bezahlen. Mit „Erdbeermond“ greift der Autor einmal mehr die Auseinandersetzung mit der Todesstrafe auf, von der Grisham, wie frühere Romane bereits gezeigt haben, ein kritischer Gegner ist. Allerdings übertreibt er es hier etwas mit einer besonders rührseligen Geschichte eines jungen Mannes, der als 15-jähriger Junge zum Tod verurteilt wurde, obwohl er nicht mal selbst die tödliche Waffe betätigt hatte.  

Valerie Wilson Wesley – (Tamara Hayle: 2) „Der Exlover“

Sonntag, 6. November 2022

(Diogenes, 282 S., Pb.) 
Die 1947 in New Jersey geborene Afroamerikanerin Valerie Wilson Wesley war Chefredakteurin der Zeitschrift „Essence“ und hat ihre fiktionalen wie nicht-fiktionalen Geschichten in so unterschiedlichen Publikationen wie „Family Circle“, „TV Guide“, „Ms.“, „The New York Times“ und dem Schweizer Wochenmagazin „Die Weltwoche“ veröffentlicht. Am bekanntesten ist die Autorin allerdings für ihre Romane um die schwarze Detektivin Tamara Hayle, die nun in einer Neuübersetzung bei Diogenes erscheinen. Der nun vorliegende zweite von insgesamt acht Bänden ist bereits 1998 unter dem Titel „In Teufels Küche“ veröffentlicht worden. 
Der schwarze Investmentbanker Lincoln E. Storey ist eine lebende Legende in Newark, Essex County. Er beauftragt die ebenfalls schwarze Privatdetektivin Tamara Hayle damit, den Lover seiner 23-jährigen Stieftochter Alexa zu beschatten, da er vermutet, dass dieser eher an Storeys Geld als an Alexa interessiert sei. 
Als Storey ihr den Namen von Alexas Freund nennt, muss Tamara erst einmal schlucken, denn bei Brandon Pike handelt es sich um einen Dokumentarfilmer, mit dem sie selbst vor drei Jahren eine Beziehung hatte. Eine erste Gelegenheit, ihren Exlover wiederzusehen, ergibt sich auf einer Party anlässlich der Kandidatur der stellvertretenden Staatsanwältin Stella Pharr für einen Sitz im Parlament von New Jersey. 
Auf der Party im „Tate’s“ bricht Lincoln Storey jedoch an seinem Tisch zusammen. Was zunächst wie ein Herzinfarkt aussieht, entpuppt sich schließlich als tödliche Reaktion auf eine Erdnussallergie. Die temperamentvolle Tasha Green, die den entsprechenden Bohnendip zubereitet hat, wird festgenommen, nachdem mehrere Zeugen gehört haben wollen, wie Tasha den Mann auf genau diese Art umzubringen wollte. Tashas Schwester Wyvetta engagiert Tamara nun damit, innerhalb einer Woche Tashas Unschuld zu beweisen. Bei der Befragung der Zeugen erfährt die ehemalige Polizistin nicht nur, dass es bereits einen ähnlichen Vorfall in dem Restaurant gegeben hat, sondern dass neben all den Frauen, mit denen der Tote offensichtlich ein Verhältnis hatte, auch Tamaras Exlover ein Motiv für den Mord an Storey hatte… 
„Wer immer Lincoln Storey umgebracht hatte, war an dem Abend in Tates Restaurant gewesen, als Lincoln Storeys Allergie gegen Erdnüsse offenkundig wurde. Tate könnte mir Tashas Angaben darüber bestätigen, wer an dem Abend dabei gewesen war, und mich darüber aufklären, was da zwischen Tasha und Storey abgelaufen war. Vielleicht wusste er noch ein bisschen Tratsch über den Rest der Mannschaft, womöglich gar etwas über die ,kleine Geschichte‘, die Tasha nebenher laufen hatte.“ (S. 106 f.) 
Im ersten Tamara-Hayle-Band „Ein Engel über deinem Grab“ hatte die Titelheldin nicht zuletzt durch das rassistische Umfeld ihren Job bei der Polizei an den Nagel gehängt, ihrem Ehemann DeWayne den Laufpass gegeben und um das Leben ihres aus dieser Beziehung geborenen Sohnes Jamal gekämpft. Als Privatdetektivin schlägt sie sich ebenso wie viele andere Schwarze in Newark, New Jersey, gerade so durch. 
Valerie Wilson Wesley braucht nicht viele Worte, um die eklatanten Unterschiede zwischen der Welt der hart arbeitenden Normalbevölkerung und der schillernden Welt eines Mannes, der wie sie auf den schäbigen Straßen der übelsten Gegend aufgewachsen ist, es aber durch Fleiß und Pflichterfüllung zu etwas gebracht hatte und nun als leuchtendes Vorbild präsentiert wird, aber natürlich auch den Neid seiner Mitmenschen auf sich zieht. In leicht verständlicher Sprache führt die Autorin ihre Leser sowohl durch Tamaras Ermittlungen als auch in das Dickicht heimlicher Affären und hinterhältiger Geschäfte, so dass sich die Verdächtigen wie Perlen auf einer Kette aufreihen, bis natürlich erst im Finale der Mord an Lincoln Storey aufgeklärt wird, woran sich in bester Detektivroman-Manier ein ausführliches „Geständnis“ anschließt. 
„Der Exlover“ bietet leicht bekömmliche und unterhaltsame Krimikost aus der Perspektive einer schwarzen Protagonistin, die sich ihrer Stellung in der Gesellschaft und den damit verbundenen Vorurteilen und Ressentiments durchaus bewusst ist und ihre Meinung über diese Zustände auch immer mal wieder kundtut. 
Damit bietet „Der Exlover“ eine erfrischende Abwechslung zur konventionellen Private-Eye-Literatur und leistet der hervorragenden Reihe um den schwarzen Detektiv Lew Griffin von James Sallis Gesellschaft.  

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 3) „Das hohe Fenster“

Montag, 31. Oktober 2022

(Diogenes, 320 S., HC) 
Mit dem Privatdetektiv Philip Marlowe hat Raymond Chandler (1888-1959) eine Kultfigur der Kriminalliteratur und den Prototyp des melancholischen, eigenbrödlerischen Ermittlers geschaffen, der vor allem in der Verkörperung durch Humphrey Bogart in Howard Hawks‘ Verfilmung von „The Big Sleep“ (1946) nachhaltig in Erinnerung blieb. Zu Hollywood hatte der Schriftsteller seit jeher eine innige Beziehung. So schrieb Chandler die Drehbücher zu Billy Wilders „Frau ohne Gewissen“ (1944), George Marshalls „Die blaue Dahlie“ (1946) und Alfred Hitchcocks „Der Fremde im Zug“ (1951), während die meisten seiner acht Marlowe-Romane auch verfilmt wurden. Das 1942 veröffentlichte Werk „The High Window“ war übrigens der erste Marlowe-Roman, der verfilmt wurde. Nun erscheint „Das hohe Fenster“ bei Diogenes als Teil der Neuübersetzungen der Philip-Marlowe-Reihe. 
Philip Marlowe wird nach Pasadena gebeten, wo mit Mrs. Elizabeth Bright Murdock die mürrische und zänkische Witwe von Jasper Murdock im Stadtteil Oak Knoll lebt. Sie beauftragt Marlowe damit, ihr eine wertvolle Goldmünze wiederzubeschaffen, die als sogenannte Brasher-Dublone Teil einer limitieren Probeprägung aus dem 18. Jahrhundert ist und mit einem Wert von zehntausend Dollar beziffert wird. Der alte Herr hat in seinem Testament verfügt, dass seine Münzsammlung auch nicht zu Lebzeiten seiner Frau – auch nicht in Teilen - veräußert werden dürfe. Marlowes Auftraggeberin hätte den Diebstahl auch nicht bemerkt, wenn nicht ein gewisser Mr. Elisha Morningstar aus Los Angeles angerufen hätte, um sich nach dem Verkauf der Münze zu erkundigen. 
Erst bei der Überprüfung der Sammlung sei ihr das Fehlen des kostbaren Stücks aufgefallen. Mit der ebenfalls verschwundenen Schwiegertochter, der ehemaligen Revue-Tänzerin Linda Conquest, hat Mrs. Murdock auch gleich die passende Verdächtige an der Hand. Diskretion ist natürlich Pflicht. Vor allem Mrs. Murdocks Sohn Leslie solle nichts von der Sache erfahren, wahrscheinlich wisse er ohnehin nicht, dass die Münze verschwunden ist. Da nur die Hausbewohner und Angestellten an die verschlossene Kassette mit den Münzen herangekommen sein könnten, nimmt Marlowe auch Mrs. Murdocks pflichtbewusste Privatsekretärin Merle Davis und Leslie Murdock ins Visier. 
Auf dem Weg nach Los Angeles zum Münzhändler Morningstar bemerkt Marlowe, dass er von einem sandfarbenen Coupé verfolgt wird, dessen Fahrer sich wenig später als ungeschickter Privatdetektiv George Anson Phillips entpuppt. Als sich Marlowe mit ihm in dessen Wohnung treffen will, findet er Anson allerdings tot vor. Doch bei diesem Todesfall bleibt es nicht. Marlowe gerät bei seinen Ermittlungen immer tiefer in ein Dickicht von unglücklichen Verbindungen, Gewissensbissen und Ungereimtheiten… 
„Die beinernen Schachfiguren, rot und weiß, standen marschbereit in Reih und Glied und wirkten so zackig, kompetent und kompliziert wie immer am Anfang einer Partie. Es war zehn Uhr abends, ich saß in meiner Wohnung, hatte eine Pfeife im Mund, einen Drink am Ellbogen und nichts im Kopf als zwei Mordopfer und das Rätsel, wie Mrs. Elizabeth Bright Murdock ihre Brasher-Dublone zurückbekommen haben konnte, wenn ich die in der Tasche hatte.“ (S. 131) 
Einmal mehr Philip Marlowe mit einem höchst komplizierten Fall betraut, der den aufgeweckten Privatdetektiv von einer kratzbürstigen und geizigen wie wohlhabenden Witwe über eine völlig verhuschte Privatsekretärin bis in die verruchte Welt der Nachtclubs, ihrer Betreiber und Angestellten führt, die von einem besseren Leben träumen und das große Los gezogen zu haben glauben, wenn sie in eine reiche Familie einheiraten können. 
Auf gewohnt lakonische wie vertrackte Art führt Chandler seinen ausgebufften Protagonisten durch die verschiedenen Milieus, lässt ihn stets einen selbstbewussten, kecken Ton anschlagen, wenn ihm die Cops, selbstgefällige Lackaffen und schmierige Unterweltgrößen zu dumm kommen, und entwirrt am Ende ein höchst kompliziertes Geflecht an Ereignissen und Abhängigkeiten, die auf einen Vorfall von acht Jahren zurückzuführen sind. Vor allem die pointierten Dialoge, die in Ulrich Blumenbachs neuer Übersetzung ebenso zeitgemäß wie modern wirken, machen „Das hohe Fenster“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, ebenso die versierten Beobachtungen, die Marlowe von seinem Umfeld anstellt. Dagegen wirkt der Fall selbst, das wird spätestens in Marlowes langem Monolog am Ende deutlich, etwas arg konstruiert. Davon abgesehen bieten gerade die Momente, in denen Marlowe es mit seiner Auftraggeberin und deren Privatsekretärin zu tun bekommt, höchst vergnügliche Episoden, die dokumentieren, dass Marlowe jede Art von Menschen zu nehmen versteht und sich von niemandem einschüchtern lässt.

 

Robert Bloch – „Lori“

Sonntag, 30. Oktober 2022

(Diogenes, 346 S., Tb.) 
In seiner langjährigen Karriere als Schriftsteller und Drehbuchautor hat sich Robert Bloch (1917-1994) geschickt zwischen Horror, Krimi und Science Fiction bewegt, doch sein Name ist und bleibt vor allem mit der Vorlage für Alfred Hitchcocks Meisterwerk „Psycho“ (1960) verbunden. Mit „Lori“ (1989), einem seiner letzten Romane, akzentuiert er den klassischen Krimi-Plot mit Horror-Elementen, wie sie gerade durch die nachfolgende Generation von Horror-Schriftstellern wie Stephen King, Peter Straub, Ramsey Campbell, Dean Koontz, Whitley Strieber und James Herbert populär geworden ist. 
Mit der Urkunde über ihren erfolgreichen Studienabschluss und dem Verlobungsring ihres Freundes Russ Carter im Gepäck macht sich Lori Holmes mit Russ auf den Weg zum Haus ihrer Eltern, die nicht zur Abschlussfeier kommen konnten, da Loris Mutter durch ihre schwere Krankheit an den Rollstuhl gefesselt ist. Doch als Lori ihr altes Zuhause erreicht, findet sie es bis auf die Grundmauern abgebrannt vor. Dr. Justin, der Hausarzt ihrer im Feuer getöteten Eltern, verschreibt Lori nicht nur Beruhigungsmittel, sondern verweist sie auf einen Psychiater namens Dr. Leverett. 
Während Russ seinem journalistischen Instinkt folgt und nach den Ursachen des Brandes forscht, erhält Lori einen Anruf von dem Medium Nadia Hope, die in einem Traum von dem Brand erfahren und dazu eine männliche Stimme gehört habe, die Nadia davon überzeugte, dass mehr hinter dem Unglück stehe, als es den Anschein habe. Die gemeinsame Untersuchung des Tatorts führt nichts zutage, doch als Nadia noch einmal allein zu den Trümmern zurückkehrt, entdeckt sie in einem Versteck eine verschlossene Kiste, die sie Lori vor die Tür stellt. Wenig später stirbt Nadia bei dem Absturz mit ihrem Auto einen Abhang hinunter. 
In der Kiste finden Lori und Russ ein Bryant-College-Abschlussjahrbuch aus dem Jahr 1968, in dem Lori mit dem Foto von Priscilla Fairmount entdeckt, die ihr verblüffend ähnlich sieht. Während Russ für einen Auftrag seiner Zeitung nach Mexiko muss, begibt sich Lori bei Dr. Leverett in Therapie und versucht durch Ben Rupert, den Anwalt ihrer Eltern, den Nachlass zu regeln. Doch als auch Rupert tot aufgefunden wird, beginnt sich die Polizei immer mehr für Lori zu interessieren, die nachts von fürchterlichen Träumen heimgesucht wird… 
„Knochige Finger kratzten über ihre Schultern, dann gruben sie sich tief ein und drehten sie herum, bis sie dem, was kein Gesicht mehr war, ins Antlitz sah. Diese kahle und fleischlose Schreckgestalt trug eine bewegliche Maske aus winzigen Wesen – Wesen, die die leeren Augenhöhlen umschwärmten, über die Nasenscheidewand huschten und über die lippenlose zackige Zahnreihe. Aber auch Schädel können grinsen, und dieser grinste jetzt.“ (S. 110) 
Robert Bloch, der neben ganz unterschiedlichen Romanen wie „Das Regime der Psychos“, „Cthulhus Rückkehr“, „Du verdammtes Hollywood“, „Der Ripper“ und „Dr. Jekylls Erbe“ auch die Drehbücher zu Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Totentanz der Vampire“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Die Toten sterben nicht“ verfasste, begnügt sich bei „Lori“ nicht allein mit der kriminalistischen Aufklärung eines Feuers, bei dem die junge Protagonistin ihr Elternhaus und ihre Eltern verlor, sondern bringt früh ein sensitives Medium ins Spiel, das allerdings auch kurze Zeit danach unter merkwürdigen Umständen zu Tode kommt. 
Bloch verwendet viel Mühe darauf, sowohl die medialen Fähigkeiten von Nadia Hope zu erläutern als auch Loris Therapie bei Dr. Leverett mit den üblichen psychoanalytischen Termini zu unterfüttern, was dem Roman eine gewisse wissenschaftliche Erdung verleihen soll. Doch hier ist viel Schall und Rauch im Spiel, denn im weiteren Verlauf der komplexen Handlung kommen immer neue Figuren und Zusammenhänge ins Spiel, die sich auf ganz natürliche Weise und Motive zurückführen lassen. Allerdings baut der Autor bis zum Schluss immer wieder gruselige Traumsequenzen ein, um den Horror-Aspekt des Romans zu füttern, was „Lori“ allerdings nicht zu einer besseren Geschichte macht. Der Krimi-Plot ist allerdings grundsolide und hätte auch ohne den Grusel-Touch bestens funktioniert. So leidet das Spätwerk aus Blochs Schaffen an unnötig aufgeblasenen Nebeneffekten, die aber zumindest den Horrorfans unter Blochs Anhängerschaft zusagen dürften. 

 

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 10) „Mord im Herbst“

Donnerstag, 27. Oktober 2022

(Zsolnay, 144 S., HC) 
Die Kurt-Wallander-Reihe des schwedischen Bestseller-Autors Henning Mankell zählt fraglos zu den großen Erfolgsgeschichten der skandinavischen Kriminalliteratur, die mittlerweile auch aus dem deutschen Buchmarkt nicht mehr wegzudenken ist. Doch nach zehn Romanen ging Wallander 2010 mit „Der Feind im Schatten“ zumindest in literarischer Hinsicht in Rente. Bis zu seinem Tod im Jahr 2015 verspürte Mankell nicht mehr den Wunsch, seinen mittlerweile international berühmten Kommissar wiederzubeleben. Dafür schob er 2013 mit „Mord im Herbst“ noch eine letzte Wallander-Geschichte nach, die ihren Ursprung in einer niederländischen Aktion hatte, wo 2004 im Monat des spannenden Buchs zu jedem gekauften Kriminalroman ein Gratis-Buch ausgegeben wurde. 
Mankell erklärte sich bereit, die Geschichte dafür zu liefern. Erst nahezu zehn Jahre später gab der Schriftsteller die Veröffentlichung auch für den schwedischen Markt frei, nachdem ihm die Verkörperung seiner Figur durch Kenneth Branagh in der Verfilmung der Geschichte durch BBC so gut gefallen hatte. 
Ende Oktober 2002 erhält Kurt Wallander an seinem freien Tag einen Anruf von seinem Kollegen Martinsson, der ihm ein Haus auf dem Land nicht weit von Löderup zur Besichtigung anbietet. Seit sein Vater gestorben ist, denkt Wallander immer wieder daran, aus der Mariagatan im Zentrum von Ystad auszuziehen und sein Leben zu verändern, indem er aufs Land zieht und sich einen Hund anschafft. Doch als sich Wallander auf dem Grundstück umsieht, stolpert er fast über eine skelettierte Hand, die leicht aus dem Boden ragt. Bei der Untersuchung des Tatort stoßen die Polizisten nicht nur auf die dazugehörige Leiche einer Frau, die zum Zeitpunkt ihres Todes gut fünfzig Jahre alt war, sondern auch auf die eines Mannes. Die Frau wurde offenbar gehängt, der Mann erschlagen. Allerdings liegen die beiden Körper seit vielen Jahren dort, was die Aufklärung des Verbrechens schwierig macht, zumal keine Personen in dem Alter als vermisst gemeldet wurden. 
Also versuchen es Wallander und seine Kollegen, darunter auch seine Tochter Linda, mit den Grundbucheinträgen und möglichen Zeitzeugen, die allerdings schwer aufzutreiben sind… 
„Wallander hatte schon vor vielen Jahren gelernt, dass Geduld mit sich selbst eine der vielen Tugenden war, über die ein Polizist verfügen sollte. Es gab immer Tage, an denen nichts geschah, an denen eine Ermittlung festgefahren war und sich weder vorwärts noch rückwärts bewegte. Dann brauchte man Geduld, um den Moment abzuwarten, in dem das Problem zu lösen war.“ (S. 97) 
Auch wenn „Mord im Herbst“ als zehnte Wallander-Erzählung gilt, lässt sie sich doch kaum mit den zehn Romanen vergleichen, mit denen Mankell in kurzer Zeit die internationale Krimi-Welt begeistert hat. Das liegt vor allem in der Kürze von gerade mal 120 Seiten, in denen nur kurz die Opfer und die an ihnen verübten Verbrechen skizziert werden und dann trotz lange fehlender Anhaltspunkte der Fall recht schnörkellos aufgeklärt wird. Da bleibt kein Raum für ausschweifende Charakterisierungen, philosophische und sozialkritische Betrachtungen und die alltäglichen Hürden minutiöser Polizeiarbeit. Einzig Wallanders Wunsch nach einem Haus auf dem Land und die nicht immer leichte Beziehung zu seiner Tochter, mit der er zusammenlebt, bringen eine persönliche Note in die Geschichte, ansonsten reduziert Mankell die Geschichte wirklich auf das Nötigste. 
Das mag als literarische Übung interessant erscheinen, lässt allerdings jegliche Spannung vermissen. Weit informativer ist das Nachwort des Autors, der die Gelegenheit wahrnimmt, um zu rekapitulieren, wie er die Figur Kurt Wallander erfand, über welche Eigenschaften er verfügen sollte und wie er zu einer sehr menschlichen Identifikationsfigur wurde, die sich vor allem immer wieder über die offensichtliche Zerrüttung der Sitten und Moral in Schweden beklagte. 
Für Wallander-Fans ist „Mord im Herbst“ schon wegen des Nachworts ein Muss, auch wenn das Vergnügen sehr kurz bemessen ist.