(Pulp Master, 266 S., Tb.)
Dass sich die katholische Kirche unvorstellbarer Missbrauchsskandale zu verantworten hat, ist zwar mittlerweile weithin bekannt, aber mitnichten wirklich aufgearbeitet. So wurde in der 1995 ausgestrahlten Dokumentation „States of Fear“ das Ausmaß aufgedeckt, mit welchem die katholische Kirche und 200 von ihr geleitete Einrichtungen in Irland über Jahrzehnte lang Tausende Kinder ausgebeutet, misshandelt und sexuell missbraucht hat.
Als der irische Schriftsteller Seamus Smyth die Dokumentation sah, hat er sein Entsetzen über die grausamen Verbrechen, für die sich der irische Premierminister erst 1999 öffentlich bei den Opfern entschuldigte, auf eine Weise verarbeitet, die lange nachhallt, in einem Roman, der schonungslos aufzeigt, was diese Gräueltaten bei den Opfern angerichtet haben.
Als Robert „Red“ Dock aus dem von katholischen Ordensbrüdern geleiteten Kinderheim entlassen wird, hat er längst einen Plan entwickelt, wie er sich dafür rächt, dass sein Zwillingsbruder Sean nach einem seiner Arbeitseinsätze von einem geistlichen Bruder misshandelt und schließlich totgetreten wurde. Seine Rache gilt allerdings nicht der menschenverachtenden Bruderschaft oder der katholischen Kirche, die diese Art der Einrichtungen leitet, sondern den Menschen, von denen sich Red Dock verraten glaubt. Das sind vor allem seine drei älteren – ehelichen – Geschwister Conor, Edna und Amy sowie der Mann, der das das Zwillingspaar ins Waisenhaus brachte, nachdem, Teresa Donovan, die Mutter der beiden Jungen, am Steg der Fähre nach Liverpool tot zusammengebrochen war.
Als erstes lässt Red Dock die Tochter von Detective Sergeant Chilly Winters entführen und das Baby vor den Türen eines Waisenhauses ablegen. Winters war der Mann, der Red und Sean einst dem gut funktionierenden Missbrauchssystem zugeführt hatte. Während das entführte Winters-Mädchen als Lucille Kells aufwächst, zwingt den Arzt der Donavans dazu, eine Geburtsurkunde auf den Namen Frances Anne Donavan auszustellen, womit sich Frances sich später bei ihrer „richtigen“ Familie vorstellen und der Spaß richtig beginnen kann. Bis dahin ist es jedoch ein langer Weg. Vierzehn Jahre später macht Dock die junge Frau in Dublin ausfindig, bietet ihr einen Job in seiner Bar an, macht sie sich sexuell gefügig und sorgt dafür, dass sie auf die von ihm gefälschte Geburtsurkunde stößt. Doch gerade als Red Docks Plan Formen anzunehmen beginnt, kreuzen sich seine Wege mit dem berüchtigten Serien-Killer Picasso, als dieser Lucille in seine Gewalt bringt. Wie sich jedoch bald herausstellt, steckt hinter dem Killer, der Kunstwerke aus Körperteilen junger Mädchen kreiert, Docks ehemaliger Leidensgenosse Cornelius Hockler. Der gewiefte Rächer weiß sich auch diesen Umstand für seinen Plan nutzbar zu machen…
„Nun, Sie fragen sich bestimmt, weshalb ich nicht hineinging, um Lucille zu befreien, oder Swagsy & Co. anrief, damit die es taten. So verhalten sich die Guten. Ich gehöre zu den Bösen. Sie müssen mich dafür hassen. Ich bin der Kerl, den man verabscheuen muss. Leute wie ich begegnen Ihnen in den Geschichten über wahre Kriminalfälle, nicht in Romanen, die von liebenswerten Helden handeln. Vergessen Sie das nicht. Vielleicht bekommen Sie dann eine Vorstellung davon, was mich antreibt.“ (S. 158)
Es gibt ja ganze Filmreihen wie „Saw“, „Hostel“ und „Final Destination“, deren Unterhaltungswert sich allein darauf beschränkt, dem Publikum auf möglichst ungefilterte Weise die ungewöhnlichsten, brutalsten und sadistischsten Folter- und Tötungsmöglichkeiten vor Augen zu führen. Diese Torture-Porn- und Splatter-Streifen überlassen den Zuschauern nicht den Hauch der Fantasie. Davon ist Seamus Smyth meilenweit entfernt, obwohl die ausgeklügelten Todesfallen, die Red Dock ersinnt, genau in diese Spielarten des Horror-Kinos passen würden.
Doch Smyth geht es eben nicht um die bloße Aneinanderreihung unfassbarer Foltermethoden und Tötungsdelikte, die nur notdürftig mit fragwürdigen moralischen Grundsätzen untermauert werden – wenn überhaupt. Im Gegensatz zu Filmschaffenden wie Eli Roth, Ti West, James Wan und Darren Lynn Bousman verzichtet der Ire auf explizite Sex- und Folterdarstellungen. Ihm geht es vor allem darum, aufzuzeigen, was das jahrzehntelang von Staat und Kirche etablierte Missbrauchssystem mit seinen Opfern angerichtet hat.
Natürlich überschreitet Smyth in „Spielarten der Rache“ dabei unvorstellbare Grenzen, kümmert sich aber nicht um Genre-Konventionen. Bei der emotionsgeladenen Thematik würde man eher erwarten, dass sich die Rache von Typen wie Hockler und Red Dock gegen die Einrichtungen wenden würde, die die Misshandlungen der Kinder zu verantworten hatten. Stattdessen entwickelt sich Hockler zu einem künstlerisch ambitionierten Schänder junger Frauen, während sich Red Dock an einer ganzen Reihe von Menschen rächt, die seiner Meinung mehr oder weniger direkt dafür verantwortlich gewesen sind, dass sein Zwillingsbruder und er selbst überhaupt in so einer Einrichtung gelandet sind.
So raffiniert Smyth diese Rachepläne inszeniert und er den Leser durch direkte Ansprachen ins Geschehen hineinzuziehen versucht, stellt sich von Beginn an eine starke Verstörtheit beim Leser ein. Das liegt nicht allein an dem schwer erträglichen Stoff, den uns der Autor hier auftischt, sondern auch an der nicht kohärenten Erzähldramaturgie. Dass Smyth seine Protagonisten Red Dock, Picasso und Lucille jeweils als Ich-Erzähler implementiert, eignet sich zwar dazu, eine direktere Verbindung zwischen den Figuren und der Leserschaft aufzubauen, doch wirken diese Episoden nicht zusammenhängend. Der Kontext wird oftmals erst spät nachgereicht oder erschließt sich gar nicht. Das grundlegende Thema bleibt dabei nur unterschwellig präsent.
Smyth ist auf jeden Fall ein wortgewandter Schriftsteller mit einer starken Vision, die sich in „Spielarten der Rache“ aber nur ungenügend niederschlägt. So sehr man mit den Opfern des erschreckend effektiv organisierten Missbrauchs mitleidet, schießt Smyth mit seiner arg konstruierten Rache-Geschichte doch über das Ziel hinaus. Dass er in seiner Heimat keinen Verlag für dieses extrem polarisierende Werk gefunden hat, kann kaum überraschen.
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