Als Stanley Mitchel es satt hat, sein Leben als Automechaniker im 300-Seelen-Kaff No Enterprise zu fristen, zieht er mit seiner Frau Gal und den beiden Kindern, dem 13-jährigen Stanley Junior und der 16-jährigen Callie, und dem Hund Nub 1958 nach Dewmont in East Texas, wo er fortan das Autokino Dew Drop Drive-in betreibt. Als der junge Stanley eines Samstagmorgens mit seinem Hund durch die Wälder streift, stößt er in der Nähe einer abgebrannten Ruine auf ein Kästchen mit alten Briefen. Vierzehn Jahre zuvor war hier die Villa der Stilwinds in Flammen aufgegangen und hat die Tochter Juwel Ellen in den Tod gerissen. In derselben Nacht wurde Jewel Ellens Freundin Margret Woods vergewaltigt und kopflos auf den Bahngleisen gefunden. Seitdem geht das Gerücht, dass Margrets Geist in der Ruine umgeht.
Zusammen mit dem schwarzen Filmvorführer Buster, der früher als Polizist gearbeitet hat und dessen Alkoholsucht seine Stimmungen und Arbeitsmoral stark schwanken lassen, versucht Stanley, den geheimnisvollen Inhalt der Briefe in dem Kästchen zu entschlüsseln und so den Tod der beiden Mädchen aufzuklären. Wie die beiden ungleichen Ermittler bald feststellen müssen, scheinen sich die Stilwinds, denen unter anderem das richtige Kino in Dewmont gehört, bislang von all ihren Fehltritten freigekauft zu haben, und auch als Stilwinds Junior sich an Callie vergreift, will Irving Stilwind die Angelegenheit mit einem Batzen Geld regeln.
Doch Stanley muss auch an anderen Fronten auf schmerzliche Weise erfahren, dass das Leben zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Zuckerschlecken ist. Die schwarze Küchenhilfe Rosy wird von ihrem Mann Bubba Joe dermaßen verprügelt, dass die Mitchels ihr eine Bleibe unter ihrem eigenen Dach anbieten. Und auch Stanleys Freund Richard wird regelmäßig von seinem Vater vertrimmt, bis dieser von zuhause ausreißt. Die bösen Geister, die die Jungen zu verfolgen scheinen, wirken eines Nachts lebensbedrohlich echt …
„In diesem einen Sommer war meiner Familie mehr widerfahren als zuvor in gesamten Leben meiner Eltern. Allerdings hatten sie das meiste davon gar nicht mitgekriegt. Mir drängte sich der Gedanke auf, ich hätte, indem ich diese Kiste gefunden und aufgebrochen hatte, irgendwelche dunklen Götter beleidigt, die jetzt über diesen feinen, dunklen Riss zwischen ihrer geheimnisvollen Finsternis und unserer Wirklichkeit krochen und krabbelten, wutschnaubend, bedrohlich und gefährlich.“ (S. 265f.)Lansdale erweist sich in dem 2003 erstmals veröffentlichten Roman „Ein feiner dunkler Riss“ erneut als eleganter Erzähler, der mit lakonischer Leichtigkeit einen faszinierenden Kriminalfall mit tiefgründiger Milieustudie und einem subtilen Coming-of-Age-Drama zu verbinden versteht. Atmosphärisch dicht beschreibt er das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt Ende der 1950er Jahre, als die Bürgerrechtsbewegung und der Vietnamkrieg noch nicht die Grundfesten der amerikanischen Gesellschaft erschütterten.
Lansdale bevölkert seinen stimmungsvollen Roman mit ganz unterschiedlichen Figuren, unter denen die kecken Mädchen ihre Macht über die Männer zu entdecken beginnen und die Jungen die brutale Härte des Lebens zu spüren bekommen. Die reichen Weißen kaufen sich von allen Sünden frei, Schwarze werden auf der Suche nach Tätern einfach gelyncht. Dabei hat Lansdale mit den Mitchels eine in einfachen Verhältnissen lebende weiße Familie in den Mittelpunkt seiner Geschichte gestellt, für die Nächstenliebe nicht an der Hautfarbe festgemacht wird.
Bei allen dramatischen Entwicklungen und brutalen Zwischenfällen verliert der versierte Autor aber nie den Humor und vor allem seinen sympathischen Ich-Erzähler aus den Augen, der als Erwachsener auf die tragischen Ereignisse in seiner Jugend zurückblickt. Und dem Leser bleibt „Ein feiner dunkler Riss“ als vielschichtiges Meisterwerk in Erinnerung, dessen Kriminalgeschichte nur der Ausgangspunkt für ein mitreißendes Coming-of-Age-Drama dient.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Ein feiner dunkler Riss"
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