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Stephen King – „The Green Mile“

Sonntag, 6. Mai 2018

(Bastei Lübbe/Heyne/Bertelsmann, 479 S., HC)
Der schwarze Hüne John Coffey wird im Jahre 1932 wird eines Tages mit den blutüberströmten Leichen der beiden minderjährigen Detterick-Zwillingen in den Armen von seinen Verfolgern aufgefunden und nach kurzer Verhandlung zum Tode verurteilt. Als er in Block E, den Todestrakt des Gefängnisses in Cold Mountain eintrifft, wo Oberwärter Paul Edgecombe den Trupp von meist vier oder fünf Wärtern anführt, muss er sich ebenso wie die anderen Kandidaten darauf gefasst machen, irgendwann die nach dem grünen Linoleumfußboden benannte Green Mile entlangzuschreiten, auf Old Sparky Platz zu nehmen und dann wie ein Truthahn geröstet zu werden.
Doch während der einfältig wirkende Coffey – wie das Getränk, nur anders geschrieben – ganz harmlos zu sein scheint, müssen sich Edgecombe und seine Kollegen Dean Stanton, Harry Terwilliger, Brutus „Brutal“ Howell vor allem mit dem böswilligen, mit dem Gouverneur verwandten Wärter Percy Wetmore und dem ebenso bösartigen Gefangenen William „Billy the Kid“ Wharton herumschlagen, der keine Gelegenheit auslässt, die Wärter zu schikanieren. Für launige Abwechslung sorgt immerhin Dr. Jingles, die kleine Maus des französischen Mörders Eduard Delacroix, der ganz aus dem Häuschen ist wegen der Kunststücke, die er dem niedlichen Nagetier beigebracht zu haben glaubt. Doch dann geraten die Dinge außer Kontrolle: Erst versaut Percy Wetmore die Hinrichtung des Franzosen, dann zerquetscht er auch noch die gewiefte Maus unter seinen Schuhen. Doch wie schon zuvor, als Coffey die hartnäckige und schmerzhafte Blasenentzündung von Paul Edgecombe in sich aufgesogen hatte und dann wie schwarze Insekten ausspie, heilt er nun auch Mr. Jingles auf unerklärliche Weise.
Edgecombe ist von den mysteriösen Kräften des schwarzen Riesenbabys so fasziniert, dass er hofft, auch Melinda, die todkranke Frau von Gefängnisdirektor Hal Moores, heilen zu können. Doch dazu muss er seine Kollegen zu einem riskanten Unterfangen überreden …
„Ich kannte Melinda besser, als sie sie kannten, aber letzten Endes vielleicht nicht gut genug, um die Jungs zu bitten, ihre Jobs für sie aufs Spiel zu setzen. Ich hatte zwei erwachsene Kinder, und ich wollte natürlich nicht, dass meine Frau ihnen schreiben musste, dass ihrem Vater der Prozess gemacht und er verurteilt wurde als … nun, was würde es sein? Ich wusste es nicht mit Sicherheit. Anstiftung und Beihilfe zu einem Fluchtversuch war das Wahrscheinlichste.“ (S. 297) 
Stephen King war fasziniert von der Idee, sich ähnlich wie einst Charles Dickens an einem Fortsetzungsroman zu versuchen, der 1996 in einem Abstand von jeweils einem Monat zunächst in sechs Einzelbänden erschien und 1999 schließlich als Roman in einem Band veröffentlicht wurde. Die Geschichte von „The Green Mile“ wird aus der Perspektive des Oberwärters Paul Edgecombe erzählt, der seine Erinnerungen in einem Altenheim zusammenträgt und dabei ebenso von einem widerwärtigen Pfleger drangsaliert wird wie er und seine Kollegen damals von Percy Wetmore. Stephen King hat mit „The Green Mile“ sicher eines seiner eindringlichsten Werke verfasst, das 1999 auf kongeniale Weise von Frank Darabont verfilmt wurde, nachdem dieser bereits fünf Jahre zuvor Stephen Kings Kurzgeschichte „The Shawshank Redemption“ ebenfalls meisterhaft für die große Leinwand adaptiert hatte. Auf unnachahmlich lebendige Weise beschreiben King bzw. sein Ich-Erzähler die Umstände von John Coffeys Verhaftung und den Lebensumständen im Todestrakt des Gefängnisses von Cold Mountain, wobei sich humorvolle Momente immer wieder in die Schreckensszenarien der Hinrichtungen einfügen. Einfühlsam ist vor allem die Beziehung zwischen Edgecombe und Coffey beschrieben, nervenaufreibend die Durchführung der Exekutionen und aufwühlend die Bemühungen der Wärter, das Leben der unauffälligen Gefangenen so angenehm wie möglich zu gestalten. Geschickt hält King die Spannung über die sechs Einzelbände aufrecht, wartet mit einem feinen Cliffhanger auf, der bei der Lektüre des vollständigen Romans natürlich nicht mehr ganz seinen ursprünglichen Zweck erfüllt, aber so immer wieder dramaturgische Höhepunkte setzt.
Leseprobe Stephen King - "The Green Mile"

Richard Bachman – „Amok“

Donnerstag, 1. März 2018

(Heyne, 220 S., Tb.)
Mitten im Algebraunterricht bei Mrs. Jean Underwood an der Placerville High School wird Charles Decker in das Büro von Direktor Thomas Denver gerufen, um mit ihm über den Vorfall mit Charlies Mitschüler John Carlson zu sprechen, den er krankenhausreif geschlagen hatte. Doch Charlie lässt sich auf keine Diskussion ein, verlässt das Büro mit dem kompromittierenden Vorwurf, vom Direktor sexuell belästigt worden zu sein, holt aus seinem Spind die Pistole seines Vaters und schießt seiner Algebra-Lehrerin in den Kopf.
Als der Geschichtslehrer Mr. Vance nach dem Rechten sehen will, erschießt Charlie auch ihn und hält seine 24 Klassenkameraden als Geiseln. Auf Verhandlungen mit der Polizei oder dem Schulpsychologen Mr. Grace lässt sich Charlie nicht ein.
Stattdessen lässt er seine Mitschüler von ihren ersten sexuellen Erfahrungen und anderen einschneidenden persönlichen Erlebnissen berichten, gibt auch von sich selbst einiges preis.
„Ich warf einen schnellen Blick zum Publikum. Sie waren gebannt, wie hypnotisiert. Sie dachten nicht an Mr. Grace oder Tom Denver oder Charles Everett Decker. Sie beobachteten angespannt, und was sie sahen, war vielleicht ein kleiner Einblick in ihre eigenen Seelen, der ihnen aus einem zersprungenen Spiegel entgegenblitzte. Es war prächtig. Es war wie frisches Gras im Frühjahr.“ (S. 101) 
Nachdem der stets äußerst produktive Schriftsteller Stephen King mit seinen ersten Romanen „Carrie“ (1974), „Brennen muss Salem“ (1975) und „The Shining“ (1977) die Bestsellerlisten gestürmt hatte, wollte er austesten, ob sich seine Bücher auch ohne den großen Namen dahinter verkaufen würden, und veröffentlichte zwischen 1977 und 1984 die fünf Romane „Amok“ (1977), „Todesmarsch“ (1979), „Sprengstoff“ (1981), „Menschenjagd“ (1982) und „Der Fluch“ (1984) unter dem Pseudonym Richard Bachman, die später, als dessen Geheimnis gelüftet war, auf dem deutschen Markt mit dem Zusatz „Bachman ist King – Stephen King ist Bachman“ veröffentlicht wurden.
Das Bachman-Debüt „Amok“ ist auch nach vierzig Jahren erschreckend aktuell, betrachtet man die zunehmenden Massaker von Amokläufern an amerikanischen High Schools. Während die aktuellen Diskussionen allerdings eher um die Frage nach dem Waffenbesitz thematisieren, nutzt Stephen King alias Richard Bachman das extreme Szenario einer Geiselnahme mit dem Mord an zwei Lehrkräften eher als Coming-of-Age-Drama, bei dem die jungen Erwachsenen sich gezwungen sehen, Geheimnisse ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen zu offenbaren und sich dadurch bei anderen Mitschülern teils unbeliebt machen, teils aber einfach überraschende Erkenntnisse liefern.
Charles Decker, der die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt, taugt dabei nicht zwingend als sympathische Identifikationsfigur, aber um die Chuzpe, mit der dieser junge Mann jedwede Autoritätsperson beleidigt und vorführt, beneiden ihn sicher so einige Leser in Charlies Alter.
So kurzweilig sich die 220 Seiten lesen lassen und Einblicke in die Psyche nicht nur des soziopathisch veranlagten Protagonisten, sondern auch in die ganz normaler Teenager gewähren, so ist dieses Frühwerk doch noch weit von der atmosphärischen Dichte und psychologischen Raffinesse entfernt, die wir aus späteren Meisterwerken des „King of Horror“ kennen.

Stephen King – „Die Augen des Drachen“

Sonntag, 11. Februar 2018

(Heyne, 382 S., Tb.)
Einst herrschte Roland, der Gütige, über das Königreich Delain. Er war weder der schlechteste noch der beste König, der das Land regiert hatte, aber er gab sich große Mühe, keinem Unrecht zu tun. Als sein Ende nahte, war jedem im Königreich klar, dass Rolands erster Sohn Peter das Zepter übernehmen würde, doch der dämonische Hofzauberer Flagg setzte alles daran, Peters jüngeren und weitaus schwächeren Bruder Thomas auf den Thron zu hieven.
Da Peter so sehr seiner ebenso schönen wie gutmütigen Mutter Sasha glich und wenig beeinflussbar schien, schmiedete Flagg einen teuflischen Plan, an dessen Beginn der unauffällige Mord an der Königin stand, die verblutete, als sie Thomas zur Welt brachte. Tatsächlich gelingt es dem teuflischen Flagg, Peter den Mord an seinem Vater anzuhängen, so dass Peter für den Rest seines Lebens in der Spitze der Nadel – so der Name für das Gefängnis im königlichen Schloss – verbringen und Thomas zum neuen König gekrönt werden.
Als dessen Berater könnte Flagg viel leichter seine eigenen Ziele verwirklichen. Als Zeuge von Flaggs Bösartigkeit gab sich Thomas zunehmend dem Alkohol hin und ließ das Königreich vor die Hunde gehen, während Peter seinerseits einen Plan schmiedete, aus dem hundert Meter über dem Erdboden befindlichen Gefängnis zu fliehen. Doch dafür benötigte er die Hilfe seines alten Dieners Dennis und des mittlerweile verbannten Richters Peyna …
„Peter hatte einen Traum gehabt – seit über einer Woche kehrte er immer wieder und wurde zunehmend deutlicher. Darin sah er Flagg über einen hellen, leuchtenden Gegenstand gebeugt – er tauchte das Gesicht des Magiers in ein fahlgrünes Licht. In diesem Traum kam stets der Zeitpunkt, da Flagg zuerst überrascht die Augen aufriss – und sie dann zu tückischen Schlitzen zusammenkniff. Die Brauen sträubten sich; die Stirn runzelte sich; sein Mund zog sich verbittert wie ein Halbmond nach unten. In diesem Augenblick konnte der träumende Peter eines – und nur eines – deutlich lesen: Tod.“ (S. 279) 
Bevor sich Stephen King an sein großes Magnum Opus machte, den achtteiligen Zyklus um den „Dunklen Turm“, veröffentlichte er 1983 eine auf 1250 limitierte und illustrierte Ausgabe des Märchens „Die Augen des Drachen“, das er eigentlich für seine eigene Tochter Naomi und für Ben, den Sohn seines befreundeten Kollegen Peter Straub, geschrieben hatte. Erst vier Jahre später erschien die – gekürzte - deutsche Erstausgabe bei Heyne.
„Die Augen des Drachen“ ist aus der Sicht eines klassischen Geschichtenerzählers geschrieben, der immer wieder geschickt sein Publikum direkt anspricht und es so wunderbar in das Geschehen miteinbezieht. Die Geschichte enthält alles, was ein gutes Märchen ausmacht: einen aufrechten König, der in seiner Jugend Drachen erlegte; eine schöne und schüchterne Königin, die ihrem Erstgeborenen persönlich die beste Erziehung angedeihen lässt; den eifersüchtigen und einfältigen Spätgeborenen und den dämonischen Hofzauberer, der geschickt intrigiert und seine tödlichen Gifte ganz nach seinen teuflischen Plänen einzusetzen versteht.
Mit Roland und Flagg sind zumindest namentlich auch schon Hinweise auf den „Dunklen Turm“ gegeben, doch im Gegensatz zu den komplexen Konstruktionen in Raum und Zeit, die King in diesem monumentalen Fantasy-Epos entworfen hat, ist „Die Augen des Drachen“ ganz geradlinig erzählt und natürlich auch für ein jüngeres Publikum wunderbar geeignet.  
Stephen King, der wenig später sein einflussreiches Horror-Meisterstück „Es“ publizieren sollte, erwies sich bereits hier als fesselnder Storyteller, der sich offenbar in jedem literarischen Genre zu Hause fühlt. 
Leseprobe Stephen King - "Die Augen des Drachen"

Stephen King – „Shining“

Montag, 8. Januar 2018

(Bechtermünz Verlag, 623 S., HC)
Nachdem der trockene Alkoholiker, immer wieder cholerische Jack Torrance seinen Job als Englischlehrer verloren hat, weil er einen seiner Schüler, der ihn die Autoreifen aufschlitzt hatte, schlug, ist er dringend auf einen neuen Job angewiesen. Sein alter Saufkumpan und Kollege Al Shockley besitzt beträchtliche Anteile am geschichtsträchtigen Overlook-Hotel und hat ihm dort einen Job als Hausmeister besorgt.
Das Vorstellungsgespräch mit dem Hotel-Manager Stuart Ullman ist nur noch Formsache, aber Ullman verhehlt dabei nicht, dass er Jack für den Job als ungeeignet hält. Bevor das einsam in den Rocky Mountains liegende Hotel über den Winter geschlossen wird und durch heftige Schneefälle von der Außenwelt abgeschnitten zu werden droht, erhält Jack von Ullman am letzten Tag der Saison eine kurze Einweisung über den Aufbau des Hotels mit seinen hundertzehn Gästequartieren, darunter dreißig Suiten im dritten Stock, wobei in der Präsidentensuite bereits etliche Berühmtheiten verweilt haben. Und Jack bekommt auch die Geschichte eines seiner Vorgänger zu hören, des unglückseligen Delbert Grady, der im Winter 1970/71 erst seine Frau und die beiden Töchter ermordete, dann sich selbst.
Der schwarze Hotelkoch Dick Hallorann macht Jack, seine Frau Wendy und ihren sechsjährigen Sohn Danny noch mit den Vorräten vertraut und erkennt, dass Danny wie er selbst über die Gabe des „Shinings“ verfügt, nämlich zukünftige Ereignisse voraussehen, Vergangenes in alptraumhaft-lebendigen Visionen erleben und die Gedanken seiner Mitmenschen lesen zu können. Da Danny ein ungutes Gefühl beim Overlook-Hotel beschleicht, verspricht Hallorann dem Jungen, ihm zur Hilfe zu eilen, wenn er in Gedanken nur laut genug nach ihm ruft.
Kaum sind die Bediensteten abgezogen und die Torrance-Familie auf sich allein gestellt, findet Jack im Keller Unterlagen über die verruchte Geschichte des Hotels, in der offenbar auch Glücksspiele und Prostitution betrieben wurden und einige Mafia-Größen ein blutiges Ende fanden.
Jack ist so fasziniert von den beschriebenen Ereignissen, dass er einen Roman über die Geschichte des Hotels schreiben will, allerdings beschäftigt er sich auch mit den eigenen Verfehlungen, mit der Alkoholsucht und den Temperamentsausbrüchen, die sogar dazu führten, dass er seinem damals dreijährigen Sohn den Arm gebrochen hat. Seither droht die Familie zu zerbrechen. Doch statt im Oberlook-Hotel wieder zusammenzufinden, driftet Jack zunehmend ab, wird von der düsteren Atmosphäre des Hotels eingenommen und verängstigt sowohl Wendy als auch seinen Sohn. Danny wiederum hat schon beim Rundgang durch das Hotel die Blutflecke in Zimmer 217 bemerkt und wird immer wieder durch schreckliche Visionen mit den grausamen Geschehnissen aus der Vergangenheit des Hotels konfrontiert. Doch als das Hotel durch den Wintereinbruch auch telefonisch von der Außenwelt abgeschnitten ist, sind Wendy und Danny Jack fast hilflos ausgeliefert. Verzweifelt ruft Danny nach Dick, der den Winter allerdings in Florida verbringt …
„Hier fand ein langer und alptraumhafter Maskenball statt, und er war schon seit Jahren im Gange. Ganz allmählich waren hier Kräfte entstanden, heimlich und stumm, so wie ein Bankkonto Zinsen trägt. Kraft, Gegenwart, Gestalt, das waren alles nur Worte, und keines davon spielte eine Rolle. Es trug viele Masken, aber es bedeutete alles dasselbe. Jetzt, irgendwo, kam es, um ihn zu holen. Es versteckte sich hinter Daddys Gesicht, es imitierte Daddys Stimme, es trug Daddys Kleidung.
Aber es war nicht sein Daddy.“ (S. 586) 
An der Verfilmung durch Stanley Kubrick scheiden sich bekanntlich die Geister, Stephen King selbst zählt zu den größten Kritikern von Kubricks Kinoadaption seines bereits 1977 veröffentlichten Romans. Dieser ist 1985 via Bastei Lübbe auch in deutscher Sprache erschienen und untermauerte den weltweiten Siegeszug durch die Bestsellerlisten, die der „King of Horror“ mit seinen ersten beiden Romanen „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ gestartet hatte.
Dank des sehr überschaubaren Figurenarsenals wirkt „Shining“ fast wie ein Theaterstück und konzentriert sich ganz auf die dreiköpfige Torrance-Familie und den hellsichtigen Hotelkoch Dick Hallorann.  
Stephen King nimmt sich viel Zeit, nicht nur der Torrance-Familie, sondern gleichsam auch den Lesern die Besonderheiten des Overlook-Hotels, seine außergewöhnliche Lage, seine prominenten Gäste und seine illustre Geschichte nahezubringen. Und auch die bewegte Familiengeschichte von Wendy, Jack und Danny wird aus der jeweiligen Sicht eindrucksvoll herausgearbeitet.
Besonders gut gelungen ist dem Autor das Grauen, mit dem sich die unrühmliche Hotelgeschichte in den Alltag, in die Gedanken und in das Verhalten der Torrance-Familie einschleicht und vor allem Jack zu einem unberechenbaren Mann macht. Dass bei den über 600 Seiten nie Langeweile aufkommt, ist vor allem den sympathischen Figuren zu verdanken, mit denen der Leser einfach mitfiebert. Selbst für den temperamentvollen Pechvogel Jack Torrance kann man nur Mitleid empfinden. Das furiose Finale hat Stanley Kubrick in der Filmversion bekanntlich komplett anders gestaltet, die Romanfassung ist sicherlich etwas spannender und menschlicher geglückt.

Stephen King & Owen King - „Sleeping Beauties“

Mittwoch, 6. Dezember 2017

(Heyne, 959 S., HC)
In der Welt herrscht gewalttätiges Chaos. Neben dem Erdbeben in Nordkorea sind es aber vor allem von (männlicher) Menschenhand initiierte Katastrophen, die die Nachrichten prägen: Ein durch Sabotage entflammter Bohrturm im Golf von Aden, kriegerische Auseinandersetzungen in der Golfregion und ein seit vierundvierzig Tagen andauernder Konflikt zwischen einer Miliz in New Mexico und dem FBI sowie Krebserkrankungen im Kohlerevier der Appalachen, wo vor fünf Jahren ein Chemieunfall den Fluss verseucht hatte.
Doch diese Schreckensmeldungen verblassen angesichts einer weltweiten Epidemie, die auch die in West Virginia liegende Kleinstadt Dooling erfasst: Sobald Frauen einschlafen, werden sie in einen Kokon gehüllt und wachen nicht mehr auf.
Die Situation spitzt sich zu, als Sheriff Lila Norcross zu einer Explosion eines Meth-Labors mit zwei Toten gerufen wird und in der Nähe des Tatorts eine wunderschöne fremde Frau aufgreift, die auf den Namen Evie Black hört und offensichtlich über besondere Fähigkeit verfügt. Sie weiß nicht nur sehr persönliche Dinge über die Personen, mit denen sie zu tun hat, sondern kann auch wieder ganz normal aufwachen, wenn sie geschlafen hat.
Für Clint Norcross stellt Evie, die zur Sicherheitsverwahrung ins Gefängnis gesperrt wird, ein höchst interessantes Forschungsobjekt dar, das auf jeden Fall vor dem Zugriff der Außenwelt geschützt werden muss. Derweil organisiert der städtische, zu Aggressionen neigende Tierfänger Frank Geary eine Truppe von Männern, die die Frauenhaftanstalt stürmen und Evie in ärztliche Obhut geben wollen, weil die geheimnisvolle Frau eventuell nicht nur für die Schlafkrankheit Aurora verantwortlich sein, sondern auch das Gegenmittel zur Heilung besitzen könnte. Schließlich haben die Männer bereits damit begonnen, Frauen in den Kokons abzufackeln, weil eine Fake-News im Internet dazu aufgefordert hatte, um die Seuche einzudämmen. Werden die Kokons stattdessen geöffnet, werden die eben noch schlafenden Frauen zu mörderischen Bestien, nur um dann wieder einzuschlafen.
Evie ist nicht nur in der Lage, mit einem Kuss Lebensenergie zu spenden, sondern sie besitzt auch die Fähigkeit, in Gestalt von Motten, Ameisen und Ratten Dinge in Bewegung zu setzen. Vor allem hat sie einen Tunnel geschaffen, durch den die eingeschlafenen Frauen in eine andere Welt gehen können, die sie als „Unseren Ort“ bezeichnen und der frei ist von männlicher Gewalt.
„Hier war eine Welt, in der ein kleines Mädchen selbst nach Dunkelheit allein nach Hause gehen und sich sicher fühlen konnte. Eine Welt, in der das Talent eines kleinen Mädchens sich gleichzeitig mit seinen Hüften und Brüsten entwickeln konnte. Niemand würde es im Keim ersticken.“ (S. 738) 
Allerdings droht der Tunnel verschlossen zu werden, wenn der Zauberbaum, der ihn beherbergt, abgebrannt wird. Die Frauen auf der anderen Seite müssen sich geschlossen entscheiden, ob sie ihr Leben ganz neu in einer neuen Welt beginnen wollen oder in die alte zurückkehren, wo die Männer hoffentlich aus ihren Fehlern gelernt haben …
Nachdem der mittlerweile bereits 70-jährige Stephen King mit seinem Sohn Joe Hill („Blind“, „Christmasland“) die beiden Kurzgeschichten „Vollgas“ und „Im hohen Gras“ realisiert hatte, folgt nun mit „Sleeping Beauties“ eine weitere familiäre Gemeinschaftsarbeit, diesmal mit dem hierzulande noch völlig unbekannten, in seiner Heimat aber durch einige Kurzgeschichten aufgefallenen 40-jährigen Sohn Owen. Für ihr erstes gemeinsames Buch haben sie ein durchaus spannendes und gesellschaftlich hochaktuelles Thema als Grundlage für ein episches Fantasy-Drama gewählt, das der Frage nachgeht, inwieweit die Männer die Frauen unterdrücken und ob eine Welt ohne Frauen wirklich erstrebenswert wäre.
Aus dieser Fragestellung haben die beiden Kings eine typische amerikanische Kleinstadt ins Zentrum ihrer Geschichte gestellt und eine zunächst unüberschaubar anmutende Menge an Figuren (die in knapp vierseitigen Personenregister zunächst kurz vorgestellt werden) geschaffen, die allerdings oft nur kurze Auftritte haben und die Geschichte nicht wirklich voranbringen. Sie stehen sowohl in weiblicher wie in männlicher Hinsicht oft nur für Stereotypen ihrer jeweiligen Rolle in der Gesellschaft.
Zum Glück hat das Autorengespann aber auch eine Reihe von Identifikationsfiguren kreiert, die nicht nur die Handlung vorantreiben, sondern auch das Dilemma personifizieren, in dem beispielsweise Gewalt und Mord gerechtfertigt werden soll. Neben Lila und Clint Norcross, die neben der Epidemie auch noch eine Ehekrise zu bewältigen haben, sind dies vor allem der ambitionierte, aber auch zu Gewaltausbrüchen neigende Tierfänger und selbsternannte Deputy Frank Geary, die beiden Gefangenen Jeanette Sorley und Angel Fitzroy sowie die Journalistin Michaela Morgan, Tochter von Gefängnisdirektorin Janice Coates. Wunderbar mysteriös ist den Kings die Charakterisierung von Evie Black gelungen, die teils als Hexe gefürchtet, teils als Heilsbringerin verehrt wird.
„Sleeping Beauties“ ist bei der epischen Länge von fast 1000 Seiten ein überwiegend packender Fantasy-Thriller geworden, der aus einer spannenden Ausgangssituation sowohl ganz märchenhafte Elemente (mit weißem Tiger, sprechenden Ratten und einem Rotfuchs und einer nicht von dieser Welt stammenden Evie) als auch beängstigend reale Vorstellungen zu einem apokalyptischen Szenario vereint, wie es offensichtlich nicht nur Vater King – wie bereits in „The Stand – Das letzte Gefecht“ oder „Die Arena“ -, sondern auch seine Söhne zu kreieren verstehen. Trotz einiger Längen fesselt der Roman bis zum starken Finale. 
Leseprobe Stephen King & Owen King - "Sleeping Beauties"

Lawrence Block (Hrsg.) – „Nighthawks – Stories nach Gemälden von Edward Hopper“

Freitag, 10. November 2017

(Droemer, 320 S., HC)
Der amerikanische Maler Edward Hopper (1882-1967) wird gern und sicher zurecht als Chronist der amerikanischen Zivilisation bezeichnet, in der vor allem die Isolation des modernen Menschen thematisiert wird. So sitzen in seinem wohl berühmtesten Gemälde „Nighthawks“, das Titel und Cover der vorliegenden Anthologie ziert, drei Gäste in einer Bar, die scheinbar nicht miteinander kommunizieren und in ihre eigenen Gedanken versunken sind, flankiert von einem beschäftigten Barkeeper. Dieses und 16 weitere Gemälde Hoppers dienten den Schriftstellern, die Lawrence Block für seinen Sammelband begeistern konnte, als Inspiration für die Geschichten, die eigentlich in Hoppers Werken zu finden sind, aber bislang nicht erzählt wurden.
Block, der selbst mit seinen Krimis um den Buchhändler und Einbrecher Bernie Rhodenbarr, den Auftragsmörder Keller und den alkoholkranken Privatdetektiv Matthew Scudder ein gefeierter Autor ist und zu Hoppers „Automat“ (1927) eine Geschichte beigesteuert hat, beschreibt in seinem Vorwort:
Hopper war weder Illustrator noch narrativer Künstler. Seine Bilder erzählen keine Geschichten. Stattdessen vermitteln sie – kraftvoll und unwiderstehlich – den Eindruck, dass sich darin Geschichten verbergen, die nur darauf warten, erzählt zu werden. Er zeigt uns einen Moment, auf die Leinwand gebannt; eindeutig hat dieser Vergangenheit und Zukunft, doch es ist an uns, sie zu entdecken.“ (S. 10) 
Die Auswahl der Bilder für ihre Geschichten blieb den Autoren vorbehalten. Manchmal wird der Bezug zum ausgewählten Gemälde gleich in den ersten Sätzen deutlich, manchmal ist es nur eine Stimmung, die das Gemälde für den Schriftsteller ausstrahlt und eine Geschichte in Bewegung setzt. So erzählt Jill D. Block in „Die Geschichte von Caroline“ die Begegnung zwischen der bei Pflegeeltern aufgewachsenen Hannah und ihrer leiblichen Mutter Grace, die sie als Pflegekraft für ihren im Sterben liegenden Mann Richard engagiert hat, während auf dem dazugehörigen Bild „Summer Evening“ (1947) ein junger Mann und eine junge Frau nachts auf der Veranda an der Mauer lehnen. Robert Olen Butler hat dagegen in seiner Story „Abenddämmerung“ sehr konkret die Figurenkonstellation auf dem Bild „Soir Bleu“ (1914) mit einem Clown auf der Veranda, zwei Männern, die ihm am Tisch gegenübersitzen, und einer dabeistehenden Frau als Ausgangspunkt für eine Geschichte über die Erinnerung des Ich-Erzählers über seine Begegnung mit einem Pierrot in jungen Jahren genommen.
Und Michael Connelly lässt den Helden seiner Romanreihe um Detective Bosch auch in „Nachtfalken“ auftreten, wobei Bosch als Privatermittler den Hintergrund einer jungen Frau erforschen soll, die zur Inspiration für ihre Ambitionen als Schriftstellerin ins Museum geht, um Hoppers Gemälde „Nighthawks“ zu studieren.
Zwar sind in Deutschland nicht alle hier versammelten Autoren bekannt, aber auch die neben den Thriller-/Krimi-/Horror-Autoren Lee Child, Joyce Carol Oates, Jeffery Deaver, Joe R. Lansdale und Stephen King hierzulande nicht bekannten Schriftsteller tragen zur äußerst gelungenen Anthologie bei, die über verschiedene literarische Genres hinweg doch immer eindringlich die melancholisch-lakonische Stimmung in Hoppers Gemälden einfängt. Dazu lädt die wunderschöne Gestaltung des Hardcover-Hochglanz-Buches einfach auch dazu ein, sich selbst von den den einzelnen Geschichten vorangestellten Abbildungen inspirieren zu lassen.
Leseprobe Lawrence Block - "Nighthawks"

Stephen King – „Es“

Samstag, 30. September 2017

(Heyne, 860 S., Jumbo)
Im Herbst 1957 wurde der sechsjährige George Denbrough tot, mit ausgerissenem Arm, an einem Gully aufgefunden. Sein bettlägeriger älterer Bruder William hatte ihm zuvor ein Boot aus Papier gebastelt und mit ihm zusammen wasserdicht gemacht. Mit diesem Boot machte sich Georgie im Regenmantel auf den Weg, das mit Paraffin bestrichene Papierschiffchen an der Kante zwischen Straße und Bürgersteig im Strom dahinschwimmen zu lassen, der sich durch vier Tage wolkenbruchartigen Regen entwickelt hat. 27 Jahre später kommt Adrian Mellon unter ähnlichen Umständen ums Leben. Zeugen meinten einen Clown unter der Brücke am Tatort gesehen zu haben, der wie eine Mischung aus Ronald McDonald und dem Fernsehclown Bozo wirkte.
Mike Hanlon, Bibliothekar in Derry, ahnt, dass „Es“ zurückgekommen ist, eine unheimliche Macht, der seine Freunde Bill Benbrough, Stanley Uris, Richard Tozier, Eddie Kaspbrak und Beverly Marsh damals nur dadurch in die Flucht schlagen konnten, weil sie als Freunde zusammengehalten haben. Während alle außer Mike als Erwachsene Derry verlassen haben, um erfolgreicher Komiker (Richie), Schriftsteller (Bill), Architekt (Ben), Modedesignerin (Bev) oder Prominenten-Chauffeur (Eddie) zu werden, hat Mike eine Chronik über die Welle von Gewaltverbrechen erstellt, die in regelmäßigen 27-Jahres-Zyklen Derry heimsuchen – und zwar seit nachweisbar sehr langer Zeit. Als Mike und seine Freunde damals „Es“ besiegt, aber nicht getötet hatten, schworen sie sich, wieder zusammenzukommen, sollte „Es“ zurückkehren.
Mike ruft seine alten Freunde an, die mit Ausnahme von Stan tatsächlich ihre Verpflichtungen liegen lassen und nach Derry kommen, um ihr Versprechen einzulösen. Schnell zeigt sich, dass Mike mit seiner Befürchtung recht gehabt hat: „Es“ hat nach wie vor allerlei Tricks auf Lager, seine Gegner mit ihren ureigensten Ängsten zu konfrontieren …
„Er wusste es nicht, aber er glaubte – ebenso wie er glaubte, dass alle Morde auf ein und dasselbe Konto gingen -, dass Derry sich tatsächlich verändert hatte, und dass diese Veränderung mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte. Die Schreckensvisionen in seinem Kopf hatten ihren Ursprung in seiner tief verborgenen Überzeugung, dass in Derry jetzt alles Mögliche passieren konnte. Alles.“ (S. 168) 
Im Jahr seines 70. Geburtstages erlebt Stephen King eine bemerkenswerte Renaissance seiner Werke. Der „King of Horror“ schreibt nicht nur unermüdlich weiter, sondern durfte auch verfolgen, dass in diesem Jahr nach „The Dark Tower“ auch sein bereits 1990 durch Tommy Lee Wallace verfilmtes Epos „Es“ erneut eine filmische Adaption erfahren hat, diesmal für die große Leinwand und weitaus gruseliger als der frühere Fernseh-Zweiteiler.
Als Stephen King 1986 „Es“ veröffentlichte, konnte er bereits mit u.a. „Carrie“, „Shining“, „The Stand“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Der Talisman“ (zusammen mit Peter Straub) auf etliche Bestseller zurückblicken. Aber erst mit „Es“ schuf Stephen King eine über mehrere Zeitebenen perfekt ausbalancierte Geschichte, die vor allem durch die sehr sorgfältige Zeichnung der sympathischen Figuren brilliert, die King jeweils mit sehr ausführlichem Hintergrund ausgestattet hat.
Geschickt verleiht er dem Grauen in Derry durch einen verführerischen Clown Gestalt und macht für die Kinder das Leben in der an sich idyllischen Kleinstadt zum Alptraum, zu dem nicht zuletzt der bösartige Henry Bowers mit seiner Clique mit ihren durchaus brutalen Gemeinheiten beitragen. Stück für Stück enthüllt Stephen King vor allem durch seinen Chronisten Mike Hanlon die Geschichte des Bösen in Derry, das es auf überdurchschnittlich viele Kinder abgesehen hat. Obwohl King selbst innerhalb eines Satzes von Kapitel zu Kapitel zwischen den Zeiten springt, hält er die Spannung immer aufrecht. Das gelingt ihm vor allem durch die minutiös geschilderten Biografien der „Club der Verlierer“-Mitglieder mit ihren ganz individuellen Geschichten, psychischen Dispositionen, Träumen und Ängsten, mit ihren persönlichen Beziehungen, Berufen und Problemen, so dass der Leser sich mitten im Geschehen erlebt und zusammen mit den Figuren zwischen den 1950er und 1980er Jahre hin- und herspringt.
Wenn zum Ende hin deutlich wird, wie es den Kindern damals gelang, „Es“ zu besiegen, wirkt das Vorgehen nicht gerade nachvollziehbar, aber King erweist sich als dermaßen souveräner und mitreißender Erzähler, dass der Spruch, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern, in dieser Hinsicht auch auf „Es“ zutrifft.
Als ich den Roman 1986 – nach meinem Abitur - zum ersten Mal gelesen hatte, war ich so gefesselt, dass ich fortan – und bis heute – ein großer Fan von Stephen King wurde, der zugleich meine Lust zunächst an der Schauerliteratur und so am Lesen im Allgemeinen geweckt hat, womit ich ihm mehr als nur dankbar bin. Dreißig Jahre später hat das Horror-Epos für mich nichts an seiner Faszination eingebüßt, die auf die permanent gruselige Atmosphäre und die geschickte Dramaturgie zurückzuführen ist, wie sie nur Stephen King zu inszenieren vermag. 
Leseprobe Stephen King - "Es"

Stephen King – (Bill Hodges: 3) „Mind Control“

Samstag, 15. Oktober 2016

(Heyne, 526 S., HC)
Als der pensionierte Detective Bill Hodges von seinem ehemaligen Partner Peter Huntley gebeten wird, einen erweiterten Selbstmord zu untersuchen, wird der Privatermittler mit seiner Partnerin Holly erneut mit den schrecklichen Ereignissen konfrontiert, bei denen ein Irrer namens Brady Hartsfield an einem nebligen Morgen des Jahres 2009 mit einem gestohlenen Mercedes in eine Schar von Arbeitssuchenden gerast ist. Ein Jahr später hat der sogenannte Mercedes-Killer versucht, eine Bombe bei einem Konzert der Teenie-Band ´Round Here zu zünden, doch Holly hat den Psychopathen durch einen heftigen Schlag mit einer mit Kugellagerkügelchen gefüllten Socke auf den Schädel ins Kiner Memorial Hospital katapultiert, wo er sich nun in einem unverändert katatonischen Dämmerzustand befindet.
Als sie die Wohnung von Martine Stover untersuchen, die eine der Überlebenden des Massakers am City Center gewesen ist, stoßen Hodges und Holly auf merkwürdige Indizien wie das Selbstmord-Set, ein mit Filzstift gemaltes „Z“ und eine antiquiert wirkende Spielkonsole. Bei ihren weiteren Ermittlungen stößt das „Finders Keepers“-Duo auf weitere Suizide von Menschen, die irgendwie mit Brady Hartsfield zu tun hatten.
Offensichtlich verfügt der Patient über telekinetische Kräfte und kann sich mittels der nicht mehr hergestellten Spielkonsolen in die Köpfe von Menschen wie Krankenpflegern, Ärzten und Besuchern schleichen, die dann Hartsfields Rachepläne in die Tat umsetzen. Mittels einer eigens eingerichteten Website und weiterhin verteilten Zappit-Spielkonsolen setzt Hartsfield eine ganze Kette von Suiziden in Gang, die Bill und Holly mit allen Mitteln aufzuhalten versuchen …
„Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Brady eine erstaunliche Reise hinter sich gebracht. Wie das Endresultat aussehen wird, ist unmöglich vorherzusagen, aber irgendein Resultat wird sich einstellen, da ist er sich sicher. Eines, an dem der alte Exdetective schwer zu knabbern haben wird. Tja, Rache ist eben wirklich süß.“ (S. 294) 
Mit „Mind Control“ bringt Stephen King die Trilogie um Ex-Detective Bill Hodges und den soziopathischen Killer Brady Hartsfield alias Mr. Mercedes, die mit „Mr. Mercedes“ und „Finderlohn“ vielversprechend begonnen hat, zu einem turbulenten und absolut finalen Abschluss. Auch wenn der dritte Band noch einmal die Ereignisse der vorangegangenen Bände rekapituliert und sich durchaus losgelöst davon lesen lässt, macht es wirklich Sinn, sich der Trilogie im Ganzen anzunehmen, denn Stephen King erweist sich hier einmal mehr als Meister der detaillierten Figurenzeichnung.
Da Bill Hodges mit seinen fast siebzig Jahren gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe ist und eine niederschmetternde Diagnose verarbeiten muss, schweißt der Hartsfield-Fall ihn und seine Geschäftspartnerin Holly noch mehr zusammen. Die gemeinsamen Szenen von Holly und Bill zählen fraglos zu den eindringlichsten der ganzen Trilogie und zu den erzählerischen Höhepunkten von „Mind Control“.
Davon abgesehen bietet der Roman weit mehr übernatürliche Elemente als „Mr. Mercedes“ und „Finderlohn“, wobei es King wieder souverän gelingt, die an sich schwer nachvollziehbaren Phänomene überaus natürlich erscheinen zu lassen. Aber natürlich bietet „Mind Control“ auch wieder klassischen Krimistoff, der sich manchmal etwas zäh entwickelt, wenn King allzu ausschweifend von Rückblenden Gebrauch macht. Ähnlich wie Bradys Versuchskaninchen vor der „Fishin‘ Hole“-Demo ihres Zappits wird auch der Leser hypnotisch von der packenden Story mitgerissen – bis zum alles erlösenden Finale.
Leseprobe Stephen King - "Mind Control"

Stephen King – „Stark – The Dark Half“

Montag, 30. Mai 2016

(Hoffmann und Campe, 477 S., HC)
1960 war der in Bergenfield, New Jersey, geborene Thad Beaumont elf Jahre alt. Das Jahr war insofern prägend für sein späteres Leben, weil er nicht nur eine Urkunde von „American Teen“ für seine Kurzgeschichte „Outside Marty’s House“ erhielt, sondern auch von starken Kopfschmerzen gepeinigt wurde, die sich durch ein Phantomgeräusch ankündigten, das wie das Tschilpen Tausender kleiner Vögel anhörte.
Als Dr. Pritchard den vermutlich gutartigen Tumor, der durch den dunklen Schatten auf dem Röntgenbild verkörpert wurde, entfernen wollte, stieß er auf ein blindes Auge und weitere Körperteile eines vermutlich nicht vollständig absorbierten Zwillings. 28 Jahr später lebt Thad mit seiner Frau Liz und den beiden Zwillingen Wendy und William in Ludlow und blickt auf eine wechselhafte Schriftstellerkarriere zurück.
Mit seinem Debütroman „The Sudden Dancers“ war er 1972 für den National Book Award nominiert, konnte mit seinem nächsten Roman aber nicht mehr an diesen Erfolg anknüpfen. Dafür schafften es die drei harten Thriller, die Thad unter dem Pseudonym George Stark ab 1975 veröffentlichte, jeweils mühelos auf die Bestsellerlisten. In einem „People“-Artikel wird das Geheimnis von George Stark allerdings gelüftet. Für die Fotografin posieren Thad und Liz vor einem eigens gestalteten Grabstein mit der Inschrift „George Stark – 1975-1988 – Kein angenehmer Zeitgenosse“ auf dem Homeland-Friedhof in Castle Rock, wo die Beaumonts auch ein Sommerhaus am Ufer des Castle Lake besitzen.
Zuvor hatte der Student Frederick Clawson die wahre Identität von George Stark erkannt und Beaumont entsprechend erpresst. Doch mit der Beerdigung von George Stark ist vor allem der vermeintlich Verstorbene nicht einverstanden, der sich auf einmal körperlich manifestiert hat und alle Menschen umbringt, die mit seiner Beerdigung zu tun haben.
Sheriff Alan Pangborn, der anfangs noch Thad verdächtigt, den Einheimischen Homer Gamache umgebracht zu haben, muss im Laufe seiner Ermittlungen auch zugeben, dass unheimliche Dinge vor sich gehen. Und George Stark setzt alle Hebel in Bewegung, in seinen Büchern wieder zum Leben erweckt zu werden.
„Welches Recht hatte dieser Mistkerl, sich seiner zu entledigen? Welches gottverdammte Recht? Weil er schon vor ihm ein realer Mensch gewesen war? Weil Stark selbst nicht wusste, warum und wann er seinerseits in die Realität eingetreten war? Das war Unsinn. Was George Stark anging, hatte Anciennität nicht das Geringste zu besagen. Es war nicht seine Aufgabe, sich einfach hinzulegen und widerspruchslos zu sterben, was Beaumont offenbar von ihm erwartete. Seine Aufgabe war vielmehr, am Leben zu bleiben. Das war er schon seinen Lesern schuldig.“ (S. 339) 
Nach seiner Novelle „Die Leiche“ und den beiden Romanen „The Dead Zone“ und „Cujo“ war „Stark – The Dark Half“ aus dem Jahr 1989 der dritte Roman des bis heute fortdauernden Zyklus von Geschichten, die in der fiktiven Stadt Castle Rock angesiedelt sind. Bedeutsamer ist allerdings die Tatsache, dass Stephen King mit diesem Roman die Aufdeckung seines eigenes Pseudonyms Richard Bachman verarbeitet hat. Davon abgesehen bietet „Stark“ vor allem Einsichten in den schriftstellerischen Schaffensprozess, kommentiert Verlagswesen und Publikumsgeschmack und ruft durch die zu Tausenden auftretenden Sperlinge Reminiszenzen an Hitchcocks „Die Vögel“ wach.
In erster Linie bietet der Roman aber erstklassige Spannungsliteratur, der in einem geschickt konstruierten Showdown gipfelt und 1990 kongenial durch Horror-Papst George Romero („Die Nacht der lebenden Toten“) mit Timothy Hutton in der Hauptrolle verfilmt worden ist.

Stephen King – „Basar der bösen Träume“

Mittwoch, 10. Februar 2016

(Heyne, 766 S., HC)
Über seine lange, überaus kreative Karriere hinweg hat der „King of Horror“ immer wieder Kurzgeschichten verfasst und sie in bemerkenswerten Sammlungen wie „Nachtschicht“, „Im Kabinett des Todes“, „Sunset“ oder „Alpträume“ zusammengefasst. Obwohl er zugibt, eine Vorliebe für epische Texte zu haben, in die sowohl der Autor als auch der Leser so tief eintauchen können, dass Literatur zu einer nahezu realen Welt werden kann, schätzt King nach wie vor die kürzeren, intensiveren Erfahrungen, die die Kurzgeschichte mit ihrer strengen Fokussierung auf das Wesentliche bietet.
Mit „Basar der bösen Träume“ beweist King einmal mehr, dass er nicht nur großartige Horror-Epen wie „The Stand - Das letzte Gefecht“ und „Arena“, einen umfassenden Fantasy-Zyklus wie „Der Dunkle Turm“ oder faszinierende Fortsetzungsromane wie „The Green Mile“ zu kreieren vermag, sondern regelmäßig auch Kurzgeschichten, von denen „Basar der bösen Träume“ nun zwanzig zusammenfasst, die die meisten deutschen Leser noch nicht kennen dürften.
Da der Autor immer wieder von seinen Lesern gefragt wird, woher er seine Ideen nimmt, hat er jeder Geschichte eine kurze Einleitung vorangestellt, in der er diesem Anliegen nachzukommen versucht. So stellt die erste im „Basar der bösen Träume“ vorgestellte Geschichte, „Raststätte Mile 81“, nicht nur eine von Kings Lieblingsgeschichten dar, sondern lässt sich auf Kings Studentenzeit zurückführen, als er jedes dritte Wochenende die Fahrt von Orono nach Durham fuhr, wo er seine Freundin besuchte und dabei einen Streckenabschnitt zwischen Gardiner und Lewiston passieren musste, der absolutes Niemandsland darstellte. Diese Mile 85 inspirierte King zu einer Geschichte, die Erinnerungen an „Christine“ wachruft und den Leser in ein echtes Horrorszenario führt.
Das trifft auch beispielsweise auf „Böser kleiner Junge“ zu, in der ein Junge mit knallroten Haaren und Propellermütze aus dem Nichts auftaucht und offensichtlich alle Menschen umbringt, die dem Erzähler nahestehen.  
King beweist mit seinen thematisch vielschichtigen Geschichten einmal mehr, wie sich das Grauen oftmals aus Alltagssituationen und scheinbar günstigen Gelegenheiten entwickelt. In „Moral“ kommen der Vertretungslehrer Chad und die Krankenpflegerin Nora gerade so über die Runden. Damit Chad endlich seinen längst geplanten Roman fertigstellen kann, nimmt Nora ein unmoralisches Angebot der besonderen Art an, was die Beziehung einer starken Belastungsprobe unterzieht. Stark ist auch die im Auftrag von Amazon zur Verkaufsförderung des Kindle entstandene Geschichte „Ur“, die den Leser auch wieder in das vertraute Terrain des Dunklen Turms führt. Davon abgesehen stellt King in „Feuerwerksrausch“ auch seinen eigensinnigen Humor unter Beweis, wenn er seinen Ich-Erzähler mit seiner stets angesäuselten Mutter zum Unabhängigkeitstag einen Wettkampf mit den Massimos darum liefert, wer die imposantesten Feuerwerkskörper in die Luft jagt.
„Ich halte nichts von der Annahme, dass man nicht über etwas schreiben könne, wenn man es nicht selbst erlebt habe, und zwar nicht nur deshalb, weil sie davon ausgeht, dass der menschlichen Fantasie Grenzen gesetzt wären, obwohl sie im Grunde genommen unbegrenzt ist. Eine solche Behauptung legt auch nahe, dass die menschliche Fantasie zu gewissen Sprüngen nicht in der Lage sei.“ (S. 535) 

Mit dieser Aussage, die King seiner Geschichte „Mister Sahneschnitte“ voranstellt, untermauert der Bestseller-Autor die scheinbar unbegrenzte Kreativität, mit der er in kürzester Zeit immer wieder neue faszinierende, spannende und erschütternde Geschichten zum Besten gibt.
„Basar der bösen Träume“ stellt dabei so etwas wie eine Achterbahnfahrt dar, in der der Leser atemlos von einem spektakulären Looping in die nächste nicht einsehbare Kurve rast. Viel Vergnügen! 


 

Stephen King – (Bill Hodges: 2) „Finderlohn“

Sonntag, 27. September 2015

(Heyne, 542 S., HC)
New Hampshire im Jahre 1978. Sechs Monate vor seinem achtzigsten Geburtstag wird der einst erfolgreiche, seit Jahren aber zurückgezogen auf einer Farm lebende Schriftsteller John Rothstein von drei vermummten Männern in seinem Schlafzimmer überfallen und zur Öffnung seines Safes gezwungen. Dort lagern nicht nur über 20.000 Dollar an Bargeld, sondern - was zumindest Morris Bellamy, dem gebildeten Anführer des Trios, wichtiger zu sein scheint – auch etliche Notizbücher, in denen Rothstein neben Gedichten und Essays auch die Entwürfe zu zwei neuen Romanen um seinen Helden Jimmy Gold niedergeschrieben hat. Wie der alternde Autor vor seinem Tod noch erfahren darf, ist Bellamy ganz und gar nicht davon angetan, wie Rothstein seinen Helden Jimmy im abschließenden Band seiner Trilogie seine Ideale verraten und in die Werbebranche gehen ließ.
Bellamy entledigt sich nach dem Mord an Rothstein auch seiner beiden Komplizen und vergräbt seinen Schatz in einem Koffer in der Nähe eines Trampelpfads, der seine Wohnung in der Sycamore Street mit dem Jugendzentrum in der Birch Street verbindet. Doch bevor er sich später den Notizbüchern widmen kann, wandert Bellamy wegen eines anderen Verbrechens für 35 Jahre hinter Gittern.
2010 lebt der junge Pete Saubers mit seiner Familie in dem ehemaligen Bellamy-Haus und findet bei einem Spaziergang zufällig den Koffer. Mit dem Geld unterstützt er in monatlichen Raten seine nicht nur finanziell angeschlagene Familie. Die Notizbücher versucht er über den leicht anrüchigen Buchhändler Drew Halliday zu verkaufen, damit seine Schwester Tina aufs College gehen kann. Doch auch Halliday selbst wittert ein großes Geschäft.
„Die angekündigten sechs Notizbücher kamen ihm bereits wie ein magerer Appetithappen vor. Sämtliche Notizbücher – von denen einige einen vierten Roman über Jimmy Gold enthielten, wenn Drews psychopathischer Freund damals, vor so vielen Jahren, recht gehabt hatte – waren unter Umständen bis zu fünfzig Millionen Dollar wert, wenn man sie aufteilte und an verschiedene Sammler verkaufte.
Allein schon der vierte Jimmy Gold konnte zwanzig Millionen bringen. Und da Morrie Bellamy im Gefängnis schmorte, stand Drew nur ein junger Bursche im Weg, der nicht einmal einen anständigen Schnurrbart zustande brachte.“ (S. 248) 
Allerdings haben Halliday und Pete Saubers ihre Pläne ohne den vorzeitig aus dem Gefängnis auf Bewährung entlassenen Bellamy gemacht. Nachdem dieser nur einen leeren Koffer in seinem Versteck vorgefunden hat, braucht er nicht lange, um herauszufinden, wer die Notizbücher in seinem Besitz hat …
Auch wenn Stephen King als „King of Horror“ bekannt geworden ist und seinen Weltruhm gruseligen Frühwerken wie „Carrie“, „Christine“, „Feuerteufel“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ verdankt, sind viele seiner letzten Werken kaum noch dem Horrorgenre zuzuordnen. Das traf bereits auf „Mr. Mercedes“ zu und noch mehr auf das jetzt veröffentlichte „Finderlohn“, das sich fast wie eine Fortsetzung zu „Mr. Mercedes“ liest. Denn das familiäre Elend, das die Saubers erfasst, ist eben auf das Massaker zurückzuführen, das ein gewisser Brady Hartsfield 2009 mit einem gestohlenen Mercedes vor dem City Center veranstaltete, als er den Wagen mit voller Absicht in eine Masse von Arbeitssuchenden lenkte und dabei auch Pete Saubers Vater Tom erwischte.
Mit dem pensionierten Detective Kermit Bill Hodges, seinen Helfern Jerome und Holly sowie dem in einer psychiatrischen Anstalt verwahrten Attentäter Hartsfield tauchen auch einige Figuren aus „Mr. Mercedes“ in „Finderlohn“ in mehr oder wenigen wichtigen Nebenrollen auf, aber die eigentliche Handlung spielt sich zwischen dem ursprünglichen „Besitzer“ von Rothsteins Notizbüchern und ihrem späteren Entdecker ab.
Hier entwickelt Stephen King einen klassischen Krimi-Plot in bester John-D.-MacDonald-Tradition (dem King diesen Roman auch gewidmet hat) und schreibt dabei auch über das Schreiben an sich, über die Rolle des Autors und seinem Verhältnis zu seinem Werk, seinen Figuren und letztlich auch zu seiner Leserschaft.
Dieses Thema hat King bereits in Werken wie „Stark – The Dark Half“, „Das geheime Fenster“ und „Misery“ meisterhaft in Szene gesetzt, nur kommt er in „Finderlohn“ ganz ohne übernatürliche Elemente aus. Und bei dem faszinierenden Ende bleibt sogar die Hoffnung, einigen der interessanten Figuren in weiteren Büchern von Stephen King wiederzubegegnen.
Einmal mehr hat der produktive Erzähler einen Pageturner geschrieben, der vor Einfallsreichtum, sorgfältig gezeichneter Figuren und dramatischer Spannung nur so strotzt.
 Leseprobe Stephen King - "Finderlohn"

Stephen King – „Revival“

Freitag, 27. März 2015

(Heyne, 511 S., HC)
An einem Samstag im Oktober 1962 bereitet der sechsjährige Jamie Morton im Vorgarten eine große Schlacht mit seinen Spielzeugsoldaten vor, die er von seiner Schwester Claire zum Geburtstag bekommen hat, macht er die Bekanntschaft mit dem neuen Pfarrer der neuenglischen Gemeinde in Harlow, Charles Jacobs. Der Methodistenprediger gewinnt nicht nur sofort Jamies Herz, sondern auch der Kirchgänger. Vor allem die Jugendlichen sind begeistert, wenn Jacobs in seinen Bibelstunden die vorgetragenen Geschichten mit elektrischen Spielereien eindrucksvoll veranschaulicht. Dass hinter diesen Aufsehen erregenden Vorführungen mehr steckt, erfahren die Mortons, als Jamies Bruder Conrad seine Stimme verliert und Dr. Renault mit seinem Arztlatein am Ende ist. Dem experimentierfreudigen Prediger gelingt es nämlich, Conrad mit seiner Versuchsanleitung wieder die Stimme zurückzugeben.
Doch bevor Jacobs in der Gemeinde weitere Wunder wirken kann, werden seine Frau und sein Sohn bei einem Autounfall getötet. Jacobs hält eine letzte flammende wie gotteslästernde Predigt und verlässt die Stadt für immer. Doch die Wege von Jamie und Jacobs sollen sich über die Jahrzehnte immer wieder kreuzen. Jamie legt eine Karriere als drogenabhängiger Musiker hin und trifft Jacobs auf einem Jahrmarkt, wo er das Publikum mit seinen Portraits in Blitzen fasziniert.
Durch eine Freundin erfährt Jamie, dass Jacobs immer wieder mal Wunderheilungen durchgeführt hat, dass dabei aber auch unerwartete Nebenwirkungen mit manchmal tödlichem Ausgang aufgetreten sind. Zwar wird auch Jamie von seiner Abhängigkeit geheilt, doch selbst nach fast fünfzig Jahren beschleicht ihn noch immer ein schauriges Gefühl, wenn er sich in der Nähe des Mannes befindet, der hinter der geheimen Elektrizität offenbar ein größeres Geheimnis zu entdecken hofft …
„Ich war ihm dankbar, doch da ich mich an die Schrecken der Heroinabhängigkeit nicht mehr richtig erinnern konnte (wahrscheinlich so ähnlich, wie eine Frau sich nach der Niederkunft nicht mehr an die Schmerzen bei der Geburt erinnern konnte), war ich nicht so dankbar, wie man meinen konnte. Außerdem machte er mir Angst. Das galt auch für seine geheime Elektrizität. Die bedachte er immer mit extravaganten Begriffen – so sprach er vom Geheimnis des Universums und vom Pfad zum höchsten Wissen -, aber eine Vorstellung davon, worum es sich dabei wirklich handelte, hatte er offenkundig genauso wenig, wie ein Kleinkind, das im Kleiderschrank seines Daddys einen Revolver fand, wirklich wusste, was es da in den Händen hielt.“ (S. 219) 
Dass der „King of Horror“ seinen neuen Roman den Großen seiner Zunft gewidmet hat – von „Frankenstein“-Schöpferin Mary Shelley, „Dracula“-Autor Bram Stoker über H.P. Lovecraft, Arthur Machen, Fritz Leiber und Robert Bloch bis zu seinem Freund Peter Straub, mit dem er u.a. „Der Talisman“ zusammen geschrieben hat – verwundert nicht, denn der Geist, den die Wegbereiter der Horror-Literatur geschaffen haben, strömt mit unheimlich fluoreszierender Wucht durch die Seiten, die die Jahrzehnte eines außergewöhnlichen Männerlebens beschreiben, das von unheilbaren Krankheiten und Tod, von Drogenmissbrauch und religiösem Eifer, wissenschaftlicher Neugierde bis zur Grenze des Wahnsinns und vermeintlichen Wunderheilungen geprägt ist.
Vor allem zum eindrucksvollen Finale hin nimmt „Revival“ zunehmend Frankensteinsche Züge an, die sich mit Lovecrafts kosmischen Schrecken unheilvoll verbinden. Zwar weist der Roman wie gewöhnlich bei King auch mal Längen auf, aber der Bestseller-Autor bleibt einfach ein glänzender Erzähler, der sich auf die gut nachvollziehbare Zeichnung seiner Figuren versteht, die wie auch diesmal schicksalhaft miteinander verknüpft sind.
Und mehr noch als die angerissenen Themen des religiösen Fanatismus und wahnhaftem wissenschaftlichen Treiben ist es die unnachahmliche Art, wie King seine so unterschiedlichen Protagonisten miteinander agieren lässt, die „Revival“ zu einem spannenden Lesevergnügen macht.
Leseprobe Stephen King - "Revival"

Stephen King – (Bill Hodges: 1) „Mr. Mercedes“

Samstag, 1. November 2014

(Heyne, 591 S., HC)
In einer wirtschaftlich angeschlagenen Großstadt im Mittleren Westen der USA warten bereits in den frühen Morgenstunden Hunderte Arbeitssuchende darauf, dass die populär angekündigte Jobbörse in der Stadthalle ihre Tore öffnet. Auf einmal wird die Menge von den aufleuchtenden Scheinwerfern eines Mercedes Benz erfasst, der daraufhin vorsätzlich in die Warteschlange rast und unerkannt flüchten kann. Dieser Fall des Mercedes-Killers gehört zu den wenigen, die Detective Bill Hodges ungeklärt zurücklassen muss, als er in den Ruhestand geht.
Mittlerweile ist Hodges so von seinem Leben angeödet, dass er sich Tag für Tag vor dem Fernseher berieseln lässt und mit dem .38er M&P herumspielt, um hin und wieder festzustellen, wie der Lauf des geladenen Revolvers auf der Zunge liegt und auf den Gaumen gerichtet ist. Doch dann reist ihn der persönlich an ihn gerichtete Brief des mutmaßlichen Mercedes-Killers aus der Lethargie. Indem sich der Killer darüber lustig macht, dem meistdekorierten Polizisten der Stadt entwischt zu sein, weckt er den Jagdinstinkt des Ruheständlers. Nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hat, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln. Bei einem Mittagessen mit seinem alten Partner Pete Huntley bringt sich Hodges auf den derzeitigen Stand der Ermittlungen in dem Fall, dann sucht er noch einmal das Gespräch mit Olivia Trelawney, der Besitzerin des gestohlenen Mercedes. Bei seinen Ermittlungen kann sich Hodges nicht nur auf seinen cleveren Helfer Jerome verlassen, sondern auch auf die attraktive Janey Patterson, Olivia Trelawneys Schwester. Gemeinsam kommen sie einem jungen Mann auf die Spur, der durch ein anonymes Chat-Portal immer wieder Nachrichten mit Hodges austauscht und eine ungewöhnliche Beziehung zu seiner Mutter pflegt.
„Er würde gern glauben, dass es eine zärtliche Wiedervereinigung von Mutter und Kind geben wird – vielleicht sogar eine von Mutter und Liebhaber -, doch tief drinnen tut er das nicht. Er kann es sich vormachen, aber … nein.
Nur Dunkelheit.
Wegen Gott macht er sich keine Sorgen, und er hat auch keine Angst, dass er die Ewigkeit damit verbringen muss, langsam für seine Verbrechen geröstet zu werden. Es gibt weder Himmel noch Hölle. Jeder halbwegs vernünftige Mensch weiß, dass so etwas nicht existiert. Wie grausam müsste das höchste Wesen sein, um eine derart abgefuckte Welt zu erschaffen wie diese?“ (S. 438f.)
Hodges muss einige herbe Rückschläge und Verluste bei der Suche nach dem Mercedes-Killer hinnehmen, bis alles darauf hindeutet, dass der Killer ein weiteres Mal bei einer größeren Menschenansammlung zuschlagen wird, aber wo?
Stephen Kings neuer Roman kommt ungewöhnlich konventionell daher. Statt übersinnlicher Phänomene, die den Kampf zwischen Gut und Böse infiltrieren, bemüht der Bestseller-Autor Szenarien, wie ihn der Noir-Schriftsteller James M. Cain (dem der Roman gewidmet ist) kreiert haben könnte, den Wettkampf zwischen einem lebensmüden Cop im Ruhestand und einem aus der Reihe tanzenden Muttersöhnchen, wobei King virtuos ebenso mit den Klischees des Genres spielt wie er sie unterläuft.
Die Stärken von „Mr. Mercedes“ liegen wie bei King üblich in den sehr genauen Figurenzeichnungen, der lebendigen Sprache und einem fesselnden Spannungsaufbau, so dass man ihm sporadische Längen durchaus gern verzeiht.
Leseprobe Stephen King - "Mr. Mercedes"

Stephen King – „Doctor Sleep“

Mittwoch, 11. Dezember 2013

(Heyne, 704 S., HC.)
“Shining” ist nicht nur eines der ältesten (1977 erstmals von Doubleday veröffentlicht) Werke des Horror-Schriftstellers Stephen King, sondern wurde auch 1980 kongenial von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt. Nach über 35 Jahren legt King mit „Doctor Sleep“ nun eine packende Fortsetzung vor, in der das Schicksal von Daniel Torrance im Mittelpunkt des Geschehens steht.
Er muss ein noch stärker mit dem „Shining“ gesegneten Mädchen vor einer besonderen Art von Vampiren retten. Nachdem das Overlook-Hotel wegen eines defekten Heizkessels – so das Fazit des Brandinspektors von Jicarilla County - bis auf die Grundmauern abgebrannt war und unter anderem der für den Winter eingestellte Hausmeister John Torrance dabei ums Leben kam, lebten seine Frau Wendy und ihr gemeinsamer Sohn Daniel von der Abfindung, die ihnen die Besitzerfirma des Hotels zahlten, im mittleren Süden und dann im sonnigen Tampa.
Mittlerweile ist Dan erwachsen und wie sein Vater dem Alkohol verfallen. Er reist durch die Staaten und nimmt Gelegenheitsjobs als Hausmeister und Krankenpfleger an, bis er in Frazier landet und die Bekanntschaft mit Billy Freeman macht, der ihm einen Job in der Freizeitanlage Teenytown vermittelt. Deren Boss erkennt sofort, dass Dan ein Alkoholiker ist und legt ihm ein strenges Programm auf. Doch kaum hat sich Dan eingelebt, erhält er Botschaften von einem Mädchen namens Abra, das schon als Baby starke „Shining“-Kräfte zum Ausdruck gebracht hat. Während die beiden miteinander kommunizieren, kommen sie einer Vampir-ähnlichen Sekte auf die Spur, die sich der Wahre Knoten nennt und seit Jahrhunderten unauffällig in Wohnmobilen durch die Lande zieht und sich von dem sogenannten Steam ernährt, dem letzten Odem von Menschen, die das „Shining“ besitzen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn der Wahre Knoten hat längst die Spur von Abra aufgenommen …
„Rose wollte das Mädchen nicht nur, weil es – mithilfe des richtigen Drogencocktails und kraftvoller übersinnlicher Beruhigungsmaßnahmen – einen fast endlosen Vorrat an Steam liefern konnte. Die Sache hatte einen persönlicheren Aspekt. So jemand umwandeln? Zum Teil des Wahren Knotens machen? Niemals. Die Kleine hatte Rose the Hat aus ihrem Kopf gescheucht wie eine lästige Sektenanhängerin, die von Tür zu Tür ging, um Broschüren über das Ende der Welt zu verteilen. So war Rose noch von niemand rausgeschmissen worden. Egal wie kraftvoll die Kleine war, man musste ihr eine Lektion erteilen. Und dafür bin ich genau die Richtige.“ (S. 294f.) 
Ebenso wie sich viele Leser gefragt haben, was mit dem kleinen Danny passiert ist, nachdem er mit seiner Mutter Wendy und dem Koch Dick Hallorann in den nächstgelegenen Ort Sidewinder geflüchtet ist, ließ auch den Autor die Frage nie los. 35 Jahre nach "Shining" legt Stephen King mit „Doctor Sleep“ eine Fortsetzung vor, die wie in Kings epochalen Meisterwerken „The Stand - Das letzte Gefecht“ und „Der dunkle Turm“ nicht weniger als den Kampf des Guten gegen das Böse in epischen Dimensionen thematisiert.
Die 700 Seiten werden dabei vor allem von der innigen – durch das „Shining“ geprägte - Beziehung zwischen der jungen Abra und dem Alkoholiker Danny geprägt, von Danny schwerem Weg, die Alkoholsucht zu besiegen und ein neues Leben zu beginnen, von seiner Fähigkeit, als „Doctor Sleep“ im Pflegeheim die Sterbenden zur letzten Ruhe zu begleiten, aber auch von Abras Unsicherheit im Umgang mit ihren außergewöhnlichen mentalen Kräften und natürlich der Konfrontation zwischen dem Wahren Knoten und Abra mit ihren Freunden und Angehörigen.
Der Roman überzeugt dabei durch seine sorgfältig gezeichneten Figuren und den dramaturgisch geschickt inszenierten Spannungsaufbau, der sich in einem furiosen Finale entlädt.
Leseprobe: Stephen King – “Doctor Sleep”

Stephen King – „Joyland“

Sonntag, 23. Juni 2013

(Heyne, 352 S., HC)
Nach zwei Jahren, in denen Devin Jones mit an der University von New Hampshire mit Wendy Keegan ging und in denen sie alles gemeinsam machten außer „es“, kommt es im Sommer 1973 zum Bruch. Sonst arbeiteten sie in den Semesterferien in ihren Nebenjobs durch, sie in der Bibliothek, er in der Mensa, aber diesmal haben Wendy und ihre Freundin Renee einen Job bei Filene’s in Boston bekommen. Per Brief macht Wendy schließlich mit Devin Schluss und lässt einen jungen Mann mit gebrochenem Herzen zurück. Doch als Devin in einer Ausgabe von „Carolina Living“ auf ein Jobangebot mit dem Titel „Work Close To Heaven!“ stößt, beginnt für den 21-jährigen Anglistsik-Studenten das Abenteuer seines Lebens.
In dem eindrucksvollen Freizeitpark „Joyland“ in Heaven’s Bay findet er neue Freunde und trifft auf merkwürdige Gestalten. Sein Kollege Lane Hardy erzählt ihm, dass es im Horror House spuken soll, seitdem das junge Mädchen Linda Gray dort mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Vor allem ist Devin von Annie Ross und ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn Mike fasziniert, denen er auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig begegnet und mit denen er sich anzufreunden beginnt.
 „Mein Vater hatte recht: Ich war immer noch traurig und deprimiert darüber, wie es mit Wendy zu Ende gegangen war, aber immerhin hatte ich angefangen, den Tatsachen ins Auge zu blicken und mich (wie es in den Selbsthilfegruppen heutzutage so schön heißt) mit ihnen abzufinden. Von echter Gelassenheit war ich natürlich noch weit entfernt, aber ich quälte mich auch nicht mehr Tag und Nacht wie noch im Juni und hatte zumindest das Gefühl, dass es langsam wieder bergauf ging. Dass ich hier bleiben wollte, hatte auch mit anderen Dingen zu tun, über die ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren war, weil sie in einem wilden Haufen durcheinanderlagen und nur vom groben Garn der Intuition zusammengehalten wurden. Mit meiner Begegnung mit Hallie Stansfield zum Beispiel. Und mit Bradley Easterbrook, der am Sommeranfang gesagt hatte: Wir verkaufen Spaß. (…) Und dem Jargon, der Geheimsprache, die die anderen Grünschnäbel bis zu den Weihnachtsferien vergessen haben würden. Ich wollte all die tollen Wörter nicht vergessen. Ich hatte das Gefühl, dass in Joyland noch mehr auf mich wartete. Ich wusste nicht, was, nur eben einfach … mehr.“ (S. 153) 
Tatsächlich kommen Devin und seine Kollegin Erin Cook einer ganzen Reihe von Morden an jungen Mädchen auf die Spur, die quer durch das Land in der Nähe von Vergnügungsparks verübt worden sind. Doch je mehr sich Devin mit der Aufarbeitung der Morde und dem Geist von Linda Gray im Horror House beschäftigt, desto mehr begibt er sich selbst in Lebensgefahr …
Nach seinen letzten beiden episch angelegten Romanen „Die Arena“ und „Der Anschlag“, die in den 60er Jahren angesiedelt waren, demonstriert Bestseller-Autor Stephen King mit seinem neuen Roman „Joyland“, dass er nach wie vor auch sehr kurz gehaltene und ebenso kurzweilige Geschichten zu erzählen vermag. „Joyland“ ist nur auf den ersten Blick eine typische Jahrmarkts-Geistergeschichte. Tatsächlich handelt es sich hier um eine lupenreine Coming-of-Age-Story, in der die Schicksale einer überschaubaren Anzahl von Personen immer mehr miteinander verstrickt werden. King entwickelt dabei ein feines Gespür für seine Figuren und ihre ganz eigenen Befindlichkeiten, die der besorgten Mutter eines zum Sterben verurteilten Kindes ebenso wie die des kleinen Jungen selbst. Vor allem aber füllt der Ich-Erzähler Devin Jones die Seiten mit all seinen verwirrten Gefühlen über seine erste, nicht wirklich erfüllte Liebe, über die Beziehung zu seinem Vater und zu Annie Ross und ihrem Sohn. Die Mordfälle geraten dabei nahezu in den Hintergrund, doch zum spannenden Finale hin nimmt dieser Aspekt mächtig an Fahrt auf, was „Joyland“ auch noch eine lupenreine Thriller-Komponente verleiht. Die letzten Werke von Stephen King waren schon sehr gut, aber mit „Joyland“ hat der King of Horror ein Meisterwerk abgeliefert, das einen ganz fesselnden Groove und einen geheimnisvollen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann.

Stephen King – „Die Arena“

Sonntag, 12. Mai 2013

(Heyne, 1280 S., HC)
Wie aus dem Nichts wird die amerikanische Kleinstadt Chester’s Mill von einer durchsichtigen, leicht luftdurchlässigen und – wie sich bald herausstellen wird – leider auch unzerstörbaren Kuppel eingeschlossen. Claudette Sanders zerschellt während ihrer Flugstunde mit der heißgeliebten Seneca ebenso an der massiven Barriere wie Murmeltiere zerteilt werden, als der „Dome“ unbemerkt die Einwohner der Stadt einsperrt. Das kommt vor allem Dale „Barbie“ Barbara ungelegen, weil er nach einer Abreibung auf dem Parkplatz des Dipper’s gerade die Stadt verlassen wollte.
Die Kuppel macht die Pläne des Grillkochs und Irak-Veterans zunichte, kommt dem Zweiten Stadtverordneten Jim Rennie aber gerade recht. Nachdem das Militär unter Führung von Colonel Cox selbst mit Raketen erfolglos versucht hat, die Kuppel zu zerstören, herrscht in Chester’s Mill der Ausnahmezustand. Der Gebrauchtwagenhändler Big Jim Rennie nutzt diese Gelegenheit, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Macht an sich zu reißen. Mit seinen willigen Helfen, vom stellvertretenden Polizeichef Randolph über den Ersten Stadtverordneten Andy Sanders bis zu seinem Sohn Junior Rennie, den er eine Mannschaft von jungen Deputys zusammenstellen lässt, um die Ordnung zu wahren, schaltet er systematisch seine politischen Feinde aus, setzt Lügen in die Welt und schreckt auch vor Mord nicht zurück.
„In der großen Welt hätte er vielleicht mehr Geld scheffeln können, aber Wohlstand war das Dünnbier der Existenz. Macht war Champagner. Über The Mill zu herrschen war an gewöhnlichen Tagen gut, aber in Krisenzeiten war es besser als gut. In solchen Zeiten konnte man auf Schwingen reiner Intuition fliegen, in der Gewissheit, dass man nichts vermasseln konnte, absolut keine Chance. Man konnte die Verteidigung durchschauen, noch bevor sie sich formiert hatte, und punktete mit jedem Wurf. Man fühlte es, und das konnte zu keinem besseren Zeitpunkt passieren als in einem Meisterschaftsfinale. Dies war sein Meisterschaftsfinale, und alles entwickelte sich zu seinem Vorteil. Er spürte – nein, we wusste -, dass bei diesem magischen Lauf nichts schiefgehen konnte; selbst Dinge, die schlecht zu stehen schienen, würden sich als Chancen statt als Stolpersteine erweisen.“ (S. 528f.) 
Zu den Stolpersteinen zählen nicht nur die Dritte Stadtverordnete Andrea Grinnell und Julia Shumway, die Herausgeberin des Lokalblatts „The Democrat“, vor allem Brenda Perkins, die Frau des verstorbenen Polizeichefs, könnte mit ihrem belastenden Material, das ihr Mann über Rennie zusammengetragen hat, zu einem echten Problem werden. Doch Rennie ist gerissen und skrupellos genug, um seine Feinde in die Schranken zu verweisen, während es keine Lösung für die Vernichtung der Kuppel zu geben scheint, unter die Luft zum Atmen immer schlechter wird …
Stephen King hat im Verlauf seiner ebenso langjährigen wie produktiven Karriere immer mal wieder monumentale Werke geschaffen, von dem apokalyptischen „The Stand“ bis zum mehrteiligen Western-Fantasy-Zyklus „Der Dunkle Turm“. Den Entwurf zu „Under the Dome“ verfasste King – wie er im Nachwort erwähnt – bereits 1976, verzagte aber bei den ökologischen und meteorologischen Aspekten, die die Kuppel aufwarf. Mit „Die Arena“ schuf King ein weiteres Endzeit-Epos, das im Mikrokosmos einer auf sich allein gestellten Kleinstadt demonstriert, wohin die Gier nach Macht Menschen treiben kann und wie wenig sich die normale Bevölkerung dagegen zu wehren versteht. Es dürfte nicht schwerfallen, in „Die Arena“ einen Kommentar auf die amerikanische Politik im Kampf gegen den Terror zu sehen. Stephen King beschreibt das Grauen, das aus einem plötzlich entstandenen Machtvakuum entsteht, gewohnt anschaulich und spannend, versäumt es aber, die unzähligen Beteiligten detailliert zu beschreiben, wofür bei knapp 1300 Seiten mehr als genug Platz gewesen wäre. Dafür sind der Verfall der städtischen Gemeinschaft und der Zusammenhalt einiger weniger aufrecht kämpfender Bürger umso bemerkenswerter beschrieben. „Die Arena“ bietet trotz der epischen Länge King-typische Spannung bis zum außergewöhnlichen Finale und bietet genügend Anregungen zum Nachdenken über das Gemeinwohl und die Wertschätzung des Lebens allgemein.
Leseprobe: Stephen King – “Die Arena”

Stephen King – (Der Dunkle Turm: 8) „Wind“

Freitag, 19. Oktober 2012

(Heyne, 415 S., HC)
Was für Tolkien die Bücher über Mittelerde gewesen sind, ist für Stephen King seine Saga um den Dunklen Turm, die abenteuerliche Reise, die Roland, den Revolvermann, mit seinem Ka-Tet durch Mittwelt erlebt. Eigentlich war das gewaltige Epos, das – neben vielen anderen - von Robert Brownings Gedicht „Herr Roland kam zum finstern Turm“ ebenso inspiriert wurde wie von Tolkiens „Herr der Ringe“-Trilogie und den Western von Sergio Leone, mit dem 2004 erschienenen siebten Band „Der Turm“ abgeschlossen, doch offensichtlich lässt Stephen King sein für ihn „wichtigstes Werk“ nicht los.
„Wind“ führt die Saga um den Dunklen Turm aber nicht weiter, sondern bildet eher eine Episode ab, die zeitlich zwischen dem vierten Band „Glas“ und dem fünften Band „Wolfsmond“ angesiedelt ist. Nach ihrem Abenteuer im Grünen Palast streifen Roland von Gilead, Susannah, Eddie und Jake mit dem Billy-Bumbler Oy auf der Straße des Balkens in Richtung des Landes Donnerschlag und damit weiter in Richtung Dunkler Turm. In dem heruntergekommenen Versammlungshaus von Gook schützt sich die Truppe vor dem herannahenden Stoßwind, und Roland nutzt die Zeit, in der niemand an Schlaf denken kann, zum Erzählen einer Geschichte über den Fellmann, den der junge Roland mit seinem Ka-Gefährten Jamie in Debaria aufspüren soll, eine Bestie, die sich offensichtlich von einem Menschen durch mehrere Metamorphosen in einem riesigen Bär verwandeln kann und ganze Familien abschlachtet. Als sie die Jefferson-Ranch nach einem dieser Gemetzel aufsuchen, bergen sie einen Jungen namens Bill, der sich vor dem Gestaltwandler verstecken und an ihm eine Tätowierung entdecken konnte. Bevor sich Roland und seine Freunde auf die Suche nach der Bestie machen, erzählt er dem Jungen eine Geschichte, die er selbst als Junge von seiner Mutter erzählt bekam, „Der Wind durchs Schlüsselloch“.
„Ich begann langsam und systematisch, denn auch das Geschichtenerzählen fiel mir in jenen Tagen nicht leicht … obwohl es etwas war, was ich im Lauf der Zeit gut lernte. Weil ich musste. Das müssen alle Revolvermänner. Aber sobald ich einmal angefangen hatte, sprach ich zunehmend freier und natürlicher. Weil ich die Stimme meiner Mutter hörte. Sie sprach mit allen Hebungen, Senkungen und Pausen aus meinem Mund. Ich konnte sehen, wie Bill in der Geschichte aufging, und das gefiel mir – es war fast so, als hypnotisierte ich ihn wieder, allerdings auf bessere Weise. Auf ehrlichere Weise. Das Beste daran war jedoch, dass ich wieder die Stimme meiner Mutter hörte. Es war, als würde sie mir, tief aus meinem Inneren kommend, zurückgegeben. Es schmerzte natürlich, aber das tun die besten Dinge meistens, wie ich seither festgestellt habe. Das würde man nicht glauben, aber – wie die Alten zu sagen pflegten – die Welt ist schief und hat irgendwo ein Ende.“ (S. 146) 
Tatsächlich nimmt die von Roland erzählte Geschichte „Der Wind durchs Schlüsselloch“ den Hauptteil des achten „Dunkler Turm“-Romans ein und präsentiert sich als grandios fabuliertes klassisches Märchen eines Jungen, der loszieht, um den Mord an seinen Vater zu rächen und die Blindheit seiner Mutter zu heilen, und dabei zum jungen Mann heranreift und schließlich zu einem Revolvermann wird. Insofern funktioniert „Wind“ auch als eigenständiges Werk, für das man den Hintergrund der damit zusammenhängenden Dark-Fantasy-Saga nicht zwingend kennen muss. Fans der „Dunkler Tum“-Saga dürfen nach dieser wunderschönen Märchengeschichte aber hoffen, dass der Autor immer mal wieder nach Mittwelt zurückkehrt, um weitere so schöne Geschichten zu erzählen.
Leseprobe: Stephen King – “Wind”

Stephen King – „Der Anschlag“

Samstag, 24. März 2012

(Heyne, 1056 S., HC)
Seine Ex-Frau Christy hat Jake Epping stets vorgeworfen, ihn niemals weinen gesehen zu haben, doch als der am English Department der LHS lehrende Lehrer den Aufsatz eines erwachsenen Schülers liest, in dem er schildert, wie sein Vater seine Mutter und die beiden Brüder erschlagen, seine Schwester und ihn selbst schwer verletzt hat, weint er erstmals bittere Tränen. Zwei Jahre später hat dieser Schüler, Harry Dunning, sein Diplom in der Tasche, da bekommt Jake einen dringenden Anruf von Al Templeton, in dessen Diner Jake oft zu Gast ist. Als Jake seinen geschätzten Wirt besucht, muss er feststellen, dass dieser schwer an Krebs erkrankt ist und nicht mehr viel Zeit hat.
Er bittet Jake, in den Vorratsraum zu gehen und die Treppe hinabzusteigen. Nach wenigen Schritten hat Jake eine andere Welt betreten – Jake ist ihm Jahre 1958 gelandet. Nachdem sich Jake etwas umgesehen hat und mächtig fasziniert ist, gewinnt ihn Al für eine heikle Mission: Er soll das Attentat auf John F. Kennedy verhindern, der am 22. November 1963 in Dallas erschossen wurde. Al hat selbst etliche Missionen in die Vergangenheit unternommen, um Informationen zur Ausführung des Attentats in einem Notizbuch zusammenzutragen. Jake muss sich zunächst vergewissern, ob Lee Harvey Oswald tatsächlich allein für das Attentat verantwortlich gewesen ist. Doch vorher testet Jake am Fall der Familie Dunning, ob er die Raserei des Vaters unterbinden kann und wenn ja, was diese Veränderung in der Vergangenheit für die Zukunft bewirkt.
„Aber was hatte ich damit im Jahr 2011 bewirkt? Was hatte ich dem Jahr 2011 angetan? Das waren Fragen, die noch beantwortet werden mussten. Sollte wegen des Schmetterlingseffekts irgendetwas Schreckliches passiert sein, konnte ich jederzeit zurückgehen und es ungeschehen machen … immer vorausgesetzt, dass ich durch meinen Eingriff in das Leben der Familie Dunning nicht auch Al Templetons Leben verändert hatte. Was war, wenn der Diner nicht mehr dort stand, wo ich ihn verlassen hatte? Was war, wenn sich herausstellte, dass Al niemals von Auburn nach Lisbon Falls umgezogen war? Oder niemals ein Schnellrestaurant eröffnet hatte?“ (S. 279) 

Nach dem bestandenen Testlauf legt sich Jake in der alten Welt eine neue Identität als George Amberson zu, nimmt einen Job als Aushilfslehrer an und verliebt sich in die Bibliothekarin Sadie Dunhill. Doch je mehr sich George in die Vergangenheit einmischt, desto mehr bekommt er zu spüren, dass sich die Vergangenheit dagegen wehrt …

Ähnlich wie seine Kollegen Clive Barker oder Dean Koontz hat sich Stephen King längst von den Konventionen des Horror-Genres, in dem sie allesamt großgeworden sind, verabschiedet und erzählt in seinen weiterhin üppigen Werken große Geschichten voller Dramatik und Spannung. In dieser Hinsicht bildet „Der Anschlag“ einen absoluten Höhepunkt in dem Schaffen des Bestseller-Autors. Mit großartigem Gespür für seine Figuren und detailreicher Beschreibung der Zeit von Kennedy, Elvis, Autokinos und ausgelassenen Tanzveranstaltungen baut King eine nervenzerreißende Spannung auf, die trotz der epischen Dichte der Erzählung nie abbricht.