R. R. Sul – „Das Erbe“

Dienstag, 29. Oktober 2019

(dtv, 222 S., HC)
Bis zu seinem siebten Lebensjahr musste Wolf tagsüber im Haus bleiben, litt er doch – so sein Arzt – unter der Mondscheinkrankheit. Also schlief Wolf tagsüber und ging erst nachts auf den Spielplatz, wenn die anderen Kinder schliefen. Dann tritt mit Bob ein neuer Mann in das Leben seiner wahnhaften Mutter und verändert Wolfs Leben von Grund auf. Er schenkt ihm einen Motorradhelm, so dass er sich auch tagsüber gefahrlos im Freien bewegen kann, und geht mit dem Jungen erneut zu einem Arzt, der ihm attestiert, ganz normal zu sein. Wolfs unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidende Mutter verkraftet die Neuigkeit nicht, lebt sich mit Bob auseinander und bringt sich in einer Klinik schließlich mit Tabletten um.
Die vielen Jahre, in denen Wolf nur mit seiner Mutter zusammenlebte und nur nachts auf den Spielplatz durfte, haben aber ihre tiefe Spuren in seiner Persönlichkeit hinterlassen. Er zieht zu seinem Großvater nach Hannover, erbt nach dessen Tod nicht nur dessen Wohnung und eine Hütte in den österreichischen Bergen, sondern auch – zusammen mit dem Erbe seiner Mutter - über eine halbe Million Mark. Finanziell abgesichert, igelt sich Wolf zuhause völlig ein, entdeckt die Welt durch seine Puzzle, mit denen er die Wände dekoriert. Der Höhepunkt des Tages ist die Essenslieferung, doch die von ihm verehrte Botin kommt nicht wieder, nachdem er ihr eines Tages nur in Unterhose bekleidet die Tür öffnete, mit dem Papagei auf der Schulter und obszön geschminktem Mund. Doch nach und nach tritt Wolf aus seiner selbstgewählten Isolation heraus, nimmt einen Job als Türsteher ein, trifft dort seine Jugendfreundin Lina wieder und erlebt seine erste Liebesbeziehung .
 „Lina gehörte zu mir, seitdem sie zum ersten Mal in die Erdatmosphäre eingetreten war. Was nichts daran änderte, dass wir unterschiedliche Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben hatten. Ich wollte nicht mit ihr in einem Draußen leben, mit all den anderen. Dazu war ich nicht fähig. Auch nicht ihr zuliebe. Ich fand, dass ich dann nicht mehr echt wäre, für sie. Ich wollte bei mir bleiben. Mit ihr. Das war mir Welt genug.“ (S. 35f.) 
Lina hat das seltsame Leben mit Wolf allerdings nach acht Jahren satt. Stattdessen tritt sein Stiefbruder Freddy plötzlich in sein Leben, der anfangs ebenso wortkarg kommuniziert wie Wolf früher. Als sie gemeinsam erstmals die geerbte Berghütte in Österreich besuchen, kommen sie sich zwar etwas näher, doch Freddy verhält sich immer seltsamer und kehrt immer dann in Wolfs Leben zurück, wenn er es am wenigsten erwartet. Als Wolf allerdings selbst Vater wird, beginnt er das Leben mit anderen Augen zu sehen …
Unter dem exotisch anmutenden Pseudonym R. R. Sul ist mit „Das Erbe“ ein schlicht wie elegant gestalteter Roman bei dtv erschienen, in dem der unter außergewöhnlichen Umständen aufgewachsene Protagonist Wolf als Ich-Erzähler in oft stark verkürzten Sätzen (ohne Verb) sein Leben reflektiert. Dabei wird schon in der Reflexion seiner Kindheit deutlich, wie die Krankheit seiner überängstlichen Mutter die Saat seiner weithin selbstgewählten Isolation bestimmt. Dass sich der finanziell unabhängige Wolf dann doch auf einzelne Menschen einlässt und sogar geliebt wird, zählt zu den bemerkenswertesten Entwicklungen, die Wolf durchmacht.
Der Leser wird schließlich Zeuge, wie die Liebesbeziehungen scheitern, wie daraus aber mit Karl und Augustin Kinder gedeihen, die Wolf im Leben verwurzeln, ihn in Beziehung zu seiner Familie bringen, in der nichts so lief, wie es sein sollte. Wie der Autor vor allem seinen Protagonisten zum Leben erweckt, wie er ihm in dessen eigenen Beschreibungen ein starkes psychologisches Profil verleiht und durch seine Beobachtungen auch seine Mitmenschen charakterisiert, zählt zu den besonderen Stärken des Romans, der sich auf ebenso amüsante wie düster-bedrohliche Weise mit der Herausforderung auseinandersetzt, in einer dysfunktionalen Familie aufzuwachsen und sich selbst von der kranken Umgebung zu emanzipieren und sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
Die oft abrupt eintretenden Veränderungen in Wolfs Leben und die präzise, manchmal abgehackt kurze Sprache sorgen für ein atemloses Lesevergnügen eines ganz und gar ungewöhnlichen Buches.
Leseprobe R. R. Sul "Das Erbe"

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck: 8) „Opfer 2117“

Samstag, 26. Oktober 2019

(dtv, 588 S., HC)
Der 32-jährige spanische Journalist Joan Aiguader hadert mit seinem Schicksal. Er ist nicht nur total abgebrannt und kann nicht mal die zwei Euro für den Kaffee bezahlen, den er an der Promenade am Strand von Barcelona bestellt hat, sondern hat vier weitere Absagen für seine Kurzgeschichten zu verkraften. Doch dann entdeckt er ein Fernsehteam am Strand, das auf die „Tafel der Schande“ und die darauf gezählten Flüchtlinge hinweist, die seit Jahresbeginn im Mittelmeer ertrunken sind, und eine Reportage über einen Mann bringt, dessen Leiche erst vor wenigen Stunden am Badestrand Ayia Napa auf Zypern angeschwemmt wurde. Der eben noch völlig niedergeschlagene Joan spürt auf einmal seinen journalistischen Instinkt, „borgt“ sich das Geld für die Flüge nach Zypern und zurück und will mit der Reportage über den ertrunkenen Mann die Welt aufrütteln. Vor Ort wird Joan jedoch Zeuge einer weiteren Welle von angeschwemmten Leichen, darunter die einer alten Frau, die Joans Aufmerksamkeit fesselt. Tatsächlich scheint sich sein Blatt zum Guten zu wenden, als er mit seiner Story und dem Foto der alten Frau die Titelseite bei Hores del dia schmückt. Doch wie sich herausstellt, ist die alte Frau, die als „Opfer 2117“ bekannt geworden ist, nicht ertrunken, sondern wurde ermordet, während der zuvor in der spanischen Fernsehreportage erwähnte tote Mann als Anführer einer Terrorzelle identifiziert worden ist.
Während Joan damit beauftragt wird, die ganze Geschichte hinter dieser Tragödie zu erzählen, identifiziert Assad die alte Frau auf dem Foto als Lely Kababi, jene Frau, bei der seine Familie damals in Syrien Zuflucht fand, als sie aus dem Irak geflohen waren. Bei der Sichtung des weiteren Fotomaterials zu dem Fall, das ihm seine alte Arbeitskollegin Rose aus anderen Zeitungen zur Verfügung stellt, entdeckt Assad nicht nur seine Frau Marwa und eine seiner Töchter, sondern bekommt es mit seinem größten Widersacher Ghaalib zu tun, der nicht nur die beiden Frauen in seiner Gewalt hat, die Assad alles bedeuten, sondern einen gewaltigen Terroranschlag in Deutschland plant. Carl Mørck, Assads Chef beim Kopenhagener Sonderdezernat Q, das sich sonst nur mit alten ungelösten Fällen befasst, begleitet Assad auf dem Weg nach Frankfurt, während die wieder zurückgekehrte Rose mit ihrem Kollegen Gordon einem 22-jährigen Jungen namens Alexander nachjagt, der das Schicksal von Opfer 2117 zum Anlass nimmt, mit seinem Samuraischwert loszuziehen, um wahllos Menschen zu töten, sobald er bei dem Computer-Spiel „Kill Sublime“ Level 2117 erreicht hat. Währenddessen folgen Carl, Assad und der Verfassungsschutz den Terroristen nach Berlin …
„Assad atmete tief durch: Vielleicht begriffen sie jetzt endlich, wogegen sie antraten: Ghaalib war das personifizierte Böse. Nichts weniger als das. Lange starrte er auf den Zettel. Er habe nicht viel Zeit, stand da. Nicht viel Zeit! Und Berlin war so unendlich groß!“ (S. 400) 
Seit seinem 1997 veröffentlichten Debütroman, der in Deutschland unter dem Titel „Das Alphabethaus“ erschienen ist, wurde der aus Kopenhagen stammende Jussi Adler-Olsen vor allem durch seine 2007 initiierte Reihe um Carl Mørck und das Kopenhagener Sonderdezernat Q zum internationalen Bestseller-Autor. Mit „Opfer 2117“ präsentiert Adler-Olsen nicht nur den bereits achten Teil der Reihe, die auch kontinuierlich für das Kino adaptiert wird, sondern auch einen ungewöhnlich aktuellen Fall, der vor allem die bisher so geheimnisvolle Geschichte von Assad endlich lüftet – wenn auch auf extrem dramatische Weise.
Geschickt verleiht der Autor der Tragödie der andauernden Flüchtlingskatastrophe über die bloße Anhäufung von Opferzahlen hinaus ein individuelles Gesicht und verbindet sie mit der Familiengeschichte von Assad – und stellt diese auch noch in den ebenso aktuellen Kontext des Terrorismus. Als würde dies für eine packende, vielschichtige Story noch nicht reichen, fahnden die in Kopenhagen gebliebenen Q-Mitarbeiter Rose und Gordon nach einem psychisch labilen jungen Mann, der seine Wut gegen die Gleichgültigkeit in der Welt mit seinem Samuraischwert Ausdruck verleihen will. Das ist selbst bei knapp 600 Seiten, die der Autor mit seiner Geschichte füllt, ein anspruchsvolles Unterfangen, das ihm zum größten Teil bravourös gelingt.
Indem er ständig die Perspektiven zwischen Carl, Assad, Joan, Alexander, Ghaalib, gelegentlich auch Rose und Gordon wechselt, hält er das Tempo hoch. Dazu sorgen die ersten Terrorzwischenfälle in Frankfurt für Spannung, zu der auch Assads Erinnerungen an seine erste Begegnung mit Ghaalib und dessen Vorbereitungen zu seiner finalen Konfrontation mit seinem Erzfeind ihren Anteil beitragen. Für die emotionale Komponente sorgen nicht nur die traurigen Schicksale der toten Flüchtlinge, sondern vor allem Assads Sorge um das Schicksal der – zählt man die tot aufgefundene Lely dazu – vier wichtigsten Frauen in seinem Leben und Carls Beziehung zu Mona, die mit 51 Jahren noch ein Kind von Carl erwartet.
Bei so vielen Themen bleibt zwangsläufig die Tiefe auf der Strecke. Vor allem der Nebenplot mit Alexander wirkt dabei nicht glaubwürdig und trägt leider auch zum ärgerlich konstruierten Happy End bei. Adler-Olsen hätte gut auf diesen Handlungsstrang verzichten können und so der im Fokus stehenden Geschichte um Opfer 2117 und der Vereitelung von Ghaalibs Terrorplänen mehr Aufmerksamkeit widmen können. So wirken die Sprünge zwischen den Protagonisten, Zeiten und Orten doch sehr gehetzt und oberflächlich. Von diesem Manko abgesehen, bietet „Opfer 2117“ aber rasant erzählte, actionreiche Spannung mit brisant aktuellen, sehr persönlich gestalteten Themen und nach wie vor sympathisch gezeichneten Figuren, unter denen hier vor allem Assad endlich deutliche Konturen gewinnt.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen "Opfer 2117"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 21) „Mein Name ist Robicheaux“

Mittwoch, 23. Oktober 2019

(Pendragon, 600 S., Pb.)
Als Dave Robicheaux die schwerkranke Mafia-Größe Fat Tony Nemo/Tony Squid/Tony Nine Ball/Tony the Nose in seinem Büro aufsucht, bekommt er ein Schwert aus dem Bürgerkrieg überreicht, auf dessen Messinggriff der Name von Lieutenant Robert S. Broussard eingraviert ist und von dem der Mafioso glaubt, dass es die in New Iberia ansässige Familie gern in ihrem Besitz haben möchte. Tony Squid wartet aber auch mit Informationen über den Mann auf, der vor zwei Jahren Robicheaux‘ Frau Molly an einer Kreuzung so schwer gerammt hat, dass sie verstarb. Offensichtlich hat der Mann vor zehn oder fünfzehn Jahren schon ein Kind in Alabama überfahren. Bevor sich der Detective des New Orleans Police Department jedoch mit diesen Informationen befasst, hilft er seinem besten Kumpel Clete Purcel aus der Klemme, steckt er doch mit 250.000 Dollar bei einem Kredithai in den Miesen und droht sein Haus zu verlieren.
Robicheaux stattet dem elitären, doch stets bürgernahen Aristokraten Jimmy Nightingale einen Besuch ab, da dieser Teilhaber bei der Gesellschaft ist, bei der Purcel die Hypothek aufgenommen hat. Dafür, dass sich Nightingale, der für den US-Senat kandidieren will, sich um Purcels Hypothek kümmert, bittet er Robicheaux, ihn mit dem Romanautor Levon Broussard bekanntzumachen, um mit ihm und Tony Nemo die Verfilmung eines seiner Bücher zu realisieren. Robicheaux stattet anschließend T.J. Dartez einen Besuch ab, jenem Mann, der an dem Unfall beteiligt war, bei dem Molly zu Tode gekommen ist. Nach einer durchzechten Nacht wacht Robicheaux mit blutig verschrammten Fingerknöcheln auf und kann sich an nichts mehr erinnern. Als Dartez tot auf seinem Grundstück aufgefunden wird, kann Robicheaux nicht beschwören, dass er nicht für den Tod des Mannes verantwortlich ist.
Während sich Robicheaux in diesem Fall vor allem mit seinem korrupten Kollegen Spade Labiche herumschlagen muss, erfährt er von Purcel, dass Nightingale längst nicht der Saubermann sei, den er in der Öffentlichkeit zu repräsentieren versucht, sondern sich von einem schmierigen Typen namens Kevin Penny Koks und Prostituierte habe liefern lassen. Purcel, der als Privatdetektiv Büros in New Orleans und New Iberia unterhält, hat auch ein privates Interesse an Penny, denn er ist berüchtigt dafür, seinen Sohn Homer zu schlagen, weshalb ihn Purcel am liebsten aus dem Verkehr ziehen will. Das Filmprojekt von Broussard, Nightingale und Tony Nemo nimmt langsam Formen an, wobei Robicheaux‘ Tochter Alafair einen Drehbuchentwurf beisteuert. Als Broussards Frau Rowena Nightingale allerdings beschuldigt, sie auf seinem Boot betrunken gemacht und vergewaltigt zu haben, läuft nicht nur das Filmprojekt aus dem Ruder. Ein Auftragskiller, der sich Smiley nennt, dezimiert konsequent Leute aus dem Umfeld der Filmproduktion. Und Purcel ist wieder einmal in eigener Mission unterwegs …
„Er war der Gauner aus der volkstümlichen Sagenwelt, der die Respektabilität mit Scheiße bewarf. Aber er war ein erheblich komplexerer Mann, im Kern eine griechische Tragödie, eine prometheische Gestalt, die niemand als solche erkannte, einer der 36 Gerechten der jüdischen Legende, der für uns alle litt. Falls es Engel unter uns gibt, wie der Apostel Paulus sagt, dann war ich überzeugt, dass Clete einer von ihnen war, seine Flügel verhüllt in Rauch, sein Umhang getaucht in Blut …“ (S. 410) 
Seit James Lee Burke 1987 seine preisgekrönte Reihe um den Vietnam-Veteran und Alkoholiker Dave Robicheaux ins Leben gerufen hatte, sind mittlerweile insgesamt 22 Bände erschienen, die weithin zum Besten gehören, was das Krimi-Genre zu bieten hat. Der Bielefelder Pendragon-Verlag hat sich seit 2015 der rühmlichen Mission angenommen, die großenteils noch unveröffentlichten bzw. nicht mehr lieferbaren Titel um den charismatischen, von den Dämonen seiner Vergangenheit in Fernost und des Alkohols verfolgten Cop Dave Robicheaux neu aufzulegen. In der Chronologie der Reihe war Pendragon mittlerweile bis zum 16. Band „Sturm über New Orleans“ gekommen, so dass zum jetzt veröffentlichten 21. Band „Mein Name ist Robicheaux“ einige Sprünge zu erwähnen sind, von denen neben dem Tod von Robicheaux‘ Frau Molly vor allem die Entwicklung seiner Adoptivtochter Alafair am bemerkenswertesten ausfällt. Sie hat nämlich eine Karriere als Schriftstellerin hingelegt und sich damit auch die Bewunderung von Levon Broussard verdient. Davon abgesehen sind Dave Robicheaux und sein bester - und eigentlich einzig nennenswerter - Freund Clete Purcel wie gewohnt den geschickt agierenden Gangstern auf der Spur, die ihre Aktivitäten gekonnt unter dem Deckmantel der Kultiviertheit verstecken, aber unter ihrer glänzenden Oberfläche mächtig Dreck am Stecken kleben haben. Burke erweist sich einmal mehr als Meister darin, das besondere Klima in Amerikas Süden mit der Verderbtheit gerissener wie skrupelloser Gauner zu verknüpfen und angesichts der Wut, die sowohl Robicheaux als auch Purcel gegenüber den schändlichen Taten, gegen die sie ankämpfen, immer wieder zu extremen Mitteln zu greifen bereit sind, bis sie sich im letzten Moment doch eines Besseren besinnen.
Die Figuren sind in „Mein Name ist Robicheaux“ wieder angenehm vielschichtig angelegt. Einer simplen Kategorisierung in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, entzieht sich Burke bewusst, lässt seine Protagonisten aber auch lange nur dunkel ahnen, mit welcher Art von Verbrechern sie es letztlich zu tun haben. Die Spannung wird durch sich häufende Todesfälle und neue Mitspieler im Karussell der Gewalt konstant auf einem hohen Niveau gehalten, wobei die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren erst nach und nach freigelegt werden. Alafair präsentiert sich in dem Wirbel um die Hollywood-Produktion und im Umgang mit den nicht immer koscheren Menschen, mit denen ihr Vater zu tun hat, als erfrischend eigenständige Persönlichkeit, doch im Mittelpunkt stehen natürlich Dave, der in der Geschichte wieder als Ich-Erzähler auftritt, und sein Kumpel Clete, dessen Part in dem Plot in der dritten Person wiedergegeben wird.
Bildreich beschreibt Burke, wie die beiden Kriegsveteranen damit hadern, wie sie mit offensichtlichen Verbrechern umgehen sollen, wie sie das Jucken in ihren Fingern, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, unter Kontrolle zu bekommen versuchen und bei der Last vor der richtigen Entscheidung auch mal gern einen über den Durst trinken und sich mit den falschen Frauen einlassen. Ergänzt wird der Roman durch die kurze Erzählung „The Wild Side of Life“, in der der Kriegsveteran Elmore auf den Ölfeldern an der Golfküste arbeitet und durch die Bekanntschaft der verheirateten, von ihrem Mann misshandelten Loreen an ein Verbrechen an indianischen Ureinwohnern erinnert wird, bei dem er tatenlos zugesehen hat.

David Morrell – (Thomas De Quincey: 2) „Die Mörder der Queen“

Montag, 21. Oktober 2019

(Knaur, 448 S., Tb.)
London, 1855. Beim sonntäglichen Elf-Uhr-Gottesdienst in der St. James Church sorgt bei den Mächtigen und Reichen des Viertels Mayfair, die die Kirche besuchen, die Ankunft einer nicht standesgemäß aussehenden Gruppe von vier Personen für Aufmerksamkeit, vor allem als die Fremden die oberste Bankschließerin bitten, sie zu der für Lord Palmerston reservierten Bank zu führen. Es spricht sich schnell herum, dass sich unter dieser Gruppe sowohl der berüchtigte Opiumesser Thomas De Quincey und seine Tochter Emily zählen, die gerade in Lord Palmerston Haus untergebracht sind, als auch Detective Inspector Ryan von Scotland Yard. Kaum hat Reverend Samuel Hardesty den Gottesdienst begonnen, bei dem der tapfer im Krimkrieg kämpfende Colonel Anthony Trask als Ehrengast begrüßt wird, bemerkt er, wie sich ein scharlachroter Fleck unter der Loge von Lady Cosgrove ausbreitet. Als die Dame mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wird, übernehmen Ryan, sein Assistent Becker und De Quincey umgehend die Ermittlungen, denn der Täter könnte noch immer in der Kirche sein.
Aus der Hand der Toten sichern die Polizisten einen mit Trauerflor umrandeten Brief, der nur zwei Worte enthält, die Ryan an die schrecklichen Ereignisse vor fünfzehn Jahren erinnern. Damals haben verschiedene Männer versucht, ein Attentat auf Queen Victoria zu verüben. Zwar wurde bei dem Versuch, die Königin zu töten, niemand verletzt, aber der Attentäter Edward Oxford wurde verhaftet und verurteilt, aber wegen seiner offensichtlichen Hirngespinste um eine Gruppe von Verschwörern, die sich „Young England“ nennt, wegen Geisteskrankheit ins Bethlem Royal Hospital überführt. Offensichtlich versucht nun jemand, das damals praktizierte Unrecht wieder gutzumachen, denn nach Lady Cosgrove und ihrem Mann folgen noch weitere Opfer, die mitverantwortlich für den Umgang mit dem Angeklagten waren.
Vor allem dem gebildeten Autor Thomas De Quincey, der sowohl mit seiner Autobiographie „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als auch mit seinem True-Crime-Werk „Der Mord als schöne Künst betrachtet“ für Aufsehen gesorgt hat, fallen bei der Art der inszenierten Morde und den hinterlassenen Botschaften Verweise zu dem Schicksal eines Jungen auf, der damals bei verschiedenen Stellen vergeblich versucht hatte, Hilfe für seinen Vater, seine Mutter und seine beiden Schwestern zu bekommen. Während Scotland Yard mit De Quinceys Unterstützung fieberhaft nach der Identität des Jungen sucht, versucht der Attentäter weiterhin, Queen Victoria das Leben zu nehmen …
„Er wollte Angst sehen. Er wollte Schmerzen sehen. Eine schnelle Bestrafung konnte nicht sühnen, was seiner Mutter, seinem Vater und seinen Schwestern angetan worden war, seiner geliebten Emma mit den leuchtend blauen Augen und der kleinen Ruth mit dem sonnigen Gemüt und der bezaubernden Zahnlücke.
Jetzt neigte er im fallenden Schnee den Kopf.
Heute Nacht zumindest werdet ihr vier in Frieden ruhen, dachte er. Unvermittelt packte ihn die Trauer um zwei weitere Menschen, die er liebte.“ (S. 353) 
Der kanadisch-US-amerikanische Schriftsteller David Morrell hat bereits mit seinem 1972 veröffentlichten Debütroman „First Blood“ Weltruhm erlangt, denn die daraus resultierende Filmreihe um den von Sylvester Stallone verkörperten Vietnam-Veteranen John Rambo trug erheblich zum Starruhm des Hauptdarstellers bei und ging dieses Jahr bereits in die fünfte Runde. In der Folge schrieb Morrell aber nicht nur Spionage-Romane wie „Der Geheimbund der Rose“, „Verschwörung“ und „Verrat“, sondern auch die Thriller „Testament“, „Massaker“ und „Totem“ sowie die Horror-Thriller „Creepers“ und „Level 9“, bevor er 2013 mit „Murder as a Fine Art“ den Start seiner Reihe um die historisch bedeutsame Persönlichkeit von Thomas De Quincey vorlegte. Knaur hat den im viktorianischen London spielenden Roman unter dem Titel „Der Opiummörder“ veröffentlicht und legt nun den mit Spannung erwarteten Nachfolger „Die Mörder der Queen“ vor, wobei Morrell geschickt historische Tatsachen und Figuren zu einem äußerst stimmungsvollen Gesellschaftsportrait und Thriller verwebt und die besonderen Fähigkeiten von Thomas De Quincey in den Mittelpunkt seiner historischen Thriller stellt.
Sowohl in der Einleitung als auch im Nachwort beschreibt Morrell, wie er dazu inspiriert wurde, De Quincey als Protagonisten einer hoffentlich noch lange fortgesetzten Reihe zu etablieren, und was den Mann besonders auszeichnet, der mit seinem 1821 veröffentlichten Buch „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als Erster seine Drogensucht öffentlich machte und vor Freuds Traumdeutung die Ansicht vertrat, dass wir von Gedanken und Empfindungen geleitet werden, „von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie haben“.
Zusammen mit seinem kriminalistischen Spürsinn sind das die Elemente, die dem Plot seine Spannung verleihen. Vor allem gelingt es Morrell aber, tief in die Atmosphäre des viktorianischen Englands einzutauchen und die Unterschiede zwischen den in Prunk und Luxus lebenden Adligen und den im Schlamm wühlenden Armen aufzuzeigen. Dabei sind ihm aber auch die Charakterisierungen seiner Figuren hervorragend gelungen. Wie sich der Laudanum-abhängige Thomas De Quincey und seine fürsorgliche Tochter Emily auch in höheren Kreisen zu bewegen verstehen und die Ermittlungen von Scotland Yard vorantreiben, bietet das größte Lesevergnügen, und die Auflösung des Rätsels, wer sich hinter dem potentiellen Attentäter verbirgt, bleibt bis zum Schluss spannend.
Leseprobe David Morrell - "Die Mörder der Königin"

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 1) „Der große Schlaf“

Samstag, 19. Oktober 2019

(Diogenes, 294 S.)
Der in Los Angeles lebende und arbeitende Privatdetektiv Philip Marlowe wird eines Vormittags im Oktober zum vier Millionen Dollar schweren General Sternwood gebeten, der nicht nur an seinen Altersgebrechen leidet, sondern vor allem an den wilden Eskapaden seiner beiden Töchter. Nachdem seine jüngere Tochter Carmen bereits von einem Mann namens James Brody um fünftausend Dollar erpresst worden ist, damit er sie in Ruhe lässt, dreht es sich nun um Schuldscheine, die auf Carmens misslungenen Glücksspiel-Aktivitäten zurückzuführen sind und für die der Buchhändler Arthur Geiger eine Summe von eintausend Dollar verlangt. Während der Unterhaltung kommt die Sprache auch auf Rusty Regan, einen ehemaligen IRA-Offizier, dessen Ehe mit Sternwoods älterer Tochter Vivian sich als Farce entpuppt hat, an dem der alte Mann aber einen Narren gefressen hat. Dass Regan einfach spurlos verschwunden ist, macht Sternwood schwer zu schaffen.
Auch wenn er Marlowe nicht explizit damit beauftragt, auch nach Regan zu suchen, spielt der Vermisste im Verlauf der Ermittlungen immer wieder eine Rolle. Als Marlowe Geigers Buchhandlung aufsucht, stellt er fest, dass sich Geiger auf den Handel mit illegalen pornographischen Werken spezialisiert hat. Schließlich folgt er dem Buchhändler nach Hause, hört Pistolenschüsse, findet Geiger tot und Carmen Sternwood nackt – unter offensichtlich unter Drogeneinfluss – auf einem Sessel vor einer Kamera vor, deren Fotoplatte entfernt worden ist. Nun wird auch Carmen erpresst, will sie die Nacktfotos der vergangenen Nacht zurückhaben. Marlowe stellt Verbindungen zwischen Geiger und Joe Brody her, zwischen Vivian und dem Gangster Eddie Mars, in dessen Spielcasino sie regelmäßig Gast ist, und bekommt zu hören, dass Eddies Frau Mona mit Rusty Regan durchgebrannt sein soll.
Als auch noch Sternwoods Chauffeur tot in seinem Auto aus dem Hafenbecken geborgen wird, scheinen die Dinge immer verworrener zu werden, und Marlowe hat einige Mühe, den Überblick zu behalten, zumal die Frauen in dieser Geschichte ihm immer wieder Avancen machen …
„Ich schaute sie wieder an. Jetzt lag sie still, ihr Gesicht bleich auf dem Kissen, die Augen groß und dunkel und so leer wie Regenfässer bei Dürre. Eine ihrer kleinen fünffingrigen, daumenlosen Hände zupfte ruhelos an der Decke. Irgendwo in ihr erwachte ein schwaches Glimmen des Zweifels. Sie wusste noch nichts davon. Frauen – selbst netten Frauen – fällt es schwer einzusehen, dass ihre Körper nicht unwiderstehlich sind.“ (S. 194) 
Der 1888 in Chicago geborene und in England aufgewachsene Raymond Chandler hatte bereits eine bewegte Karriere (u.a. im britischen Marineministerium, als Journalist, Buchhalter in einer Molkerei, Soldat im Ersten Weltkrieg und Direktor einer kalifornischen Ölgesellschaft) hinter sich, ehe er sich ernsthaft dem Schreiben widmete und erst im Alter von 51 Jahren 1939 mit „The Big Sleep“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Der mittlerweile zum Klassiker nicht nur der Kriminalliteratur avancierte Roman stellte nicht nur die später von Humphrey Bogart („Tote schlafen fest“, 1946) und Robert Mitchum („Tote schlafen besser“, 1978) im Kino verkörperte Figur des Privatdetektivs Philip Marlowe vor, sondern wurde Teil der sogenannten „Schwarzen Serie“, in der neben Chandler Autoren wie Dashiell Hammett, James M. Cain und Ross Macdonald ihre hartgesottenen Ermittler in einer Welt agieren ließen, die bis in ihre Grundfesten korrupt und zerrüttet schien.
Donna Leon weist in ihrem Nachwort zu wunderbaren Neuübersetzung des Romans durch Frank Heibert darauf hin, dass Chandler die heile Welt der Agatha-Christie-Romane zur Hölle schickte. Wenn dort ein Verbrechen die Norm verletzte, wurde der Bösewicht festgenommen und bestraft, womit die Ordnung wiederhergestellt worden war. Dass für Chandler die gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt und durch alle Schichten Neid, Missgunst und Gier zu beobachten sind, machen seine Romane, die Diogenes nun nach und nach in überarbeiteten Fassungen wiederveröffentlicht, zu vielschichtigen Milieustudien. Dabei scheint die Handlung fast schon zur Nebensache zu werden. Die fällt bereits in Chandlers Debütroman so komplex aus, dass der Handlung und den Motiven der unzähligen Beteiligten kaum zu folgen ist. So werden bestimmte Vorkommnisse auch gar nicht aufgeklärt und dienen nur dazu, die Verderbtheit der Menschen in einer Welt aufzuzeigen, in der sich niemand an Regeln zu halten scheint.
Marlowe selbst bewegt sich dabei selbstbewusst zwischen den Reichen und den Gangstern auf der Straße, zwischen dem oberflächlichen Glanz und dem Schmutz in den Gassen. Mit seiner ihm eigenen Prinzipientreue scheint er schon eine wohltuende Ausnahme in einer moralisch verkommenen Welt zu bilden. Auch wenn sich die Ereignisse in „Der große Schlaf“ immer wieder überschlagen und unzählige Orte und Figuren ins Spiel kommen, nimmt sich Chandler viel Zeit, die düstere Atmosphäre von Verzweiflung, Sehnsucht und Gier sowie die Charakter seiner Figuren zu beschreiben. Seine phantasievollen Allegorien wirken auch nach achtzig Jahren herrlich erfrischend und machen Marlowes Konfrontationen mit den Bösen und Blondinen so lesenswert.
Leseprobe Raymond Chandler - "Der große Schlaf"

Stewart O’Nan – „Henry persönlich“

Dienstag, 15. Oktober 2019

(Rowohlt, 480 S., HC)
Henry Maxwell, der seinen Namen einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Geistlichen verdankt, dem ein Buntglasfenster in der Calvary Episcopal Church gewidmet ist, steht kurz vor seinem 75. Geburtstag und der Goldenen Hochzeit mit seiner fünf Jahre jüngeren Frau Emily. Gemeinsam verbringen sie in ihrem Haus in Pittsburgh ihren gleichförmigen Alltag, zu dem Spaziergänge mit ihrem Hund Rufus und Reparaturarbeiten rund ums Haus gehören. Zum Valentinstag entführt Henry seine Frau gern in ihr Lieblingsrestaurant, freut sich, wenn er Rabattmarken beim Kauf von Spülmittel einlösen kann, ärgert sich aber auch, wenn er glaubt, beim Weihnachtsbaumkauf über den Tisch gezogen worden zu sein, weil er für einen Baum mit weichen Nadeln mehr bezahlen musste als für einen mit harten.
Während Emily die Kontakte zu Nachbarn und Freunden aufrechterhält und so Henry stets mit neuesten Informationen versorgen kann, geht Henry mit seinen alten Freunden aus dem Labor Golfen, engagiert sich im Kirchenvorstand und sieht sich die Spiele seine Lieblings-Football-Mannschaft regelmäßig im Fernsehen an. Da Kinder und Enkel weit weg wohnen, treffen sie sich nur zu den Feiertagen in ihrem Ferienhaus in Chautauqua.
Am meisten Sorgen bereitet ihm die mit dem Alter zunehmenden Gebrechen, die er immer öfter vor Emily geheim hält. Dass sein Arzt Dr. Runco, der in Henrys Alter gewesen ist und ihn am Leben erhalten hat, vor ihm stirbt, macht ihn besorgt, aber auch seine Tochter Margaret, die zu Alkoholexzessen neigt und glaubt, ihr Mann Jeff betrügt sie mit einer Jüngeren, bereitet ihm und seiner Frau immer wieder Kummer.
 „Er brauchte länger als nötig, um sich zu erinnern, was er gerade tat und warum. Ein Leben lang hatte er Zeitpläne und Fristen gehandhabt, da war es nur natürlich, dass er sich als träge empfand und ihm ein konkretes Ziel fehlte. Er hätte gern geglaubt, dass es bloß Tagträume waren, doch die Leere, die sich auf ihn herabsenkte, hatte etwas Zermürbendes.“ (S. 303) 
2011 veröffentlichte der Pittsburgh geborene und lebende Schriftsteller Stewart O’Nan („Abschied von Chautauqua“, „Westlich des Sunset“) mit „Emily, allein“ das einfühlsame Portrait einer achtzigjährigen Frau, die seit Jahren verwitwet ist und nach dem Zusammenbruch ihrer Schwägerin Arlene ihrem Leben eine neue Richtung zu geben versucht. Mit „Henry persönlich“ dreht O’Nan die Zeit um gut zehn Jahre zurück und konzentriert sich in der Ehe von Henry und Emily Maxwell auf den noch lebenden Henry, natürlich mit ständigem Bezug auf Emily, die er immer an seiner Seite weiß. O’Nan beschreibt kurz die Kindheit seines Protagonisten, seine Schwärmerei für seine Klavierlehrerin und seine erste große Liebe zu Sloan, dann – nach dem Krieg – das Kennenlernen von Emily. Der Autor erweist sich wie gewohnt als sorgfältiger Chronist des Lebens ganz gewöhnlicher Mittelschichtsmenschen, die er nie be- und schon gar nicht verurteilt, sondern mit selbstverständlich wirkender Grund-Sympathie charakterisiert, indem er ihre Alltagsverrichtungen, Hobbys und Gedanken wiedergibt.
Wie „Emily, allein“ wartet auch „Henry persönlich“ mit keinen spannenden, dramatischen und wendungsreichen Höhepunkten auf, sondern widmet sich völlig unaufgeregt der Schilderung von Alltagsbetätigungen und familiären Sorgen, wie sie ganz gewöhnliche Menschen teilen. Natürlich bekommen die Gedanken im Alter eine andere Qualität, drehen sich zunehmend um die eigene Sterblichkeit, wobei jede plötzliche Verschlechterung des Allgemeinzustands kritisch beäugt wird. Doch das hält Henry nicht davon ab, sein Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu genießen, wozu die Einladungen zum Essen zu besonderen Anlässen ebenso zählen wie das Golfspielen und die Familienzusammenkünfte in Chautauqua.
Auch wenn sich die Figuren in „Henry persönlich“ nicht nennenswert entwickeln und größere Dramen ausbleiben, gefällt der Roman als realistisches Portrait eines ganz gewöhnliches Mannes und bietet so enorm großes Identifikationspotenzial für seine Leserschaft.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Henry persönlich"

Steven Price – „Die Frau in der Themse“

Dienstag, 8. Oktober 2019

(Diogenes, 916 S., HC)
Mit nicht mal vierzig Jahren hat William Pinkerton, Sohn des berühmten amerikanischen Detektivs Allan Pinkerton, bereits dreiundzwanzig Männer und einen Jungen erschossen. Sein gefürchteter Vater war vor sechs Monaten gestorben, während er selbst vor sechs Wochen die amerikanische Heimat verlassen hat, um 1885 im verhassten London nach Ben Porter, einem Agenten seines Vaters, zu suchen. Porter war jahrelang im Auftrag von Pinkertons Vater hinter dem berüchtigten Dieb Edward Shade her, ohne auch nur die geringste Spur zu finden. Als Pinkerton eine Frau namens Charlotte Reckitt verhören wollte, die vor zehn Jahren Shades Komplizin gewesen war, ist sie nach einer langen Verfolgungsjagd auf der Blackfriars Bridge in den Fluss gesprungen.
Während er mit Scotland-Yard-Chief-Inspector John Shore weiter nach Shade fahndet, ist auch Adam Foole dem Ruf nach London gefolgt, weil ihn Charlotte Reckitt, seine große Liebe, um Hilfe gebeten hatte. Als Kopf, Torso und Beine einer jungen Frau gefunden werden, machen sich Pinkerton und Shore auf der einen Seite, Shade und seine recht Hand Foole auf der anderen Seite auf die Jagd nach ihrem vermeintlichen Mörder. Die Besessenheit, mit der beide Parteien das Geheimnis von Charlotte Rickett zu lösen versuchen, lässt die Wege von Pinkerton und Shade zwangsläufig miteinander kreuzen, aber die Begegnung wartet mit einigen Überraschungen auf, vor allem für Pinkerton, dessen Vater bereits von Edward Shade besessen war.
„Sein Vater wollte Shade nicht presigeben, wollte das köstliche Rätselraten um Shades Existentz geheim und für sich behalten. Als sein Vater gebrechlicher wurde, saß er gern mit wackelndem Kopf inmitten der Blumen im Garten, William schwieg neben ihm und beobachtete, wie die Bienen von Rose zu Rose flogen. Und manchmal kam es ihm vor, als würde noch ein Dritter neben ihnen sitzen, ein Gespenst, auf dem der Blick seines Vaters von Zeit zu Zeit ruhte.“ (S. 340) 
Der kanadische Lyriker und Autor Steven Price feiert mit „Die Frau in der Themse“ sein Debüt in der deutschen Literaturwelt, nachdem sein erster Gedichtband „The Anatomy of Keys“ (2006) mit dem Gerald Lampert Award ausgezeichnet wurde und sein Romandebüt „Into That Darkness“ 2011 erschienen war. Sein zweiter Roman „By Gaslight“, der nun in deutscher Erstübersetzung bei Diogenes vorliegt, präsentiert Price ein über 900 Seiten umfassendes Epos, das im viktorianischen England kurz vor dem mörderischen Treiben von Jack the Ripper angesiedelt ist und vordergründig als Detektivroman angelegt ist. Doch die beharrliche Suche des berühmten Detektivs William Pinkterton nach der schattenhaften Gestalt von Edward Shade bildet nur den Rahmen einer viel komplexeren Geschichte, in der es um Familie, Liebe, Täuschung, Verrat und Identität geht und deren Handlung zwar überwiegend 1885 in London angesiedelt ist, darüber hinaus aber immer wieder zwischen Amerika, Südafrika und Europa, zwischen 1862 und 1917 hin- und herspringt.
Dazu werden die Kapitel abwechselnd aus der Perspektive des Meisterdetektivs und des Meisterdiebes geschrieben, so dass es nicht immer leicht fällt, die Übersicht zu behalten. Zum Glück beschränkt sich der Autor auf ein für die abgedeckten Jahre und Kontinente überraschend überschaubares Figurenensemble und füllt sie Seiten dafür mit den Inneneinsichten und Dialogen seiner Hauptfiguren und mit der anschaulich detaillierten Milieubeschreibung. Wie Adam Foole und William Pinkerton Katz und Maus miteinander spielen, ist geschickt inszeniert, wartet mit unzähligen interessanten Wendungen auf und ist doch etwas ausufernd geraten.
So sehr „Die Frau in der Themse“ durch die ausführlichen Beschreibungen an atmosphärischer Dichte gewinnt, leidet die Dramaturgie ein wenig unter den immerwährenden Zeitsprüngen, Ortswechseln und Perspektivänderungen, aber nichtsdestotrotz bietet das historische Drama fein gesponnene Unterhaltung mit bemerkenswerten Charakteren.
Leseprobe Steven Price - "Die Frau in der Themse"

Anthony McCarten – „Die zwei Päpste“

Donnerstag, 3. Oktober 2019

(Diogenes, 400 S., HC)
Als Papst Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 überraschend verkündete, wegen seines fortgeschrittenen Alters zurückzutreten, sorgte er für ein Novum in der Kirchengeschichte. Erstmals seit 1415 würde die katholische Kirche zwei lebende Päpste an ihrer Spitze haben. Neben dem „Papa emeritus“ würde der wenige Tage später zum neuen Papst Franziskus gewählte Argentinier Jorge Bergoglio dafür sorgen, die Geschicke der vor allem durch weltweit bekannt gewordene Missbrauchsfälle ins Trudeln geratene katholischen Kirche zu lenken.
Der in Neuseeland geborene und in London lebende Autor Anthony McCarten („Englischer Harem“, „Jack“), selbst eingefleischter Katholik, hat sich die spannendste Episode der jüngeren Kirchengeschichte vorgenommen, um ein Sachbuch darüber zu schreiben. Nachdem der zweifach Oscar-nominierte McCarten bereits die Drehbücher für Filme wie „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, „Die dunkelste Stunde“ und „Bohemian Rhapsody“ verfasst hatte, dient seine Biografie über die beiden so unterschiedlichen Päpste als Grundlage für den im November anlaufenden Netflix-Film mit Anthony Hopkins und Jonathan Pryce in den Hauptrollen.
Die Gegensätzlichkeit der beiden Figuren arbeitet McCarten in den jeweiligen Biografien von Josef Ratzinger und Jorge Bergoglio auf. Abwechselnd beschreibt der geschulte Autor den Werdegang der beiden Männer. Während sich der Argentinier dabei vor allem als „Sünder“ betrachtete, der zu den Jesuiten ging, um in den Elendsvierteln bei den Menschen zu sein, war Ratzingers Kindheit von der Herrschaft des Hitler-Regimes geprägt, bevor er systematisch die Karriere zum Priester einschlug und sich dabei den intellektuellen Problemen in der Kirche widmete und nicht in der Seelsorge tätig wurde wie sein späterer argentinischer Konkurrent und Nachfolger.
Trotz aller – anhand umfangreicher Sekundärliteratur – herausgearbeiteter Unterschiede waren beide Männer von einer tiefen Skepsis gegenüber ihrem Amt ausgestattet, das ihnen zu schwer auf den Schultern zu liegen schien. Die ausführlich geschilderten Vorgänge in den jeweiligen Konklaven zur Papstwahl machen auch deutlich, in welche Lager die zur Wahl stehenden Kardinäle aufgeteilt waren, wie konservative Kräfte immer wieder versucht haben, revolutionär anmutende Thesen, wie sie gerade Bergoglio vertreten hat, in Schacht zu halten. Bergoglio hing vor allem sein zweifelhaftes Verhalten während der argentinischen Militärdiktatur (1976 – 1983) nach, als er sich nicht vehement genug gegen die unmenschlichen Verhältnisse in seiner Heimat zur Wehr setzte, denn offensichtlich lagen der Kirche stichhaltige Beweise dafür vor, in welchem Ausmaß die Junta ihre Kritiker beseitigte. Auf der anderen Seite machte Ratzinger in seiner Funktion als Erzbischof von München und Freising (1977 – 1981) die Affäre um einen Priester zu schaffen, der trotz verschiedener sexueller Missbrauchstaten weiterhin in der Seelsorge eingesetzt worden war. Aber auch die 2007 auf Druck der Traditionalisten wieder gestattete Missa Tridentina (die ein Karfreitagsgebet enthält, in dem die Juden aufgefordert werden, Jesus Christus anzuerkennen, und die die Blindheit des jüdischen Volkes gegenüber Christi Wahrheit thematisiert) setzte Papst Benedikt zu.
„Nicht umsonst wurde daraufhin spekuliert, ob dieser Papst arrogant, inkompetent, wenig vorausschauend oder einfach nur gleichgültig war. War Benedikt derart selbstbewusst bezüglich theologischer Fragen, dass er ohne Berater agierte? Oder besser: War er so blauäugig, dass er mit nichts anderem als positiven Reaktionen rechnete? Wie dem auch sei, eines war gewiss: Der Papst war unfähig, aus seinen Fehlern zu lernen.“ (S. 207) 
McCarten macht durch solche Kommentare deutlich, wie seine Sympathien zwischen den beiden Päpsten verteilt sind, dennoch beschreibt er die Vorgänge hinter den Kulissen des Vatikans mit sachlicher Distanz, indem er auf eine Menge Quellenmaterial zurückgreift (die Anmerkungen nehmen immerhin volle 40 Seiten des Buches ein). Der Autor beschreibt die Entwicklung der Kirche vor allem seit dem Wirken von Papst Johannes Paul II., dokumentiert die interessante Prozedur der Wahl zum Papst, macht dabei auf das Dilemma der „päpstlichen Unfehlbarkeit“ aufmerksam und legt dar, wie die beiden Päpste mit den Herausforderungen umzugehen pflegten, die durch die Krise der römisch-katholischen Kirche mit ihren 1,28 Milliarden Mitgliedern noch immer zu bewältigen sind. Auch für Nicht-Katholiken und überhaupt Nicht-Gläubige ist die Aufarbeitung der Geschichte, die Anthony McCarten anhand der beiden zwei letzten Päpste erzählt, äußerst aufschlussreich und spannend geschrieben. Auf die Verfilmung von Fernando Mereilles („Der ewige Gärtner“) darf man also gespannt sein!
Leseprobe Anthony McCarten - "Die zwei Päpste"

Lisa McInerney – „Blutwunder“

Samstag, 28. September 2019

(Liebeskind, 334 S., HC)
Mit knapp einundzwanzig Jahren hat der in der irischen Kleinstadt Cork lebende Ryan Cusack zwar keinen Schulabschluss, aber schon eine bemerkenswerte Karriere im Drogengeschäft hingelegt. Nachdem Dan Kane bei einem Ausflug nach Rotterdam beim Abhängen mit einigen Jungs auch Neapel seiner Unzufriedenheit mit seinem Lieferanten Luft gemacht hat, will er die Stadt mit hochwertigem Ecstasy überschwemmen. Da passt es ihm gut in den Kram, dass sein Kumpel Ryan gerade von seinem Sommerurlaub aus Neapel zurückkehrt und von den qualitativ hochwertigen Pillen dort schwärmt.
Doch nachdem Dan im Corker City-Hotel den Deal mit dem Neapolitaner klargemacht hat, wobei Ryan als Übersetzer fungierte und der Rest der Truppe – Shane „Shakespeare“ O’Sullivan, Pender, Cooney und Feehily - einfach abhing, geht gleich die erste Lieferung verloren. Während Kane in Ruhe herauszufinden versucht, wer aus seiner Truppe ihn übers Ohr gehauen haben könnte, wird Ryan zunächst von seiner langjährigen Freundin Karine vor die Tür gesetzt, dann lässt er sich unmittelbar mit Natalie ein, die sich ausgerechnet als Dan Kanes Liebchen entpuppt. Ryan muss sich aber nicht nur vor Dan Kane in Acht nehmen und die Wogen bei Karine glätten, die ihn mit ihrer bereits weit fortgeschrittenen Schwangerschaft konfrontiert, sondern auch Jimmy Phelan beschwichtigen, der als Oberhaupt des organisierten Verbrechens ins Cork gar nicht erfreut über die Aktivitäten ist, die Kane und Cusack an den Tag legen …
„Dan braucht mich treu und unverbrüchlich, und das bin ich nicht. Insgeheim tu ich, was J.P. will, und ich schlafe mit einer, mit der ich nicht schlafen sollte, weil es mir nichts ausmacht, Lügen zu erzählen, um zu kriegen, was mir nicht gehört.“ (S. 198) 
Bereits mit ihrem 2015 erschienenen Debütroman „The Glorious Heresies“ hat die irische Autorin Lisa McInerney den Baileys Women’s Prize for Fiction sowie den Desmond Elliott Prize für Debütromane erhalten. Nachdem ihr preisgekröntes Debüt 2018 bei Liebeskind unter dem Titel „Glorreiche Ketzereien“ veröffentlicht wurde, liegt dort nun auch ihr neuer Roman „Blutwunder“ vor, der sich wie McInerneys frühes Idol Hubert Selby Jr. auf einfühlsame Weise mit den Randexistenzen der Gesellschaft auseinandersetzt.
Mit Ryan Cusack hat McInerney alles andere als eine sympathische Figur geschaffen, und doch kann man dem jungen Kerl kaum böse sein, dass er auf die schiefe Bahn geraten ist. Schließlich hat sich seine Mutter umgebracht, sein Vater ist ein versoffener Schwächling, der den Jungen verprügelte und misshandelte. Allerdings bringt er sich auch immer wieder selbst in Schwierigkeiten. Dass er sich unwissentlich ausgerechnet an Dans Freundin Natalie heranmacht, nachdem Karine ihm den Laufpass gegeben hat, wirkt wie andere Situationen zwar etwas konstruiert, sorgt aber für Spannung und Dramatik in einer Geschichte, in der sich die Ereignisse zunehmend überschlagen. Denn zwischen zwei misstrauischen Gangstern so zu manövrieren, dass man überlebt, und dabei zwei Frauen, die einem etwas bedeuten, bei Laune zu halten, sorgt für einen konstant hohen Adrenalinpegel und etliche Verwicklungen und Wendungen, die einfach Laune machen.
Mit ihrer schnörkellosen, direkten und humorvollen Art wirkt McInerney wie das weibliche Pendant zu Irvine Welsh („Porno“, „Trainspotting“). Mit „Blutwunder“ hat sich die irische Schriftstellerin auf jeden Fall als starke Stimme in der irischen Literaturszene etabliert und dürfte auch hierzulande immer mehr Leser gewinnen und Kritiker begeistern.
Leseprobe Lisa McInerney - "Blutwunder"

Jo Nesbø – (Harry Hole: 4) „Fährte“

Sonntag, 22. September 2019

(Ullstein, 576 S., Tb./eBook)
Harry Hole sucht an einem Freitagnachmittag im Oktober die Bankfiliale an der Osloer Bogstadvei auf, als er Zeuge wird, wie Männer in identischen, dunklen Overalls auf den Schalter von Stine Grette zugehen und auf die Öffnung der Geldautomaten drängen. Doch als der Bankraub schon vorüber war und die Täter mit ihrer Beute nur noch verschwinden müssen, beobachtet Harry, wie einer der Bankräuber Stine Grette etwas ins Ohr flüstert und beobachtet, wie ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst werden, bevor er sie erschießt. Dieser brutale Überfall stellt aber nur den Anfang einer ganzen Reihe von Bankrauben dar, die dem sogenannten „Exekutor“ zugeschrieben werden. Während der Fall zunächst an den Leiter des Raubdezernats, Rune Ivarsson, geht, sind Holes Gedanken noch immer bei seiner ermordeten Freundin und Kollegin Ellen Gjelten, deren Tod nach Holes Meinung noch immer nicht aufgeklärt ist. Dafür war ihm sein Kollege Tom Waaler zu schnell am Tatort gewesen, um den des Mordes verdächtigten Neonazi Sverre Olsen im Feuergefecht zu erschießen.
Da der politisch gut vernetzte Ivarsson aber keine Ergebnisse im „Exekutor“-Fall aufweisen kann, stellt Hole mit der Videoanalystin Beate Lønn eigene Ermittlungen an. Er gelangt schließlich zu der Auffassung, dass der Banküberfall an gut getarnter Mord gewesen ist. Doch bevor sich Hole näher mit dem Fall befassen kann, gerät er selbst in den Fokus einer anderen Ermittlung: Während seine Lebensgefährtin Rakel in Moskau vor Gericht versucht, das Sorgerecht für ihren Sohn Oleg zu bekommen, trifft sich Hole mit seiner alten Geliebten Anna. Allerdings erwacht Hole nach einem Filmriss auf der Treppe vor ihrer Wohnung und kann sich nicht erinnern, warum Anna sich in ihrem Bett umgebracht haben sollte. Hole verschweigt den Ermittlern, dass er der Letzte gewesen sei, der Anna vor ihrem Tod lebend gesehen hat, und wird mit geheimnisvollen Emails traktiert, deren Absender genauestens über die Tat Bescheid zu wissen scheint.
„In zwei Tagen sollte Anna beerdigt werden, und niemand zweifelte daran, dass sie durch ihre eigene Hand zu Tode gekommen war. Der Einzige, der dort gewesen war und ihnen hätte widersprechen können, war er selbst, doch er konnte sich an nichts erinnern. Weshalb konnte er es dann nicht einfach auf sich beruhen lassen? Er hatte alles zu verlieren und nichts zu gewinnen. Und eins kam noch hinzu: Warum konnte er die Sache nicht einfach vergessen, um Rakel und seiner selbst willen?“ (Pos. 1533) 
In seinem vierten Harry-Hole-Roman dreht der in Oslo lebende Jo Nesbø groß auf. Norwegens erfolgreichster Autor lässt seinen prominenten, alkoholsüchtigen Antihelden wieder auf eine waschechte Krise zusteuern, denn nachdem bereits drei Frauen aus Holes früheren Leben sich entweder selbst getötet haben oder umgebracht worden sind, setzt ihm auch Annas Tod mächtig zu. Um den „Exekutor“-Fall zu lösen, lässt sich Hole auf ein gefährliches Spiel mit dem Bankräuber Raskol Baxhet ein, der sich überraschenderweise selbst gestellt hat und einige Bedingungen im Gegenzug für seine Hilfe stellt. Um zu seinem Ziel zu gelangen, muss Hole schon ein besserer Spieler sein als Raskol.
Nesbø erweist sich als raffinierter Meister komplexer Handlungsstränge, die er diesmal aber stringenter entwickelt als im vorangegangenen Band „Rotkehlchen“. Indem er den für Harry Hole noch unaufgeklärten Mord an dessen Kollegin Ellen Gjelten aufgreift, nimmt Nesbø nicht nur den Faden des Vorgängers auf, sondern entwickelt für Hole unangenehme Parallelen zum Tod seiner früheren Geliebten Anna. Geschickt verwebt der Autor Harry Holes Bemühungen, sowohl Annas Mörder als auch den „Exekutor“ zu identifizieren, legt eine Fährte, die sowohl nach Afrika als auch nach Brasilien führt, und jongliert so souverän mit überraschenden Wendungen, dass die Spannung auf einem sehr hohen Level gehalten wird. Dadurch, dass Harry Holes derzeitige Lebensgefährtin in Moskau verweilt, konzentriert sich Holes Gefühlsleben eher auf die Beziehung, die er mit Anna geführt hat, aber auch in anderer Hinsicht macht Nesbø immer wieder deutlich, dass Harry Hole zwar ein begnadeter Ermittler ist, aber nach wie vor eine zutiefst gebrochene Persönlichkeit, die sich immer wieder selbst aus dem alkoholindizierten Sumpf ziehen muss. Mit psychologischem Feingefühl und sorgfältiger Figurenzeichnung gelingt Nesbø mit „Fährte“ ein großartiger, vielschichtiger und extrem spannender Krimi, der gekonnt mit immer neuen Überraschungen aufwartet.
Leseprobe Jo Nesbø - "Fährte"

Stephen King – „Das Institut“

Mittwoch, 18. September 2019

(Heyne, 768 S., HC)
Der zwölfjährige Luke Ellis ist so klug, dass an der Broderick-Schule für außergewöhnliche Kinder nichts mehr für ihn getan werden kann. Stattdessen schlägt der Beratungslehrer Jim Greer Lukes Eltern vor, Luke – der bereits zuvor ein entsprechendes Interesse geäußert hatte – am MIT in Cambridge Ingenieurwissenschaften und auf der anderen Flussseite in Bosten Englisch am Emerson College studieren zu lassen. Tatsächlich schafft Luke die Aufnahmeprüfungen mit links, doch bevor er seine akademische Laufbahn verfolgen kann, wird eines Nachts in sein Elternhaus eingebrochen und er selbst entführt, nachdem seine Eltern ermordet worden sind.
Stunden später wacht Luke an einem weit entfernten und abgeschieden im Wald gelegenen Ort auf, einem Institut, das sich der streng geheimen Aufgabe verschrieben hat, die paranormalen Talente der jungen Gäste zu fördern. Die Methoden, die im Vorderbau angewendet werden, um die telekinetischen und telepathischen Fähigkeiten der internierten Kinder anzukurbeln, sind alles andere als angenehm. Luke, dessen schwach ausgeprägte telekinetische Begabung bislang nur ausreichte, um ein leeres Pizzablech oder einen Papierkorb zu verschieben, entwickelt durch die Behandlung sogar telepathische Fähigkeiten, die er vor seinen Peinigern aber geheim hält. Doch als er herausfindet, dass seine Eltern gestorben sind und die Experimente im Hinterbau fortgesetzt werden, von wo die Kinder nicht mehr zurückkehren, reift nicht nur in Lukas der Plan zur Flucht …
„Momentan war Mrs. Sigsby, diese Bitch, hauptsächlich mit Luke beschäftigt. Stackhouse ebenfalls. Genauer gesagt galt das für das gesamte Personal vom Institut, denn alle wussten, dass Luke geflohen war. Dass die alle aufgeschreckt und abgelenkt waren, war ihre Chance. Eine solche Gelegenheit würden sie nie wieder bekommen.“ (S. 539) 
Stephen King, unbestrittener „King of Horror“, hat schon in seinen Frühwerken wie „Carrie“, „The Dead Zone“ und „The Shining“ Figuren mit paranormalen Fähigkeiten ins Zentrum seiner unheimlichen Erzählungen gestellt. In dieser Hinsicht kehrt der bereits 72-Jährige zu seinen schriftstellerischen Wurzeln zurück, die ihm zu Weltruhm verhalfen. Seine Meisterschaft, das geschilderte Grauen in einer ganz alltäglichen, kleinbürgerlichen Umgebung reifen zu lassen, kommt auch in „Das Institut“ zum Tragen. Allerdings neigt King wie selten zuvor zu weitschweifigen Ergüssen, die zwar in diesem Fall den schrecklichen Alltag im Institut vor Augen führen, aber da die Handlung währenddessen nicht wirklich vorankommt, hätte King sich durchaus 200 Seiten sparen können. Zunächst führt King nämlich 50 Seiten lang den in Florida gescheiterten Polizisten Tim Jamieson ein und lässt ihn in der Kleinstadt DuPray, South Carolina, als Nachtklopfer anheuern. Der Leser hat sich gerade mit Jamieson und einigen Figuren in DuPray angefreundet, wird der Plot beiseitegelegt und erst nach 350 weiteren Seiten wieder aufgenommen.
In der Zwischenzeit lernen wie den hochintelligenten Luke und seine Eltern, die Machenschaften im Institut und Lukes Leidgenossen Kalisha, Nick, George, Iris und Avery kennen. Zwar beschreibt King den Alltag und die an den Kindern durchgeführten Tests sehr anschaulich, doch entwickelt sich die Geschichte dabei kaum weiter. Stattdessen folgt die Handlung sehr vorhersehbaren Bahnen, lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass etwas faul ist in den USA unter der Herrschaft von Donald Trump. Zum Glück bekommt der Roman im letzten Viertel wieder die Kurve, wenn sich – natürlich – die Wege von Tim Jamieson und Luke Ellis kreuzen (sonst hätten die ersten 50 Seiten keinen Sinn gemacht) und es – wie vorauszusehen – zum Showdown zwischen den Guten und den Bösen kommt.
Leseprobe Stephen King - "Das Institut"

Jo Nesbø – (Harry Hole: 3) „Rotkehlchen“

Sonntag, 15. September 2019

(Ullstein, 480 S., Tb./eBook)
Als vor kurzem zum Staatsschutz versetzter Beamter ist Harry Hole im November 1999 dafür zuständig, zusammen mit den amerikanischen Kollegen vom Secret Service für die Sicherheit des amerikanischen Präsidenten bei dessen ersten Besuch in Norwegen zu sorgen, wo er an einem Gipfeltreffen mit PLO-Chef Arafat, dem israelischen Ministerpräsidenten Barak und dem russischen Präsidenten Putin teilnimmt. Allerdings schießt Hole während der Streckenüberwachung auf einen Secret-Service-Agenten, der sich nicht als solcher zu erkennen gegeben hat, und wird daraufhin von seinem Chef Bjarne Møller aus der Schusslinie genommen, auch wenn er sich ordnungsgemäß verhalten hat.
Als Bezirksleiter beim polizeilichen Überwachungsdienst erhält er Informationen zum Import eines sündhaft teuren Märklin-Gewehrs aus Südafrika, das besonders bei Attentätern beliebt ist. Die Spuren führen bis in die Zeiten des Zweiten Weltkriegs, als eine Gruppe von norwegischen Soldaten auf der Seite der Nazis kämpften und dafür 1945 als Landesverräter hart bestraft wurden. Einer der Nazi-Kollaborateure will dieses gefühlte Unrecht wiedergutmachen und niemand geringeren als den norwegischen Kronprinzen dafür zur Rechenschaft ziehen. Während Hole und seine ambitionierte Kollegin Ellen Gjelten in der Neonazi-Szene ebenso wie in der Geschichte der norwegischen Beteiligung am Zweiten Weltkrieg fordert forscht, welche Identität der Attentäter angenommen haben könnte, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, der auch unter Holes Kollegen Opfer …
„Wenn eine Person, nach der man sucht, als Leiche in einer vier Monate alten Mordsache auftaucht, kann man nur schwer an einen Zufall glauben. Konnte der Mord irgendwie mit dem Kauf des Märklin-Gewehres zusammenhängen? Es war kaum zehn Uhr und Harry hatte bereits Kopfschmerzen. Er hoffte nur, dass Ellen ihm irgendetwas über diesen Prinzen liefern würde. Irgendetwas. Damit man irgendwo anfangen könnte.“ (Pos. 3700) 
Jo Nesbø hat nach seiner Karriere als Finanzanalytiker und Ökonom erst mit 37 Jahren zum Schreiben gefunden und schon mit seinem Harry-Hole-Debüt „Der Fledermausmann“ auf sich aufmerksam machen können, bevor er mit dem dritten Band „Rotkehlchen“ auch seinen internationalen Durchbruch feiern durfte. Es ist alles andere als leichte Krimikost, die Nesbø in „Rotkehlchen“ präsentiert, widmet er sich doch auch vielschichtige Weise dem dunklen Kapitel, das Norwegens Rolle im Zweiten Weltkrieg thematisiert. Hier sorgen vor allem der Historiker Even Juul und der Kriegsveteran Sindre Fauke für die Darstellung der unterschiedlichen Aspekte. Indem der Autor zwischen den aktuellen Ermittlungen und den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg hin- und herspringt, die zu den Morden geführt haben, die Hole untersucht, werden allmählich die persönlichen Beweggründe des Täters offenbart, dessen Identität aber erst im wendungsreichen Finale offenbart wird.
Bis dahin bekommt der Leser nicht nur eine differenzierte Auseinandersetzung mit einem der dunkelsten Kapitel in der norwegischen Geschichte präsentiert, sondern interessanterweise auch zwei Liebesgeschichten, von der eine die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg vorantreibt, die zweite aber ausgerechnet Harry Hole betrifft, der sich sowohl bei seinem Chef Møller als auch seiner liebenswerten Kollegin Ellen bedanken kann, dass sie in der Vergangenheit ihre schützenden Hände über Holes alkoholbedingte Ausfälle gehalten haben. Doch die Beziehung zu seiner alleinerziehenden Kollegin Rakel, auf die auch Staatssekretär Bernt Brandhaug ein Auge geworfen hat, verläuft alles andere als unkompliziert, und das gilt eben auch für den gesamten Plot. Jo Nesbø vermag zwar, hochkomplexe Plots zu entwickeln und dabei den Finger auf die Wunden in der norwegischen Gesellschaft zu legen, doch lässt er allzu viele Figuren mitwirken, die er kaum zu bemerkenswerten Persönlichkeiten entwickelt, denen man interessiert folgen möchte. Dafür springt der Autor zu häufig und abrupt zwischen den Schauplätzen, Zeiten und Figuren hin und her. Nichtsdestotrotz entwickelt „Rotkehlchen“ einen Sog, der das Publikum bis zum Schluss bei der Stange hält.
Leseprobe Jo Nesbo - "Rotkehlchen"

Mick Herron – (Jackson Lamb: 2) „Dead Lions“

Montag, 9. September 2019

(Diogenes, 478 S., HC)
Das Slough House stellt für den britischen Geheimdienst MI5 eine Sammelstelle für die Agenten ein, die sich so schwerer Vergehen schuldig gemacht haben, dass sie – da sie nicht gekündigt werden können – auf ein Abstellgleis verfrachtet werden, wo sie hoffentlich bei der eintönigen Auswertung von Listen und Statistiken vor Langeweile umkommen und von selbst die Kündigung einreichen. Unter Leitung des eigentlich unausstehlichen, aber nach wie vor gewieften Jackson Lamb versuchen seine Leute (die von ihren ehrbaren Kollegen abschätzig als Slow Horses bezeichnet werden) wieder Punkte gutzumachen, um wieder in die Hauptstelle des MI5 in Regent’s Park versetzt zu werden.
Tatsächlich ergibt sich diese Gelegenheit, als mit Dickie Bow ein alter Weggefährte von Lamb aus seiner Zeit in Berlin tot in einem Bus aufgefunden wird. Lamb glaubt nicht an den vom Rechtsmediziner attestierten Herzinfarkt und findet am Tatort ein verstecktes Billig-Handy, wo sich unter den nicht gesendeten Nachrichten der Begriff „Cicades“ befindet. Für Lamb ist das ein Hinweis auf eine Gemeinschaft von russischen Schläfern, die nur darauf warten, für einen Einsatz aktiviert zu werden. In diesem Zusammenhang erfährt River Cartwright von seinem Großvater, der ein hohes Tier beim MI5 gewesen ist und ihn noch immer mit wichtigen Informationen versorgt, dass Bow von dem russischen Agenten Alexander Popow entführt worden sei.
Allerdings soll Popow eine reine Legende gewesen sein, der angebliche Chef eines Spionagerings, der sein eigenes fiktives Netzwerk leitete. Lamb schickt Cartwright nach Upshott, um dort nach dem geheimnisvollen Mr. B zu suchen, den Lamb auf den Überwachungsvideos an der Bushaltestelle in Oxford entdeckt hat, wo er aus dem Bus gestiegen ist, in dem Bow tot aufgefunden wurde. Während er in dem unscheinbaren Kaff nähere Bekanntschaft mit der attraktiven Barbedienung Kelly einlässt, werden die Slow Horses Min Harper und Louisa Guy (die auch noch miteinander liiert sind) von James „Spider“ Webb aus dem Hauptquartier damit beauftragt, den russischen Oligarchen Arkadi Paschkin zu beschützen, wenn er in London seinen Geschäften nachgeht. Doch als einer der beiden Agenten bei dieser vermeintlich simplen Aufgabe zu Tode kommt, ist Jackson Lamb alarmiert. Zudem fördert sein Computer-Nerd Roderick Ho immer brisantere Informationen aus Upshott zutage. Offensichtlich hängen die jüngsten Todesfälle und die Ereignisse in Upshott unmittelbar miteinander in Verbindung …
„Wie hoch waren die Chancen, dass dieses kleine Kaff eine neue Generation von Kalten Kriegern nährte, und wofür würden sie kämpfen, wenn es so wäre? Die Auferstehung der Sowjetunion?“ (S. 358) 
Der in Oxford lebende britische Autor Mick Herron hat mit dem 2010 erschienenen und 2018 auf hierzulande veröffentlichten Roman „Slow Horses“ eine außergewöhnlichste Spionage-Thriller-Reihe ins Leben gerufen, die zurecht mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden ist. Allein das Setting um eine ausgemusterte Truppe von MI5-Versagern, die alles dafür tun würden, um wieder im Hauptquartier in Regent’s Park arbeiten zu dürfen, verspricht ungewöhnliche Plots, die zudem von liebevoll skurrilen Figuren getragen werden. Eine Katze, die durch die Zimmer von Slough House streicht, übernimmt die Vorstellung der ausgesonderten Agenten, unter die sich die beiden Neulinge Shirley Dander und Marcus Longridge eingereiht haben.
Was den neuen Band „Dead Lions“ ebenso wie den Erstling „Slow Horses“ von der Masse an Spionage-Thrillern wohltuend abhebt, ist die Mischung aus einem spannenden, komplexen und wendungsreichen Plot, einzigartigen Figuren, der Beziehung zwischen dem Hauptquartier und dem Slough House (in dem MI5-Vizechefin Diana „Lady Di“ Tavener vermutlich auch noch einen Spitzel untergebracht hat) und dem erfrischendem britischen Humor, der der Jackson-Lamb-Reihe ihren besonderen Charme verleiht.
Zwar schleichen sich auf den knapp 500 Seiten auch mal verschiedene Längen ein, aber bei der vergnüglichen Stimmung, die der Autor zu kreieren versteht, den differenziert gezeichneten Figuren und dem intelligent inszenierten Agenten-Plot sieht der Leser gern darüber hinweg. Auf die bislang erschienenen drei weiteren Bücher der Jackson-Lamb-Reihe darf sich der deutschsprachige Leser also mehr als freuen.
Leseprobe Mick Herron - "Dead Lions"

David Lagercrantz (nach Stieg Larsson) – (Millennium: 6) „Vernichtung“

Mittwoch, 4. September 2019

(Heyne, 430 S., HC)
Als ein Obdachloser tot unter einem Baum im Stockholmer Tantolunden aufgefunden wird, nimmt die Rechtmedizinerin Fredrika Nyman Kontakt zum prominenten Journalisten Mikael Blomkvist auf, denn in der Jackentasche des Toten befand sich ein Zettel mit der Telefonnummer des „Millennium“-Autors. Interessanter als diese Tatsache erscheint Nyman allerdings die DNA-Analyse, der zufolge der Verstorbene ein sogenanntes Super-Gen besaß, das in einer bestimmten Ethnie in Nepal vorkommt. Und tatsächlich weisen das Fehlen mehrerer Finger und Zehen und andere Zeichen von Erfrierungen und arg strapazierter Muskelfasern darauf hin, dass der Tote als Sherpa Expeditionen zum Mount Everest begleitet hat. Um an weitere Informationen zu kommen, muss Blomkvist wieder auf die ganz speziellen Fähigkeiten der hochintelligenten Hackerin Lisbeth Salander zurückgreifen. Die hat gerade erst ihre Stockholmer Wohnung verkauft und ist nun in Moskau nicht nur Waldimir Kusnezow auf der Spur, der als Eigentümer mehrerer Trollfabriken, die Fake-News mit oft antisemitischem Unterton verbreiten und Wahlen beeinflussen, sondern auch ihrer verhassten Schwester Camille, mit der sie eine dunkle Vergangenheit teilt und die nun in russischen Gangsterkreisen verkehrt.
Eigentlich hatte Blomkvist vor, etwas Urlaub zu machen, doch als Nyman ihm von der Menge an schmerzstillenden Stoffen im Körper des Toten erzählt, ist sein Interesse geweckt, zumal der Obdachlose offensichtlich kurz vor seinem Tod Kontakt zur erfolgreichen Kolumnistin Catrin Lindås gehabt hat. Von ihr erfährt Blomkvist, dass der Tote den Namen des schwedischen Verteidigungsministers Johannes Forsell erwähnt hat. Der hatte im Mai 2008 an einer Everest-Expedition teilgenommen, bei der Klara Engelman, die glamouröse Frau des legendären Industriemagnaten Stan Engelman, tödlich verunglückt ist. Mit Lisbeths Hilfe nimmt Blomkvist Kontakt zu einem mutmaßlichen Verwandten des Sherpas in den USA auf und kommt allmählich einem komplizierten Drama auf die Spur …
 „War dort oben vielleicht irgendetwas geschehen, was hatte vertuscht werden müssen? Möglich. Es mochte aber auch ganz anders gewesen sein. Dennoch spürte er, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. Sein Urlaub war definitiv vorbei, und er würde der Geschichte auf den Grund gehen müssen. Doch zuerst schickte er eine SMS an Lisbeth: Warum musst du immer so verdammt clever sein??“ (S. 237f.) 
Der schwedische Autor und Journalist Stieg Larsson schuf mit der auch mehrfach erfolgreich verfilmten „Millennium“-Trilogie moderne Klassiker der skandinavischen Kriminalliteratur, ehe er 2004 unerwartet einem Herzinfarkt erlag. Stieg Larssons schwedischer Verlag und seine Familie traten schließlich 2013 an David Lagercrantz („Allein auf dem Everest“) heran, der die Reihe um die charismatischen wie unterschiedlichen Ermittler Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander fortsetzen sollte. Nach „Verschwörung“ und „Verfolgung“ legt Lagercrantz mit „Vernichtung“ nun seinen dritten und den insgesamt sechsten und wohl auch letzten Band der „Millennium“-Reihe vor. Allerdings gibt er sich wenig Mühe, der Auflösung des offensichtlichen Mordes an dem exotischen Obdachlosen die psychologische Tiefe zu erreichen, mit der Stieg Larsson das Duo Blomkvist und Salander zu so faszinierenden Figuren hat werden lassen. Stattdessen wird die Beziehung zwischen den beiden auch aufgrund der meist räumlichen Trennung zwischen ihnen nicht weiter vertieft. Blomkvist lässt sich etwas überraschend auf eine Affäre mit Catrin Lindås ein und verfolgt mehr oder weniger zielstrebig seine Nachforschungen, während Salander sich ihre gemeinsame Vergangenheit mit Camilla in Erinnerung ruft.
Durch die stückweise Enthüllung der Ereignisse während der dramatischen Everest-Expedition wird zwar die Spannung aufrechterhalten, doch wirkt der Plot allzu schablonenhaft konstruiert, um wirklich packen zu können. Vor allem das unglaubwürdig zugespitzte actionreiche Finale hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack einer so famos von Stieg Larsson initiierten Krimi-Reihe, die sein Kollege David Lagercrantz nicht auf diesem hohen Niveau fortsetzen konnte. Im Gegensatz zu seinem berühmten Kollegen vermag Lagercrantz seinen Figuren leider nicht die emotionale Tiefe zu verleihen und handelt gesellschaftspolitische Themen wie hier die wachsende Zahl von Obdachlosen oder die Produktion und Verbreitung von Fake-News nur nebenbei ab.
Leseprobe David Lagercrantz - "Vernichtung"

Jo Nesbø – (Harry Hole: 12) „Messer“

Sonntag, 1. September 2019

(Ullstein, 576 S., HC/eBook)
Als Harry Hole am Sonntagmorgen aufwacht, merkt er sofort, dass etwas nicht stimmt. Zunächst versucht er seinen üblichen Traum über einen gemeinsamen Morgen mit Rakel kurz nach ihrem Kennenlernen zu erinnern, doch dann wird ihm schlagartig und schmerzlich bewusst, dass sie ihn verlassen hatte. Schließlich bemerkt er Blut an seinen Fingern, eine leere Whiskyflasche. Er kann sich an nichts erinnern. Von seinem Freund Bjørn Holm erfährt er, dass er mit ihm zusammen in der Jealousy Bar gewesen ist, von wo er den besoffenen Harry gegen 22.30 Uhr nach Hause gefahren habe. Harry ist am absoluten Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Nach seiner erfolgreichen Zeit als Kriminalkommissar und seiner Zeit als Dozent an der Polizeihochschule ist sein Plan, durch die Heirat mit Rakel in ruhigere Fahrgewässer in Abstinenz zu gelangen, nicht aufgegangen. Stattdessen hat ihn der Vampiristen-Fall vor anderthalb Jahren wieder aus der Bahn geworfen.
Bjørns Lebensgefährtin Katrine Bratt, mit der Harry auch mal was hatte, und Gunnar Hagen haben Harry quasi aus der Gosse gezogen und ihm einen einfachen Job im Dezernat für Gewaltverbrechen beschaffen können. Doch statt nur Akten zu sortieren, will Harry den Sexualstraftäter und Serienmörder Svein Finne wieder hinter Schloss und Riegel bringen. Harry bringt den Psychopathen mit drei ungelösten Morden in Verbindung, denen noch weitere folgen. Dass auch seine geliebte Rakel erstochen aufgefunden wird, macht Harry besonders fertig und motiviert ihn, die Jagd auf Finne noch besessener voranzutreiben. Wegen seiner persönlichen Beziehung zum Opfer darf Harry allerdings nicht in dem Fall ermitteln und wird sogar vom Dienst suspendiert.
Seinen Stiefsohn Oleg, den er wie seinen eigenen Sohn liebt und der wie Harry Polizist werden will, informiert er telefonisch über die grauenvolle Tat. Dafür schaltet sich das nationale Kriminalamt unter Leitung von Ole Winter ein und zwingt die Osloer Polizei zur Zuarbeit, was gerade dem ambitionierten Ermittler Sung-min Larsen gegen den Strich geht. Harry lässt sich natürlich nicht davon abhalten, auf eigene Faust zu ermitteln, muss aber bald feststellen, dass er selbst zum engen Kreis der Verdächtigen zählt …
„Er würde anfangs natürlich der Hauptverdächtige sein, das war selbstverständlich. Deshalb musste er sie ablenken. Nur so konnte er Oleg vor der Lüge schützen, seinen jungen, reinen Glauben an die Liebe aufrechterhalten und ihn vor der Erkenntnis bewahren, dass er einen Mörder als Vorbild und Erzieher gehabt hatte. Er brauchte einen möglichen anderen Täter. Einen Blitzableiter. Einen anderen Schuldigen, der ans Kreuz genagelt werden konnte und sollte. Keinen Jesus, sondern einen Sünder, schlimmer als er selbst.“ (S. 388) 
In seinem zwölften Fall bekommt es Harry Hole mit einem alten Bekannten zu tun. Doch mehr als um die Jagd nach Svein Finne, mit dem er vor zwanzig Jahren seine Karriere bei der Polizei begonnen hatte, muss Harry sich mit sich selbst auseinandersetzen und herauszufinden versuchen, was in der Nacht, an die er sich beim besten Willen nicht erinnern kann und in der Rakel getötet worden ist, wirklich passiert ist. Auf dem sehr langen Weg bis zur Auflösung kommen wie bei Nesbø üblich etliche Verdächtige ins Spiel, werden viele an sich interessante Nebenplots eröffnet, die die Beziehungen der wichtigsten Beteiligten beleuchten. Vor allem wird aber beschrieben, wie Harry Hole immer mehr ins Abseits gedrängt wird, seine persönlichen Beziehungen neu definiert werden und sein eigenes Verhalten reflektiert, was ihn zu sehr drastischen Lösungen führt. Allerdings zieht sich der Weg bis zum dramatischen Finale immer wieder in die Länge, und der arg konstruierte Showdown auf einem Friedhof überzeugt nicht wirklich.
Jo Nesbø erweist sich in „Messer“ als wortgewandter Stilist, der seinen Figuren – allen voran seinem gebrochenen, aber charismatischen Antihelden Harry Hole – echtes Leben einzuhauchen versteht und seinen komplexen Kriminalplot mit immer wieder eingeschobenen philosophischen Betrachtungen - so zur Natur von Psychologie und Religion, zur Wahrnehmung von Menschen über ihren Besitz und nicht über das, was sie tun, und zur Persönlichkeit von Hipstern – tiefsinniger macht. An dem Elend, das Harry Holes Existenz durchzieht, scheiden sich allerdings ebenso die Geister wie an der zerfasert dargebotenen Geschichte, die nach der Identifizierung von Rakels Mörder nochmals unnötig in die Länge gezogen wird.
Leseprobe Jo Nesbo - "Messer"

Stephen King – „Jahreszeiten: Frühling & Sommer“

Dienstag, 27. August 2019

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.)
Ende August 1947 erfuhr der leitende Bankangestellte Andy Dufresne, dass seine Frau Linda mit dem Golfprofi Glenn Quentin eine Affäre hatte. Nach einem heftigen Streit und Lindas Wunsch nach einer Scheidung in Reno wurde das Liebespaar in Quentins Liebesnest erschossen aufgefunden. Die Jury sah es als erwiesen an, dass Dufresne seine Frau und ihren Liebhaber mit je vier Schüssen niederstreckte, nachdem er sich zwei Tage vorher in der Pfandleihe eine Waffe gekauft und eine hohe Lebensversicherung für sich und seine Frau abgeschlossen hatte, durch die er 50.000 Dollar bei einem Freispruch erhalten würde. Stattdessen wurde Andy, der stets seine Unschuld beteuert hat, im Alter von dreißig Jahren zu einer lebenslangen Haft in Shawshank verurteilt, wo er sich mit Red anfreundet, einem Mann, der wegen Mordes an seiner Frau einsitzt und für die Häftlinge alles Mögliche besorgt, Pralinen, Alkohol, Pornomagazine und Scherzartikel.
Andy fragt Red nach einem Gesteinshammer und Poliertüchern, mit denen er Steine bearbeiten kann, dann nach einem Poster mit Rita Hayworth, die über die Jahre anderen Pin-up-Girls wie Jane Mansfield und Raquel Welch weichen muss. Als Andy 1963 durch einen Mitgefangenen einen Hinweis darauf bekommt, dass seine Unschuld bewiesen werden könnte, macht ihm der Gefängnisdirektor Norton allerdings einen Strich durch die Rechnung, und Andy verfolgt ernsthafte Pläne für einen Ausbruch …
„Er hatte fünfhundert Dollar im Arsch stecken, als er reinkam, aber irgendwie hat der Kerl noch etwas anderes mit reingebracht. Vielleicht ein gesundes Selbstwertgefühl oder die Ahnung, dass er auf lange Sicht gewinnen würde … Vielleicht war es auch ein Gefühl der Freiheit, das ihn innerhalb dieser gottverdammten grauen Mauern nicht verließ. Er trug eine Art inneres Licht mit sich herum.“ (S. 50) 
Mit der vier Novellen umfassenden „Jahreszeiten“-Anthologie hat Stephen King 1982 den eindrucksvollen Beweis angetreten, dass er nicht einfach nur der erfolgreichste Horror-Schriftsteller aller Zeiten, sondern einfach ein guter Geschichtenerzähler ist. „Pin-up“ ist eine wunderbare Geschichte über Hoffnung und Freundschaft, und die 1994 durch Frank Darabont erfolgte Verfilmung unter dem Titel „Die Verurteilten“ zählt bis heute fraglos zu den besten Stephen-King-Verfilmungen überhaupt – ohne auch nur eine Spur von übersinnlichen Elementen in sich zu tragen. Stattdessen gibt sich King viel Mühe, den Gefängnisalltag in Shawshank, die Beziehungen der Insassen untereinander eindrücklich zu beschreiben. Am meisten Raum nehmen die Erinnerungen des Ich-Erzählers Red über Andy Dufresne ein, der sich mit seiner ernsten, unaufdringlichen Art nicht nur gegen die sexuellen Übergriffe der „Schwestern“ zur Wehr gesetzt hat, sondern auch die Bestände der Bibliothek aufgestockt den Wärtern bei ihren Steuererklärungen und Investitionsplänen ausgeholfen hat.
In „Der Musterschüler“ entdeckt der 13-jährige Todd Bowden, dass sein Nachbar Arthur Denker der gesuchte NS-Verbrecher Kurt Dussander ist. Nachdem er ihm eine Zeitlang hinterherspioniert und Fotos von dem ehemaligen Kommandanten des Vernichtungslagers Patin gemacht hat, stellt er ihn zuhause zur Rede und erpresst ihn dazu, ihm alles über die begangenen Verbrechen zu erzählen. Todd ist so fasziniert von den Erzählungen des alten Mannes, dass seine zuvor hervorragenden schulischen Leistungen darunter zu leiden beginnen. Die Beziehung zwischen Todd und Dussander entwickelt eine gefährliche Eigendynamik, denn beide beginnen unabhängig voneinander, Obdachlose zu töten … „Der Musterschüler“, 1998 von Bryan Singer verfilmt, fesselt vor allem durch die psychologische Spannung, die zwischen dem bislang unentdeckten Kriegsverbrecher und dem neugierigen Jungen über die Jahre entsteht, bis aus dem Jungen ein junger Mann wird, der durch die Erzählungen des Alten selbst zum Morden animiert wird.