Ian Haydn Smith – „Eine kurze Geschichte des Films“

Dienstag, 25. August 2020

(Laurence King, 224 S., Pb.)
Über das Medium Film lässt sich bekanntlich vortrefflich schreiben, allerdings gibt dieses Medium in seiner über 120-jährigen Geschichte so viel her, dass es schon einen interessanten Ansatz braucht, um Filmbücher auch an das richtige Publikum zu bringen. Während Verlage wie Bertz + Fischer und Schüren ausführliche und analytische Bände zu ausgesuchten Themen oder Regisseuren für Hardcore-Cineasten veröffentlichen, stehen bei Taschen beispielsweise die Filmbilder im Vordergrund, die von längst nicht so in die Tiefe gehenden, aber durchaus kompakten Texten begleitet werden.
Ian Haydn Smith, der in der Berliner Dependance des britischen Laurence King Verlags bereits „Eine kurze Geschichte der Fotografie“ vorgelegt hat und neben seiner Arbeit für die Kinomagazine „Curzon“ und BFI Filmmakers“ vor allem für seinen Bestseller „1001 Movies You Must See Before You Die“ bekannt ist, wählt für seinen Überblick „Eine kurze Geschichte des Films“ einen bemerkenswerten Ansatz, der vor allem Filmliebhaber ansprechen dürfte, die in die theoretischen Grundlagen einsteigen möchten und nach einem kurzen Abriss über die Geschichte des Mediums sowie dessen im Laufe der Zeit ausgestalteten Genres suchen.
„Der Experimentalfilm, die Dokumentation, der Kurzfilm, die Animation – alle verdienen eine eigene geschichtliche Darstellung. Mit einer oberflächlichen Einordnung würde man ihnen nicht gerecht. Dieses Buch versucht zu beschreiben, wie kommerzielles, unabhängiges und künstlerisches Kino im Laufe eines turbulenten Jahrhunderts entstand, florierte und sich anpasste“, schreibt der Autor in seiner Einleitung und handelt seine ausgewählten Themen jeweils auf gerade mal einer Seite ab.
So bekommt der Leser zunächst einen knackigen Überblick über eine Vielzahl von Filmgenres, vom Western und Monumentalfilm über den Kriegs-, Horror-, Gangster- und Propagandafilm bis zur Dokumentation, dem Blockbuster, Ghettodrama, Italowestern und Musical, wobei auch weniger populäre Genres wie der Mockumentary, Jidai-Geki (Samuraifilm), Racefilm und Kino der Langsamkeit Berücksichtigung finden – jeweils mit einer kurzen Charakterisierung und geschichtlichen Entwicklung, illustriert durch einen stilbildenden Meilenstein (wie „Ben Hur“ für den Monumentalfilm, „Stagecoach“ für den Western und „Der Leopard“ für den Kostümfilm) und Nennung bekannter Regisseure, die das jeweilige Genre geprägt haben.
Den Hauptteil nimmt die Vorstellung von 50 ausgesuchten Filmen auf jeweils zwei Seiten in chronologischer Reihenfolge ein. Hier zeigt sich ebenso wie bei den zuvor ausgewählten „Meilensteinen“ der einzelnen Filmgenres der sehr persönliche Geschmack des Autors, wobei auch in der Filmgeschichte recht gut bewanderte Leser sicher den einen oder anderen Film finden werden, der ihnen bislang noch nicht untergekommen ist. Neben allseits bekannten Werken wie Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, Langs „Metropolis“, Hitchcocks „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“, Godards „Außer Atem“, Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“, Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, Spielbergs „Der weiße Hai“, Scorseses „Taxi Driver“, Ridley Scotts „Blade Runner“, Tarantinos „Pulp Fiction“ und zuletzt Cuaróns preisgekrönter Netflix-Produktion „Roma“ begegnen uns hier auch allgemein weniger vertraute Filme wie Murnaus „Sonnenaufgang“, Vigos „Atalante“, Bertoluccis „Der große Irrtum“, Akermans „Jeanne Dielman“ und Claire Denis‘ „Der Fremdenlegionär“.
Es ist gerade diese Mischung aus dem Wiedersehen mit vertrauten Meisterwerken und der Neugierde auf noch unbekannte, aber offensichtlich sehenswerte Filme, die „Eine kurze Geschichte des Films“ so interessant machen. Ian Haydn Smith erweist sich dabei als äußerst sachkundiger Autor, der nicht nur Genres und die 50 ausgesuchten Filme fundiert und kompakt zu umreißen versteht, sondern auch technische Sachverhalte gut verständlich beschreibt. Wer sich nämlich noch tiefer in die Materie begeben möchte, kann sich im Anschluss noch mit verschiedenen Strömungen wie Deutscher Expressionismus, Nouvelle Vague, Neuer Deutscher Film, Cinéma du Look, New Queer Cinema, Dogma 95 oder New French Extremity beschäftigen und sich filmischen Mitteln und Techniken wie Method Acting, Cinéma vérité, 3D, Schärfentiefe, Parallelmontage, Unsichtbarer Schnitt und Panoramaschwenk annähern. Ein ausführliches Register rundet dieses informative Buch für Filmfreunde jedweder Ausprägung ab. Bestenfalls macht „Eine kurze Geschichte des Films“ Lust auf weiterführende Literatur oder animiert einen dazu, die vorgestellten Listen, die per se keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben können, mit eigenen Lieblings-Filmen zu ergänzen.

Stephen King – „Blutige Nachrichten“

Montag, 10. August 2020

(Heyne, 560 S., HC) 
Stephen King hatte seit Mitte der 1970er Jahre nicht nur dem Horror-Genre mit seinen Bestseller-Romanen wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand“, „Feuerkind“, „Cujo“ sowie der Kurzgeschichten-Sammlung „Nachtschicht“ seinen Stempel aufgedrückt, sondern war so erfolgreich, dass er – wie er mal erwähnte -, auch seine Wäscheliste hätte veröffentlichen können. So verfasste er dann nicht nur das Sachbuch „Danse Macabre“, sondern mit „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ eine erste Sammlung mit vier Kurzromanen, die im Horror-Bereich erfahrungsgemäß schlecht an den Mann zu bringen sind. Der Erfolg gab King aber auch diesmal recht, obwohl es sich bis auf „Atemtechnik“ nicht um Horror-Geschichten handelte. „Die Leiche“ wurde sehr erfolgreich von Rob Reiner verfilmt, „Der Musterschüler“ von Bryan Singer
Seither hat King in seiner äußerst produktiven Schriftsteller-Karriere immer wieder mal zwei bis vier Novellen zu Büchern zusammengefasst. Nach „Langoliers“, „Nachts“ und „Zwischen Nacht und Dunkel“ liegt mit „Blutige Nachrichten“ nun ein weiteres Buch mit vier Novellen des „King of Horror“ vor, durch die sich als Roter Faden irgendwie der Fluch und Segen des technologischen Fortschritts zieht. 
Das wird vor allem bei „Mr. Harrigans Telefon“ deutlich. Der Ich-Erzähler Craig erinnert sich daran, wie er 2004 im Alter von neun Jahren für den wohlhabenden Ex-Unternehmer Mr. Harrigan zu arbeiten begann. Er bekam fünf Dollar die Stunde dafür, für den alten Mann Einkäufe zu erledigen und ihm vorzulesen, dazu erhielt er vier Mal im Jahr Karten zum Valentinstag, zum Geburtstag, zu Thanksgiving und zu Weihnachten – jeweils mit einem förmlichen Glückwunsch und einem Ein-Dollar-Rubbellos. Craigs Dad fand diese Geste immer sehr geizig, schließlich besaß der Arbeitgeber seines Sohnes früher u.a. eine Schifffahrtslinie, mehrere Einkaufszentren und eine Kinokette, aber keinen Laptop oder Fernseher. Dagegen freut sich Craig, dass er am ersten Weihnachtstag 2007 das erste iPhone geschenkt bekommt und wenig später sogar durch das Rubbellos von Mr. Harrigan dreitausend Dollar gewinnt. Craig revanchiert sich bei Mr. Harrigan, indem er ihm ebenfalls ein iPhone schenkt, worauf der alte Mann vor allem über die Echtzeit-Übermittlung des Dow-Jones-Index fasziniert ist, aber auch von dem Umstand, dass Zeitungen ihre Storys umsonst im Netz anbieten. 
Als Mr. Harrigan stirbt, steckt ihm Craig das iPhone in den Anzug, in dem dieser beerdigt wird, Was Craig beunruhigt, ist die Tatsache, dass er nicht nur nach der Beerdigung von Mr. Harrigan nach wie vor Kurznachrichten von seinem Handy erhält, sondern auch Menschen, die Craig das Leben schwer machen, unter mysteriösen Umständen sterben, nachdem Craig sein Leid auf die Mailbox von Mr. Harrigans Handy gesprochen hat … 
„Chucks Leben“ spielt in einer vielleicht gar nicht so fernen Zukunft, in der nicht nur ganze Vögel- und Fischarten aussterben, sondern auch Kalifornien und das Internet verschwindet. Marty Andersons Aufmerksamkeit wird von einer Reklametafel in Beschlag genommen, auf der statt einer Werbung für eine Fluggesellschaft geworben wurde, nun aber das Foto eines mondgesichtigen Mannes anzeigt, über dessen Kopf die Botschaft verkündet wird: „Charles Krantz. 39 wunderbare Jahre! Danke, Chuck!“. Und auch im Fernsehen prangt statt des Begrüßungsbildschirms von Netflix die gleiche Botschaft, die ebenso von einem Flugzeug in den Himmel geschrieben wird. Doch niemand scheint diesen Chuck zu kennen. Nur Chucks engste Vertrauten wissen, dass Chuck im Krankenhaus im Sterben liegt und vor seiner Krankheit für etwas Aufsehen gesorgt hat, als er zu der rhythmischen Musik von Jared Franck an der Boylston Street in Boston zu tanzen anfing. Er nahm an einer Tagung von Buchhaltern teil, als er während eines Nachmittagsspaziergangs bei dem Musiker stehenblieb und auf spektakuläre Weise zu tanzen anfing und eine junge Frau namens Janice einlädt, es ihm gleichzutun. 
„Später wird er den Namen seiner Frau vergessen. Erinnern wird er sich jedoch – gelegentlich – daran, wie er stehen blieb, die Aktentasche fallen ließ und anfing, die Hüften zum Rhythmus des Schlagzeugs zu bewegen, und dann wird er denken, dass Gott dafür die Welt erschaffen hat. Genau dafür.“ (S. 169) 
In der Titelgeschichte „Blutige Nachrichten“ gibt es ein Wiedersehen mit Holly Gibney, der Geschäftspartnerin von Bill Hodges, einem ehemaligen Detective, der nach seinem Ruhestand die Detektei „Finders Keepers“ gegründet hat. Nach den drei Romanen „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ rückte Holly Gibney in dem Roman „Der Outsider“ mehr in den Vordergrund. Sie will sich gerade ihre Lieblings-Gerichtsshow im Fernsehen ansehen, als das Programm wegen einer Eilmeldung unterbrochen wird. Chet Ondowsky, der als erster Reporter vor Ort von einem Bombenattentat an einer Schule in Pineborough berichtet, erinnert Holly an den gestaltwandlerischen Outsider, den sie einst mit Detective Ralph Anderson zur Strecke gebracht zu haben glaubte. Durch ihren Psychiater kommt sie zu einem anderen Patienten in Kontakt, der ähnliche „Wahnvorstellungen“ über Gestaltwandler zu haben scheint, allerdings viel konkretere Beweise für die Existenz weiterer Outsider vorlegen kann … 
In der abschließenden Novelle „Ratte“ wird der Literaturdozent Drew Larson von der Idee gepackt, nach einem fürchterlich gescheiterten Versuch, neben seinen bisher veröffentlichten Kurzgeschichten auch einen Roman zu schreiben, es erneut zu versuchen, und zwar mit einem Western. Um die nötige Ruhe zu haben, fährt er in die Hütte seines vor zehn Jahren verstorbenen Dads, wo seine Arbeit zunächst flott von der Hand geht. Doch dann stellen sich wie schon beim ersten Mal die ersten Probleme ein, und Drew geht einen faustischen Pakt ein … 
Es ist vor allem das Wiedersehen mit der sympathischen Detektivin Holly Gibney in der titelgebenden Geschichte, die „Blutige Nachrichten“ für Stephen-King-Fans lesenswert macht. In dieser Geschichte entwickelt King die beunruhigende Story von „Der Outsider“ konsequent weiter, füllt die Figur mit Charakter und einer Biografie, die vor allem durch die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter geprägt ist. Vor allem erweist sich King hier als Meister der Spannung, die in den übrigen Geschichten kaum zur Entfaltung kommt. 
Während „Mr. Harrigans Telefon“ noch ein nostalgisches Gefühl von „The Twilight Zone“ aufkommen lässt, verpufft die nichtlinear erzählte Geschichte über Chuck Kurtz abgesehen von der lebendig beschriebenen Tanz-Einlage auf offener Straße ohne große Pointe. „Ratte“ greift das bei King beliebte und vor allem aus „Shining“ bekannte Motiv des Möchtegern-Romanautors auf, der in der Isolation unkluge Entscheidungen trifft und dafür die fürchterlichen Konsequenzen tragen muss. Letztlich ist die Qualität der einzelnen Geschichten zu unterschiedlich, um „Blutige Nachrichten“ zu einem guten Stephen-King-Werk zu machen. Stattdessen hätte der Bestseller-Autor die Titelgeschichte zu einem richtigen Roman ausbauen sollen. 

Lee Child – (Jack Reacher: 22) „Der Bluthund“

Donnerstag, 6. August 2020

(Blanvalet, 447 S., HC) 
Nach drei gemeinsamen Tagen in Milwaukee trennen sich die Wege von Jack Reacher und Michelle Chang. Während Chang, die sich mit Reachers langjährigem Nomadentum nicht anfreunden kann, zurück nach Seattle fährt, schnappt sich der ehemalige Top-Ermittler der Militärpolizei seine Zahnbürste und nimmt den nächstbesten Bus, der ihn in Richtung Nordwesten bringen würde. Bei einer Pinkelpause in der trübseligen Kleinstadt Rapid City entdeckt Reacher im Schaufenster eines Leihhauses den auffällig kleinen Ring einer West-Point-Absolventin des Jahres 2005. 
Reacher ist sich sicher, dass dieser Ring nur aus der Not heraus in diese Pfandleihe gelangt ist, legt vierzig Bucks auf den Tisch und macht sich auf die Suche nach der Geschichte hinter diesem Ring. Der einzige Anhaltspunkt sind die in den Ring eingravierten Initialen S.R.S. Vom Pfandleiher erfährt der hünenhafte Hobby-Ermittler, dass er den Ring vor ein paar Wochen mit anderen Schmuckstücken von einem Mann namens Jimmy Rat gekauft hat. 
Eine Schlägerei mit sieben Bikern später hat Reacher auch dessen Kontaktmann ausfindig gemacht: Arthur Scorpio. Hinter dem sind die Cops bereits einige Zeit her. Auch Detective Gloria Nakamura ist mit der Überwachung des Dealers betraut, nur konnte dem Mann, der in der Stadt einen Waschsalon betreibt, bislang nichts nachgewiesen werden. 
Vom Superintendenten in West Point erfährt Reacher, dass sich hinter den Initialen der Name Serena Rose Sanderson verbirgt, die nach fünf Kampfeinsätzen im Irak und in Afghanistan offensichtlich verletzt worden ist und nun nicht mehr auffindbar ist. Ihre wohlhabende Zwillingsschwester Tiffany Jane Mackenzie hat den ehemaligen FBI-Agenten Terrence Bramall, der sich als Privatdetektiv auf das Aufspüren vermisster Personen spezialisiert ist, engagiert. Mit vereinten Kräften machen sich Reacher, Bramall und Mackenzie auf die Suche nach Serena Rose und stoßen mit ihren Ermittlungen in ein Wespennest einer nahezu perfekten Organisation, die mit Betäubungsmitteln handelt und alles daran setzt, sich von Reacher und seinen Leuten nicht die Suppe versalzen zu lassen … 
„Reacher war kein abergläubischer Mann. Er hielt auch nichts von geistigen Höhenflügen oder plötzlichen Vorahnungen oder Existenzängsten jeglicher Art. Aber er wachte bei Tagesanbruch auf und blieb noch im Bett. Er hatte keine Lust, sich zu bewegen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete seinen Schatten in dem Spiegel an der Wand gegenüber. Eine entfernte Gestalt. Einer dieser Tage. Nicht nur eine militärische Sache. Auch viele andere Berufe kannten dieses Gefühl. Manchmal wachte man auf und wusste bestimmt – geschichtlich bedingt, aus Erfahrung und resignierter Intuition -, dass der eben angebrochene Tag überhaupt nichts Gutes bringen würde.“ (S. 274) 
Seit 1997 liefert Lee Child eigentlich jedes Jahr einen neuen Roman um seinen beliebten Helden Jack Reacher, den Hollywood-Star Tom Cruise bereits zweimal auf der Leinwand verkörpern durfte. So ungewöhnlich Reachers Karriere beim 110th MP verlief, bildet seine Entscheidung, nach seiner ehrenhaften Entlassung keiner geregelten Arbeit nachzugehen und ohne festen Wohnsitz und sonstige Besitztümer einfach durch quer die Staaten zu trampen oder mit Bus und Zug zu reisen, die Grundlage für seine privaten Engagements. In dem mittlerweile 22. Band der Bestseller-Reihe zieht also ein West-Point-Ring und die offensichtlich tragische Geschichte hinter seinem Weg in die Pfandleihe seine Aufmerksamkeit auf sich. Nach der fast schon obligatorischen kämpferischen Auseinandersetzung mit zahlenmäßig überlegenen, Reacher aber in jeder anderen Hinsicht nicht gewachsenen Kleinganoven entwickelt Lee Child einen ebenso packenden wie komplexen Plot, in dem Reacher ausnahmsweise mal nicht im Alleingang oder mit Unterstützung einer ebenso taffen wie hübschen Frau den bösen Jungs auf der Spur ist, sondern sich gleich auf mehrere durchaus kompetente Begleiter verlassen kann. Vor allem die taktischen und strategischen Überlegungen, die er mit dem Ex-FBI-Agenten Bramall anstellt, machen in knackigen Dialogen deutlich, wie die routinierten Ermittler gegen das raffiniert organisierte Netz von Dealern vorgehen und sich der eigentlichen Besitzerin des West-Point-Ringes annähern. Dabei rückt schließlich das Verhältnis zwischen den beiden Zwillingsschwestern zunehmend in den Vordergrund und verleiht „Der Bluthund“ eine für Childs Verhältnisse ungewöhnlich menschliche Note. Überhaupt zeigt sich der frühere Produzent von Fernsehserien wie „Brideshead Revisited“, „The Jewel in the Crown“ und „Prime Suspect“ in seinem neuen Roman wieder auf der Höhe seines Schaffens, nachdem hin und wieder schon Ermüdungserscheinungen in seinen letzten Werken auszumachen gewesen sind. 
Zwar macht es Child zum Finale hin etwas arg kompliziert, aber „Der Bluthund“ zählt nicht nur fraglos zu den spannendsten und vielschichtigsten Romanen der Reihe, sondern thematisiert auch die fragwürdige Art und Weise, wie in den USA mit schwer verletzten Kriegsveteranen umgegangen wird. 

Anthony McCarten – „Englischer Harem“

Sonntag, 2. August 2020

(Diogenes, 582 S., HC)
Die Familie Pringle stammt aus einfachen Verhältnissen und lebt in einer hellhörigen Einheitswohnung im 23. Stock eines heruntergekommenen Wohnblocks in London, dessen Fahrstuhl seit Monaten defekt ist. Während Eric Pringle sein Geld damit verdient, immer wieder Reparaturen in diesem Gebäude auszuführen, setzt seine Frau Monica alles daran, mit einer Petition unter den Bewohnern dafür zu sorgen, dass die Stadt die Bruchbude ganz abreißt, allerdings haben ihre Bemühungen erst zu vier Unterschriften gebracht. Doch diese Alltagssorgen verblassen, als ihre zwanzigjährige Tochter Tracy zum vierten Mal in zwei Jahren ihren Job verliert. Als Kassiererin im Supermarkt hing sie den von ihren Leseabenteuern inspirierten Tagträumen so intensiv nach, dass sie einen offensichtlichen Ladendiebstahl übersah.
Auf der Suche nach einem neuen Job landet sie im vegetarischen Restaurant des Persers Saaman „Sam“ Sahar, Sohn des berühmtesten Schlachters in Teheran. Der recht kleine, aber rundliche Sam, der nach einer Lebensmittelvergiftung durch einen vergammelten Hamburger genug von Fleisch in seinem Leben hat, versucht, Tracy vergeblich abzuwimmeln, und lässt sich auf ein einwöchiges Probearbeiten mit der resoluten jungen Frau ein, und ist schnell von ihrer schnellen Auffassungsgabe begeistert. Auch seine beiden Frauen Yvette und Firouzeh schließen Tracy in ihre Herzen und drängen Saaman dazu, auch Tracy zur Frau zu nehmen, als sich die beiden ineinander verlieben. Das bringt nicht nur Tracys Eltern aus der Fassung, sondern auch Tracys Ex-Freund Ricky, der sich leider in flagranti mit einer anderen Frau hat von Tracy erwischen lassen, seinen Fehltritt aber bereut und Tracy aus den Fängen des offensichtlichen Polygamisten aus dem Orient befreien will.
Als das Jugendamt in Gestalt von Mr. Partridge einem anonymen Hinweis nachgeht, dass Firouzehs vier Kinder unter den wüsten Verhältnissen in Sams Harem leiden würden. Damit beginnt eine Auseinandersetzung, die alle Beteiligten in ihren Grundfesten erschüttert …
Wir verbringen unser Leben in einer Festung, sinnierte Sam, und lassen nur selten die Zugbrücke herunter. Was für eine Verschwendung! Was wir da alles verpassen! Wir halten nur Abstand voneinander, weil wir uns nicht trauen. Die großen Verführer, zu denen er sich nicht zählte, verstanden das und nutzten es aus. Diese Mauern gab es nur in der Phantasie. Jeder abgewandte Blick war in Wirklichkeit eine Einladung, jeder unerwiderte Anruf eine Bitte, jede Gehässigkeit eine Aufforderung zum Streicheln …“ (S. 185) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten ist nicht nur als Mit-Autor des erfolgreichen Theaterstücks, das später als „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ noch erfolgreicher verfilmt worden ist, populär geworden, sondern auch durch weitere Romane/Drehbücher wie zu „Die dunkelste Stunde“, „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, „Bohemian Rhapsody“ und „Die zwei Päpste“. Mit „The English Harem“ legte er 2002 seinen zweiten Roman vor, der eindrucksvoll unterstreicht, dass McCarten nicht nur über eine feine Figurenzeichnung verfügt, sondern auch mit viel Sympathie, Humor und Toleranz ihre durchaus komplexen Dramen schildert.
„Englischer Harem“ zeichnet dabei außerdem das Bild einer multikulturellen Gesellschaft einer Weltmetropole, in der Menschen verschiedenster Hautfarben, Kulturen, religiöser Gesinnung und regionaler Herkunft zwar alltäglich miteinander zu tun haben, aber trotzdem voller Vorurteile stecken. McCarten treibt diese kulturellen Missverständnisse in seinem warmherzigen Roman gekonnt auf die Spitze, lässt auch den Leser über die wahre Beziehung der drei Frauen und ihrem Ehemann lange im Dunkeln, macht aber auch klar, dass Sams Zuhause alles andere als einen Harem darstellt.
Geradezu genüsslich beschreibt er die verschiedenen Versuche von Ricky und Eric, Tracy wieder zur Vernunft zu bringen und dem vermeintlichen persischen Haremsbetreiber eins auszuwischen. Auf der anderen Seite seziert der Autor gekonnt die Nöte und Sehnsüchte einer normalen britischen Familie sowie ebenso einfühlsam die jeweils ganz unterschiedlichen Umstände, unter denen sich Sam seiner drei Frauen angenommen hat. Wenn „Englischer Harem“ eine Botschaft vermittelt, dann die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit uns fremden Kulturen, so wie Tracy in einem Erwachsenenstudium versucht, den Koran zu verstehen.
Doch neben dem Appell an mehr Toleranz überzeugt der Roman auch als multikulturelle Liebesgeschichte mit ungewöhnlichen Figuren, die man als Leser einfach schnell ins Herz schließen muss.

David Baldacci – (Atlee Pine: 2) „Abgetaucht“

Freitag, 31. Juli 2020

(Heyne, 528 S., HC)
Atlee Pine war sechs Jahre alt, als eines Nachts ein Mann in das Kinderschlafzimmer kam, ihr den Schädel zertrümmerte und ihre Zwillingsschwester Mercy entführte. Ihre Eltern, die – so die Polizeiberichte von damals – im unteren Teil des Hauses mit Freunden eine Party mit Alkohol und Drogen feierten, haben den Schock nicht überwunden und sich getrennt. Während sich Atlees Vater an ihrem 19. Geburtstag erschossen hat, ist ihre Mutter spurlos verschwunden. Es ist sicher diesen Umständen zu verdanken, dass Atlee, die wie durch ein Wunder den Schädelbruch überlebt hat, zum FBI ging und schließlich auf eigenen Wunsch die einsam gelegene FBI-Außenstelle in Shattered Rock am Grand Canyon übernahm, wo sie von der tüchtigen Assistentin Carol Blum unterstützt wird. Die Suche nach Mercy und ihrer Mutter hat Atlee nie aufgegeben.
Zuletzt hat sie den mehrmals lebenslänglich verurteilten Serienmörder Daniel James Tor im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence besucht, der damals zumindest in der Nähe bereits einen Mord verübt hatte, der Atlee aber auch nach dem dritten Besuch keine konkreten Hinweise zur Bestätigung ihres Verdachts liefern mag. Auf dem Rückweg in ihrem 1967er Ford Mustang Cabrio geht Atlee einer Vermisstenmeldung nach und kann den flüchtigen Fahrer mit dem entführten Mädchen stellen, geht dabei aber so brutal zu Werke, dass ihr Chef Clint Dobbs sie erst einmal in den Urlaub schickt, den Atlee nutzen will, um an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren.
Carol Blum begleitet sie auf der Reise in die Kleinstadt Andersonville, Georgia, die vor allem vom Interesse der Touristen an der Nachstellung des Bürgerkriegs lebt. Atlee stattet ihrem heruntergekommenen Elternhaus einen Besuch ab, in dem der Gelegenheitsarbeiter Cy Tanner mit seinem nierenkranken Hund lebt. Doch die FBI-Agentin hat gerade erst begonnen, die Bekannten ihrer Eltern zu ermitteln, als die mit einem Brautschleier verzierte Leiche einer Frau gefunden wird. Die als Hanna Rebane identifizierte Tote ist wegen Drogenmissbrauch und Prostitution aktenkundig gewesen, stammt aber nicht aus der Gegend. Als auch noch ein Schwarzer und ein Junge unter ähnlich rituell anmutenden Umständen tot aufgefunden werden, scheinen es Pine, ihr früherer FBI-Kollege Eddie Laredo und GBI-Detective Max Wallis mit einem Serienmörder zu tun zu haben. Währenddessen macht Atlee vor allem mit den wohlhabend Ehepaar Myron und Britte Pringle sowie Jerry Lineberry Bekanntschaft, die früher enge Freunde ihre Eltern gewesen sind. Je mehr sich Atlee Pine, Carol Blum und die Agenten von GBI und FBI mit den jüngsten Morden beschäftigen, desto mehr scheint sich eine Verbindung zu dem Schicksal von Atlee Pines Familie herauszukristallisieren …
„In der Erinnerung sah sie den Finger des Entführers, der zuerst ihr, dann Mercy auf die Stirn getippt hatte, als er den Abzählreim aufgesagt hatte. Immer wieder, im Rhythmus des Verses. Dann hatte die Faust sie an der Schläfe getroffen, vielleicht mehr als einmal. Sie wusste es nicht, konnte es nicht wissen, weil sie schon beim ersten Schlag das Bewusstsein verloren hatte.
Ich muss die Verliererin gewesen sein. Ich, nicht Mercy. Bei Mercy hat der Reim geendet. Mich wollte er umbringen. Er muss davon ausgegangen sein, dass ich tot bin. Aber warum hat er Mercy mitgenommen?“ (S. 361) 
Nach dem „Memory Man“ Amos Decker und Militärpolizeiermittler John Puller, deren Fälle ebenfalls bei Heyne verlegt werden, hat Bestseller-Autor David Baldacci mit der FBI-Agentin Atlee Pine die vielleicht interessanteste Figur seiner langen Karriere kreiert. Atlee Pines tragisches Schicksal mit der eigenen schweren Verletzung, dem Verschwinden sowohl ihrer Zwillingsschwester Mercy als auch ihrer Mutter hat sie zu einer ebenso einzelgängerischen wie taffen FBI-Agentin gemacht, die die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen aber bislang nicht so effizient einsetzen konnte, dass daraus konkrete Hinweise auf ihren Verbleib resultieren würden.
Auch in seinem zweiten Atlee-Pine-Roman „Abgetaucht“ verbindet Baldacci geschickt die Suche seiner sympathischen Protagonistin nach der Auflösung der Geschehnisse vor über dreißig Jahren mit neuen Fällen. Der Autor erweist sich dabei als routinierter Dramaturg, der von Beginn an Spannung zu erzeugen versteht, verschiedene Figuren sorgfältig einführt und nach und nach mehrere Fährten legt, die zur Aufklärung der Vermissten- und Mordfälle führen könnten. Vor allem Atlee Pine gewinnt durch ihre ganz persönliche Reise in die Vergangenheit an Kontur, wobei sie von ihrer cleveren Assistentin Carol auf fast mütterliche Weise begleitet und unterstützt wird. Gerade im letzten Viertel zieht Baldacci das Tempo mächtig an, bringt ordentlich Action ins Spiel und überrascht mit einigen Wendungen, die genügend Fragen offen lassen, dass die Fortsetzung dieser hochkarätigen Thriller-Reihe garantiert ist.
Leseprobe David Baldacci - "Abgetaucht"

John Iriving – „Witwe für ein Jahr“

Montag, 27. Juli 2020

(Diogenes, 762 S., Tb.)
Im Alter von vier Jahren wird Ruth Cole eines Nachts Zeugin davon, wie der der sechzehnjährige Eddie O’Hare ihre Mutter von hinten besteigt. Es ist für alle Beteiligten ein merkwürdiger Sommer im Jahr 1958. Der berühmte Kinderbuchautor Ted Cole und seine Frau Marion haben sich schon vor dem Tod ihrer beiden Jungen Timothy und Thomas auseinandergelebt, die Opfer der Tatsache geworden sind, dass ihre Eltern sich mal wieder gestritten und betrunken haben, so dass sie den Wagen fahren mussten, der schließlich in einen tödlichen Unfall verwickelt wurde. Während sich die schöne Marion zunehmend in sich selbst zurückzog, nutzte Ted seine Kunstfertigkeit als Illustrator dazu, Mütter zu verführen, die er zunächst mit ihren Kindern portraitierte, dann allein und schließlich als Akt zeichnete und sie verführte. Um in der bevorstehenden Scheidung von Marion das Sorgerecht für Ruthie zu bekommen, engagierte er vorgeblich als Assistenten für sich selbst, im Grunde aber als Liebhaber für Marion.
Sein Plan geht auf. Eddie verliebt sich in die viel ältere Frau, die wenig später ohne ein Wort des Abschieds verschwindet – mit all den Bildern ihrer Söhne, die das Haus geschmückt haben. Eddie bleibt nach Marions spurlosem Verschwinden untröstlich und fortan auf ältere Frauen fixiert, ohne je die tiefen Gefühle entwickeln zu können, die ihn mit Marion verbunden haben. Aber er wird ebenso wie Ruth Cole Schriftsteller, längst nicht so erfolgreich wie sie, aber er kommt in den Genuss, Ruth Cole bei einer ihrer Autorenlesungen vorzustellen und sie so im Frühjahr 1990 endlich wiederzusehen. Doch die Freude des Wiedersehens währt nur kurz, denn Ruth stellt ihr neues Buch auch in Europa vor. Mit ihrem Lektor Allan, der sie unbedingt heiraten möchte, hat sie noch nicht mal geschlafen, was für ihre beste Freundin, die fast schon promiskuitive Journalistin Hannah, absolut unverständlich bleibt.
In Amsterdam ist Ruth nicht nur von einem jungen Holländer fasziniert, der sie verehrt, sondern lässt sich für die Recherchen zu ihrem neuen Buch auch dazu überreden, hinter einem Vorhang versteckt eine Prostituierte dabei zu beobachten, wie sie einen Freier bedient. Doch der Freier entpuppt sich als Mörder der rothaarigen Rooie und entkommt zunächst unentdeckt. Die anonymen Hinweise, die Ruth dem Polizisten Harry Hoekstra zukommen lässt, führen Jahre später zu dessen Ergreifung, doch Harry ist vielmehr an der Zeugin als an dem Täter interessiert und macht sich auf die Suche nach ihr. Ruth kehrt nach ihrer Lesereise in Europa wieder nach Hause zurück, heiratet Allan und bekommt mit ihm einen Sohn. Doch das Leben hält noch etliche Überraschungen für sie bereit …
„Eines Tages würde sie keine junge Mutter mehr sein, und dann würde sie wieder schreiben. Bisher hatte sie erst rund hundert Seiten von ,Mein letzter schlimmer Freund‘ zu Papier gebracht. Noch war sie nicht bis zur Szenen gekommen, in der der Freund die Schriftstellerin dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen. Ruth arbeitete noch darauf hin. Auch diese Szene wartete auf sie.“ (S. 585) 
Mit seinem neunten, 1998 veröffentlichten und ein Jahr darauf auch auf Deutsch veröffentlichten Roman „Witwe für ein Jahr“ hat der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving („Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“) ein Epos kreiert, das die Lebensgeschichte der Cole-Familienmitglieder Ted, Marion und Ruth sowie Eddie O’Hare über fast vier Jahrzehnte abdeckt und ihre vielschichtigen Liebesbeziehungen beschreibt, die vor allem von der Sehnsucht nach dem Verlorenen geprägt sind.
Ted Cole scheint sich in seinen unzähligen Affären mit jüngeren Frauen in eine glücklichere Zeit zurückzuversetzen, als seine Söhne noch lebten, während Marion ihre Liebe für ihre Söhne gänzlich verbraucht hat und in dem sechzehnjährigen Eddie einen kurzzeitigen Ersatz für diesen Verlust findet. Ruth wiederum arbeitet den Tod ihrer Brüder, die sie nie kennengelernt hat, die sie aber durch die allgegenwärtigen Fotos zuhause ihr Leben lang begleitet haben, in ihren autobiografisch gefärbten Büchern auf, in denen Väter und Mütter keine Rolle spielen, dafür aber Beziehungen mit schlimmen Freunden. Eddie sehnt sich nur nach Marion zurück.
Irving erweist sich als humorvoller und detailfreudiger Beobachter, der auch weniger liebenswerten Figuren wie Ted und Marion Cole und sowie Hannah sympathische Züge zu verleihen versteht. Es ist aber vor allem das Verhältnis zur Sexualität, das Irving in „Witwe für ein Jahr“ (dessen Titel auf eine verärgerte und natürlich verwitwete Leserin zurückgeht) thematisiert. Das beginnt mit der lustvoll beschriebenen Eröffnungsszene und setzt sich über die zahllosen Affären von Ruth‘ Vater und ihrer Freundin Hannah ebenso fort wie in Ruth‘ eigenen eher verklemmten Beziehungen, in denen Sex eher etwas ist, das hinter sich gebracht werden sollte und dann teilweise auch mit schlimmen Erfahrungen enden.
Irvings Kunstfertigkeit besteht einmal mehr darin, ganze Lebensgeschichten nicht nur unterhaltsam zu erzählen, sondern die Figuren, selbst wenn sie nicht immer überzeugend ausgestaltet sind, in ihren spannenden Verwicklungen untereinander zu begleiten. „Witwe für ein Jahr“ unterhält durch seinen meist charmanten Humor, seine ebenso lebensnahen wie skurrilen Figuren, die interessanterweise durch ihren jeweils persönlichen Werdegang allesamt zu Schriftstellern werden. So ist dieses wieder mal über 700 Seiten lange Epos ein vielschichtiger Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der eindringlich aufzeigt, wie früheste Beziehungen und Entscheidungen den Lebensweg eines Menschen prägen.

Leseprobe John Irving - "Witwe für ein Jahr"

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 5) „Die falsche Fährte“

Samstag, 18. Juli 2020

(Zsolnay, 494 S., HC)
Hauptkommissar Kurt Wallander verabschiedet mit einer Rede den bisherigen Polizeipräsidenten Björk, der in Malmö seine neue Anstellung als Chef des Ausländerkommissariats der Provinzverwaltung antritt, und würde dabei am liebsten seiner Besorgnis um die geplanten Kürzungen und Umstrukturierungen bei der Polizei Ausdruck verleihen, doch letztlich freut er sich viel zu sehr auf seinen bevorstehenden, dringend benötigten Urlaub in ein paar Wochen. Doch als er einem merkwürdigen Anruf nachgeht, der von einem Hof in der Nähe von Marvinsholm erfolgte und auf eine sonderbar auftretende Frau in einem Rapsfeld hinwies, wird Wallander Zeuge, wie sich das Mädchen vor ihm plötzlich mit Benzin übergießt und sich selbst verbrennt. Einen Hinweis auf die Identität des Mädchens gibt nur ein Madonnenbild mit den Initialen D.M.S.
Bevor sich Wallander jedoch eingehender mit dem traurigen Schicksal des Mädchens beschäftigen kann, wird er mit einem Fall konfrontiert, der seine Urlaubsplanung mit seiner in Riga lebenden Freundin Baiba ernsthaft gefährdet. Am Strand bei Sandskogen wird die Leiche des ehemaligen Justizministers Gustaf Wetterstedt gefunden. Sei unter einem umgekehrten Boot in der Nähe seines Hauses sichergestellter Körper weist tödlich durchtrenntes Rückgrat und eine Kopfwunde, die darauf hinweist, dass dem Toten die Haare von Schädel gerissen wurden. Ein Motiv lässt sich zunächst nicht erkennen. Erst als Wallander den ehemaligen, alkoholsüchtigen „Expressen“-Journalisten Lars Magnusson aufsucht, bekommen die vagen Gerüchte um Wetterstedt mehr Kontur.
Offensichtlich hegte Wetterstedt eine Vorliebe für junge Mädchen, die er sich regelmäßig von seinen Assistenten kommen ließ und die er auch misshandelte, doch eine gegen ihn gerichtete Anzeige wurde schließlich zurückgezogen. Auf diesen ersten ritualistisch anmutenden Mord folgen schließlich weitere: Der wohlhabende Kunsthändler Arne Carlman wird auf dem von ihm ausgerichteten Mittsommerfest auf seinem Hof ebenso bestialisch ermordet. Als Berührungspunkt zwischen den beiden Opfern offenbart sich ein Gefängnisaufenthalt Carlmans Ende der 1960er Jahre, als Wetterstedt Justizminister gewesen war und die beiden sich nach Carlmans Freilassung getroffen hatten. Doch diese beiden grauenerregenden Fälle stellen nur den Anfang einer Reihe von weiteren Morden dar, die an einem kleinen Hehler und einem Finanzmagnaten verübt werden. Nun fällt es Wallanders Leuten auch in Zusammenarbeit mit den Leuten in Malmö immer schwerer, Zusammenhänge zwischen den Opfern zu erkennen.
Währenddessen meldet Interpol, dass es sich bei dem Mädchen, das sich vor Wallanders Augen im Rapsfeld verbrannt hat, um Dolores Maria Santana aus der Dominikanischen Republik handelt, die über Madrid nach Schweden eingeschleust worden ist, um wahrscheinlich als Prostituierte auf den Strich geschickt zu werden …
„Er stellte sich die trostlose Frage, was das eigentlich für eine Welt war, in der er lebte. In der junge Menschen sich selbst verbrannten oder auf andere Art und Weise versuchten, sich das Leben zu nehmen. Er kam zu dem Ergebnis, dass sie mitten in einer Epoche lebten, die man die Zeit des Scheiterns nennen konnte. Sie hatten an etwas geglaubt und es aufgebaut, doch es erwies sich als weniger haltbar, als sie erwartet hatten. Sie hatten gemeint, ein Haus zu bauen, während sie in Wirklichkeit mit der Errichtung eines Denkmals beschäftigt waren für etwas, das bereits vergangen und fast vergessen war.“ (S. 262) 
Obwohl es ein wunderschöner Sommer im schwedischen Schonen ist, kommt Kriminalhauptkommissar Kurt Wallander überhaupt nicht dazu, ihn zu genießen. Stattdessen wird er mit ungeheuerlichen Verbrechen konfrontiert, die ihm schmerzlich vor Augen führen, wohin die einst hehren Träume von einer besseren Welt verschwunden und einer zunehmend brutaleren, von egoistischen Interessen nach Macht und Reichtum geprägten Zeit gewichen sind. Der fünfte Band in der Reihe um Kurt Wallander des 2015 verstorbenen schwedischen Bestseller-Autoren Henning Mankell erweist sich als bis dahin bester, atmosphärisch dichtester und auch bedrückendster Roman. Das Geschehen schildert er sowohl aus der Ermittler-Perspektive als auch des namentlich nicht genannten und somit lange Zeit für den Leser unbekannten Täters, aber von Beginn an liegt das Missbrauchsthema in der Luft, das sich mit dem Selbstmord des Mädchens vor Wallanders Augen zunächst nur andeutet, mit den Gerüchten um die Vorlieben der brutal getöteten Männer aber zunehmend offensichtlicher wird. Dieses Missbrauchsthema hängt Mankell zwar vor allem an der Zwangsprostitution und dem Menschenhandel auf, doch bettet er diese beklagenswerten Zustände in eine umfassendere pessimistische Weltsicht ein, in der die ausgebildeten Polizisten immer weniger Befugnisse haben, moralische Verwerfungen und kriminelle Handlungen nicht mehr in der angebrachten Schärfe geahndet werden und Korruption und Machtmissbrauch an der Tagesordnung stehen.
Mankell widmet aber auch seinem Protagonisten viel Raum zur Entwicklung. So steht ihm nicht nur seine erwachsen gewordene Tochter Linda näher, die sich klarzuwerden versucht, was sie aus ihrem Leben machen will, auch sein an Demenz erkrankter Vater, der mit seinem Sohn einmal nach Italien reisen will, und die noch nicht klar definierte Fernbeziehung zu Baiba beschäftigen Wallander so stark, dass er gar nicht merkt, dass er selbst zur Zielscheibe des Axtmörders werden könnte.
Mankell erweist sich als Meister des gesellschaftskritischen Krimis und findet in der Beschreibung der furchterregenden Morde und der beängstigenden Zustände der schwedischen Gesellschaft stets die richtigen Worte, um den Leser zu fesseln.
Leseprobe Henning Mankell - "Die falsche Fährte"

Robert Bloch – „Der Schal“

Mittwoch, 8. Juli 2020

(Diogenes, 224 S., Tb.)
Im Alter von achtzehn Jahren machte Daniel Morley in seinem letzten Schuljahr eine traumatische Erfahrung. Seine achtunddreißigjährige Englischlehrerin Miss Frazer empfand nämlich mehr als nur fürsorgliche Zuneigung zu dem jungen Mann, lud ihn zu sich nach Hause ein und wollte ihn unter Alkoholeinfluss verführen, nachdem sie ihm einen gelben Schal als Abschiedsgeschenk gemacht hatte. Doch als sich Daniel nicht auf diese Art von Beziehung einlassen wollte, nutzte Miss Frazer den benommenen Zustand ihres Zöglings aus, fesselte ihn mit dem Schal und setzte ihrem Leben durch Gas ein Ende. Über Jahre hinweg hasste Daniel sowohl Bücher als auch Frauen, doch den gelben Schal behielt er.
Jahre später versucht Daniel, als Schriftsteller Fuß zu fassen. In Minneapolis lernt er Rena kennen, deren Mann im Gefängnis sitzt und die über genügend Geld verfügt, Daniel auszuhalten, doch als sie ihn dazu drängt, mit ihr zusammenzuziehen, erwürgt er sie mit dem gelben Schal und verlässt spurlos die Stadt. In Chicago nistet er sich in einem schäbigen Hotelzimmer ein und lernt als Taxifahrer das freiberufliche Model Hazel Hurley kennen, die ihn mit der Werbeagentur Bascomb, Collins & Co. bekannt macht. Die erweist sich schließlich als Sprungbrett für Daniel Morley Schriftsteller-Karriere, denn über seinen Arbeitskollegen Lou King macht er die Bekanntschaft mit dem Agenten Phil Teffner, der sich begeistert von Daniels Manuskript zeigt.
Als Daniel auch von Hazel genervt ist, entwickelt er erneut einen Plan, die Frau an seiner Seite loszuwerden. Doch je erfolgreicher Daniel wird, desto mehr lernt er Leute wie den Psychoanalytiker Jeff Ruppert kennen, die zu ahnen beginnen, welch dunklen Geheimnisse der Bestseller-Autor verbirgt …
„Mich als verrückt zu bezeichnen, genügt nicht. Niemand macht sich die Mühe nachzuzählen, ob ich alle Tassen im Schrank habe. Sie glauben alle, ich sei in Ordnung. Und außerdem um einiges schlauer als die meisten anderen.
Genau. Das muss es sein. Ich bin schlauer. Ich kenne mehr Methoden und ich wende mehr Methoden an. Warum, zum Teufel, gebe ich mich mit Erklärungen ab, sogar mir selbst gegenüber? Der einzige Unterschied zwischen mir und den übrigen besteht darin, dass ich schlauer bin. Ich weiß, wie ich das erreiche, was ich will, und wie ich ungestraft davonkomme.“ (S. 161) 
Die Geschichte von Daniel Morley in Robert Blochs Debütroman „Der Schal“ aus dem Jahr 1947 liest sich wie die Lebensgeschichte des Autors selbst. Zwar veröffentlichte Bloch bereits früh Geschichten in dem Horror-Magazin „Weird Tales“ und in dem Science-Fiction-Magazin „Amazing Stories“ zu veröffentlichen, verdiente sich seinen Lebensunterhalt aber wie sein Ich-Erzähler Daniel Morley in einer Werbeagentur, bevor er mit wachsendem Erfolg sich ganz auf das Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten konzentrieren konnte.
Mit „Der Schal“ widmet sich Bloch eines seiner frühen Lieblingsthemen, nämlich des Serienkillers. Sein Interesse an Jack the Ripper mündete immer wieder in Romanen und Geschichten, aber auch Marquis de Sade und Lizzie Borden haben es Bloch angetan. In „Der Schal“ schildert Bloch aus der Perspektive des erfolgreich werdenden Schriftstellers Daniel Morley das Psychogramm eines raffinierten Serienmörders. Dabei dient ihm im letzten Drittel des Buches vor allem die Figur des Psychoanalytikers Jeff Ruppert, um die mögliche Motivation und psychische Disposition des Täters abzuleiten.
„Der Schal“ fällt zwar nur leidlich spannend aus, doch der kurze Debüt-Roman demonstriert eindrucksvoll, wie akkurat sich Bloch mit der Psyche seiner Protagonisten aussetzt, auch wenn die Analyse sehr konstruiert wirkt. Das machte letztlich Alfred Hitchcock darauf aufmerksam, Blochs späteren Roman „Psycho“ zu verfilmen, was sowohl für den Autor als auch den Filmemacher zu einem Riesenerfolg wurde und einen entscheidenden Karriereschub bewirkte.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 22) „Blues in New Iberia“

Samstag, 4. Juli 2020

(Pendragon, 586 S., Pb.)
Sucht man nach eindrücklichen Beispielen für Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten, wird man auch im New Iberia Parish in der Gestalt von Desmond Cormier fündig. Er wuchs als indianischer Mischling bei seinen Großeltern im Chitimacha Indianerreservat in Armut auf, nachdem ihn seine Mutter in der Schlafkoje eines Sattelschleppers entbunden hatte und dabei verstorben war, mochte sein vorherbestimmtes Leben aber nicht akzeptieren. So stählte er seit seinem 12. Lebensjahr seinen Körper, ging nach der Highschool bei einem Straßenmaler auf dem Jackson Square in die Lehre und verwirklichte in Hollywood seinen Traum, Filmregisseur zu werden.
25 Jahre später kehrt Cormier mit einer Golden-Globe- und einer Oscar-Nominierung in seine Heimat zurück und lässt sich in einem Haus auf Stelzen am Cypremort Point nieder, an dessen südlichen Ende Detective Dave Robicheaux und sein erst seit sieben Monaten bei der Polizei arbeitende Kollege Sean McClain drei frühmorgendlichen Notrufen wegen einer um Hilfe schreienden Frau nachgehen. Am Strand finden sie jedoch nur einen einzelnen Tennisschuh, Größe 40. Als sie Cormier einen Besuch abstatten und durch sein Fernrohr die Bucht absuchen, entdeckt Robicheaux eine auf einem Kreuz angenagelte und festgebundene junge Schwarze, die auf ritualistisch anmutende Weise ermordet worden ist und als Lucinda Arcenaux identifiziert wird.
Doch das ist erst der Anfang einer ganzen Reihe von Morden, die einem ähnlichen Muster folgen und bei denen auch Tarot-Karten in die Inszenierung eingebunden werden. So wird Joe Molinari wird in einem Schuppen gefesselt und mit einem durch seine Brust gestoßenen angespitzten Gehstock wie der Gehängte auf der Tarot-Karte aufgefunden, der Informant Travis Lebeau wird gefoltert und mit dem Auto zu Tode geschleift. Robicheaux und sein langjähriger Freund Clete Purcell, mit dem er einst in New Orleans in der Mordkommission zusammengearbeitet hatte und der nun als Privatdetektiv arbeitet, haben sofort Cormier und sein merkwürdiges Gefolge, vor allem den Produzenten Lou Wexler und den undurchsichtigen Antoine Butterworth, in Verdacht.
Schließlich hat die Ermordete bei einer Catering-Firma gearbeitet, die Filmsets beliefert. Doch die Ermittlungen werden durch mehrere Komponenten erschwert: Robicheaux‘ Adoptivtochter Alafair, die nach ihrer juristischen Ausbildung an der Reed und Stanford University zunächst als Bezirksstaatsanwältin in Portland, Oregon gearbeitet hatte, schreibt mittlerweile Romane und Drehbücher und begleitet Cormier und seine Crew bei seinen derzeitigen Aufnahmen zu einem Film, der aus allerlei fragwürdigen Quellen, von Russen, Arabern und der Mafia, finanziert wird.
Mit im Spiel sind auch der entflohene Häftling Hugo Tillinger, der für die Morde an seiner Frau und Tochter eingesessen hat, die er bestreitet, begangen zu haben und durch Lucinda Arcenaux, die ihn vor seinem Ausbruch im Gefängnis besucht hatte, die Hoffnung hatte, dass ihm Leute aus Hollywood helfen könnten, begnadigt zu werden. Und schließlich mischt auch noch ein kleingewachsener Killer namens Smiley Wimple mit, der systematisch bösen Menschen das Licht ausknipst. Als wäre das noch nicht genug, verliebt sich Dave Robicheaux auch noch in seine viel jüngere neue Partnerin Bailey Ribbons, die nicht nur Kontakt zu den Filmleuten sucht, sondern auch ein dunkles Geheimnis aus ihrer Vergangenheit mit sich herumträgt …
„Ich versuchte, all die wahllosen Informationsbrocken zusammenzusetzen, aus denen sich ein mögliches Motiv oder Muster für die Morde an Lucinda Arceneaux, Joe Molinari, Travis Lebeau, Axel Devereaux und Hilary Bienville ergab. Jeder einzelne war auf seine Art rituell. Vielleicht spielten das Tarot und das Malteserkreuz eine Rolle. Genau wie Grausamkeit und Wut. Doch sobald ich einen Mord mit einem zweiten oder dritten in Verbindung setzte, fiel mein logisches Gebäude wieder auseinander.“ (S. 332) 
Es gibt wohl kaum einen anderen Autor, der die besondere Atmosphäre in den Südstaaten so eindringlich zu beschreiben versteht, wie der 1936 in Houston, Texas, geborene teilweise in New Iberia, Louisiana, lebende Schriftsteller James Lee Burke. Aus seiner populären und von der Kritik gefeierten Reihe um den Südstaaten-Cop Dave Robicheaux, die 1987 mit dem Roman „Neonregen“ ihren Anfang nahm, wurden bereits „Heaven’s Prisoners“ (als „Mississippi Delta“ mit Alec Baldwin und Kelly Lynch in den Hauptrollen) und „In the Electric Mist“ (mit Tommy Lee Jones in der Hauptrolle) verfilmt. „Blues in New Iberia“ stellt nicht nur den bereits 22. Band der Reihe, sondern fraglos einen ihrer Höhepunkte dar. Von Ermüdungserscheinungen, nervigen Wiederholungen, einfallslosen Plots oder schwachen Charakterisierungen ist bei diesem epischen Krimi-Drama mit Hollywood-Touch nichts zu spüren. Stattdessen drehen Dave Robicheaux und sein bester Kumpel Clete Purcel wieder groß auf. Allerdings befinden sich die beiden charismatischen Protagonisten mit ihrem jeweils sehr eigenen Rechtsempfinden sehr lange im Strudel schwer zu deutender Ereignisse und undurchsichtiger Personen und Liebschaften.
Burke erweist sich einmal mehr als Meister der feinen Charakterisierungen, wie sie sein kriegs- und berufserfahrener Ich-Erzähler Dave Robicheaux vornimmt.
„Blues in New Iberia“ bezieht seine dramaturgisch sorgfältig und dicht inszenierte Spannung aus dem schwer entwirrbaren Netz ritualistisch anmutender Mordfälle, verschrobenen Hollywood-Leuten und ihren anrüchigen Finanziers sowie den schwierigen persönlichen Beziehungen, die sein Protagonist mit den unterschiedlichsten Frauen - seien es eine Blues-Sängerin, seine junge Kollegin oder seine eigene Tochter – unterhält. Dabei webt er die einzigartige Geschichte der Südstaaten ebenso in den vielschichtigen Plot ein wie John Fords Klassiker „Faustrecht der Prärie“.
Leseprobe James Lee Burke - "Blues in New Iberia"

Dennis Lehane – „Spur der Wölfe“

Samstag, 27. Juni 2020

(Ullstein, 511 S., HC)
Boston im Jahr 1975. Die drei elfjährigen Freunde Sean Devine, Jimmy Marcus und Danny Boyle stammen allesamt aus dem Stadtteil East Buckingham, doch während Jimmy und Danny in den „Flats“ unten am Penitentiary-Kanal südlich der Buckingham Avenue wohnen, lebt Sean im nördlich der Avenue gelegenen „Point“, wo die Menschen die besseren Jobs hatten und nicht zur Miete lebten, sondern als Eigentümer. Sean, Jimmy und Danny haben es letztlich ihren Vätern zu verdanken, dass sie überhaupt Freunde geworden sind. Doch das spielerische Feixen und Boxen auf der Straße im Point findet ein jähes Ende, als ein dunkelbraunes Auto auf ihrer Höhe anhält, der eine der zwei Männer aussteigt und die Jungs zur Räson bringt.
Als der Mann, der für die Jungs wie ein Cop aussieht, nach ihren Adressen fragt und erfährt, dass Danny aus den Flats stammt, fordert er ihn auf einzusteigen. Vier Tage lang wird der Junge vermisst, wird von den beiden Männern missbraucht, kann schließlich fliehen und kehrt für immer verändert zurück. 25 Jahre später holt die Vergangenheit die einstmaligen Freunde wieder ein. Jimmy, der bereits im Alter von siebzehn Jahren eine Gang angeführt hat und nach einigen raffinierten Einbrüchen eine mehrjährige Haftstrafe absitzen musste. Seit seiner Freilassung hat er sich scheinbar ein rechtschaffenes Leben aufgebaut. Schließlich konnte er während seiner Haft nicht bei seiner ans Krebs sterbenden Frau sein, was ihn schwer mitgenommen hat.
Deshalb setzt er nun alles daran, für seine Familie da zu sein, für seine neue Frau Annabeth ebenso wie für seine beiden Töchter Nadine und Katie. Er unterhält einen kleinen Eckladen, mit den beiden Savage-Brüdern aber auch weiterhin „andere“ Geschäfte. Ausgerechnet an Nadines Erstkommunion wird die 19-jährige Katie aber ermordet im Penitentiary-Park aufgefunden.
Es wird Sean Devines erster Fall nach seiner einwöchigen Suspendierung bei der Mordkommission der State Police. Wie seine Ermittlungen ergeben, hat Katie in ihrer Todesnacht mit ihren beiden Freundinnen Diane und Eve im McGills ausgelassen gefeiert. Am nächsten Morgen wollte sie mit ihrem heimlichen Freund Brendan Harris nach Las Vegas durchbrennen, um zu heiraten, doch verliert sich danach ihre Spur. Dave Boyle war einer der letzten, der Katie im McGills lebend gesehen hat. Er tauchte mitten in der Nacht mit schwer verletzter Hand und einer Schnittwunde am Bauch zuhause auf und erzählte seiner Frau Celeste, dass er möglicherweise einen Mann umgebracht habe. Celeste kommen allerdings Zweifel an der Geschichte ihres Mannes, die sie ausgerechnet mit Jimmy teilt, der nur von dem Wunsch getrieben ist, den Mörder seiner Tochter zu bestrafen.
„Ich werde den Mann finden, der dich da unten auf den Tisch gebracht hat, und ich werde ihn vernichten. Und seine Angehörigen – wenn er welche hat – werden größeren Kummer empfinden als die deinigen, Katie. Weil sie niemals Gewissheit besitzen werden, was mit ihm geschehen ist. Und mach dir keine Gedanken darüber, ob ich dazu fähig bin, mein Schatz. Daddy ist dazu fähig. Du wusstest es nicht, aber Daddy hat schon einmal getötet. Daddy hat getan, was zu tun war. Und er kann es wieder tun.“ (S. 333)
Nachdem der aus Boston stammende Dennis Lehane in den 1990er Jahren mit fünf Krimis seiner Reihe um die beiden Privatermittler Kenzie und Gennaro u.a. mit dem Shamus Award für den besten Erstlingsroman und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden war, legte er 2001 mit „Mystic River“ seinen ersten Roman jenseits seiner populären Krimi-Reihe vor und präsentierte ein zutiefst verstörendes, psychologisch fein gezeichnetes Kriminal-Drama, das Clint Eastwood zwei Jahre später kongenial mit Stars wie Sean Penn (als Jimmy Marcus), Kevin Bacon (als Sean Devine) und Tim Robbins (als Dave Boyle) verfilmte.
Lehane erweist sich in „Mystic River“ (das hierzulande zunächst unter dem Titel „Spur der Wölfe“ veröffentlicht wurde) als Meister detaillierter Milieuzeichnungen. Ein Großteil des Dramas bezieht seine Tragik nämlich aus den Unterschieden zwischen der in den Flats lebenden Arbeiterklasse und den im Point lebenden Angestellten mit den besseren Jobs. Minutiös zeichnet der Autor die Lebensgeschichten der drei Protagonisten nach, nutzt den Zeitsprung von 25 Jahren zwischen Daves Entführung und den nicht näher beschriebenen Ereignissen, denen der Elfjährige vier Tage lang ausgesetzt war, und den Ereignissen der Ermordung von Jimmys ältester Tochter Katie, um die Biografien von Jimmy, Sean und Dave aufzuarbeiten.
Ähnlich wie sein Publikum lässt Lehane auch die beteiligten Figuren lange Zeit darüber im Ungewissen, unter welchen Umständen Katie genau zu Tode gekommen ist und wie sich Dave seine Verletzungen zugezogen hat. Einen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen herzustellen liegt natürlich nahe, doch die nicht bewiesene Annahme setzt eine fürchterliche Kette von weiteren Geschehnissen in Gang, die der Bestseller-Autor meisterhaft inszeniert. Dabei spielt Lehane gleich mehrere große emotionale Themen, Liebe, Fürsorglichkeit und Vertrauen ebenso wie Gewalt, Verrat und Mord. Aus diesem schwergewichtigen Potpourri geht letztlich niemand als Gewinner hervor.

Andrea De Carlo – „Die ganz große Nummer“

Samstag, 20. Juni 2020

(Piper, 384 S., Pb.)
Der dreiundzwanzigjährige Alberto Scarzi treibt im Mailand der 70er Jahre meist ziellos zwischen Studium, musikalischen Übungen mit seiner japanischen Akustikgitarre und unentschlossenen Überlegungen, welcher der schönen Künste er sich widmen sollte, hin und her, als ihr eine Bekannte von der Uni den Kontakt zum Verleger Damiano Diamantini vermittelt. Der suche nämlich einen Autor bzw. Rockexperten für seine geplante Musikbuchreihe über die bedeutendsten italienischen cantautori. Beim Abendessen mit dem Verleger und seiner Mutter werden die Details geklärt. Jedes Buch sollte ein ausführliches Interview, eine wunderbare Fotostrecke sowie ein poetisches-literarisches Essay von Diamantini enthalten, das den eigentlichen Kern der jeweiligen Bücher bilden sollte. Das Drumherum würde nur den Köder für die Jungbanausen darstellen, um sie auf das Terrain der Literatur zu führen.
Nachdem sich ein erster gemeinsamer von Alberto und Damiano mit dem Liedermacher Flavio Sbozzari als Fiasko erweist, wagt sich Alberto an einen ganz großen Namen: Der berühmte Bernard Ohanian, der sich gerade in Mailand aufhält, um einen seiner ins Italienische übersetzten Romane vorzustellen. Mit seinem Freund Raimondo Vaiastri, der ebenso wie Alberto keine Ahnung hatte, was er mit seinem Leben anfangen soll, besucht er die Buchpräsentation, doch zu dem erhofften Interview kommt es natürlich nicht. Doch als Alberto die Idee entwirft, seinem Verleger ein erfundenes Interview mit Ohanian vorzulegen, ist auch Raimondo begeistert. Tatsächlich funktioniert der Plan, aus Raimondo Vaiastri einen berühmten Rock-Journalisten zu machen, der seinen Namen für das ausführliche Interview hergibt, das Alberto wiederum aus den Eindrücken, die er von der Buchpräsentation und aus bisher veröffentlichten Interviews zusammenbastelt.
Nachdem die Arbeit beendet ist, packt Alberto der Drang, nach Amerika zu gehen. Er verkauft seine 1959er BMW und fliegt mit seiner aktuellen Freundin Cristina nach Boston, wo die beiden zunächst bei Yoko Williams unterkommen, einer deprimierten Frau, die mit einem dreißig Jahre älteren armenischen Galeriebesitzer zusammengelebt hat, der sie aber wegen einer 18-jährigen Blondine verlassen habe. Währenddessen schluckt Damiano den Schwindel, blättert zwei Millionen Lire für das Buch hin, so dass Alberto und Raimondo schon den nächsten großen Coup aushecken. Während Raimondo immer mehr in der Rolle des berühmten Rockjournalisten aufgeht, macht sich Alberto in den Staaten auf die Reise zu dem nächsten Star, der in der Reihe von Diamantini Press vorgestellt wird. Als die Bücher aber auch international vermarktet werden, fliegt der Schwindel auf …
„Mir schien, dass ich mich damals himmelschreiend nachlässig, ja sträflich oberflächlich verhalten hatte: Es war völlig absurd, rein gar nichts aus meinem Leben gemacht zu haben, in dem es keinerlei Hektik und Mühe gab und das der Zufall oder eine Schicksalsfügung mir an die Hand gegeben hatte. Mir fiel es schwer zu glauben, dass ich so zerstreut und fatalistisch gewesen war und nicht einmal den Versuch unternommen hatte, die unklaren Ideen, die mir durch den Kopf schwirrten, auf den Prüfstand der Realität zu bringen. Wie konnte ich nur denken, dass mir dafür noch alle Zeit der Welt zur Verfügung stünde?“ (S. 271) 
Mit seinen ersten Bestsellern „Creamtrain“, „Zwei von zwei“ und „Techniken der Verführung“ hat sich der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo seit den 1980er Jahren eine treue Fangemeinde aufgebaut, die begeistert den meist männlichen jungen Protagonisten seiner Geschichten durch die unwegsamen Irrungen und Wirrungen der Liebe und des Lebens folgen. Auch in seinem 2002 veröffentlichten und zwei Jahre später auch als „Die ganz große Nummer“ ins Deutsche übersetzten Roman „I veri nomi“ stehen zwei Freunde im Mittelpunkt eines irrwitzigen Road Trips, der aus Alberto und Raimondo definitiv andere Menschen macht und sie mit allerlei interessanten Menschen und Versuchungen, Träumen und Enttäuschungen konfrontiert.
Dass sie dabei ihr Glück überstrapazieren, ist natürlich vorhersehbar, aber wie Alberto und Raimondo diesen großen Schwindel vorbereiten und durchziehen, verdient den größten Respekt und wunderbar vergnüglich zu lesen. De Carlo versteht es wieder einmal souverän, mit seinem eleganten Stil, humorvollen Szenen und lebendigen Dialogen sein Publikum zu fesseln. Allerdings wird der Erzählfluss auch immer wieder durch Erinnerungen an die Menschen und Schlüsselerlebnisse aus dem früheren Leben des Ich-Erzählers Alberto unterbrochen, und auch in der Gegenwart bekommt nahezu jede Person, mit denen es Alberto zu tun bekommt, ein eigenes Kapitel. Das beginnt vor allem im letzten Drittel zu nerven, wenn die eigentliche Geschichte längst erzählt ist und Alberto und Raimondo zwischen den Ländern und Kontinenten nur noch hin- und hertreiben, sich jahrelang gar nicht oder über Briefe verständigen, sich aber nie wirklich ganz aus den Augen verlieren.

Ray Bradbury – „Fahrenheit 451“

Samstag, 13. Juni 2020

(Diogenes, 228 S., HC)
In einer unbestimmten Zukunft leben die Menschen in einer totalitären Gesellschaft, in der die Feuerwehr nicht mehr damit beauftragt wird, Feuer zu löschen, sondern Bücher zu verbrennen. Die darin vermittelten Gedanken wurden vom politischen System nämlich dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Menschen ihrer Individualität bewusst geworden sind, so dass Andersartige und -denkende diskriminiert, ausgebeutet und in Kriegen bekämpft wurden. Diese Entwicklung hat man nicht nur durch das Verbot des Besitzes von Büchern in den Griff bekommen, sondern auch durch die massenhafte Verbreitung von Rauschmitteln und Videoleinwänden, die für unangestrengte Zerstreuung sorgen. Einer dieser Feuerwehrmänner ist der 30-jährige Guy Montag, der mit seinen Kollegen immer dann ausrückt, wenn irgendwo in der Stadt verbotene Bücher ausfindig gemacht worden sind. Während sich die Feuerwehr um die Bücher kümmert, sorgen mechanische Spürhunde dafür, dass die bücherbesitzenden Staatsfeinde aufgespürt und festgesetzt bzw. sofort getötet werden.
Doch als er eines Nachts beim Spazierengehen die 17-jährige Clarisse McClellan kennenlernt, gerät sein systemkonformes Denken ins Wanken. Nicht nur ihr weltoffenes, neugieriges Wesen irritiert Montag, sondern letztlich die Frage, ob er glücklich sei, denn er kann sich weder erinnern, wie er seine Frau Mildred überhaupt kennengelernt hat, noch was an ihr besonders liebenswert sein soll, da sie über keine nennenswerte Eigenschaften verfügt.
Als Mildred auch noch an einer vermeintlich versehentlichen Überdosis Beruhigungspillen beinahe stirbt und Montag bei einem seiner Einsätze erleben muss, wie eine Frau sich lieber mit ihren Büchern verbrennen lässt, als sich dem System zu unterwerfen, lässt sich Montag krankschreiben und wird von seinem Captain Beatty besucht, der ihn darüber aufklärt, wie das rapide Bevölkerungswachstum mit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Massenmedien wie die Fotografie, das Fernsehen und der Rundfunk dafür sorgten, dass sich die Medien auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner einigen mussten und literarische Klassiker wie politische Diskurse auf Zusammenfassungen von Zusammenfassungen reduziert wurden. Unter der Last des Beruflebens wurde das Lernen vernachlässigt, Vergnügungen in Form von Sportveranstaltungen, Cartoons in Buchform und Filmen in Massen produziert. Da das Unvertraute Grauen verursachte und ‚intellektuell‘ zu einem Schimpfwort wurde, musste jeder gleich gemacht und damit glücklich gemacht werden, denn wo es nichts mehr Überragendes gab, musste man sich nicht mehr miteinander messen.
Doch Montag gibt sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden und beginnt, Bücher in seine Wohnung zu schmuggeln, um sie mit Mildred zu lesen. Doch Mildred ist alles andere als davon angetan, so dass sich Montag Unterstützung bei dem pensionierten Literaturprofessor Faber holt. Als seine Frau ihn schließlich denunziert und Montag seinen Vorgesetzten in Brand setzt, wird er zur Flucht in die nahe gelegenen Wälder gezwungen, wo er auf eine Gruppe von Dissidenten stößt, die Montag in ihre Mitte nehmen.
„In der kommenden Woche werden wir eine Menge einsamer Menschen treffen, und den ganzen nächsten Monat und das ganze nächste Jahr. Und wenn man uns fragt, was wir eigentlich tun, könnt ihr sagen: ‚Wir erinnern uns.‘ Damit werden wir uns auf Dauer durchsetzen. Und eines Tages erinnert sich der Mensch an so viel, dass er den größten Bagger aller Zeiten herstellt und das größte Grab aller Zeiten aushebt und den Krieg hineinbefördert und das Ganze zuschüttet.“ (S. 213) 
In der Neuausgabe zum 50. Jubiläum dieses dystopischen Klassikers der Science-Fiction-Literatur hat Ray Bradbury sowohl im neuen Vorwort als auch im Nachwort eindringlich geschildert, wie er natürlich durch die Bücherverbrennung im Hitler-Deutschland, die Gerüchte über Stalins Streichholzmänner und die Hexenjagd von Salem einerseits, von der römischen, griechischen und ägyptischen Mythologie andererseits zu „Fahrenheit 451“ inspiriert wurde, einem Konglomerat aus den fünf Kurzgeschichten „Scheiterhaufen“, „Strahlender Phönix“, „Die Verbannten“, „Usher II“ und „Der Fußgänger“, das zunächst als 25.000 Wörter umfassende Novelle „The Fire Man“ 1951 in Galaxy Science Fiction veröffentlicht wurde und nach der Verdoppelung der Wortanzahl schließlich 1953 als Roman „Fahrenheit 451“ das Licht der Welt erblickt.
Auch wenn das Streben des politischen Systems nach in jeder Hinsicht betäubten Gesellschaft in Bradburys Klassiker thematisiert wird, geht es dem 2012 verstorbenen Schriftsteller vor allem um die Gefahr, die den Büchern durch niveaulose Massenmedien droht, wie er im Nachwort betont. Seit der früh eingeführten Begegnung zwischen Montag und dem aufgeweckten Mädchen Clarisse macht Bradbury in „Fahrenheit 451“ (bekanntermaßen ist der Titel der Temperatur abgeleitet, bei der Papier Feuer fängt und verbrennt) deutlich, welch mannigfaltige Gefühle und Denkweisen und Geschichten Romane, Gedichte und auch Sachbücher beim Leser erwecken und so dazu anleiten, einen eigenen Sinn im Leben zu finden und sich selbst und sein Denken im Spiegel anderer Menschen und ihren Gedanken und Gefühlen zu reflektieren. Dabei findet Bradbury stets selbst wunderschön poetische Worte, um auf der einen Seite die trostlose Welt der konturlosen Menschen in einem totalitären System und auf der anderen Seite die mannigfaltigen Sinneseindrücke und Gedankengänge weltoffener und nachdenkender Bürger darzustellen. Ein Blick auf die geopolitische Weltkarte zeigt, dass Bradburys Werk leider nach wie vor sehr aktuell ist.

Ray Bradbury – „Der illustrierte Mann“

Montag, 8. Juni 2020

(Diogenes, 317 S., Tb.)
Während seiner zweiwöchigen Wanderschaft durch Wisconsin begegnet dem namenlosen Ich-Erzähler an einem warmen Nachmittag Anfang September auf einer einsamen Landstraße ein großer Mann mit langen Armen und dicken Händen. Er sei auf der Suche nach einem Job, eröffnet der Unbekannte dem Erzähler, seit vierzig Jahren habe er keinen dauerhaften Job mehr gehabt. Wenig später erfährt der Erzähler auch den Grund: Als sich der Mann mit dem kindlichen Gesicht seiner viel zu warmen Kleidung entledigt, kommen Tätowierungen ans Tageslicht, die den ganzen Körper des Mannes bedecken. Das Problem sei, erklärt der Tätowierte, dass sich die Bilder nachts zu bewegen beginnen, die ihm vor fünfzig Jahren von einer alten Hexe gemacht worden waren.
Letztlich sind achtzehn Geschichten in den Tätowierungen verborgen. So leben die Menschen in der Zukunft in schalldichten Lebensglück-Häusern, die die Aufgaben der Hausfrau, Mutter und Kindermädchen übernehmen und dessen zwölf mal zwölf Meter großes und neun Meter hohes Kinderzimmer das Prunkstück darstellt. George Hadley und seine Frau Lydia sind beunruhigt, dass ihre Kinder Peter und Wendy mittels telepathischer Gedankenströme eine lebensechte afrikanische Steppe haben entstehen lassen, der sie sich nicht mehr entziehen wollen, seit ihre Eltern ihnen verboten hatten, mit der Rakete nach New York zu fliegen. Dafür rächen sich sie sich jetzt auf ihre Weise …
Vor allem geht es aber um Reisen in den Weltraum. In „Kaleidoskop“ werden Raumfahrer, nachdem ihr Schiff von einem Kometen getroffen und aufgeschlitzt worden ist, in den Weltraum hinausgeschleudert und in verschiedene Richtungen getrieben. Während sie immer schneller auseinandertreiben, bleiben sie zunächst noch über Funk verbunden. Zwischen dem Kommandanten Hollis und Applegate werden lange währende Animositäten ausgesprochen. Lespere wiederum blickt zufrieden auf sein Leben zurück, der auf dem Mars, der Venus und dem Jupiter jeweils reiche Frauen hatten, die ihn verwöhnten. Als Stone von einem Meteorenschwarm mitgerissen wird, beginnt Hollis mit Reue auf seine Verfehlungen zurückzublicken …
Andere Geschichten wie die Apartheit thematisierende Story „Die andere Haut“, die religiös motivierte Erzählung „Der Mann“, „Der Raumfahrer“, „Die Feuerballons“ oder „Der Besucher“ entwickeln verschiedene Szenarien, die Bradbury bereits in seinem gefeierten Debüt „Die Mars-Chroniken“ thematisiert hat, so das sinnlose Morden aus Angst oder Gier, das Einschleppen von Seuchen, die die Urbewohner eines Planeten dahinraffen, Atomkriege, vor denen die Menschen auf andere Planeten flüchten, aber auch das Verbannen und Zerstören von Büchern unbequemer Autoren wie Hawthorne, Blackwood, Poe, Lovecraft, Machen und Bierce in „Die Verbannten“ sind aus Bradburys Debüt und seinem nachfolgenden berühmten Meisterwerk „Fahrenheit 451“ bekannt.
„Diese sauberen jungen Raumfahrer mit ihren antiseptischen Pumphöschen und Aquariumshelmen, mit ihrer neuen Religion. Um ihre Hälse tragen sie Skalpelle an goldenen Kettchen, auf ihren Köpfen Diademe von Mikroskopen. In ihren geheiligten Fingern halten sie dampfende Weihrauchgefäße, die in Wirklichkeit nur Sterilisatoren sind, im mit ihnen die Keime des Aberglaubens abzutöten.“ (S. 170) 
Mit „Der illustrierte Mann“ hatte Ray Bradbury 1951 seinen Ton gefunden und die Science Fiction vom ihrem eher trockenen technisch-wissenschaftlichen Ton befreit und ihr eine einfühlsame poetische Note verliehen. Die stilistisch ausgefeilte, bilderreiche und assoziative Sprache, die Bradbury wie kein zweiter Vertreter seiner Zunft zu verwenden versteht, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter seinen einfallsreichen Weltraummärchen eine zutiefst pessimistische Weltsicht steckt. In seiner Vorstellung schleppen die Menschen nicht nur ihre Krankheiten und ihre Sucht nach Besitz und Macht auf andere Planeten ein, sondern auch Rassenprobleme und die Angst vor subversiven Schriften, Andersaussehenden und Andersdenkenden.
Der ewige Traum des Menschen, den Weltraum zu erkunden und andere Planeten zu besiedeln, wird bei Bradbury zum Symbol, die ungelösten Probleme und unerfüllten Sehnsüchte, aber auch Urängste einfach auszulagern. In der Weite und Leere ausgestorbener Marsstädte werden die vertrauten Probleme auf ihren Kern zurückgeführt. Allein Bradburys verehrungswürdige Fabulierkunst lässt in den Pointen seiner Geschichten die Hoffnung am Leben, dass der Mensch doch noch aus seinen Fehlern lernt und sich auf das Wesentliche zu besinnen vermag.

Ray Bradbury – „Die Mars-Chroniken“

Donnerstag, 4. Juni 2020

(Diogenes, 262 S., Tb.)
Bereits seit zwanzig Jahren leben Yll und Ylla K auf dem Mars am Rande eines leeren, toten Meeres in einem Haus, das bereits ihre Vorfahren seit zehn Jahrhunderten bewohnten. Als sie ihrem Mann von einem Traum erzählt, in dem sie einen riesigen Mann mit schwarzen Haaren, blauen Augen und weißer Haut namens Nathaniel York geküsst habe, nachdem er mit einem Raumschiff vom Himmel herabgekommen sei. Als das Raumschiff tatsächlich landet, erschießt Yll aus purer Eifersucht zwei Raumfahrer der ersten Mars-Mission.
Im August 1999 landet die zweite Expedition von der Erde auf dem Mars, der bei den telepathisch kommunizierenden Einheimischen als Tyrr bekannt ist. Captain Williams ist nach der erfolgreichen Landung nach Feiern zumute, doch bei den Marsianern stößt er auf völliges Desinteresse, bis er feststellt, dass die menschenähnlichen Wesen, denen er begegnet und die behaupten, sowohl von der Erde als auch vom Saturn und Jupiter zu stammen, an einer Geisteskrankheit leiden, mit denen die Leute ihre eigenen Trugbilder erschaffen.
In der Nervenheilanstalt ist der behandelnde Arzt Herr Xxx fasziniert von dem Phänomen, dass Captain Williams sogar eine Rakete mit Besatzung erschaffen könne, sieht aber als einzige Möglichkeit, ihn zu heilen, dessen Tötung an. Da diese „Halluzinationen“ aber danach nicht verschwinden, glaubt auch der Psychologe, sich infiziert zu haben, und erschießt auch sich selbst. Nachdem die ersten beiden Expeditionen erfolglos verliefen, landet im April 2000 eine dritte Expedition unter dem Kommando von Captain John Black auf dem Mars. Die 16-köpfige Crew landet in der Nähe einer Stadt, die kurioserweise einer amerikanischen Kleinstadt aus dem Jahr 1926 gleicht und in der die Raumfahrer längst verstorbene Verwandte und Bekannte treffen, bei denen sie übernachten. Während die Männer noch überlegen, ob sie irrtümlich wieder auf der Erde gelandet sind oder eine Zeitreise unternommen haben, werden sie allesamt einer von den Marsianers erschaffenen Halluzination, die aus den Erinnerungen der Expeditionsteilnehmer erschaffen worden ist, und überleben die Nacht nicht.
Im Juni 2001 landet schließlich die vierte Expedition auf dem Mars, doch der Archäologe Jeff Spender muss durch den mitgereisten Arzt feststellen, dass die Marsianer Opfer der von den Menschen eingeschleppten Windpocken geworden sind. Da er befürchtet, dass die Menschen auf dem Mars ähnlich gewalttätig wie auf der Erde aufgetreten sind, will er die Ankunft weiterer Expeditionen hinauszögern, doch schon im August kommen die ersten Siedler …
„Der Weltraum war ein Betäubungsmittel – siebzig Millionen Meilen leeres All hatten eine lähmende Wirkung, sie ließen Erinnerungen einschlafen, entvölkerten die Erde, löschten die Vergangenheit aus und erlaubten es den Menschen, hier ihr Leben zu leben. Doch heute abend, ganz plötzlich, waren die Toten wiederauferstanden, die Erde war wieder bewohnt, die Erinnerungen meldeten sich, und eine Million Namen wurden ausgesprochen: Was wohl der und der heute abend macht auf der Erde?“ (S. 210) 
Gleich mit seinem ersten, 1950 durch Doubleday veröffentlichten Roman „Die Mars-Chroniken“ gelang dem US-amerikanischen Schriftsteller Ray Bradbury ein bahnbrechender Erfolg. Die in Romanform zusammengeführten Kurzgeschichten, die Bradbury zwischen 1946 und 1950 in verschiedenen Science-Fiction-Magazinen veröffentlicht hatte, zählen mittlerweile zu den klassischen literarischen Dystopien und zur Standardlektüre in den Schulen. Auch wenn das Buch verschiedene Mars-Expeditionen zwischen 1999 und 2026 thematisiert, geht es Bradbury nicht so sehr um die Begegnung zwischen Menschen und außerirdischen Lebensformen, wie sie besonders populär Steven Spielberg in Filmen wie „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) und „E.T. – Der Außerirdische“ (1982) in märchenhaft-verklärter Form präferierte, sondern um die Auseinandersetzung des Menschen mit fremden Lebensformen an sich, wozu bereits andere Rassen als die eigene zählen. Offensichtlich sind die Parallelen zur Eroberung von Amerika, bei der die Ureinwohner durch die eingeschleppten Krankheiten der Invasoren dahingerafft wurden, aber auch die gerade in den 1950er Jahren vorherrschende Angst der US-Amerikaner vor einem Dritten Weltkrieg. Der Mars dient Bradbury also nur als Projektionsfläche für die Sehnsüchte und Ängste der Menschen, die immer wieder mit Mord und Krieg auf mehr oder weniger diffuse Bedrohungen reagieren und dabei ganze Landstriche, Städte, Kontinente, ja Planeten zerstören. Dabei findet Bradbury jedoch immer einen wunderbar poetischen Ton, der die letztlich nüchtern aufgezählten Schrecken und Katastrophen noch furchtbarer erscheinen lassen, als hätte der Mensch kein Bewusstsein für die zerstörerischen Dämonen in seinem Herzen. Auch wenn „Die Mars-Chroniken“ von Morden, Einsamkeit und unerfüllten Sehnsüchten handelt, verleitet dieser Klassiker ebenso zum reflektierten Nachsinnen wie zum Träumen.

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 4) „Die Frau mit dem Muttermal“

Sonntag, 31. Mai 2020

(Weltbild, 285 S., HC)
Der Geschäftsmann Ryszard Malik wird eines Abends von seiner Frau Ilse nach ihrer Rückkehr vom Theater tot hinter der geöffneten Haustür aufgefunden – mit je zwei Schüssen in die Brust und in den Unterleib. Wenig später wird auch der wegen einer Tätlichkeit einem Schüler gegenüber suspendierte Lehrer Rickard Maasleitner ebenfalls mit einer Berenger 7,65 Millimeter erschossen, wiederum in die Brust und in die Geschlechtsteile. Hauptkommissar Van Veeteren und seine Kollegen tappen zunächst völlig im Dunkeln. Zwar war Maasleitner bei seinen Kollegen nicht besonders beliebt, aber ein Mordmotiv lässt sich bei beiden Opfern im näheren Bekanntenkreis einfach nicht finden.
Winnifried Lynch, die neue Freundin von Van Veeterens Kollege Reinhart, vermutet, dass es sich bei dem Täter um eine in ihrer Ehre verletzte Frau handeln müsse, doch bringt diese Annahme die Ermittlungen zunächst nicht weiter. Dann entdeckt einer der Ermittler die beiden Opfer gemeinsam auf einem etwa dreißig Jahre alten Foto, auf dem die Abgangsklasse der Militärstabsschule von 1965 abgebildet ist, neben den beiden getöteten Männern noch 33 weitere Absolventen. Die Identifizierung und Befragung der übrigen Soldaten kommt aber nur schleppend voran, ohne wichtige Erkenntnisse für die beiden Mordfälle zu bringen. Schließlich könnten sich unter den Männern auf dem Foto sowohl weitere Opfer als auch der Täter befinden …
„Die Fragen blieben offen. Gab es überhaupt eine kleinere Gruppe innerhalb der Gruppe? Wenn nicht – wenn der Mörder hinter ihnen allen her war, dann musste es sich um einen Verrückten handeln. Mit einem unbegreiflichen, irrationalen und vermutlich vollkommen schwachsinnigen Motiv. Niemand hat eine in welcher Hinsicht auch immer annehmbare Begründung, 31 Menschen einen nach dem anderen zu erschießen.“ (S. 175) 
Mit seinem vierten, hierzulande 1998 erstmals veröffentlichten und mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichneten Van-Veeteren-Roman „Die Frau mit dem Muttermal“ präsentiert Håkan Nesser keinen konventionellen Whodunit-Plot, sondern beschreibt eher den ermüdenden Alltag einer an sich schlagkräftigen Ermittlertruppe, deren Vorgehen aber auch sehr behäbig wirkt. Das trifft aber auch den Plot zu. Die (namentlich noch nicht bekannte) Täterin wird gleich im ersten Kapitel vorgestellt, das Motiv lässt sich bereits erahnen, wird aber erst zum Ende hin konkretisiert. Bis dahin dreht sich vor allem alles um den Alltag der Opfer bis zu ihrem Ableben, das durch die mysteriösen, anonymen Anrufe, mit denen den Adressaten der The-Shadows-Hit „The Rise and Fall of Flingel Bunt“ aus den 1960ern vorgespielt wird.
Verwertbare Spuren und ein erkennbares Motiv können weder Van Veeteren noch seine Kollegen Münster, Reinhart, Moreno, Heinemann, Jung und Rooth bei den Befragungen von Kollegen und Familienangehörigen der Opfer und den Untersuchungen der Tatorte ausmachen. Die nur allmählich aufgebaute, kaum spürbare Spannung resultiert einzig aus der Frage nach möglichen weiteren Opfern, bis die mutmaßliche Täterin endlich gefasst wird. Bis dahin wechselt Nesser ständig die Perspektive zwischen den einzelnen Ermittlern, die allesamt ungewöhnlich blass bleiben, den Opfern und der Täterin. Das bringt zwar etwas Fluss in den schlichten Plot, aber die Handlung wenig voran. Vor allem die unzähligen, nicht verwertbaren Befragungen ermüden auf die Dauer, machen aber deutlich, wie der Alltag der Ermittler üblicherweise aussieht.
Es ist nur bedauerlich, dass Van Veeteren, der sonst auch mit seiner schwierigen Beziehung zu seinem Vater und den Frauen in seinem Leben portraitiert wird, hier überhaupt nicht an Kontur gewinnt, außer dass er klassische Musik hört, Schach und Badminton spielt. Mit dem abschließenden ausführlichen Geständnis der Täterin wird der Fall schließlich ganz unspektakulär zu Ende geführt. Von den bisherigen Van-Veeteren-Büchern ist „Die Frau mit dem Muttermal“ das bislang schwächste.
Leseprobe Hakan Nesser - "Die Frau mit dem Muttermal"