Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 1) „Die Blutlinie“

Samstag, 28. Dezember 2019

(Bastei Lübbe, 476 S., Tb.)
Smoky Barrett hat eine rasante Karriere beim FBI hingelegt, nach ihrem Abschluss in Quantico als Jahrgangsbeste schließlich die Zweigestelle der Abteilung CASMIRC (Child Abduction and Serial Murder Investigative Ressources Center) in Los Angeles geleitet. Sie holte sich mit Callie, Alan und James die besten Agenten ins Team und lief in ihrer Abteilung zu Hochform auf. Doch vor sechs Monaten drang ein Mann namens Joseph Sands in ihr Haus ein, fügte ihr vor den Augen ihres gefesselten Mannes Matt mit dem Messer die fürchterlichsten Wunden zu, vergewaltigte sie, tötete sowohl Matt als auch ihre gemeinsame Tochter Alexa, bevor sich Smoky mit einem Kraftakt befreien und ihren Peiniger erschießen konnte.
Nach einer intensiven Therapie beim Psychologen Dr. Peter Hillstead ist sie wieder bereit, ihren Dienst beim CASMIRC zu versehen, doch viel Zeit zum Eingewöhnen hat Smoky nicht: Ein psychopathischer Killer, der sich als direkter Nachfahre von Jack the Ripper sieht, hat in San Francisco nicht nur Smokys alte Schulfreundin Annie King misshandelt und schließlich getötet, sondern auch ihre Tochter Bonnie an die Leiche ihrer Mutter gefesselt, bevor sie nach drei Tagen endlich entdeckt wurde. Wie sein vermeintlicher Vorfahre Jack the Ripper macht sich auch Jack Junior auf die Jagd nach Prostituierten, die wie Annie King in der Regel ihre eigene Porno-Website unterhalten haben. Der Killer sucht die direkte Konfrontation mit Smoky, die er als Pendant zu Inspector Abberline betrachtet, der damals Jack the Ripper gejagt hatte. Dafür bedroht er die engsten Vertrauten der scharfsinnigen Ermittlerin, der allmählich die Zeit davonläuft. Jack Junior geht bei seinen Taten nicht nur äußerst geschickt vor, sondern verübt seine grausigen Verbrechen offensichtlich nicht allein …
„Bei Jack Junior haben wir das gesamt Spektrum physischer Beweise abgegrast, einschließlich der internen IP-Nummern der Provider. Er hat sich maskiert, hat Wanzen und Peilsender angebracht, sich Jünger herangezogen, hat ausgesprochen geschickt agiert.
Und jetzt hängt die Aufklärung des Falls wahrscheinlich von lediglich zwei Faktoren ab. Einem Stück Rindfleisch und einem fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden ungelösten Fall, der im VICAP Staub angesetzt hat.“ (S. 416) 
Mit seinem 2006 veröffentlichten Debüt „Die Blutlinie“ hat der US-amerikanische Schriftsteller Cody McFadyen eine überaus charismatische Protagonistin etabliert, die von Beginn an die Sympathien der Leserschaft zu gewinnen versteht. Indem McFadyen seine äußerlich krass entstellte und innerlich starke, aber arg gebeutelte Heldin Smoky Barrett als Ich-Erzählerin das ihr zugefügte Leid rekapituliert und ihre vielschichtigen Empfindungen und Erinnerungen an ihre verlorene Liebe und die kaum vorstellbar brutalen Ereignisse beschreibt, ist das Publikum bereits völlig eingenommen von der taffen Frau, die zwar verständlicherweise auch schon mit dem Gedanken gespielt hat, sich mit ihrer Pistole das Hirn wegzuschießen, aber dann doch lieber zu dem zurückkehrt, was sie am besten kann: Serienmörder zu schnappen. Dabei erweist sich ihr nächster Gegner als raffinierter, selbstbewusster Täter, der den Agenten immer einen Schritt voraus zu sein scheint und seine Opfer aus Smokys immer näheren Umfeld sucht.
McFadyen gelingt es, die Spannungskurve konsequent anzuziehen und dabei tief in die Psyche seiner Figuren einzutauchen und trotzdem die Handlung konsequent voranzutreiben. Die beschriebenen Verbrechen sind nichts für Zartbesaitete und lassen sich locker im Umfeld von „Sieben“ und „Das Schweigen der Lämmer“ ansiedeln. „Die Blutlinie“ wäre ein absolut erstklassiger Thriller geworden, wenn McFadyen sich nicht auf die Konventionen des Genres eingelassen hätte, um einen überraschenden, leider aber auch völlig unglaubwürdigen Täter aus dem Hut zu zaubern. All die Spannung, die der Autor bis zum missglückten Finale so brillant aufgebaut hat, macht er durch diesen viel zu konstruiert wirkenden „Kniff“ wieder zunichte. Davon abgesehen bietet „Die Blutlinie“ aber atemlosen Thrill und eine echte Persönlichkeit als Protagonistin, die es bislang auf vier Fortsetzungen gebracht hat.
Leseprobe Cody McFadyen - "Die Blutlinie"

Cormac McCarthy – „Land der Freien“

Donnerstag, 26. Dezember 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
John Grady arbeitet als junger Cowboy auf einer Ranch in New Mexico und hat sich dort mit dem etwas älteren Billy Parham angefreundet. Der Umgang mit den Pferden macht ihnen Spaß, obwohl die Arbeit ebenso hart wie unspektakulär ist. Abwechslung bringen nur die Ausflüge ins nahegelegene El Paso oder über die Grenze nach Ciudad Juárez, wo sie sich in den Kneipen und Bordellen vergnügen. Erst als John Grady in einer der Kneipen die Hure Magdalena entdeckt und sich in sie verliebt, gerät sein geordnetes Leben ins Wanken. Obwohl er von ihren epileptischen Anfällen weiß und später erfährt, dass sie den Zuhälter Eduardo heiraten soll, bringt ihn nichts davon ab, mit ihr zusammen sein zu wollen.
Zunächst versucht er es noch auf die diplomatische Tour und schickt Billy vor, die Bedingungen mit Eduardo auszuhandeln, doch der hat nicht vor, Magdalena ziehen zu lassen. Das verliebte Paar fasst einen waghalsigen Plan, will mit gefälschten Papieren fliehen und heimlich heiraten, doch das Vorhaben wird verraten – mit tragischen Konsequenzen für alle Beteiligten …
„Er wusste, dass uns das, was wir unbedingt in unserem Herzen bewahren möchten, oft genommen wird, während das, was wir loswerden wollen, durch ebendiesen Wunsch oft ein unerwartetes Beharrungsvermögen zu gewinnen scheint. Er wusste, wie zerbrechlich die Erinnerung an einen geliebten Menschen ist. Wie wir die Augen schließen und mit ihm sprechen. Wie wir uns danach sehnen, noch einmal seine Stimme zu hören, und wie diese Stimme und die Erinnerung schwach und schwächer werden, bis das, was einst Fleisch und Blut war, nurmehr Nachhall und Schatten ist.“ (S. 220) 
Mit „Land der Freien“ hat Cormac McCarthy seine 1992 mit „All the Pretty Horses“ (dt. „All die schönen Pferde“, 1993) begonnene und 1994 mit „The Crossing“ (dt. „Grenzgänger“, 1995) fortgesetzte Border-Trilogie beendet und die Schicksale seiner beiden Protagonisten John Grady Cole und Billy Parham zusammengeführt. Während John Grady Cole im Jahre 1949 als Sechszehnjähriger aufbrach, mit seinem Freund Lacey Rawlins von Texas nach Mexiko zu reiten, um dort das Leben in vermeintlicher Freiheit zu genießen und sich mit dem Wesen von Pferden anzufreunden, überquerte Billy Parham in „Grenzgänger“ bereits neun Jahre zuvor mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Boyd die Grenze, um die Mörder ihrer Eltern aufzuspüren, die sich auch noch die Pferde der Familie unter den Nagel gerissen haben. In „Land der Freien“ kreuzen sich nun die Wege der beiden jungen Männer, die auf ihren Reisen zwischen den Grenzstaaten der USA und Mexiko schreckliche Dinge erlebt, auf der Ranch in New Mexiko aber ihre Bestimmung gefunden haben. Es ist eine ebenso raue wie schöne Welt, die McCarthy wie gewohnt detailreich in seiner kargen, poetischen Prosa beschreibt, so ausführlich, dass der Leser wie hypnotisiert in die Szenerie hineingezogen wird. Allerdings wendet sich der Autor im weiteren Verlauf der Geschichte zunehmend seinen Figuren zu, vor allem John Grady, der sich unsterblich in eine junge Hure verliebt und alles bereit ist zu tun, um mit ihr zusammen sein zu können. Dabei ist jedem, der Zeuge der unglücklichen Konstellation wird, dass Magdalena einem anderen, weitaus mächtigeren und skrupelloseren Mann versprochen ist, sofort klar, dass diese unmögliche Liebe zwischen der Hure und ihrem jungen Verehrer ein böses Ende nehmen muss. Die finale Konfrontation zwischen John Grady und Eduardo beschreibt McCarthy wie einen tödlichen Tanz, bei dem die eingesetzten Messer unauslöschliche Wunden in die Körper und Seelen der beiden Kontrahenten hinterlassen.
Fünfzig Jahre später blickt Billy Parham auf die blutigen Ereignisse zurück und vertieft sich mit einem weisen alten Mann unter einer Autobahnbrücke in tiefgehende philosophische Betrachtungen, die McCarthys Selbstverständnis vom Leben im zunehmend zivilisierten Wilden Westen verdeutlichen, die romantischen Vorstellungen des Lesers mit Staub, Whisky und Blut beflecken.
Leseprobe Cormac McCarthy "Land der Freien"

Cormac McCarthy – „Grenzgänger“

Sonntag, 22. Dezember 2019

(Rowohlt, 448 S., Tb.)
Der 16-jährige Billy Perham und sein jüngerer Bruder Boyd wachsen im Grant County auf, von wo man noch auf direktem Weg nach Mexiko gelangen kann, ohne auf einen Zaun zu stoßen. Zusammen mit seinem Vater unternimmt Billy regelmäßig Jagdausflüge und stellt Fallen für die Wölfe aus, die ihre Viehherde bedrohen. Als Billy eines Tages eine trächtige Wölfin aus der Falle befreit, will er sie allein zurück in die mexikanische Sierra bringen, wobei er unterwegs mit anderen Reisenden und Einwohnern aus der Gegend von Chihuahua ins Gespräch kommt.
Als er Monate später aber zur elterlichen Farm zurückkehrt, findet er sie verlassen vor: Die Eltern wurden ermordet, die Pferde gestohlen, sein Bruder ist bei Pflegeeltern untergekommen. Die beiden Brüder machen sich auf die Reise nach Mexiko, wo sie die Pferdediebe vermuten, wobei sich Boyd mit einem gleichaltrigen mexikanischen Mädchen in Mexiko niederlässt. Mit 21 Jahren unternimmt Billy seine nächste Reise nach Mexiko, diesmal, um seinen Bruder zu suchen, dessen sterbliche Überreste er zurück nach New Mexiko bringen will. Einmal mehr beschäftigt sich Billy mit der Frage nach seiner Heimat und Identität …
„Die Welt kann sich nicht verirren. Nur wir. Und weil diese Namen und Gradnetze von uns stammen, können sie uns nicht helfen. Können sie uns die Suche nach dem richtigen Weg nicht abnehmen. Dein Bruder ist dort, wo die Welt ihn haben wollte. Er ist an dem Platz, der für ihn bestimmt war. Zugleich hat er sich diesen Platz selber ausgewählt. Und so einen glücklichen Zufall sollte man nicht geringschätzen.“ (S. 408) 
Mit dem Auftakt seiner sogenannten „Border-Trilogie“, „All die schönen Pferde“, gelang Cormac McCarthy 1992 der internationale Durchbruch, zwei Jahre später legte er mit dem epischen „Grenzgänger“ auf imponierende Weise nach. Minutiös schildert der Pulitzer-Preisträger in seiner ebenso archaischen wie poetischen Sprache die Mühsal des Lebens auf einer Ranch, wo Wölfe die Lebensgrundlage der Menschen bedrohen. Doch statt den ausgemachten und endlich gefangenen Übeltäter zu töten, erbarmt sich der 16-jährige Romanheld der trächtigen und geschundenen Wölfin und unternimmt mit ihr eine abenteuerliche Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren, wobei sich Billy auch deshalb so um das Wohl der Wölfin bemüht, weil er sie für eine Botin aus einer anderen Welt betrachtet, in der die Natur nach eigenen Gesetzen funktioniert.
Immer wieder bringt McCarthy Gegensätze zusammen, Wildnis und Zivilisation, Gewalt und Güte, Einsamkeit und Geselligkeit, Mordlust und Vergebung, Hoffnung und Verzweiflung, Heimat und die Fremde. Es ist nichts Glorifizierendes, das der Autor zum Western-Genre beizutragen hat. Stattdessen beschreibt er eindrucksvoll die kleinen und großen Gesten, die den Unterschied zwischen Gut und Böse ausmachen.
Neben den fast schon manieristisch detaillierten Beschreibungen der Alltagsszenen, der Reisen und gefahrvollen Aufeinandertreffen mit Dieben und Mördern webt McCarthy aber immer wieder betörend eindringliche, mit lakonisch humorvollen Akzenten versehene Dialoge ein, die oft leider im spanischen Original belassen werden, so dass sich für den Leser der Sinn nur aus dem Kontext erschließt.
Wie brutal die Welt letztlich ist, stellt Billy am Ende seiner ersten Reise nach Mexiko fest, als er auf die verlassene Ranch seiner Familie zurückkehrt. Statt jedoch zu verzweifeln, macht sich Billy immer wieder auf den schicksalhaften Weg zu den Verursachern des Unglücks und wird dabei selbst mit den unterschiedlichsten Empfindungen konfrontiert. Wie McCarthy all diese Gegensätze zu großer Literatur vereint, ist nicht unbedingt leichtverdauliches Pageturner-Futter, bleibt aber nachhaltig in der Vorstellungskraft des Lesers haften.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Dan Brown – (Robert Langdon: 5) „Origin“

Sonntag, 15. Dezember 2019

(Lübbe, 670 S., HC)
Edmond Kirsch, milliardenschwerer Fachmann für Spieltheorie und computerbasierte Modellrechnungen, trifft sich in der legendären Bibliothek von Montserrat mit drei prominenten Vertretern unterschiedlicher Religionen, um ihnen von seiner Entdeckung zu berichten, die Grundlage für eine demnächst geplante öffentliche Präsentation sein soll, die die Grundfesten aller Religionen erschüttern wird. Doch kaum hat er dem spanischen Bischof Antonio Valdespino, der zudem ein enger Vertrauter des spanischen Königs ist, dem jüdischen Philosophen Rabbi Yehuda Köves und Al-´Allāma Seyd al-Fadl seine brisanten Erkenntnisse vorgestellt, werden sowohl der Rabbi als auch der muslimische Religionsführer ermordet.
Währenddessen wird der an der Harvard University lehrende Professor für Symbologie Robert Langdon von seinem früheren Studenten Edmond Kirsch eingeladen, an seiner unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen stattfindenden Präsentation im Guggenheim Museum von Bilbao teilzunehmen. Doch während der beeindruckenden Einleitung zur Multimedia-Präsentation, in der Kirsch Antworten auf die zentralen Fragen der Menschheit – Woher kommen wir? – Wohin gehen wir? – zu geben beabsichtigt, wird Kirsch von einem Admiral der spanischen Marine, dessen Name kurzfristig auf die Gästeliste gesetzt worden war, erschossen. Im anschließenden Chaos können Langdon und die bildschöne Leiterin des Museums, Ambra Vidal, zusammen fliehen.
Die Verlobte des spanischen Thronfolgers Júlian hat vor der Präsentation viel Zeit mit Kirsch verbracht und führt Langdon in Kirschs Wohnsitz in Barcelona, wo sie mithilfe von Kirschs KI-Assistenten Winston die so brutal gestoppte Präsentation der Öffentlichkeit zugängig machen wollen. Allerdings benötigen sie dazu ein siebenundvierzig Zeichen langes Passwort, um Zugang zu der offensichtlich nicht nur von radikalen Kirchenvertretern gefürchteten Präsentation zu bekommen. Während sich die Gerüchte mehren, dass ausgerechnet Bischof Valdespino hinter dem Attentat steckt, fürchtet vor allem auch Ambra um ihr Leben.
„Wenn Edmond tatsächlich zwei der größten Mysterien des Lebens gelöst hatte – was konnte daran so gefährlich und zerstörerisch sein, dass man ihn ermordet hatte, um ihn daran zu hindern, seine Entdeckung der Welt zu offenbaren?
Langdon hatte keine Ahnung. Er wusste nur eines mit Sicherheit: Die Entdeckung hatte mit dem Ursprung des Menschen zu tun.
Was kann so schockierend sein am Ursprung des Menschen? An seiner Bestimmung?“ (S. 270) 
Nach „Illuminati“, „Sakrileg“, „Das verlorene Symbol“ und „Inferno“ begibt sich der berühmte Symbologe Robert Langdon in „Origin“ bereits das fünfte Mal auf eine gefährliche Schnitzeljagd, die der amerikanische Bestseller-Autor Dan Brown mit bewährter Raffinesse inszeniert, indem er berühmte Kunstwerke und Bauwerke als zentrale Punkte auf der abenteuerlichen Reise seines sympathischen Protagonisten setzt. Dabei widmet sich Brown auch einem überraschend aktuellen Thema, nämlich den weltweit erschreckenden Ausmaßen terroristischer Anschläge, die im Namen religiöser Überzeugungen verübt werden. Ohne auf vereinzelte Terroranschläge konkret einzugehen, beschwört Brown Philosophen, Dichter, Politiker und Künstler wie William Blake, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin, Winston Churchill, Antoni Gaudí und Paul Gauguin herauf, um die Widersprüche und Gegensätze zwischen religiösen Überzeugungen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufzuzeigen. Brown hat sich seither mit den großen Mythen vor allem der christlichen Religionen, mit den geheimnisvollen Symbolen berühmter Kunstwerke und großen wissenschaftlichen Entdeckungen auseinandergesetzt. Nun scheint er den letzten großen Geheimnissen auf den Grund gehen zu wollen. Die vermeintliche Beantwortung der eingangs thematisierten Fragen bilden das Spannungsgerüst von „Origin“. Der Leser bekommt erst die ersehnten Antworten, wenn Langdon das Passwort zu entschlüsseln vermag, wobei er einmal mehr von einer attraktiven jungen Frau begleitet wird, die mehr als nur Sympathie für den klugen Mann zu empfinden beginnt. Auf der immerhin 670 Seiten langen Odyssee begleiten wir Robert Langdon, Ambra Vidal und Kirschs kinetisch-intelligenten Assistenten Winston zu verschiedenen Bauwerken und historischen Städten, bekommen die Hintergründe zu William Blakes Gedichten, Gaudís außergewöhnlichen Bauwerken und naturwissenschaftlichen Experimenten erklärt, bis wir zur entscheidenden Frage vordringen, wie Naturwissenschaft und Religion vielleicht miteinander ausgesöhnt werden können.
Das ist ebenso spannend, lehrreich wie unterhaltsam geschrieben und beweist einmal mehr, wie gut Dan Brown das Interesse seiner riesigen Fangemeinde zu fesseln versteht. Dabei trägt der Autor schon mal etwas dick auf und bläht seine Schnitzeljagd auch unnötig mit kunsthistorischen Bezügen auf, aber als Leser fühlt man sich dadurch nicht nur gut unterhalten, sondern auch auf kurzweilige Weise belehrt.
Leseprobe Dan Brown - "Origin"

Lee Child – (Jack Reacher: 21) „Der Ermittler“

Sonntag, 8. Dezember 2019

(Blanvalet, 413 S., HC)
Nach seinem Einsatz auf dem Balkon, wo er zwei Männer, die militärische Geheimnisse hätten verraten können, aufgespürt und mit einem Kopfschuss liquidiert hatte, wird Jack Reacher „für außergewöhnlich verdienstvolles Verhalten zum Vorteil der Vereinigten Staaten in wichtiger, verantwortlicher Position“ mit seiner zweiten Legion of Merit ausgezeichnet. Sein nächster Auftrag gestaltet sich aber weitaus schwieriger, wie der Major mit zwölf Jahren Diensterfahrung von seinem Vorgesetzten General Garber erfährt. Zusammen mit Casey Waterman vom FBI und John White von der CIA wird der Ermittler der Militärpolizei vom Nationalen Sicherheitsberater Alfred Ratcliffe auf eine Mission vorbereitet, die Reacher nach Hamburg führt, wo drei Saudis und ein Iraner seit einem Jahr eine Schläferzelle bilden. Der Iraner fungiert dabei als Spitzel, der von der CIA aus dem amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg geführt wird. Der Besuch eines weiteren Saudis sorgt für Unruhe, denn sein Ausgangsstatement, dass der Amerikaner hundert Millionen Dollar will, deutet zweifellos darauf hin, dass mit diesem Geld ein Terroranschlag von ungeheuren Ausmaßen finanziert werden soll.
Reacher nimmt mit der besten Ermittlerin, die er kennt, Sergeant Frances Neagley, in Hamburg die Spurensuche auf, wenig später folgt ihnen auch Ratcliffes attraktive Stellvertreterin Dr. Marian Sinclair. Sie hoffen, dass sie etwas Zeit haben, um herauszufinden, wer diese unvorstellbar hohe Summer verlangt und was er dafür den Käufern bietet. Mit der Unterstützung vom Hamburger Kripochef Griesmann können die Amerikaner schließlich einen einfachen amerikanischen Soldaten als Verkäufer identifizieren sowie ein mächtiges Netzwerk Deutschnationaler, die ihr Land den Deutschen zurückzugeben beabsichtigen.
Dass deren Beziehungen bis in die obersten deutschen Polizeikreise reichen, macht die Arbeit für Reacher und seine Kollegen nicht einfacher, und körperliche Auseinandersetzungen lassen sich ab einem bestimmten Punkt der Ermittlungen nicht mehr vermeiden.
„Er durfte gehen, und sie würden ihm folgen. Was bedeutete, dass der Kampf draußen stattfand. Falls es zu einer Schlägerei kam, was nicht sicher war. Was Alter und Gewicht betraf, lagen die meisten dieser Leute über dem Durchschnitt. Da waren Herzanfälle vorprogrammiert. Für die meisten war Zurückhaltung wohl besser als Tapferkeit. Die wenigen Ausnahmen machten Reacher keine Sorgen. Sie wären jünger und etwas besser in Form, aber letztlich doch harmlose Büroangestellte. Reacher war ein guter Straßenkämpfer. Vor allem auch, weil er Spaß daran hatte.“ (S. 221) 
Um etwas Abwechslung in die mittlerweile doch arg in die Jahre gekommene Serie um den charismatischen Ermittler der Militärpolizei der United States Army zu bringen, nimmt uns Autor Lee Child zurück in Reachers aktive Laufbahn, als der Mittdreißiger auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn steht und im Jahr 1996 nach Deutschland geschickt wird, um ein internationales Terrornetzwerk auffliegen zu lassen. Natürlich hat Child dabei die Umstände aufgegriffen, dass in Deutschland einige Attentäter von 9/11 vor ihrem Einsatz in Deutschland verweilten. Dazu hat er Hamburg als außergewöhnlichen Handlungsort ausgewählt, beschreibt die Hansestadt als Tor zur Welt, als Zentrum neonazistischer Tendenzen und sexueller Perversionen. So spannend der Autor die Jagd nach dem amerikanischen Verräter und dessen Handelsobjekt inszeniert, so klischeebehaftet stellt er die Deutschen als tumbe Neonazis dar, die ihre eigenen, missgeleiteten Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen und an einer neuen Weltordnung wirken.
Immerhin stellt Child seinem Helden mit Kripochef Griesmann einen kompetenten Mann zur Seite, davon abgesehen bleibt das Figurenensemble recht eindimensional. Dass Reacher mit seiner Vorgesetzten eine Affäre beginnt, trägt nicht unbedingt zur Glaubwürdigkeit des Plots bei. Von diesen Ärgernissen abgesehen, bietet „Der Ermittler“ aber gewohnt souverän inszenierte Thriller-Spannung, die sich zwar nicht mit den besten Reacher-Romanen messen kann, aber die Fangemeinde doch kurzweilig zu unterhalten versteht.
Leseprobe Lee Child - "Der Ermittler"

Jeffery Deaver - (Lincoln Rhyme: 14) „Der Todbringer“

Dienstag, 3. Dezember 2019

(Blanvalet, 574 S., HC)
Als William Sloane und seine Verlobte Anna beim Patel Designs in der South Bronx den mit einem anderthalbkarätigen Diamanten besetzten Verlobungsring abholen wollen, tötet ein maskierter Unbekannter mit einem Teppichmesser sowohl das junge Paar als auch den indischen Diamantenschleifer Jatin Patel. Dessen junger Mitarbeiter Vimal stößt wenig später in der Werkstatt auf die Toten und flüchtet. Ein anonymer Anrufer informiert die Polizei, die gleich vor mehreren Rätseln steht, weshalb Detective Lon Sellitto vom NYPD die fast vollständig gelähmte Forensik-Koryphäe Lincoln Rhyme um Unterstützung bittet.
Der maskierte Täter, von dem dank des anonymen Informanten eine gute Personenbeschreibung vorliegt, hat zwar drei Leichen hinterlassen und den Eigentümer zuvor gefoltert, aber mehrere Hundert Diamanten im offenen Tresor liegengelassen. Rhymes Frau Amelia Sachs untersucht mit Mel Cooper den Tatort und riecht, dass auch eine Schusswaffe abgefeuert wurde. Offenbar wurde der unbekannte Zeuge des Überfalls angeschossen, konnte aber fliehen. Der sogenannte Täter 47 (wegen der Siebenundvierzigsten Straße, in der die Morde verübt worden sind) lässt weitere Opfer folgen, die mit Diamanten zu tun gehabt haben, und sendet ein Bekennerschreiben als Textnachricht an verschiedene Fernseh- und Radiosender.
Doch nicht nur die Jagd nach Täter 47, der sich selbst als „Der Versprechende“ bezeichnet, hält die Ermittler in Atem, auch geschickt inszenierte Explosionen, die Erdbeben imitieren sollen, sorgen für weitere Todesfälle. Und schließlich nimmt Lincoln Rhyme einen besonders heiklen Berater-Auftrag an. Der Anwalt des mexikanischen Drogenhändlers El Halcón vermutet, dass seinem Mandanten nach einer Schießerei, bei der Bundesbeamte getötet wurden, Beweismaterial untergeschoben wurde.
„Rhyme las die Einträge durch, prägte sie sich ein und dachte weiter darüber nach, was der mexikanische Anwalt ihm erzählt hatte. Er dachte auch an Sachs, Sellitto, Cooper und die anderen, die unermüdlich gegen Täter 47 ermittelten. Was würden sie davon halten, dass ich in Erwägung ziehe, für das Team eines Drogendealers tätig zu werden?
Es gab keine einfache Antwort auf diese Frage, also ignorierte er sie vorerst und wandte sich wieder den Beweisen zu.“ (S. 312) 
Lincoln Rhyme hat in seiner langen Karriere zunächst beim NYPD und nach seinem folgenschweren Unfall, der ihn für den Rest seines Lebens an Bett und Rollstuhl fesselte, als freier Berater vor allem für seine alte Dienststelle schon mit so manchen gewitzten Psychopathen zu tun gehabt. Doch in „Der Todbringer“ gestaltet sich die Identifizierung des Täters und die Jagd nach ihm als besonders schwierig, weil er an unterschiedlichen, schwer vorhersehbaren Fronten zuschlägt und kein eindeutiges Motiv bei seinem Vorgehen erkennen lässt.
Bestseller-Autor Jeffery Deaver präsentiert auch in seinem 14. Thriller um seinen prominenten Protagonisten Lincoln Rhyme einen akribisch recherchierten, detailreich beschriebenen und sehr komplexen Plot, bei dem drei zunächst unabhängig erscheinende Fälle auf furiose Weise zusammengeführt werden und gerade zum packenden Finale zahlreiche Wendungen aufweisen. So gekonnt Deaver die Spannungsschraube – wenn auch mit einigen Längen im Mittelteil - sukzessive anzieht und interessante Einblicke in das Geschäft mit Diamanten gewährt, so bleiben die Figuren selbst im Hintergrund. Deaver scheint bereits alles über das sympathische Ehepaar Rhyme und Sachs erzählt zu haben, denn bis auf wenige Nebensätze kommt das Privatleben der beiden nicht mehr zur Sprache. Dafür beschreibt er Vimal Lahoris Dilemma, sowohl als Zeuge von der Polizei als auch von Täter 47 gesucht zu werden, sowie den Machtkampf mit seinem Vater.
Die Mischung aus intelligent konzipierter, souverän geschriebener Thriller-Spannung und den persönlichen Geschichten der Protagonisten machen auch „Der Todbringer“ zu einem gelungenen Werk des Autors, der im Finale noch einen alten Bekannten ins Rampenlicht zurückholt.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Todbringer"

Ian McEwan – „Die Kakerlake“

Sonntag, 1. Dezember 2019

(Diogenes, 134 S., HC)
In seinem früheren Leben war Jim Sams eine verhasste Kakerlake, die hinter der Täfelung im Westminster-Palast ihr Unwesen trieb, doch dann erwacht er eines Morgens aus unruhigen Träumen und findet sich in ungewohnter Umgebung wieder. Eine Frau, die sich offenbar als seine persönliche Referentin erweist, spricht ihn als Premierminister an und erinnert ihn an die Kabinettssitzung um neun und die anschließende Beantwortung von Fragen des Oppositionsführers. Zwar hegt er noch kurz Bedenken, ob er am Rednerpult auch mit nur zwei statt sechs Beinen so souverän stehen und wirken würde, doch den bevorstehenden Fragen sieht er äußerst gelassen entgegen, schließlich kennt er das Gebaren seiner früheren Artgenossen nur zu gut. Von seiner Mission, den Willen des Volkes durchzusetzen, will er sich partout nicht abbringen lassen.
Dafür bewirbt er ein Instrument, das „Reversalismus“ bezeichnet wird, wohinter sich eine Umkehr des Geldflusses verbirgt. Wer einen Job ausüben will, muss dafür bezahlen, wobei bessere Jobs auch höhere Entgeltzahlungen bedeuten. Beim Einkaufen erhält man den monetären Gegenwert für die Waren im Einkaufskorb, so dass man viel einkaufen muss, um sich einen besseren Job leisten zu können. Einzahlungen auf Geldkonten werden mit Negativzinsen belastet, so dass allen damit gedient ist, möglichst immer mehr Geld in Umlauf zu bringen. Das ambitionierte Projekt kann aber nur funktionieren, wenn auch außerhalb Großbritanniens Verbündete gewonnen werden können, weshalb Sams den Schulterschluss mit dem US-amerikanischen Präsident Tupper sucht. Der scheint angesichts einer Zahlung von über siebenhundert Milliarden Dollar auf sein privates Offshore-Konto auf den Cayman-Inseln nicht abgeneigt. Schwieriger gestaltet sich der Austausch mit der deutschen Bundeskanzlerin, der die Argumentation ihres britischen Kollegen nicht einleuchten will.
Warum? Weil. Weil wir das nun mal tun. Weil es das ist, woran wir glauben. Weil wir uns an unser Wort halten. Weil das Volk es so will. Weil ich als Retter aufgetaucht bin. Weil. So lautete letztlich die einzige Antwort: weil.“ (S. 116) 
Bereits mit seinen letzten Werken wie „Kindeswohl“ und „Maschinen wie ich“ setzte sich der preisgekrönte britische Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Trost von Fremden“, „Liebeswahn“) mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander, aber so nah am Puls der Zeit wie mit „Die Kakerlake“ war McEwan bislang noch nicht. Denn die gerade mal gut 130 Seiten umfassende Geschichte präsentiert sich als bitterböse Satire auf den vom Autor gehassten Brexit, wobei er sich ganz ungeschminkt auf Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ beruft, in der Gregor Samsa eines Morgens als Kakerlake erwacht. McEwan kehrt nicht nur Kafkas Idee auf den Kopf, sondern entlarvt mit der ungewöhnlichen Metamorphose seines Protagonisten, der gleichermaßen als Verkörperung sowohl von Theresa May als auch Boris Johnson dient, die argumentativ schwach unterfütterten Brexit-Pläne der britischen Regierung. Mit dieser Satire rennt McEwan bei den Brexit-Gegnern natürlich offene Türen ein. In die Tiefe geht der Autor mit seinem kurzweiligen und humorvollen Werk dabei nicht, so als würde es sich bei diesem absurden Szenario auch nicht lohnen. Dafür bekommt natürlich auch der amerikanische Präsident sein Fett weg und es wird kurz demonstriert, wie die ebenfalls aktuelle „MeToo“-Debatte auch genutzt wird, um politische Gegner wie den eigenen Außenminister auszubooten. Das ist bei aller Kürze witzig auf den Punkt gebracht, doch kann sich „Die Kakerlake“ nicht in die Reihe von Meisterwerken einreihen, die wir von McEwan gewohnt sind.
Leseprobe Ian McEwan - "Die Kakerlake"