(Tropen, 681 S., HC)
Der Franzose Jean-Christophe Grangé hat schon seit 1989 erfolgreich Drehbücher für die französische Fernsehserie „Série Noire“ (1984-1991) verfasst, ehe er bereits mit seinem hierzulande 1996 veröffentlichten Romandebüt „Der Flug der Störche“ auch als Schriftsteller den Durchbruch schaffte. Nach den erfolgreichen Verfilmungen seiner Romane „Die purpurnen Flüsse“ und „Das Imperium der Wölfe“ – jeweils mit Jean Reno in der Hauptrolle – avancierte Grangé zu einem der populärsten Thriller-Autoren Frankreichs. Mit seinem neuen Roman bewegt sich der Erfolgsautor auf ungewöhnliches Terrain, taucht tief in die Zeit der Nazis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein und lässt ein interessantes Ermittler-Trio Jagd auf den geheimnisvollen Marmormann machen…
Der brillante Psychoanalytiker Simon Kraus ist zwar von kleiner Statur, verfügt aber über genügend Charisma und Sex-Appeal, dass er gleich reihenweise seine Klienten, allesamt attraktive Frauen hochrangiger Nazi-Funktionäre, erst verführt und dann im Gegenzug für sein Stillschweigen erpresst. Der aus der Gegend um München stammende Schönling hat zwar schon in Paris gelebt und sich in London aufgehalten, doch der Wechsel zwischen den Extremen, die er in Berlin sowohl auf der politischen als auch auf der sozialen Seite seit dem Ende des Ersten Weltkriegs erleben durfte, übten seit jeder einen besonderen Reit auf ihn aus.
Doch diese lukrativen Geschäfte finden ein jähes Ende, als er von Hauptsturmführer Franz Beewen aufgesucht wird, der die Ermittlungen im Fall der ermordeten Margarete Pohl leitet. Dass die Frau eines SS-Gruppenführers auf bestialische Weise umgebracht worden ist, verstört auch den Psychoanalytiker und Traumforscher. Beewen weiß, dass die Frau Angst vor einem „Marmormann“ gehabt habe, wie sie ihrem Mann erzählte, doch darüber hinaus ist nichts über die Umstände ihres Todes noch ein Motiv erkennbar. Dabei ist mit der 27-jährigen Susanne Bohnstengel schon zuvor eine ähnlich grässlich verstümmelte Leiche an der Museumsinsel aufgefunden worden, die ebenfalls zu Kraus‘ Klientinnen zählte und in ihren Träumen dem Mann mit der marmornen Maske begegnet war. Nachdem Kriminalkommissar Max Wiener mit den Ermittlungen zu den Morden an den beiden Frauen beauftragt worden und plötzlich verschwunden war, liegt es nun also an Beewen, weitere Morde an Frauen zu verhindern, die sich mit ihrem illustren Wilhelmklub regelmäßig im Hotel Adlon treffen. Während Simon Kraus Beewen bei seiner Arbeit dahingehend unterstützt, dass er seine privaten Kontakte zu den Frauen des Wilhelmklubs nutzt, um an weitere Informationen zu gelangen, besucht Beewen die von der adligen Psychiaterin Minna von Hassel geleitete Nervenheilanstalt, in der auch sein Vater untergebracht ist.
Die alkoholsüchtige Baronin schließt sich Beewen und Kraus bei ihrer Suche nach dem Marmormann an. Sie stoßen auf das Filmplakat zu dem Science-Fiction-Film „Der Geist des Weltraums“ mit Kurt Steinhoff in der Hauptrolle und glauben, durch die Maskenkünstlerin Ruth Senestier endlich eine Spur zum Mörder gefunden zu haben, doch dann stellen sie fest, dass die Morde an den arischen Frauen einem weitaus beängstigenderen Plan folgen…
„Auf unerklärliche Weise war es Hitler mit seiner wortkargen Art und dem lächerlich Zweifingerbart gelungen, wie ein Filmstar die Frauen in seinen Bann zu schlagen. Er konnte noch so viel in sein Mikrofon schimpfen, übertrieben herumgestikulieren und wie ein Irrer auftreten, der hinter Gitter gehörte – er hatte eine Leidenschaft, eine Begeisterung, eine Blindheit in ihnen geweckt, die nicht abrissen. Hitler, der elektrische Generator der Frauen.Minna war also kaum überrascht, dass in den obersten Gesellschaftsschichten Berlins das gleiche Phänomen herrschte. Ungeachtet ihres unbekümmerten Auftretens bildeten die Adlondamen offenbar eine anspruchsvolle, dem Führer vollkommen ergebene Sekte.“ (S. 465)
Allein für den Mut, als Franzose einen schaurigen Thriller zu inszenieren, der in der finstersten Epoche der deutschen Geschichte verortet ist, gebührt dem versierten Jean-Christophe Grangé Respekt. Ihm gelingt es, die politisch so fatale, gesellschaftlich zerbrochene Atmosphäre im Berlin Ende der 1930er Jahre so authentisch zu beschreiben, dass es einem als Leser ungewöhnlich leicht fällt, sich in diesen Malstrom aus Volksverhetzung, Antisemitismus und Nazi-Adel einzufühlen.
Das Unbehagen angesichts der perfekt organisierten Schrecken, die dort flächendeckend verbreitet wurden, ist bei der Lektüre des verstörenden Stoffes natürlich ständiger Begleiter. Vor dem Hintergrund des Massenmordes, den die Nazis nicht nur an Juden, sondern u.a. auch an „nicht lebenswerten“, psychisch kranken Menschen verübten, erscheinen die Morde an wohlhabenden Nazi-Ehefrauen zunächst wenig spektakulär, aber Grangé nutzt die brutalen Serienmorde an den prominenten Frauen des Wilhelmklubs für eine Reise in die Finsternis der abartigen Nazi-Ideologie.
Zwar weist „Die marmornen Träume“ auch einige Längen auf, aber Grangé weiß seinen Figuren jeweils ein starkes Profil zu verleihen. So unterschiedlich die beiden Psychoanalytiker und der SS-Offizier von Herkunft und Ansichten auch sind, vereint sie auf überzeugende Weise der Kampf gegen die ominöse „Operation Europa“, die das Trio weit über Deutschlands Grenzen hinaus führt.
Grangé ist mit seinem neuen Roman eine gut funktionierende Mischung aus Historien-Drama und Noir-Thriller gelungen, wobei die Ermittlungen immer neue Wendungen nehmen und am Ende zu einem dann doch etwas enttäuschend platten Finale führen.
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