Jo Nesbø – (Harry Hole: 12) „Messer“

Sonntag, 1. September 2019

(Ullstein, 576 S., HC/eBook)
Als Harry Hole am Sonntagmorgen aufwacht, merkt er sofort, dass etwas nicht stimmt. Zunächst versucht er seinen üblichen Traum über einen gemeinsamen Morgen mit Rakel kurz nach ihrem Kennenlernen zu erinnern, doch dann wird ihm schlagartig und schmerzlich bewusst, dass sie ihn verlassen hatte. Schließlich bemerkt er Blut an seinen Fingern, eine leere Whiskyflasche. Er kann sich an nichts erinnern. Von seinem Freund Bjørn Holm erfährt er, dass er mit ihm zusammen in der Jealousy Bar gewesen ist, von wo er den besoffenen Harry gegen 22.30 Uhr nach Hause gefahren habe. Harry ist am absoluten Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Nach seiner erfolgreichen Zeit als Kriminalkommissar und seiner Zeit als Dozent an der Polizeihochschule ist sein Plan, durch die Heirat mit Rakel in ruhigere Fahrgewässer in Abstinenz zu gelangen, nicht aufgegangen. Stattdessen hat ihn der Vampiristen-Fall vor anderthalb Jahren wieder aus der Bahn geworfen.
Bjørns Lebensgefährtin Katrine Bratt, mit der Harry auch mal was hatte, und Gunnar Hagen haben Harry quasi aus der Gosse gezogen und ihm einen einfachen Job im Dezernat für Gewaltverbrechen beschaffen können. Doch statt nur Akten zu sortieren, will Harry den Sexualstraftäter und Serienmörder Svein Finne wieder hinter Schloss und Riegel bringen. Harry bringt den Psychopathen mit drei ungelösten Morden in Verbindung, denen noch weitere folgen. Dass auch seine geliebte Rakel erstochen aufgefunden wird, macht Harry besonders fertig und motiviert ihn, die Jagd auf Finne noch besessener voranzutreiben. Wegen seiner persönlichen Beziehung zum Opfer darf Harry allerdings nicht in dem Fall ermitteln und wird sogar vom Dienst suspendiert.
Seinen Stiefsohn Oleg, den er wie seinen eigenen Sohn liebt und der wie Harry Polizist werden will, informiert er telefonisch über die grauenvolle Tat. Dafür schaltet sich das nationale Kriminalamt unter Leitung von Ole Winter ein und zwingt die Osloer Polizei zur Zuarbeit, was gerade dem ambitionierten Ermittler Sung-min Larsen gegen den Strich geht. Harry lässt sich natürlich nicht davon abhalten, auf eigene Faust zu ermitteln, muss aber bald feststellen, dass er selbst zum engen Kreis der Verdächtigen zählt …
„Er würde anfangs natürlich der Hauptverdächtige sein, das war selbstverständlich. Deshalb musste er sie ablenken. Nur so konnte er Oleg vor der Lüge schützen, seinen jungen, reinen Glauben an die Liebe aufrechterhalten und ihn vor der Erkenntnis bewahren, dass er einen Mörder als Vorbild und Erzieher gehabt hatte. Er brauchte einen möglichen anderen Täter. Einen Blitzableiter. Einen anderen Schuldigen, der ans Kreuz genagelt werden konnte und sollte. Keinen Jesus, sondern einen Sünder, schlimmer als er selbst.“ (S. 388) 
In seinem zwölften Fall bekommt es Harry Hole mit einem alten Bekannten zu tun. Doch mehr als um die Jagd nach Svein Finne, mit dem er vor zwanzig Jahren seine Karriere bei der Polizei begonnen hatte, muss Harry sich mit sich selbst auseinandersetzen und herauszufinden versuchen, was in der Nacht, an die er sich beim besten Willen nicht erinnern kann und in der Rakel getötet worden ist, wirklich passiert ist. Auf dem sehr langen Weg bis zur Auflösung kommen wie bei Nesbø üblich etliche Verdächtige ins Spiel, werden viele an sich interessante Nebenplots eröffnet, die die Beziehungen der wichtigsten Beteiligten beleuchten. Vor allem wird aber beschrieben, wie Harry Hole immer mehr ins Abseits gedrängt wird, seine persönlichen Beziehungen neu definiert werden und sein eigenes Verhalten reflektiert, was ihn zu sehr drastischen Lösungen führt. Allerdings zieht sich der Weg bis zum dramatischen Finale immer wieder in die Länge, und der arg konstruierte Showdown auf einem Friedhof überzeugt nicht wirklich.
Jo Nesbø erweist sich in „Messer“ als wortgewandter Stilist, der seinen Figuren – allen voran seinem gebrochenen, aber charismatischen Antihelden Harry Hole – echtes Leben einzuhauchen versteht und seinen komplexen Kriminalplot mit immer wieder eingeschobenen philosophischen Betrachtungen - so zur Natur von Psychologie und Religion, zur Wahrnehmung von Menschen über ihren Besitz und nicht über das, was sie tun, und zur Persönlichkeit von Hipstern – tiefsinniger macht. An dem Elend, das Harry Holes Existenz durchzieht, scheiden sich allerdings ebenso die Geister wie an der zerfasert dargebotenen Geschichte, die nach der Identifizierung von Rakels Mörder nochmals unnötig in die Länge gezogen wird.
Leseprobe Jo Nesbo - "Messer"

Stephen King – „Jahreszeiten: Frühling & Sommer“

Dienstag, 27. August 2019

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.)
Ende August 1947 erfuhr der leitende Bankangestellte Andy Dufresne, dass seine Frau Linda mit dem Golfprofi Glenn Quentin eine Affäre hatte. Nach einem heftigen Streit und Lindas Wunsch nach einer Scheidung in Reno wurde das Liebespaar in Quentins Liebesnest erschossen aufgefunden. Die Jury sah es als erwiesen an, dass Dufresne seine Frau und ihren Liebhaber mit je vier Schüssen niederstreckte, nachdem er sich zwei Tage vorher in der Pfandleihe eine Waffe gekauft und eine hohe Lebensversicherung für sich und seine Frau abgeschlossen hatte, durch die er 50.000 Dollar bei einem Freispruch erhalten würde. Stattdessen wurde Andy, der stets seine Unschuld beteuert hat, im Alter von dreißig Jahren zu einer lebenslangen Haft in Shawshank verurteilt, wo er sich mit Red anfreundet, einem Mann, der wegen Mordes an seiner Frau einsitzt und für die Häftlinge alles Mögliche besorgt, Pralinen, Alkohol, Pornomagazine und Scherzartikel.
Andy fragt Red nach einem Gesteinshammer und Poliertüchern, mit denen er Steine bearbeiten kann, dann nach einem Poster mit Rita Hayworth, die über die Jahre anderen Pin-up-Girls wie Jane Mansfield und Raquel Welch weichen muss. Als Andy 1963 durch einen Mitgefangenen einen Hinweis darauf bekommt, dass seine Unschuld bewiesen werden könnte, macht ihm der Gefängnisdirektor Norton allerdings einen Strich durch die Rechnung, und Andy verfolgt ernsthafte Pläne für einen Ausbruch …
„Er hatte fünfhundert Dollar im Arsch stecken, als er reinkam, aber irgendwie hat der Kerl noch etwas anderes mit reingebracht. Vielleicht ein gesundes Selbstwertgefühl oder die Ahnung, dass er auf lange Sicht gewinnen würde … Vielleicht war es auch ein Gefühl der Freiheit, das ihn innerhalb dieser gottverdammten grauen Mauern nicht verließ. Er trug eine Art inneres Licht mit sich herum.“ (S. 50) 
Mit der vier Novellen umfassenden „Jahreszeiten“-Anthologie hat Stephen King 1982 den eindrucksvollen Beweis angetreten, dass er nicht einfach nur der erfolgreichste Horror-Schriftsteller aller Zeiten, sondern einfach ein guter Geschichtenerzähler ist. „Pin-up“ ist eine wunderbare Geschichte über Hoffnung und Freundschaft, und die 1994 durch Frank Darabont erfolgte Verfilmung unter dem Titel „Die Verurteilten“ zählt bis heute fraglos zu den besten Stephen-King-Verfilmungen überhaupt – ohne auch nur eine Spur von übersinnlichen Elementen in sich zu tragen. Stattdessen gibt sich King viel Mühe, den Gefängnisalltag in Shawshank, die Beziehungen der Insassen untereinander eindrücklich zu beschreiben. Am meisten Raum nehmen die Erinnerungen des Ich-Erzählers Red über Andy Dufresne ein, der sich mit seiner ernsten, unaufdringlichen Art nicht nur gegen die sexuellen Übergriffe der „Schwestern“ zur Wehr gesetzt hat, sondern auch die Bestände der Bibliothek aufgestockt den Wärtern bei ihren Steuererklärungen und Investitionsplänen ausgeholfen hat.
In „Der Musterschüler“ entdeckt der 13-jährige Todd Bowden, dass sein Nachbar Arthur Denker der gesuchte NS-Verbrecher Kurt Dussander ist. Nachdem er ihm eine Zeitlang hinterherspioniert und Fotos von dem ehemaligen Kommandanten des Vernichtungslagers Patin gemacht hat, stellt er ihn zuhause zur Rede und erpresst ihn dazu, ihm alles über die begangenen Verbrechen zu erzählen. Todd ist so fasziniert von den Erzählungen des alten Mannes, dass seine zuvor hervorragenden schulischen Leistungen darunter zu leiden beginnen. Die Beziehung zwischen Todd und Dussander entwickelt eine gefährliche Eigendynamik, denn beide beginnen unabhängig voneinander, Obdachlose zu töten … „Der Musterschüler“, 1998 von Bryan Singer verfilmt, fesselt vor allem durch die psychologische Spannung, die zwischen dem bislang unentdeckten Kriegsverbrecher und dem neugierigen Jungen über die Jahre entsteht, bis aus dem Jungen ein junger Mann wird, der durch die Erzählungen des Alten selbst zum Morden animiert wird. 

Stephen King – „Jahreszeiten: Herbst & Winter“

Montag, 26. August 2019

(Bastei Lübbe, 332 S., Tb.)
Vern Tessio, Teddy Duchamps, Gordie Lachance und Chris Chambers verbringen im Sommer 1960 ihre Ferien überwiegend in einem Baumhaus auf einem unbebauten Grundstück in Castle Rock, wo sie Blackjack mit niedrigen Einsätzen spielen und „Master Detective“-Mordgeschichten lesen. Doch die Ferienroutine wird auf aufregende Weise unterbrochen, als Vern eines Nachmittags völlig aufgelöst am Baumhaus eintrifft und seinen Freunden von dem Gespräche berichtet, die sein Bruder Billy mit dessen Freund Charlie Hogan geführt hat: Offensichtlich haben sie den vor drei Tagen im vierzig Meilen entfernten Chamberlain verschwundenen Junge Ray Brower im Wald bei den Bahngleisen an der Harrow Road gefunden und darüber beraten, wie sie sich nun verhalten sollen. Die vier Freunde wissen jedenfalls, was sie zu tun gedenken: Sie erzählen ihren Eltern, dass sie gemeinsam zelten wollen, und machen sich auf den Weg zu der vermeintlichen Leichenfundstelle. 
„Wir waren alle ganz verrückt danach, die Leiche des toten Jungen zu sehen – einfacher und ehrlicher kann ich es nicht ausdrücken. Ob sie nun ganz harmlos aussehen oder uns mit tausend scheußlichen Träumen den Schlaf rauben würde, war uns gleichgültig. Wir wollten die Leiche sehen. Langsam waren wir so weit, dass wir glaubten, wir hätten es verdient.“ (S. 157) 
Allerdings sind die vier Jungs nicht die einzigen, die nach Browers Leiche suchen, auch Billy und Charlie machen sich mit ihrem Wagen auf den Weg zurück zu ihrem Fund …
Als sich Stephen King nach der erfolgreichen Veröffentlichung seines ersten Romans „Carrie“ mit seinem Redakteur Bill Thompson über ein mögliches zweites Buch sprach, hatte King bereits zwei Manuskripte fertig, von denen „Brennen muss Salem“ als nächster Roman erscheinen sollte – auch wenn Stephen King damit möglicherweise als Horror-Schriftsteller abgestempelt sein würde. Mit seinen nachfolgenden Romanen „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Feuerkind“ und „Cujo“ bewies King schließlich, dass ein Schriftsteller auch nur mit Horrorgeschichten sein Geld verdienen kann, allerdings wollte er auch demonstrieren, dass er nicht nur solche Geschichten schreiben kann.
Mit „Jahreszeiten“ veröffentlichte King 1982 vier Novellen, mit denen der Autor bewies, dass er einfach ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, der nicht auf übersinnliche Elemente zurückgreifen muss, um Spannung zu erzeugen. Aus dem ursprünglichen Paperbackband „Frühling, Sommer, Herbst & Tod“ wurden später zwei Taschenbücher, von denen „Die Leiche“ und „Atemtechnik“ im zweiten Band Verwendung fanden. „Die Leiche“ stellt eine wunderbare Coming-of-Age-Geschichte des Ich-Erzählers Gordie Lachance dar, der seine Erinnerungen an den erschreckenden Leichenfund mit zwei Geschichten garniert, die er nicht nur seinen Freunden unterwegs zum Besten gibt, sondern auch Zeugnis von seinen frühen Schriftsteller-Bemühungen ablegen. Vor allem beweist King mit dieser 1986 auch wunderbar von Rob Reiner verfilmten Geschichte, wie einfühlsam er sich in die Befindlichkeiten von Jungen in den 1960er Jahren hineinversetzen kann, um ihre viel zu frühe Begegnung mit dem Tod zu thematisieren.
Etwas drastischer geht es in der nur knapp 100 Seiten umfassenden Geschichte „Atemtechnik“ zu, in der ein New Yorker Anwalt erzählt, wie er in einen Herrenclub aufgenommen wird, in dem Männer sich zu lockeren Gesprächen treffen und vor allem am Donnerstag vor dem Weihnachtsabend unheimliche Geschichten erzählen. In diesem Fall gibt der Ich-Erzähler die Geschichte wieder, in der der Arzt Emlyn McCarron davon erzählt, wie er eine junge Frau auf die Geburt ihres Kindes vorbereitete, wobei er ihr eine besondere Atemtechnik beibringt, die später tatsächlich bei der ihrer Entbindung eine entscheidende Rolle spielen wird …
Auch mit „Atemtechnik“ demonstriert King, wie er sein Publikum im Nu zu fesseln versteht, und das überraschende wie erschreckende Finale bleibt dem Leser lange im Gedächtnis, auch wenn die Story gegenüber den anderen drei hervorragenden Novellen der Gesamt-Anthologie abfällt.

Stephen King/Peter Straub – „Der Talisman“

Donnerstag, 22. August 2019

(Heyne, 714 S., Pb.)
Seit der zwölfjährige Halbwaise Jack Sawyer mit seiner Mutter, der Schauspielerin und „B-Movie-Königin der 1960er Jahre“ Lily Cavanaugh, zunächst aus dem Haus am Rodeo Drive in Los Angeles in eine Mietwohnung nach New York und von dort aus in einen stillen Badeort an der Küste von New Hampshire geflüchtet ist, sind Ordnung und Regelmäßigkeit aus seinem Leben verschwunden. Warum seine Mutter auf der Flucht zu sein scheint, kann Jack nur vermuten. Offensichtlich hat seine sterbenskranke Mutter Probleme mit Morgan Sloat, dem ehemaligen Geschäftspartner seines bei einem Jagdunfall verstorbenen Vaters. Die Zeit im heruntergekommenen Hotel Alhambra Inn and Gardens versucht sich der Junge mit Ausflügen in den nahegelegenen Freizeitpark Arcadia Funworld zu vertreiben, wo sein schwarzer Freund Speedy Parker arbeitet. Durch ihn wird Jack mit der mystischen Welt der Territorien jenseits der uns vertrauten Realität bekannt gemacht und erfährt von den sogenannten Twinnern, Doppelgängern der Menschen aus unserer Welt.
So ist die über die Territorien herrschende Königin Laura DeLoessian die Twinnerin von Jacks Mutter und liegt ebenfalls im Sterben. Jack obliegt es, in den Westen zu reisen, um dort einen Talisman zu finden, mit dem nicht nur verhindert werden kann, dass Morgan von Orris, Twinner von Morgan Sloat, die Macht über die Territorien an sich reißt, sondern der auch das Leben seiner Mutter/der Königin retten soll. Zunächst hilft noch eine Flasche mit einem widerlich schmeckendem Gesöff Jack dabei, zwischen den Welten zu „flippen“, später reichen Gedanken daran aus. Unterwegs hat Jack aber einige Gefahren zu bestehen, denn Morgan von Orris und seine Schergen, vor allem der bösartige Sunlight Gardener, haben längst mitbekommen, dass ausgerechnet Jack Sawyer angetreten ist, seine diabolischen Pläne zu vereiteln. Dabei bekommt er unerwartete Unterstützung von einem friedfertigen, tapferen Wolf und seinem besten Freund Richard, dem realitätsverhafteten Sohn von Morgan Sloat …
„Jack war sich vage bewusst, dass er mehr versucht hatte, als nur seiner Mutter das Leben zu retten; dass er von Anfang an versucht hatte, etwas Größeres zu bewerkstelligen. Er hatte versucht, ein gutes Werk zu tun, und ihm war gleichermaßen vage bewusst, dass ein derart verrücktes Unterfangen immer Zähigkeit erzeugte.“ (S. 560) 
Als die beiden bekannten Horror-Autoren Stephen King und Peter Straub Ende der 1970er Jahre den Plan entwickelten, gemeinsam einen Roman zu schreiben, hatte sich King durch seine Bestseller „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und „The Stand“ bereits den Titel „King of Horror“ erworben, Peter Straub begann sich mit „Geisterstunde“ und „Schattenland“ einen Namen im Genre zu machen. Allerdings verzögerte sich das Projekt bis in die frühen 1980er Jahre. Die beiden Autoren wechselten sich beim Verfassen der einzelnen Kapitel ab, schrieben an den jeweiligen Anfängen und Enden aber gemeinsam, überarbeiteten die Kapitel des jeweils anderen und waren so bemüht, einen einheitlichen, neuen Stil zu kreieren.
Wie die einleitenden und abschließenden Zitate bereits nahelegen, ist das Fantasy-Epos vor allem von Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ beeinflusst, fraglos aber auch von klassischen Heldenepen, in denen Jungen durch eine abenteuerliche Mission zum Mann heranreifen. Die Geschichte von Freundschaft, Mut, Verrat, Angst und Tod ist weder neu noch originell, bis zum Ende sogar erschreckend vorhersehbar. Nervig ist vor allem die ausufernde Episode, in der Jack von Wolf begleitet wird, und auch sonst wartet „Der Talisman“ mit einigen unnötigen Längen auf.
Für Fantasy-Freunde ist „Der Talisman“ eine nicht unbedingt zwingende Empfehlung, Stephen Kings Zyklus um den „Dunklen Turm“ ist da weit packender und interessanter gelungen. Nichtsdestotrotz hat sich Steven Spielberg frühzeitig die Filmrechte gesichert, und nachdem das Projekt schon fast abgehakt zu sein schien, soll nach dem Erfolg von „Es“ nun Fernsehserien-Regisseur Mike Barker („The Handmaid’s Tale“, „Broadchurch“, „Fargo“) die längst überfällige Adaption von „Der Talisman“ übernehmen, dem King und Straub übrigens mit „Das schwarze Haus“ noch eine Fortsetzung angedeihen ließen.
Leseprobe Stephen King & Peter Straub - "Der Talisman"

Grégoire Delacourt – „Das Leuchten in mir“

Sonntag, 18. August 2019

(Atlantik, 266 S., Tb.)
Emma ist noch nicht ganz vierzig und seit achtzehn Jahren glücklich mit Olivier verheiratet, mit dem sie die drei wunderbaren Kinder Louis, Léa und Manon aufgezogen hat. Dass ihr trotzdem etwas in ihrem wohlgeordneten Leben in dem großen weißen Haus am Golfplatz von Bondues nahe Lille zu fehlen scheint, merkt sie erst beim Besuch in der Brasserie André, wo sie die Kulisse während des Hochbetriebs zur Mittagszeit an die Filme des von ihr so geschätzten Claude Sautet erinnert. Hier verliert sich ihr Blick auf dem Gesicht eines Mannes, der nicht merkt, dass er von einer Frau angesehen, augenblicklich sogar begehrt wird.
Als sie beobachtet, wie das nackte, ehrliche Gesicht des Mannes hinter einer weißen Baumwollserviette hervorkommt, ist es vorbei mit der Ruhe und dem Glück ihres bisherigen Lebens, ist ihr Dasein urplötzlich vom Feuer des Verlangens erfüllt.
An diesem ersten Tag hat er sie nicht mal bemerkt, später finden sich ihre Blicke, doch es vergehen ganze drei Wochen, bis sich Emma an den gerade freigewordenen Nachbartisch des Mannes setzt und sie sich einander vorstellen. Emma erfährt, dass das Objekt ihrer Begierde Alexandre heißt, ebenfalls verheiratet ist, aber keine Kinder hat – und seit drei Wochen an sie denkt. Beide sind sich sicher, ihr bisheriges Leben aufzugeben, zusammen wegzugehen, miteinander etwas Neues zu beginnen. Emmas beste Freundin Sophie, aber auch ihre Mutter sind entsetzt, doch Emma ist sich im Klaren, dass sie keine andere Wahl hat …
„Ich glaube, dass man wegen einer kleinen inneren Leere in die Liebe stolpert. Wegen eines kaum wahrnehmbaren Freiraums. Eines nie befriedigten Hungers. Das zufällige, mal charmante, mal brutale Auftauchen der Verheißung macht diese Kluft spürbar, lässt unsere Sehnsucht aufscheinen und stellt die als sicher und endgültig angesehenen Dinge wie Heirat, Treue, Mutterschaft in Frage; dieses unerwartete, geradezu mystische Auftauchen offenbart uns sogleich uns selbst, erschreckt uns auch, verleiht uns Flügel, schürt unseren Appetit, unseren Lebenshunger.“ (S. 21f.) 
Grégoire Delacourt („Der Dichter der Familie“, „Die Frau, die nicht alterte“) erzählt aus der Ich-Perspektive seiner Protagonistin eine ebenso leidenschaftliche und sinnliche wie dramatische und tragische Liebesgeschichte. Den Vernünftigen – die hier durch die Stimmen von Emmas Freundin Sophie, vor allem aber durch die ihrer Mutter vertreten sind – scheint Emmas Verhalten unmöglich und sogar schändlich. Wie kann eine erwachsene Frau mit einem – auch noch schwerkranken - Mann und drei jungen Kindern aus einer Laune heraus alles hinter sich lassen, ihren Liebsten solche Schmerzen bereiten?
Delacourt gelingt es, dieses gemeinhin unverständliche und unverzeihliche Gebaren seiner Anti-Heldin jedoch nachvollziehbar zu beschreiben. Emma ist durchaus bewusst, was sie ihrer Familie antut, doch ebenso deutlich ist ihr auch, dass es zu ihrer Entscheidung keine Alternative gibt, dass sie die plötzliche Leere, die sie entdeckt, mit einer neuen Liebe füllen muss. Interessant wird der Roman durch die unerwartete Wendung der Geschichte zur Mitte hin und die Auseinandersetzung mit Emmas Erinnerungen sowohl an ihren Mann als auch an den Geliebten, aber nun wirkt der Plot doch sehr dramatisch zugespitzt und konstruiert.
Auf der anderen Seite betonen die dramatischen Umstände, denen sich Emma auf einmal ausgesetzt sieht, das ganze Spektrum menschlicher Empfindungen, die Zärtlichkeit, Leidenschaft, Trauer, Wut, das große Unbehagen angesichts einer so weitreichenden Entscheidung. Es geht schließlich um das Verlassen und Verlassenwerden, Krankheit, Einsamkeit, Angst und Tod, die Kraft der Erinnerung. All das vereint Delacourt in seinem recht kurzen Roman, der weniger von den Handlungen als Empfindungen getragen wird und auf unvergleichlich poetische Weise die wilde Achterbahnfahrt der Gefühle beschreibt, die Emma durchlebt. Das ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack, zeigt aber eindringlich auf, wie unvorhersehbar sich das Leben entwickeln kann.

Lee Child – (Jack Reacher: 10) „Way Out“

Samstag, 10. August 2019

(Blanvalet, 448 S., HC)
Jack Reacher, ehemals hochdekorierter Ermittler bei der Militärpolizei ohne festen Wohnsitz, fahrbaren Untersatz und mit gerade soviel Kleidung ausgestattet, wie er am Leib tragen kann, weiß guten Kaffee zu schätzen. Aus diesem Grund bricht er mit seiner eigenen Regel, sich innerhalb von 24 Stunden niemals am selben Ort blicken zu lassen, und genießt an zwei aufeinanderfolgenden Abenden einen wunderbaren Espresso in einem Café auf der Westseite der Sixth Avenue in New York City. Am ersten Abend bemerkt er einen Mann, der zielstrebig auf eine viertürige Mercedes-Limousine im Parkverbot zugeht, in den Wagen hineinsteigt und davonfährt. Als am darauffolgenden Abend ein Ex-SAS-Agent namens John Gregory auf ihn zukommt und sich nach Reachers Beobachtungen erkundigt, lernt Reacher wenig später Edward Lane kennen, Geschäftsführer von Operational Security Consultants. Von ihm erfährt Reacher, dass seine Frau Kate und ihre Tochter Jade vor über 24 Stunden entführt worden ist und Reacher die Abholung des Lösegeldes in Höhe von einer Million Dollar beobachtet habe.
Lane ist von Reachers Beobachtungsgabe und offensichtlichen Ermittler-Qualitäten beeindruckt und engagiert ihn, vor allem die Entführten und natürlich die Entführer aufzuspüren. Wie Reacher erfährt, ist bereits Lanes erste Frau Anne vor fünf Jahren entführt und getötet worden. Reacher soll eine Million Dollar als Erfolgsprämie erhalten, doch nimmt er den Job weniger wegen Lane oder der Belohnung an, sondern wegen der wunderschönen Frau und dem Mädchen, die er auf einem eindrucksvollen Portrait gesehen hat. Als Reacher mit seiner Arbeit beginnt, lernt er die Schwester der verstorbenen Anne Lane kennen, Patti Joseph, die Reacher gegenüber behauptet, dass Lane Anne ermorden ließ, dafür aber keine Beweise habe, weshalb sie mit dem Polizisten Brewer und der Privatdetektivin Laura Pauling Lane beobachtet.
Pauling war als FBI-Agentin damals mit der Entführung Anne Lanes befasst und gibt sich nach wie vor die Schuld für den Tod der Frau. Als Reacher mit Pauling die Suche nach Kate Lane und ihrer Tochter beginnt, kommen sie sehr schnell dahinter, dass es sich bei den Entführern um einen Insider handeln muss. Doch Reacher und Pauling sind sich unsicher, ob Lane nicht auch diesmal eine Entführung vortäuscht, um seine Frau ermorden zu lassen …
„Er mochte Termine. Er mochte es, ein Problem kurzfristig lösen zu müssen. Er mochte es, in ruhiger Umgebung arbeiten zu können. Und er mochte es, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der wie er dachte. Deshalb bezweifelte er anfangs nicht im Geringsten, dass Pauling und er es schaffen würden, den Fall bis zum nächsten Morgen zu lösen.
Dieses Gefühl hielt ungefähr eine halbe Stunde lang an.“ (S. 261) 
Es ist ein längst bewährtes Konzept, mit Lee Child seinen Helden Jack Reacher quasi zufällig in brisante Situationen manövriert, in die kein normal Sterblicher geraten würde. Seit dem Ende seiner Militärzeit vor sieben Jahren lässt sich Reacher einfach durch die USA treiben, und der Leser erfährt weder, wie Reacher zu Beginn einer Romanhandlung da gelandet ist, wo die Probleme, die nur Reacher lösen kann, ihren Anfang nehmen, noch wohin er nach Erledigung seiner Mission verschwindet. Der Autor, der während seiner langjährigen Zeit beim Fernsehen gelernt hat, kurz und prägnant zu schreiben, lässt Reacher und der Leserschaft nicht viel Zeit für eine Einführung. Stattdessen wird der hochintelligente Ex-Militärcop gleich in einen Entführungsfall verwickelt, der durch seine Verbindung zum Söldner-Milieu schnell eine eigene Dynamik entwickelt und bei dem nichts so zu sein scheint, wie Entführungen normalerweise verlaufen. Schließlich lernt Reacher während seiner Ermittlungen einige Leute kennen, die ihn auf die besonderen Umstände hinweisen, die bei der Entführung von Lanes erster Frau zu deren Tod geführt haben, so dass Reacher die berechtigte Sorge umtreibt, dass auch Kate und Jade ein solches Schicksal beschieden sein könnte. Lee Child gelingt es, den Plot von Beginn an packenden Plot mit genügend Wendungen auszustatten, dass lange Zeit unklar bleibt, wohin die Reise geht, und selbst Reacher gelangt zu fatalen Fehlschlüssen, die er erst in einem dann doch wieder vorhersehbaren Showdown geradebiegen kann. Mit Laura Pauling bekommt Reacher auch noch eine attraktive Weggefährtin zur Seite gestellt, mit der natürlich auch ins Bett steigt und die ihm als Stichwortgeber für die weitere Vorgehensweise bei dem Fall dienen darf. Außerdem wird einerseits die Praxis thematisiert, wie das Pentagon private Sicherheitsorganisationen wie hier die OSC engagiert, um weltweit in Krisengebieten zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen, wobei für die Söldner nur das Geld zählt, nicht die moralische Rechtfertigkeit für die Mission.
Dagegen wird Reacher nach wie vor von einem starken Gerechtigkeitsbedürfnis geleitet, weshalb es ihm hier nicht schwerfällt, die Seiten zu wechseln, sobald er erkennt, auf welcher Seite die Bösen stehen. Er macht schließlich ganz zu Anfang schon klar, dass es ihm um Kate und Jade geht, nicht um seinen Auftraggeber oder die Belohnung.
„Way Out“ zählt vielleicht nicht zu den stärksten Romanen der Reacher-Reihe, sorgt mit interessanten Wendungen und knallharter Action aber für den gewohnt kurzweiligen Spannungs-Faktor und Lesegenuss.
Leseprobe Lee Child - "Way Out"

Ian McEwan – „Solar“

Donnerstag, 1. August 2019

(Diogenes, 405 S., HC)
Bereits in seinen frühen akademischen Jahren wurde Michael Beard für seine Arbeit zum besseren Verständnis der komplexen Interaktionen zwischen Materie und elektromagnetischer Strahlung der Nobelpreis für Physik verliehen. Mittlerweile ist der Naturwissenschaftler bereits 53 Jahre alt und mit seiner kleinen und dicken Statur keine wirklich attraktive Erscheinung. Dennoch hat er fünfmal geheiratet und es innerhalb der fünf Ehen mit Maisie, Ruth, Eleanor, Karen und Patrice auf elf Affären gebracht.
Momentan zahlt es ihm Patrice heim, indem sie eine Affäre mit dem im Vergleich zu Beard zwanzig Zentimeter größeren und zwanzig Jahre jüngeren Bauhandwerker Rodney Tarpin unterhält. Während er noch immer von seinem akademischen Ruhm zehrt, hat Beard seit seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis kaum Nennenswertes hervorgebracht. Immerhin schmückt sein Name Briefbögen, eine Vortragsreihe über Quantenfeldtheorie in der Royal Geographic Society und Diskussionsrunden im Radio und Fernsehen. Schließlich leitet er ein Institut für die Erforschung erneuerbarer Energien. Doch erst als er einen weiteren von Patrice Geliebten, ausgerechnet seinen eigenen Mitarbeiter Tom Aldous, im eigenen Haus tötet und den Mord Tarpin anhängen kann, der dafür in den Knast wandert, scheint Beards Karriere wieder an Schwung zu gewinnen. Denn bevor Aldous unglücklich mit dem Kopf an die Ecke des Wohnzimmertisches stößt, hat er seinen Mentor auf eine Mappe mit seinen Arbeiten zur Quantenkohärenz in der Photosynthese hingewiesen. Da niemand sonst von diesen Arbeiten weiß, macht sich Beard die Erkenntnisse des Toten zunutze …
„Er fand, er sei ein Durchschnittstyp, nicht grausamer, nicht besser oder schlechter als die meisten. Gewiss war er manchmal, wenn er sich anders nicht zu helfen wusste, gierig, egoistisch, berechnend und verlogen, aber das waren alle anderen auch.“ (S. 244) 
Mit seinem 2010 veröffentlichten Roman „Solar“ hat sich der britische Bestseller-Autor Ian McEwan („Am Strand“, „Abbitte“) vordergründig des globalen Klimawandels und der Suche nach erneuerbaren Energien gewidmet, im Grunde genommen zeichnet er aber das umfassende Portrait eines ganz und gar unsympathischen Mannes, der seinen in den Endzwanzigern erworbenen akademischen Ruhm ausnutzt, um seine Pfründe zu stopfen.
Wie skrupellos er seine eigenen Interessen verfolgt, lässt sich nicht nur an der Vielzahl der Ehen und Affären ablesen, die er ohne jede Verpflichtungen eingeht, sondern auch im Berufsleben. Dabei wird leider nicht deutlich, was die Frauen und die Wissenschaftswelt an Beard eigentlich so attraktiv finden. So scheint es McEwan gar nicht so sehr darum zu gehen, einen Gedankenanstoß zum Kampf gegen die Erderwärmung zu vermitteln oder das psychologisch tiefgründige Portrait eines außergewöhnlichen Menschen zu präsentieren.
Die lakonische und schelmenhaft Art, wie er Beard beschreibt, legt eher nahe, dass Beard als Synonym für das Problem der Menschheit an sich steht, der sich selbst im Wege steht, weil er nur an sich denkt und nicht das große Ganze im Sinn hat. Das ist vor allem im ersten der drei Teile durchaus unterhaltsam geschrieben, verliert aber zum Ende hin mit seinem vorhersehbaren Clou an Überzeugungskraft. Dafür ist „Solar“ fraglos das bislang witzigste Werk im Schaffen des Briten geworden.
Leseprobe Ian McEwan - "Solar"

Dan Simmons – „Kinder der Nacht“

Sonntag, 28. Juli 2019

(Heyne, 442 S., Jumbo)
Eigentlich ist die amerikanische Wissenschaftlerin und Ärztin Dr. Kate Neuman nur im Rahmen einer „kurzen Unterrichtsreise“ nach Bukarest gereist, doch mittlerweile hat sie schon sechs nahezu schlaflose Wochen in der Kinderstation eines Krankenhauses verbracht und mit wachsender Wut und Frustration feststellen müssen, dass aufgrund von Fahrlässigkeit immer wieder Babys sterben und andere, die überleben, an amerikanische Paare verkauft werden.
Nach einem besonders niederschmetternden Tag wird die Spezialistin vom Centers for Disease Control aus Boulder von Pater O’Rourke nach Hause begleitet. Der Kriegs-Veteran, der bei einer Bombenfalle in einem der Tunnel in Vietnam einen Unterschenkel verloren hat, zeigt ihr auf dem Weg, wie Amerikaner nicht mal eines der offiziellen Waisenkinder adoptieren, sondern ein Baby von einem rumänischen Paar zu kaufen versuchen.
Das Schicksal eines der Waisenkinder in der Isolierstation des Krankenhauses rührt die Ärztin besonders an. Ein ausgesetzter, namenloser und völlig ausgezehrter Junge spricht zwar auf Transfusionen an, wird aber immer wieder von einem Defekt des Immunsystems verzehrt, den Neuman weder als AIDS noch Anämie, Hepatitis oder eine andere blutbedingte Immunstörung identifizieren kann. Sie beschließt, den sieben Monate alten Jungen zu adoptieren, nennt ihn Joshua und nimmt ihn mit in ihre Heimat. Dort wird während einer gründlichen Untersuchung in Joshuas Magen ein Gebilde entdeckt, das offensichtlich in der Lage ist, Blut zu absorbieren.
Tatsächlich regeneriert sich Joshuas Gesundheit jeweils sehr schnell nach Bluttransfusionen. Doch als Neuman mit einem Team von weiteren Spezialisten forscht, ob Joshuas einzigartiger Organismus Hoffnung gibt, ein Heilmittel gegen AIDS, Krebs und andere Immunkrankheiten zu finden, wird Joshua entführt, ihr Ex-Mann Tom und die Mitbewohnerin Julie getötet, das Labor zerstört und ihre Kollegin Chandra ebenfalls ermordet. Zusammen mit Pater O’Rourke macht sie sich in Rumänien auf die Suche nach Joshua und kommt der Planung einer seltsamen Zeremonie auf die Spur, bei der Joshua offensichtlich eine zentrale Rolle spielt …
„Sie war eine illegal Eingereiste in einem feindlichen Land, wo fast unvorstellbare Mittel gegen sie ins Feld geworfen wurden, und die Chancen, Joshua zu finden, waren fast auf Null geschrumpft. Und selbst wenn sie das Kind gefunden hätte, so hatte sie keinen Plan gemacht, abgesehen davon, mit ihm zur Grenze oder zur amerikanischen Botschaft zu fliehen. Vorerst aber war sie von ihren beiden einzigen Freunden im ganzen Land getrennt worden, einem amerikanischen Priester und einem rumänischen Medizinstudenten, und bei keinem war sie sicher, ob es sich tatsächlich um einen Freund handelte.“ (S. 291f.) 
Nach „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“ und „Sommer der Nacht“ war „Kinder der Nacht“ 1993 der vierte Horror-Roman des amerikanischen Autors Dan Simmons, der sowohl für seine Fantasy- als Science-Fiction-Werke mit Auszeichnungen wie dem World Fantasy Award, Bram Stoker Award und Locus Award geehrt worden ist – eben auch für „Kinder der Nacht“.
Hier nähert sich Simmons auf ungewöhnliche Weise dem Mythos um die Vampire und Graf Dracula aka Vlad Tepes an, indem er nicht auf schaurig-romantische Vorstellungen zurückgreift, die sich seit Bram Stokers berühmten und vielfach verfilmten Roman „Dracula“ ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, sondern geht das Thema aus einer wissenschaftlichen Perspektive an, indem er mit Dr. Kate Neuman eine Protagonistin einsetzt, die durch ihre ebenso empathische wie aufgeklärte Art eine starke Identifikationsfigur darstellt.
Simmons gelingt es zunächst sehr gut, die politische und gesellschaftliche Situation in Rumänien seit dem Sturz von Ceaușescu und der Revolution im Jahre 1989 zu beschreiben, ebenso die desolaten Zustände in den Krankenhäusern. Dem Blutdurst der Vampire nähert sich der Autor extrem wissenschaftlich und auch etwas zu ausschweifend an, so dass wirklich jede romantische Vorstellung vom ewigen Leben und den damit einhergehenden erotischen Konnotationen im Nu verfliegt. In einer Nebenhandlung darf Vlad Tepes seine „Träume von Blut und Eisen“ wiedergeben, die einen Einblick in das Leben der historischen Figur geben, die das Vorbild für Graf Dracula abgeben durfte.
 So interessant der ungewöhnliche Ansatz von „Kinder der Nacht“ ausfällt, wirkt die Dramaturgie des Romans oft holperig, der Wechsel zwischen Exkursen in die Geschichte Rumäniens und des blutdürstenden Grafen, der allzu detaillierten wissenschaftlichen Aufarbeitung des Vampir-Mythos und der zunehmend actionreichen Suche nach Joshua nicht immer elegant. Zwar bietet der Roman durchaus spannende Horror-Thriller-Unterhaltung, erreicht aber nicht die Intensität von Simmons‘ früheren Genre-Beiträgen.
Leseprobe Dan Simmons - "Kinder der Nacht"

John Grisham – „Die Kammer“

Freitag, 26. Juli 2019

(Heyne, 672 S., Tb.)
Wegen einer Unmenge an Zivilklagen, die die Kanzlei des jüdischen Rechtsanwalts Marvin B. Kramer seit 1965 wegen diskriminierender Wahlpraktiken gegen lokale Amtsträger in Mississippi angestrengt hat, ist dieser auf der Liste zu verfolgender Juden des Ku-Klux-Klans gelandet. Jeremiah Dogan, Imperial Wizard und Anführer des Klans in Mississippi, plante im Frühjahr 1967, Kramers Büro in die Luft zu sprengen, und engagierte dafür den Klansmann Sam Cayall aus Clanton, Mississippi, sowie den jungen Sprengstoffexperten Rollie Wedge, der für den Anschlag erstmals mit einem Zeitzünder arbeitete. Die Explosion fand allerdings nicht wie geplant am frühen Morgen statt, sondern erst, als Kramer mit seinen beiden fünfjährigen Zwillingssöhnen Josh und John in der Kanzlei eingetroffen war. Während die Kinder bei der Explosion ums Leben kamen, überlebte Kramer zwar den Anschlag, büßte aber seine Unterschenkel ein, 1971 beging er Selbstmord.
Cayall wurde eher zufällig von einer Polizeistreife verhaftet und mit dem Anschlag in Verbindung gebracht. Der von Dogan beauftragte Klan-Anwalt Clovis Brazelton konnte zwar in mehreren Prozessen keinen Freispruch für seinen Mandanten erwirken, aber Cayall durfte bis 1980 in Freiheit leben. Erst als Jerry Dogan ins Visier des FBI geriet und für einen Deal Cayall wegen des Attentats an Kramer ans Messer lieferte, wurde Cayall wieder festgenommen und wegen Dogans Aussage 1981 wegen vorsätzlichen Doppelmords und eines Mordversuchs für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Nachdem verschiedene Anwälte von der Kanzlei Kravitz & Bane den Fall pro bono betreut hatten und Cayall 1990 der Kanzlei ihr Mandat entzogen hatte, versucht der junge Rechtsanwalt Adam Hall den Fall zu übernehmen. Er ist erst seit einem Dreivierteljahr bei Kravitz & Bane, hat bei seiner Einstellung allerdings verschwiegen, dass er der Enkel von Sam Cayall ist. Tatsächlich gelingt es Adam, seinen Großvater davon zu überzeugen, sich von ihm vertreten zu lassen, nachdem er ihn im Todestrakt von Parchman besucht hat.
Da das Gericht des Staates Mississippi den Hinrichtungstermin für den 8. August 1990 bestätigt, bleibt Adam nicht viel Zeit, seinen Großvater vor der Gaskammer zu retten. Während er bei seiner alkoholsüchtigen Tante Lee Booth in Memphis wohnt, arbeitet Adam nicht nur an verschiedenen Möglichkeiten für neue Anträge und Eingaben bei Gericht, um einen Aufschub der Vollstreckung des Todesurteils oder sogar eine Begnadigung bei Gouverneur David McAllister zu erwirken, sondern auch die Identität des mutmaßlichen Komplizen in Erfahrung zu bringen.
Vor allem erhält Adam durch Lee und Sam tiefe, verstörende Einblicke in die dunkle Vergangenheit der Cayall-Familiengeschichte. Doch die Möglichkeiten werden zunehmend begrenzter, nachdem ein Gericht nach dem anderen Sams Berufungen abschmettert.
„Adam war plötzlich nervös. Er hatte Dutzende Fälle von zum Tode Verurteilten gelesen, bei denen die Anwälte in letzter Minute Hebel in Bewegung setzten, die sie zuvor nie angerührt hatten, und Richter dazu brachten, sich noch einmal eine ganz neue Darstellung des Falles anzuhören. Die einschlägige Literatur war voll von Geschichten über juristische Möglichkeiten, die unentdeckt und ungenutzt blieben, bis ein anderer Anwalt mit frischem Blick die Arena betrat und einen Aufschub bewirkte. (…) Sam hatte Glück gehabt. Obwohl Sam die Anwälte von Kravitz & Bane verabscheute, hatten sie ihn exzellent vertreten. Jetzt war nichts mehr übrig, als ein paar verzweifelte Versuche, Griffe nach dem letzten Strohhalm.“ (S. 372f.) 
Nach seinen ersten, allesamt auch erfolgreich verfilmten Bestsellern „Die Jury“, „Die Firma“, „Die Akte“ und „Der Klient“ legte John Grisham 1994 mit „Die Kammer“ sein bis dato eindringlichstes Werk vor, das nicht nur ein flammendes Plädoyer gegen die Todesstrafe darstellt, sondern auch tiefe Einblicke in eine Familiengeschichte gewährt, die maßgeblich durch die diskriminierende Herrschaft des Ku-Klux-Klans geprägt worden ist. Grisham nimmt sich für alle Bestandteile seines umfassenden Plots viel Zeit. Das beginnt mit der ausführlichen Beschreibung der Vorbereitungen und Ausführung des Attentats auf die Kanzlei von Marvin B. Kramer und setzt sich vor allem in der detaillierten Schilderung der juristischen Angelegenheiten fort, mit denen alle am Prozess Beteiligten betraut werden. Die eindringlichsten Eindrücke hinterlässt allerdings die Schilderung des Alltags im Todestrakt, die eintönige Abfolge von meist sechzehn Stunden Schlaf, schlechtem Gefängnisessen, einer Stunde Aufenthalt im Freien und einigen wenigen Besuchen.
Aber auch die Familiengeschichte, die der junge Adam sowohl durch seine Tante Lee als auch seinen Großvater Sam zu hören bekommt, macht deutlich, wie sehr der zum Tode Verurteilte auch Opfer seiner familiären Wurzeln ist, wie sehr sein eigenes Handeln von den Klan-Aktivitäten seines Vaters geprägt worden ist. Die Spannung erzielt der Roman natürlich aus der Frage, ob es Adam gelingt, noch in letzter Minute etwas für seinen Großvater zu bewirken, und sei es auch nur die Umwandlung der Vollstreckung durch Gas in einer durch eine tödliche Injektion, was viele Bundesstaaten ohnehin schon praktizieren, weil der Tod in der Gaskammer als sehr qualvoll angesehen wird.
Doch auch die Wandlung des rassistischen Verurteilten in ein menschliches Wesen, das seine Taten zutiefst bereut, macht „Die Kammer“ äußerst lesenswert. Grisham versteht es nicht nur, die juristischen Prozesse verständlich aufzuzeigen, die dem jungen Anwalt zur Verfügung stehen, sondern auch die politischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen der Ku-Klux-Klan seine Macht entwickeln konnte und wieder einbüßen musste.
1996 wurde auch „Die Kammer“ verfilmt, diesmal unter der Regie von James Foley mit Chris O’Donnell als Adam, Gene Hackman als Sam Cayall und Faye Dunaway als Adams Tante Lee in den Hauptrollen.
Leseprobe John Grisham - "Die Kammer"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 6) „Schwarze Engel“

Samstag, 20. Juli 2019

(Heyne, 416 S., HC)
Mitten in der Nacht erhält Harry Bosch, Detective beim Morddezernat der Hollywood Division des LAPD, einen Anruf von Deputy Chief Irvin Irving, der Bosch für einen Sondereinsatz zur Bergstation Angels Flight beordert, was eigentlich außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Hollywood Division liegt. Doch Bosch wird schnell klar, warum ihm der Fall zugetragen wurde: In einer der beiden Kabinen, die zur Personenbeförderung zwischen Downtown und Bunker Hill dient, wurde der berühmt-berüchtigte schwarze Bürgerrechtsanwalt Howard Elias ermordet aufgefunden.
Elias hat sich durch mehrere Anklagen gegen die Polizei von Los Angeles wegen Amtsmissbrauchs, Brutalität und rassistischen Übergriffen einen Namen gemacht und arbeitete gerade an einem Fall, bei dem sein Mandant Michael Harris der Polizei diverser Vergehen beschuldigt, u.a. dass ihm mit einem Bleistift der Marke Black Warrior das Trommelfell durchstochen worden sei, weshalb in der Presse nur vom „Black Warrior“-Fall die Rede ist.
Da angesichts der Brisanz des Falles die ganze Polizei unter öffentlicher Beobachtung steht und mit nach den Krawallen von 1992 und dem O.J.-Simpson-Prozess mit neuen Ausschreitungen gerechnet werden muss, gründet Chief Irving eine Sondereinheit, der nicht nur Bosch mit seinen Leuten Jerry Edgar und Kizmin Riders angehören, sondern auch der von Bosch verhassten Detective Chastain von der Internen Dienstaufsicht, der die interne Überprüfung der Michael-Harris-Beschwerde geleitet hatte. Die Ermittlungen verlaufen entsprechend holperig. Zunächst scheinen sich alle gegen Michael Harris vorgebrachten Beweise, dass er die elfjährige Tochter des Autozaren Kincaid ermordet haben soll, zu erhärten, doch bei näherer Durchsicht der Unterlagen zu dem Mordprozess stößt Bosch auf Hinweise zur Kinderpornographie, in die ausgerechnet Kincaid selbst verwickelt zu sein scheint. 
„Jeder noch so kleine Fehler konnte zu einer Katastrophe führen – für das Verfahren, für die Polizei, für Karrieren. Er fragte sich, ob Irving sich all dessen bewusst gewesen war, als er den Fall Boschs Team zugeteilt hatte. Vielleicht, dachte er, waren Irvings Komplimente nur ein Deckmantel für sein wahres Motiv – Bosch und sein Team ans Messer zu liefern. Bosch wusste, was er jetzt dachte, trug Züge von Verfolgungswahn. Dass sich der Deputy Chief so schnell einen so raffinierten Plan ausgedacht haben könnte, war höchst unwahrscheinlich.“ (S. 110) 
Und als hätte er mit dem schwierigen Drahtseilakt zwischen politischen Machtspielchen, polizeilicher Wahrheitsfindung und der Sorge um einen erneuten Ausbruch von gewalttätigen Unruhen auf der Straße genug zu tun, plagen Bosch Gedanken, seine Frau Eleanor nach nur einem Jahr Ehe wieder zu verlieren.
In seinem sechsten Fall geht es für Hieronymus „Harry“ Bosch ums Ganze. Vor dem Hintergrund der jüngsten Unruhen, die es im Zuge von unangemessener Polizeigewalt beim Rodney-King-Prozess und den juristischen Verfehlungen im Verfahren gegen O.J. Simpson in Los Angeles gab, birgt der brutale Mord an einem prominenten schwarzen Bürgerrechtsanwalt viel Potenzial, die Stimmung gerade in der schwarzen Bevölkerung wieder umkippen zu lassen. Michael Connelly, der jahrelang als Polizeireporter für die Los Angeles Times tätig gewesen ist, beschreibt akribisch den Alltag der Ermittlungsarbeit, die Bosch und sein Team leisten, wobei deutlich wird, welche Hürden genommen werden müssen, um ja keine Interessenkonflikte hervorzurufen oder unberechtigte Durchsuchungen vorzunehmen. Besonders schwierig wird der Fall aber dadurch, dass tatsächlich Polizeibeamte für den Mord an Elias in Frage kommen, dass sogar ein Ermittler als Informant für Elias tätig gewesen sein muss. Connelly beschreibt nicht nur detailreich die einzelnen Ermittlungsschritte und Verhöre, sondern auch die Stimmung auf den Straßen, die allmählich überzukochen droht. So ist „Schwarzer Engel“ weit mehr als nur ein genretypischer Krimi, sondern auch ein vielschichtiges Gesellschaftsportrait, das das Spannungsfeld zwischen Politik, Polizeiarbeit, Hollywood-Prominenz und die Stimmung im einfachen Volk stimmungsvoll einfängt.

Lee Child – (Jack Reacher: 20) „Keine Kompromisse“

Donnerstag, 18. Juli 2019

(Blanvalet, 446 S., HC)
Jack Reacher ist mal wieder unterwegs, diesmal nicht per Anhalter, zu Fuß oder mit dem Bus, sondern mit dem Zug von Oklahoma City nach Chicago. Als er auf dem Streckenplan auf den Ortsnamen Mother’s Rest stößt, hält er das für einen vielversprechenden Haltepunkt, steigt aus und ersinnt sich gleich mögliche Szenarien, die zur Namensgebung der Kleinstadt irgendwo im Mittleren Westen der USA geführt haben könnten. Auf dem Bahnsteig lernt er Michelle Chang kennen, die, wie er später bei einem gemeinsamen Essen im örtlichen Diner herausfindet, einst beim FBI gearbeitet hat und nun als Privatermittlerin tätig ist. Sie hat am Bahnhof auf ihren Kollegen Keever gewartet, der sie zur Unterstützung angefordert hat, aber nicht aufgetaucht ist.
In Reacher erwachen die während seiner Zeit bei der Militärpolizei erworbenen und perfektionierten Ermittlerinstinkte, so dass er Chang seine Unterstützung anbietet. Tatsächlich erweisen sich die Bürger der Kleinstadt alles andere als gastfreundlich und zwingen die beiden zur übereilten Abreise. Zuvor ist Reacher in Keevers Motelzimmer ein zusammengefalteter, achtlos neben dem Mülleimer liegender Notizzettel in die Hände gefallen, der sie nach einigen Umwegen zum Wissenschaftsredakteur Westwood der L.A. Times führt. Mit seiner Hilfe stoßen Chang und Reacher auf ein lukratives Geschäft mit dem Tod, das Interessierte in den verborgenen Tiefen des Deep Web abschließen können. Damit Reacher und Chang den Verantwortlichen in Mother’s Rest nicht zu nahe kommen, engagieren sie einen Profikiller, doch Reacher hat wie immer für jede körperliche Konfrontation die passende Antwort parat:
„Nahkampf setzte voraus, dass der Schusswaffengebrauch erfolglos geblieben war. Das Schlimmste war, dass die Eierköpfe nichts finden konnten, was sich vorschreiben ließ. Es gab keine brauchbaren Theorien. Kampfsportarten funktionierten in der richtigen Welt nicht. Judo und Karate waren wertlos ohne Matten und Schiedsrichter und spezielle Pyjamas. Nahkampf war im Prinzip eine Schlägerei. Wie in einer Bar. Gut war, was Erfolg hatte.“ (S. 228) 
Seit 1997 ist Lee Childs Romanfigur Jack Reacher neben James Bond, Ethan Hunt und Jason Bourne zu einer der interessantesten Action-Helden in der Literatur und auf der Leinwand avanciert. Das erfolgreiche Konzept der kurzweiligen Romanreihe setzt sich auch im bereits 20. Band fort: Egal, wo Reachers Drang, nach seiner militärischen Karriere, die ihn in alle Welt geführt hat, in Ruhe sein Heimatland zu erkunden, hinführt: Stets gerät er nach kurzer Zeit in eine außergewöhnliche Situation, die seine Fähigkeiten als Ermittler auf den Plan rufen.
Das Szenario beginnt spannend. Während der Leser schon im ersten Kapitel über Keevers Schicksal und die Skrupellosigkeit seiner Peiniger ins Bild gesetzt wird, ersinnen Chang und Reacher noch Legenden über den Ursprung des Ortsnamens Mother’s Rest. Bereits bei den ersten Begegnungen und Aufenthalten am Bahnhof, im Motel und im Diner wird einerseits die besondere Anziehungskraft zwischen Chang und Reacher herausgearbeitet, aber auch das unabdingbare Verlangen der außergewöhnlichen Miliz in Mother’s Rest, ihr dunkles Geheimnis um jeden Preis zu bewahren. Indem der Autor zwischen Reachers und Changs Ermittlungsbemühungen und den Vertuschungs- und Aufräumplänen der Mother’s-Rest-Gemeinde wechselt, forciert er die Spannung, wobei es natürlich immer wieder zu – auch für Reacher – schmerzhaften Begegnungen kommt.
Die präzise Sprache und die kurzen Hauptsätzen unterstützen das hohe Tempo der Erzählung, wobei es immer wieder faszinierend ist, an Reachers knallhart präzisen Überlegungen teilzuhaben. Die Story wirkt dagegen weniger überzeugend, die Art und Weise, wie Chang und Reacher Fortschritte bei ihren Ermittlungen machen, schon mal arg konstruiert, bis die Suche in Mother’s Rest mit einem überzogenen Showdown ihr Ende findet.
Reacher-Fans bekommen damit gewohnt schnörkellose, actionreiche Thriller-Kost mit ihrem Lieblingshelden präsentiert, wobei die anfangs geschickt eingefädelte Geschichte in der Mitte an Fahrt verliert, um zum Finale etwas übertrieben zuzulegen, so als hätte Child bereits die dritte Verfilmung seiner Romane (nach „Sniper“ und „Die Gejagten“) beim Schreiben im Hinterkopf gehabt.
Leseprobe Lee Child - "Keine Kompromisse"

Dan Brown – (Robert Langdon: 4) „Inferno“

Dienstag, 16. Juli 2019

(Lübbe, 686 S., HC)
Als Robert Langdon, Professor für Kunstgeschichte und Symbologie an der Harvard University, mit Kopfschmerzen in einem Krankenhaus aus einem Albtraum aufwacht, hat er keine Ahnung, wo er ist und wie er dahingekommen ist. Von der jungen Ärztin Dr. Sienna Brooks und ihrem älteren Kollegen Dr. Marconi erfährt Langdon, dass er angeschossen worden sei und wegen des daraus resultierenden Traumas offensichtlich die Erinnerungen an die letzten beiden Tage verloren habe. Bevor Langdon aber weitere Informationen erhalten kann, stürmt eine bewaffnete Frau namens Vayentha ins Krankenhaus und erschießt Dr. Marconi, Langdon kann aber mit Dr. Brooks in ihre Wohnung flüchten.
Wie sich herausstellt, ist Langdon ohne sein Wissen im Besitz eines Biotubes, der nur mit seinem Fingerabdruck zu öffnen ist. Darin befindet sich aber nicht wie erwartet ein Pathogen, sondern ein Projektor, der Sandro Botticellis „La Mappa dell’Inferno“ abbildet, das von „Inferno“, dem ersten der drei Bücher aus Dante Aligheris berühmten Werk „Die göttliche Komödie“ inspiriert wurde. Allerdings entdeckt Langdon auffällige Manipulationen, wobei ihm vor allem die umgestellte Buchstabenkombination „Cerca Trova“ ins Auge fällt.
Die Phrase „Suche, und du wirst finden“ ist Langdon aus seinem Albtraum vertraut, außerdem soll Langdon bei seinem Eintreffen im Krankenhaus immer wieder die Worte „Ve … sorry. Ve … sorry“ gemurmelt haben. Langdon wird klar, dass Botticellis manipuliertes Bild auf den Palazzo Vecchio hinweist, denn „Ve .. sorry“ sollte keine Entschuldigung sein, sondern auf den Biografen und Künstler Giorgio Vasari verweisen, der die Phrase „Cerca Trova“ in seinem berühmten Schlachtengemälde „Battaglia di Marciano“ versteckt hat.
Während die hochintelligente Ärztin und der Symbologe fieberhaft vor der Attentäterin flüchten, die es offensichtlich auf Langdon abgesehen hat, und dahinterkommen wollen, was genau Langdon finden soll, versucht die Direktorin der Weltgesundheitsorganisation WHO, Dr. Elisabeth Sinskey, unter Einsatz eines Seuchenbekämpfungsteams in Florenz den Plan des ebenso brillanten wie besessenen Genforschers Bertrand Zobrist zu vereiteln, das Problem der Überbevölkerung durch die Freisetzung eines Pathogens zu lösen. Da sie sich nicht erklären kann, warum Langdon plötzlich von der Bildfläche verschwunden ist, macht sie sich Sorgen um seine Position in diesem Wettlauf gegen die Zeit.
Auf wessen Seite steht er eigentlich?
Sinskey kannte Langdon zwar erst seit wenigen Tagen, doch verfügte sie über eine gesunde Menschenkenntnis und weigerte sich daher zu glauben, dass man einen Mann wie ihn mit Geld verführen konnte. Und doch hat er gestern Abend den Kontakt zu uns abgebrochen. Jetzt sah es so aus, als würde er mit dem Gegner gemeinsame Sache machen. Haben Zobrists Anhänger ihn von dem irrsinnigen Vorhaben überzeugt?“ (S. 392) 
Nach „Illuminati“, „Sakrileg – The Da Vinci Code“ und „Der verlorene Symbol“ präsentiert Bestseller-Autor Dan Brown mit „Inferno“ den vierten Band um den charismatischen amerikanischen Wissenschaftler Robert Langdon, der etliche Bücher zu seinen Fachgebieten der Mystik, okkulten Gesellschaften und Kunstgeschichte veröffentlicht hat und über ein eidetisches Gedächtnis verfügt. Das hilft ihm natürlich auch bei der erneuten Schnitzeljagd durch die Kunst- und Weltgeschichte, die den Symbologen und den Leser von Florenz über Venedig bis nach Istanbul führt. Brown verbindet dabei einen konventionellen Thriller-Plot mit recht ausgiebigen Exkursen und Erklärungen zu den einzelnen Stationen der Schnitzeljagd, vor allem natürlich zu Dantes „Göttlicher Komödie“, aber auch zu den imponierenden Museen und Kirchen, in denen beispielsweise Dantes Totenmaske und andere Kunstwerke ausgestellt sind, die für Langdons „Suche und finde“-Mission von Bedeutung sind. Dass die Verbindung von Thriller-Spannung und Vermittlung von Allgemeinwissen nach altbekanntem Muster verläuft, stört wenig, denn unterhaltsam ist das Konzept nach wie vor, auch wenn die Charakterisierung der Figuren unter dem waghalsigen Tempo leidet. Allein Sienna Brooks erhält eine interessante Hintergrundgeschichte und avanciert schließlich neben Langdon zur zentralen Figur des Romans.
„Inferno“ macht aber nicht nur die Meisterwerke der Renaissance wieder lebendig, sondern thematisiert mit der populationsapokalyptischen Gleichung, die die Probleme der Überbevölkerung zusammenfasst, auch ein sehr aktuelles Problem – und eine auch hier kontrovers diskutierte Lösung. Ron Howard verfilmte wie zuvor schon „Illuminati“ und „The Da Vinci Code“ auch „Inferno“ mit Tom Hanks in der Hauptrolle des Robert Langdon. Da er über weite Strecken auf seine geliebte Mickey-Mouse-Sammleruhr verzichten musste, die ihn daran erinnern soll, dass er das Leben leichter nimmt und öfter lacht, blieb der Humor in „Inferno“ aber gänzlich auf der Strecke.
Leseprobe Dan Brown - "Inferno"

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 3) „Kalt wie Stahl“

Samstag, 13. Juli 2019

(Festa, 448 S., Tb.)
Nachdem der ehemalige Privatdetektiv Joe Kurtz für den Mord an dem Killer seiner damaligen Partnerin Samantha Fielding für elfeinhalb Jahre in den Bau gewandert war, hat er sich seit seiner Freilassung vor einem Jahr mit der Online-Partnervermittlung Sweetheart Search selbständig gemacht, für die allerdings seine Sekretärin Arlene Demarco die Hauptarbeit leistet. Kurtz wiederum widmet sich inoffiziell weiterhin der Arbeit, die er am besten kann, hat sich in den vergangenen Jahren auch für die beiden in Buffalo regierenden Mafia-Familien Farino und Gonzaga als Ermittler betätigt und zwischen beiden Parteien auch vermittelt.
Als er den wöchentlichen Termin bei seiner mehr als anständigen Bewährungshelferin Peg O’Toole wahrnimmt, legt sie ihm Fotos verrosteter Fahrgeschäfte eines offensichtlich stillgelegten Freizeitparks vor, mit denen Kurtz allerdings nichts anfangen kann. Wenig später begegnen sich beide in der Tiefgarage des Amtsgebäudes, worauf das Feuer auf sie beide eröffnet wird. O’Toole wird dabei lebensgefährlich verletzt, aber auch Kurtz landet mit einem Streifschuss am Kopf im Krankenhaus, wo er sogleich von Detective Paul Kemper und seiner Kollegin Rigby King verhört wird. Sie war Kurtz‘ erste Freundin, nachdem sie sich im Waisenhaus von Pater Baker und später in Thailand kennen- und lieben gelernt hatten.
Doch nicht nur die Polizei hat ein Interesse an den Vorgängen in der Tiefgarage, auch O’Tooles Verlobter Brian Kennedy, der das Sicherheitsunternehmen leitet, das auch für die Überwachungskameras am Tatort zuständig ist, und Major a.D. Michael O’Toole, der an den Rollstuhl gefesselte Onkel der im Koma liegenden Bewährungshelferin, wollen von Kurtz ein paar Antworten. Der ist nach seiner Selbstentlassung aus dem Krankenhaus damit beschäftigt, sowohl für Angelina Farino Ferrara als auch Toma Gonzaga herauszufinden, wer hinter den Morden an Heroin-Dealern auf beiden Seiten verantwortlich ist. Während Kurtz schließlich das Gelände des stillgelegten Freizeitparks ausfindig macht, nach dem Peg O’Toole gefragt hat, räumt ein Killer, der sich Dodger nennt, weiter in Kurtz‘ unmittelbarer Umgebung auf …
„Zweimal hatte er jetzt schon beschlossen, diesen Ex-Privatschnüffler umzubringen. Zweimal hatte er sich darauf vorbereitet, auch die Frau zu töten, die mit dem Privatschnüffler zusammen war. Zweimal war er dabei gestört worden. Der Artful Dodger mochte das gar nicht – vor allem, wenn der Major oder seine Leute mitmischten.“ 
2003 veröffentlichte der preisgekrönte Bestseller-Autor Dan Simmons („Drood“, „Sommer der Nacht“) leider schon den letzten Band seiner Trilogie um den ehemaligen Privatdetektiv Joe Kurtz und setzte damit seine Duftmarke in dem Hardboiled-Krimi-Genre. Mit Joe Kurtz ist Simmons eine Figur gelungen, die sich nicht scheut, dahinzugehen, wo es wehtut. Auch im dritten Band „Kalt wie Stahl“ kämpft Kurtz wegen seiner Verletzungen ständig mit rasenden Kopfschmerzen und schlecht verheilten Wunden, doch lässt er sich davon nicht aufhalten, für die Fragen, die ihn beschäftigen, auch eine Antwort zu finden. Da hat es Kurtz wieder mit hartnäckigen Polizisten, seiner ehemaligen Freundin, verschiedenen Mafia-Größen, beharrlichen Auftragskillern und lukrativen Drogendeals zu tun, dass es eine Wonne ist, die Mischung aus Jerry-Bruckheimer-, Jason-Bourne- und James-Bond-Action Seite für Seite in atemloser Spannung zu verfolgen.
Im Vergleich zu den beiden Vorgänger-Bänden „Eiskalt erwischt“ und „Bitterkalt“ ist „Kalt wie Stahl“ nicht nur umfangreicher ausgefallen, Simmons hat auch seine Figuren mit mehr Inneneinsichten ausgestattet, nur seine zuvor öfter thematisierte Beziehung zu Sams (und seiner eigenen?) Tochter Rachel bleibt diesmal fast außen vor. Das Action-Feuerwerk ist wieder etwas hanebüchen bombastisch ausgefallen, und besonders glaubwürdig ist es irgendwann auch nicht mehr, wie Kurtz immer wieder sich aus den lebensgefährlichsten Notlagen zu befreien versteht, aber Freunde harter Thriller-Unterhaltung kommen wieder voll auf ihre Kosten.

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 2) „Bitterkalt“

Freitag, 12. Juli 2019

(Festa, 384 S., Tb.)
Auch wenn der ehemalige Privatdetektiv und für den Rachemord an den Killern seiner damaligen Partnerin Sam Fielding zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilte Joe Kurtz nach seiner Freilassung die Auseinandersetzung mit dem Farino-Clan, dem korrupten Bullen Hathaway und diversen Auftragskillern inklusive des legendären Dänen überlebt hat, kommt der taffe Ermittler nicht zur Ruhe. Angelina Farino, die nach dem Ableben des Dons solange die Geschäfte der Familie weiterführt, bis ihr Bruder Little Skag aus dem Knast entlassen wird, hat nämlich die Drei Stooges auf Kurtz angesetzt, ihm die Lebenslichter auszublasen, doch stellen sie sich natürlich zu dumm an, um dem wackeren Stehaufmännchen wirklich zu nahe zu kommen.
Während seine Sekretärin Arlene Demarco neue Büroräume für sein Unternehmen High School Sweetheart Search sucht, nachdem der Pornoladen, in dessen Kellerräumen die Firma bislang residierte, vor dem Abriss steht, sieht Kurtz regelmäßig bei Sams vierzehnjähriger Tochter Rachel nach dem Rechten, da sie bei ihrem 42-jährigen, regelmäßig wegen Trunkenheit am Steuer angezeigten Stiefvater Donald Lee Rafferty nicht zwingend in den besten Händen ist.
Tatsächlich verursacht Rafferty einen Verkehrsunfall, bei dem Rachel schwer verletzt wird und Milz und eine Niere verliert. Bevor sich Kurtz aber um eine Endlösung für Rafferty kümmern kann, erweist er seinem loyalen Informanten Pruno einen Gefallen, indem er sich mit einem seiner Freunde trifft. Der Violinist John Wellington Frears bittet Kurtz, einen Mann namens James B. Hansen ausfindig zu machen, einem Fakultätskollegen, der Frears‘ Tochter Crystal vor knapp zwanzig Jahren ermordet haben soll und der nun offenbar unter einem anderen Namen gerade in Buffalo ist.
Kurtz kommt bei seinen Nachforschungen einem hochintelligenten Mann auf die Spur, der im Laufe seiner Karriere die verschiedensten Namen trug und Berufe ausübte. Derzeit lebt er mit seiner Frau Donna und ihrem Sohn Jason im Vorort Tonawanda und arbeitet unter dem Namen Robert Gaines Millworth im Morddezernat von Buffalo. Und schließlich heuert Angelina Farino Ferrara Kurtz an, Emilio Gonzaga und seine Topleute zu töten. Schließlich soll Gonzaga damals den Befehl gegeben haben, Samantha zu töten. Kurtz muss nicht lange überlegen, um auf den Deal einzugehen:
„Er hatte brav seine elfeinhalb Jahre für die Tötung von Sams Mördern abgesessen, weil Samantha Fielding in jeder Hinsicht seine Partnerin war und er ihr das schuldete. Aber jetzt stellte sich heraus, dass er diese Jahre umsonst hinter Gitter verbracht hatte. Wenn der Auftrag für Sams Ermordung von Emilio Gonzaga stammte, dann musste der sterben.“ 
Wie schon im ersten Joe-Kurtz-Band „Eiskalt erwischt“, mit dem der preisgekrönte US-amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Terror“, „Hyperion“) das Genre des Hardboiled-Krimis für sich entdeckte und dabei ein adrenalinbefeuertes Action-Feuerwerk abfackelte, geht es in „Bitterkalt“ von Beginn an mächtig zur Sache, dass die Fetzen, Fäuste und Kugeln fliegen. Kurtz befindet sich dabei zwischen allen möglichen Fronten, setzt sich für Sams Tochter Rachel ein, jongliert zwischen den beiden rivalisierenden Mafia-Clans, ist einem Serienkiller auf der Spur und muss sich noch einen weiteren Cop vom Hals schaffen, der wie Hathaway zuvor auf der Gehaltsliste der Mafia steht.
An sich bietet der komplexe Plot Stoff für mehrere Thriller, doch Simmons hat sichtlich Spaß daran, seinen erstaunlich widerstandsfähigen Helden in einem mörderischen Tempo durch möglichst viele absurde Situationen zu bugsieren, bis er am Ende die (meisten) Bösen zur Strecke gebracht hat. So unglaubwürdig die dramatischen Höhepunkte auch ausfallen, sorgen die flotte Schreibe und der knackige Dialogwitz für kurzweilige Thriller-Unterhaltung, wobei sich Simmons diesmal mehr Mühe gegeben hat, die Hintergrundgeschichten seiner Figuren auszuarbeiten.

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 1) „Eiskalt erwischt“

Donnerstag, 11. Juli 2019

(Festa, 336 S., Tb.)
Um seine ehemalige Partnerin Sam Fielding zu rächen, tötet Privatdetektiv Joe Kurtz erst den einen ihrer Killer, wirft dann den zweiten namens Eddie Falco aus dem Fenster eines Hochhauses, direkt auf das Dach eines Polizeiwagens. Kurtz lässt sich widerstandslos festnehmen und verbringt die nächsten elfeinhalb Jahre im Knast von Attica. Als er von seiner Assistentin Arlene Demarco abgeholt wird, gründet er im Keller eines Porno-Shops in Buffalo eine Partnervermittlung für ehemalige Highschool-Liebschaften, wobei Arlene die Büroarbeit übernimmt und Kurtz den Überbringer für den einen oder anderen Stapel von alten Liebesbriefen.
Doch obwohl Kurtz wegen seiner Haftstrafe keine Waffen tragen, sich nicht mit Kriminellen treffen darf und schon gar nicht seine Lizenz als Privatdetektiv zurückbekommt, bietet er dem Mafioso Byron Tatrick Farino, dessen Sohn Stephen „Little Skag“ Farino er im Gefängnis vor Repressalien beschützt hatte, seine Dienste an, indem er Nachforschungen zum vermissten Farino-Buchhalter Buell Richardson anstellt. Kurtz gerät in kürzester Zeit zwischen die Fronten der immer schwächer werdenden Farino-Familie und den Gonzagas, legt sich mit dem neuen Rechtsanwalt der Familie, Leonard Miles, an, schmeißt einen seiner ehemaligen Klienten – so will es später die Legende – in die Niagara-Fälle und lässt sich auf eine Affäre mit der Farino-Tochter Sophia ein.
Schließlich bekommt es Kurtz auch mit dem Profikiller zu tun, der nur als der Däne bekannt ist, mit der Killer-Truppe sowohl der Farinos als auch der Gonzagas und dem korrupten Cop Hathaway, aber Kurtz ist all seinen Verfolgern immer einen Schritt voraus, kann dabei sowohl auf die Loyalität seiner Sekretärin Arlene, seiner Bewährungshelferin Peg O’Toole als auch seines Informanten Pruno zählen, der nach seiner akademischen Laufbahn als Obdachloser in Buffalo lebt.
„Kurtz hatte die Idee für die Ablenkung nicht der Ilias entliehen. Aber nach Prunos Vorschlag, sich an den gelesenen Büchern zu orientieren, war ihm wieder ein reißerischer Spionagethriller eingefallen, der in den Zellentrakten von Attica die Runde machte. Irgendwas über Ernest Hemingway, der sich während des Zweiten Weltkriegs auf Kuba als Spion versucht hatte.“ 
Kurtz findet heraus, dass Richardson Geschäften auf die Schliche kam, die Miles an der Familie vorbei am Laufen hatte, und aus dem Weg geräumt worden war, als er einen Anteil an der Beute verlangte. Die Luft wird damit auch für Joe Kurtz immer dünner …
Dan Simmons hat sich seit Mitte der 1980er Jahre sowohl im Horror- als auch Science-Fiction-Genre einen Namen gemacht und mit Werken wie „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Hyperion“, „Sommer der Nacht“ und „Ilium“ Preise wie den World Fantasy Award, Locus Award und Bram Stoker Award errungen. 2001 erweiterte er sein literarisches Spektrum um den Hardboiled-Detektivroman, womit er die Tradition von Schriftstellern wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler aufgreift und sie ins Extreme steigert. Simmons hält sich weder mit einer Einführung seiner Figuren, noch mit einer moderaten Entwicklung des Plots auf, sondern setzt von Beginn an auf ein hohes Tempo und krasse Action. Erst nach und nach werden die einzelnen Puzzleteile von Joes Vergangenheit aufgegriffen, wobei Sams Tochter Rachel, die bei ihrem raubeinigen Stiefvater lebt, zu den interessanteren Aspekten zählt. Bei dem halsbrecherischen Tempo und der teilweise recht abstrusen Entwicklungen im Plot kommen die Charakterisierungen der Figuren zwangsläufig zu kurz, und die halsbrecherische Art, wie Kurtz mit seinen oft übermächtig wirkenden Gegners umgeht, wirkt auf Dauer arg übertrieben. Doch Simmons erweist sich auch im Hardboiled-Krimi-Sektor als großartiger Stilist, der vor allem das Lebensgefühl in der zunehmend heruntergekommenen, von Drogen, Gewalt und Korruption geprägten Stadt Buffalo gut einzufangen versteht. Auf jeden Fall hat er mit Joe Kurtz eine kluge und schlagkräftige Figur geschaffen, die es bislang auf zwei Fortsetzungen gebracht hat.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 8) „Rote Rache“

Sonntag, 7. Juli 2019

(Golkonda, 284 S., Tb.)
Obwohl Hap und Leonard nach der Auseinandersetzung mit Clete Jimsons Gorillas von der Dixie-Mafia ein hübsches Sümmchen kassiert haben, das ihnen die hübsche Auftragskillerin Vanilla Ride vermacht hatte, und sich eine kleine Auszeit gönnen könnten, sind die beiden Hobby-Detektive nun offiziell für ihren alten Kumpel Marvin Hanson tätig, der nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst eine Privatdetektei unterhält. Ihr nächster Auftrag führt sie zur wohlhabenden, aber bescheiden lebenden Witwe Mrs. Christopher, die davon überzeugt ist, dass hinter dem Mord an ihrem Sohn mehr steckt, als die von der Polizei abgehakte Theorie von Raub mit Todesfolge. Unterstützt wird sie dabei von dem Journalisten Cason Statler aus Camp Rapture, einem nahen Freund der Familie. Den Polizeiberichten nach wurden Ted Christopher und seine Freundin Mini Marchland vor zwei Jahren an einer Joggingstrecke ermordet aufgefunden.
Von Teds Schwester June erfahren Hap und Leonard, dass Mini ein Flittchen gewesen sein soll, dass sich für einen Vampir gehalten habe. Dass bei den Leichen eine rote Teufelsfratze gefunden wurde, die an dem Baum über ihnen gemalt worden war, behielt die Polizei von Camp Rapture unter Verschluss, aber die beiden nun im offiziellen Auftrag ermittelnden Detektive stoßen während ihrer Ermittlungen auf weitere dieser merkwürdigen Zeichnungen, die über fünf Jahre an ganz unterschiedlichen Orten auftauchten, ohne dass je eine Zusammenhang zwischen ihnen vermutet worden wäre. Je weiter Hap und Leonard in die mysteriöse Geschichte eintauchen, umso mehr schrecken sie offensichtlich den Killer auf, den sie Roter Teufel nennen und der so brutal bei seinen Taten vorgeht, dass Hap bei dem Anblick eines der Opfer einen Nervenzusammenbruch erleidet.
„Der Tag verflog scheinbar in einem Augenblick. Wieder sah ich zu, wie die Schatten über die Wand wanderten. Diesmal waren es keine Vampire. Es waren kleine Stückchen Zeit, die meinem Leben gestohlen worden waren. Das Zimmer war dunkel und schwer, als wäre es in schwarzen Samt gehüllt.“ (S. 111f.) 
Doch nicht nur Hap erleidet traumatische Blessuren während der Suche nach dem Roten Teufel, auch sein „Bruder“ Leonard kommt übel unter die Räder. Zum Glück bekommen sie unerwartet von Vanilla Ride Unterstützung, denn sie hat selbst noch eine Rechnung mit dem Killer offen …
In ihrem achten Abenteuer (und dem letzten von insgesamt sechs, die der Golkonda-Verlag gerade als limitierte Taschenbuchausgaben veröffentlicht hat) müssen sich Hap Collins und Leonard Pine erst einmal daran gewöhnen, dass sie nicht wie sonst in einen Schlamassel stolpern, weil sie der Gerechtigkeit zu Sieg verhelfen wollen, sondern im offiziellen Auftrag unterwegs sind, der sich allerdings schnell als weit gefährlicher erweist als zunächst angenommen. Auch wenn „Rote Rache“ mit knapp über 280 Seiten nach dem ersten Roman „Wilder Winter“ der kürzeste in der Reihe darstellt, bekommt der Leser die volle Qualität von Joe R. Lansdales Genrekünsten präsentiert, nämlich herrlich flotte Sprüche und Frotzeleien, die die Beziehung zwischen Hap, seiner Freundin Brett und seinem Buddy Leonard charakterisieren, dazu einen vertrackten Fall und jede Menge böse Typen und krachende Action. Vor allem das Wiedersehen mit der taffen, attraktiven, aber auch ehrbaren Killerin Vanilla Ride stellt einen Höhepunkt des Romans dar. Zwar erzählt „Rote Rache“ wie alle Abenteuer von Hap und Leonard eine in sich abgeschlossene Geschichte, gerade in diesem Fall macht es aber Sinn, den vorangegangenen Band „Das Dixie-Desaster“ gelesen zu haben, weil vor allem Vanilla Ride und Marvin Hanson dort ausführlicher charakterisiert werden. Aber auch Cason Statler aus Camp Rapture ist ein alter Bekannter, den Lansdale-Fans aus dem Roman „Gluthitze“ (bzw. „Gauklersommer“ in der Golkonda-Ausgabe) bereits kennengelernt haben dürften.
„Rote Rache“ setzt die beliebte Hap-&-Leonard-Reihe, die mittlerweile auch als Amazon-TV-Serie zu verfolgen ist, konsequent mit derbem Humor und krachender Action, aber auch melancholischen und existentiellen Tönen fort, schlägt dabei gelegentlich etwas arg über die Stränge des Glaubwürdigen, macht aber neugierig auf die nächsten Abenteuer des charismatischen Duos aus East Texas.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 7) „Das Dixie-Desaster“

Dienstag, 2. Juli 2019

(Golkonda, 316 S., Tb.)
Hap Collins - weiß, heterosexuell und Kriegsdienstverweigerer – und sein Buddy Leonard Pine – schwarz, schwul und Vietnam-Veteran – geraten mal wieder richtig in Schwierigkeiten, als Leonard mit dem gemeinsamen Kumpel, Ex-Bulle Marvin Hanson, in der gemeinsamen Wohnung von Hap und seiner Freundin Brett auftauchen. Der zur Zeit an einen Gehstock gefesselte Marvin beauftragt die beiden temperamentvollen Freunde damit, seine achtzehnjährige Enkelin Gadget von ihrem prügelnden Lover Tanedrue loszueisen, der sie zudem mit Drogen versorgt und für die berüchtigte Dixie-Mafia dealt.
Marvin hätte auch seine ehemaligen Kollegen mit dieser Geschichte behelligt, allerdings stecken auch korrupte Bullen in der Sache mit drin. Als Familienmenschen und Gerechtigkeitsfanatiker lassen sich Hap und Leonard nicht bitten und schlagen nicht nur den Trailer, aus dem Gadget und ihr Freund ihr Zeug verticken, und die drogenverseuchte Crew kurz und klein, sondern spülen auch die vor Ort liegenden Drogen im Klo runter. Das ruft natürlich auch die Dixie-Mafia auf den Plan, aber auch das FBI, für den Mafia-Mitglied Hirem Burnett als Kronzeuge aussagen sollte.
Sein Sohn Tim war mit Marvins Enkelin und dreihunderttausend Dollar Drogengeld durchgebrannt, so dass die Mafia das schwarze Mädchen aus dem Verkehr ziehen und das Geld zurückhaben wollte. So lassen sich Hap und Leonard vom FBI einspannen, um selbst aus der Schusslinie des FBI zu geraten und Burnett dabei zu helfen, heil aus der Sache rauszukommen.
„Am liebsten wollte ich mit Brett auf irgendeine Insel fahren, Kokosnüsse essen und rammeln, bis wir daran verreckten. Ich wollte nie wieder jemanden schlagen. Wollte nie wieder eine Waffe sehen, nicht mal von Weitem, nicht mal auf einem Foto in einer Zeitschrift. Ich wollte nie wieder wütend sein. Ich wollte nicht über meinen Ehrenkodex nachdenken müssen.“ (S. 105) 
Doch natürlich kommt es ganz anders. Hap & Leonard können sich zwar gegen ihre hartnäckigen Verfolger aus den Mafia-Reihen behaupten, bekommen es aber dann mit der Profikillerin Vanilla Ride zu tun …
In ihrem siebten Abenteuer demonstrieren die beiden an sich so unterschiedlichen, letztlich aber innig miteinander verbundenen Freunde Hap & Leonard, dass sie nicht nur ihr Herz am rechten Fleck haben, sondern auch alles dafür tun, der gerechten Sache zum Sieg zu verhelfen – auch wenn das bedeutet, selbst dabei etwas unter die Räder zu kommen. Da sich Lansdales Romane der Hap-&-Leonard-Reihe um die 300 Seiten eingependelt haben, verläuft der Plot nach vorhersehbarem Muster und ohne große Einleitung. Um ein unschuldiges Ding aus den Klauen der Dixie-Mafia zu befreien, sind sich die beiden Haudegen nicht zu schade, sich gegen einen ganzen Trupp von Mafia-Schergen in Stellung zu bringen und auch bei herben Verlusten auf ihrer Verbündeten-Seite bei der Stange zu bleiben. Lansdale schildert das muntere Treiben mit gewohnt lockerer Schreibe, würzt die lebendigen Dialoge mit dem ihm typischen Wortwitz und findet so die perfekte Mischung aus turbulenter Action (bei der seine beiden Protagonisten ebenso beteiligt sind wie Mafia-Vollstrecker, FBI, korrupte Bullen und eine sexy Vollblut-Killerin namens Vanilla Ride), liebenswerten Sympathiebekundungen zwischen Hap, Leonard und Brett sowie derben Sprüchen, wie sie nur Menschen von sich geben, die aus unterschiedlichen Lagen der Fleischeslust frönen. So zählt „Das Dixie-Desaster“ zu den besten Abenteuern des ungewöhnlichen Gespanns, von dem man einfach nicht genug bekommen kann.