Dan Simmons – „Kinder der Nacht“

Sonntag, 28. Juli 2019

(Heyne, 442 S., Jumbo)
Eigentlich ist die amerikanische Wissenschaftlerin und Ärztin Dr. Kate Neuman nur im Rahmen einer „kurzen Unterrichtsreise“ nach Bukarest gereist, doch mittlerweile hat sie schon sechs nahezu schlaflose Wochen in der Kinderstation eines Krankenhauses verbracht und mit wachsender Wut und Frustration feststellen müssen, dass aufgrund von Fahrlässigkeit immer wieder Babys sterben und andere, die überleben, an amerikanische Paare verkauft werden.
Nach einem besonders niederschmetternden Tag wird die Spezialistin vom Centers for Disease Control aus Boulder von Pater O’Rourke nach Hause begleitet. Der Kriegs-Veteran, der bei einer Bombenfalle in einem der Tunnel in Vietnam einen Unterschenkel verloren hat, zeigt ihr auf dem Weg, wie Amerikaner nicht mal eines der offiziellen Waisenkinder adoptieren, sondern ein Baby von einem rumänischen Paar zu kaufen versuchen.
Das Schicksal eines der Waisenkinder in der Isolierstation des Krankenhauses rührt die Ärztin besonders an. Ein ausgesetzter, namenloser und völlig ausgezehrter Junge spricht zwar auf Transfusionen an, wird aber immer wieder von einem Defekt des Immunsystems verzehrt, den Neuman weder als AIDS noch Anämie, Hepatitis oder eine andere blutbedingte Immunstörung identifizieren kann. Sie beschließt, den sieben Monate alten Jungen zu adoptieren, nennt ihn Joshua und nimmt ihn mit in ihre Heimat. Dort wird während einer gründlichen Untersuchung in Joshuas Magen ein Gebilde entdeckt, das offensichtlich in der Lage ist, Blut zu absorbieren.
Tatsächlich regeneriert sich Joshuas Gesundheit jeweils sehr schnell nach Bluttransfusionen. Doch als Neuman mit einem Team von weiteren Spezialisten forscht, ob Joshuas einzigartiger Organismus Hoffnung gibt, ein Heilmittel gegen AIDS, Krebs und andere Immunkrankheiten zu finden, wird Joshua entführt, ihr Ex-Mann Tom und die Mitbewohnerin Julie getötet, das Labor zerstört und ihre Kollegin Chandra ebenfalls ermordet. Zusammen mit Pater O’Rourke macht sie sich in Rumänien auf die Suche nach Joshua und kommt der Planung einer seltsamen Zeremonie auf die Spur, bei der Joshua offensichtlich eine zentrale Rolle spielt …
„Sie war eine illegal Eingereiste in einem feindlichen Land, wo fast unvorstellbare Mittel gegen sie ins Feld geworfen wurden, und die Chancen, Joshua zu finden, waren fast auf Null geschrumpft. Und selbst wenn sie das Kind gefunden hätte, so hatte sie keinen Plan gemacht, abgesehen davon, mit ihm zur Grenze oder zur amerikanischen Botschaft zu fliehen. Vorerst aber war sie von ihren beiden einzigen Freunden im ganzen Land getrennt worden, einem amerikanischen Priester und einem rumänischen Medizinstudenten, und bei keinem war sie sicher, ob es sich tatsächlich um einen Freund handelte.“ (S. 291f.) 
Nach „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“ und „Sommer der Nacht“ war „Kinder der Nacht“ 1993 der vierte Horror-Roman des amerikanischen Autors Dan Simmons, der sowohl für seine Fantasy- als Science-Fiction-Werke mit Auszeichnungen wie dem World Fantasy Award, Bram Stoker Award und Locus Award geehrt worden ist – eben auch für „Kinder der Nacht“.
Hier nähert sich Simmons auf ungewöhnliche Weise dem Mythos um die Vampire und Graf Dracula aka Vlad Tepes an, indem er nicht auf schaurig-romantische Vorstellungen zurückgreift, die sich seit Bram Stokers berühmten und vielfach verfilmten Roman „Dracula“ ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, sondern geht das Thema aus einer wissenschaftlichen Perspektive an, indem er mit Dr. Kate Neuman eine Protagonistin einsetzt, die durch ihre ebenso empathische wie aufgeklärte Art eine starke Identifikationsfigur darstellt.
Simmons gelingt es zunächst sehr gut, die politische und gesellschaftliche Situation in Rumänien seit dem Sturz von Ceaușescu und der Revolution im Jahre 1989 zu beschreiben, ebenso die desolaten Zustände in den Krankenhäusern. Dem Blutdurst der Vampire nähert sich der Autor extrem wissenschaftlich und auch etwas zu ausschweifend an, so dass wirklich jede romantische Vorstellung vom ewigen Leben und den damit einhergehenden erotischen Konnotationen im Nu verfliegt. In einer Nebenhandlung darf Vlad Tepes seine „Träume von Blut und Eisen“ wiedergeben, die einen Einblick in das Leben der historischen Figur geben, die das Vorbild für Graf Dracula abgeben durfte.
 So interessant der ungewöhnliche Ansatz von „Kinder der Nacht“ ausfällt, wirkt die Dramaturgie des Romans oft holperig, der Wechsel zwischen Exkursen in die Geschichte Rumäniens und des blutdürstenden Grafen, der allzu detaillierten wissenschaftlichen Aufarbeitung des Vampir-Mythos und der zunehmend actionreichen Suche nach Joshua nicht immer elegant. Zwar bietet der Roman durchaus spannende Horror-Thriller-Unterhaltung, erreicht aber nicht die Intensität von Simmons‘ früheren Genre-Beiträgen.
Leseprobe Dan Simmons - "Kinder der Nacht"

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