Steven Price – „Der letzte Prinz“

Mittwoch, 4. November 2020

(Diogenes, 366 S., HC) 
Guiseppe Tomasi ist der kinderlose letzte Spross des alten sizilianischen Adelsgeschlechts der Lampedusa. Nichts ist mehr da von dem alten Glanz der Palazzi, des Reichtums und der Würde. Seine Tage verbringt der knapp Sechzigjährige damit, durch die Straßen zu ziehen und unersättlich Bücher auf Italienisch, Französisch und Englisch zu verschlingen, was ihm schon als Kind den Spitznamen Il Monstro einbrachte. Als er seinen Arzt Dr. Coniglio aufsucht, konfrontiert dieser den Kettenraucher mit der Entdeckung eines Lungenemphysems, das zwar nicht heilbar, aber doch aufzuhalten wäre, würde Guiseppe wenigstens mit dem Rauchen aufhören. 
Doch der todkranke Mann beschließt, weder mit dem Rauchen aufzuhören, noch seiner ebenso klugen wie schönen Frau etwas zu sagen, der lettischen Baronesse Alessandra von Wolff-Stomersee, die in Berlin und in Wien bei Freud Psychoanalyse studiert hatte und Mitbegründerin und Präsidentin der Psychoanalytischen Gesellschaft war. Stattdessen reift in ihm ein kühner Plan: Um etwas Bleibendes zu schaffen, will er einen Roman schreiben. Drei Jahre benötigt er für „Der Leopard“, der zunächst von den renommierten italienischen Verlagen Mondadori und Einaudi abgelehnt wurde, später aber zum meistverkauften Buch des 20. Jahrhunderts in Italien, in über 20 Sprachen übersetzt und von Luchino Visconti mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon verfilmt wurde. 
„Dass das Geschlecht der Lampedusa so restlos ausgelöscht werden würde, betrübte ihn. Sein Urgroßvater hatte neun Kinder hervorgebracht. Und er war jetzt der Letzte. Mitten in der Verschwendung und Verwirrung eines untergehenden Zeitalters war er in ein ebenfalls vom Niedergang betroffenes Geschlecht hineingeboren, und bald würde eine neue Art von Aristokratie vorherrschen, ein Adel des Geldes und der Privilegien, der den Wert des Neuen im Blick hatte.“ (S. 340) 
Bereits mit seinem 2019 bei Diogenes veröffentlichten Roman „Die Frau in der Themse“ ist dem kanadischen Schriftsteller Steven Price ein atmosphärisch dichter Roman gelungen, der das viktorianische London in allen seinen Facetten abzubilden verstand. Mit seinem neuen Werk „Der letzte Prinz“ bewegt er sich in die etwas verloren wirkende Region Siziliens, das sich nie so wirklich der italienischen Republik zugehörig fühlte und stets nach Unabhängigkeit strebte. Die Geschichte beginnt im Januar 1955 mit dem erschütternden Arztbesuch, worauf Guiseppe Tomasi seine Gedanken und Erinnerungen – durchaus sprunghaft – schweifen lässt, zu den Reisen nach Lettland, wo er die Liebe von Alessandra „Licy“ von Wolff-Stomersee gewann, zum schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter, die an Mussolini geglaubt, aber seine Frau abgelehnt hatte, zu seinem Wirken in den literarischen Zirkeln und dem Hadern mit seinem eigenen Roman. 
Steven Price hat offenbar sorgfältig recherchiert und einen Ton in seiner Sprache gefunden, der die Leserschaft oft genug in den Bann schlägt, so überzeugend ist die Zeitreise und das sehr persönliche Portrait von Guiseppe Tomasi di Lampedusa gelungen. Es ist aber auch sehr „altmodische“ Geschichte, die Price hier vorlegt, was einer der in den Ablehnungsschreiben erwähnten Gründe gewesen ist, warum „Der Leopard“ schwer an ein Publikum zu vermitteln wäre. 
„Der letzte Prinz“ ist beileibe keine leichte Lektüre, sondern ein sprachlich wunderbar ausgestaltetes, in seiner Sprunghaftigkeit und atmosphärischen Authentizität aber auch etwas sprödes Werk, auf das man sich einlassen können muss. Wer diese Hürde aber erst einmal genommen hat, wird posthum Zeuge nicht nur der Entstehung eines literarischen Klassikers, sondern auch dem schleichenden Niedergang eines alten Adelsgeschlechts. 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 3) „Real Tigers“

Samstag, 31. Oktober 2020

(Diogenes, 474 S., Pb.) 
In Slough House, der von Jackson Lamb geleitete Dienststelle, in die ausgemusterte Agenten des MI5 abgeschoben werden, wo sie ihre Tage mit dem Sammeln und Auswerten unwichtiger Informationen verbringen, herrscht höchste Aufregung. Erst wird Lambs diskrete Assistentin, die trockene Alkoholikerin Catherine Standish, von ihrem ehemaligen Liebhaber Sean Donovan entführt, dann wird Jackson Lamb mit der Nachricht konfrontiert, dass der neue Innenminister Peter Judd, dem einst die Aufnahme in den Geheimdienst verweigert worden war, alles daran setzt, bei den Ressourcen des Geheimdienstes möglichst viele Einsparungen vorzunehmen, worunter auch die Auflösung von Slough House fällt. Bevor sich Lamb mit diesem Punkt auseinandersetzen kann, verschwindet mit River Cartwright ein weiterer seiner Agenten. Es stellt sich allerdings schnell heraus, dass er beim unbefugten Eindringen in das Personalarchiv in Regent’s Park, dem Sitz des MI5, erwischt worden ist und nun ein unerfreuliches Verhör über sich ergehen lassen muss. 
Derweil demonstriert MI5-Leiterin Dame Ingrid Tearney gegenüber der untergeordneten Widersacherin Diana „Lady Di“ Taverner, Vizedirektorin der Abteilung Operations, ihre Macht und verdonnert Taverner quasi zu niederen administrativen Tätigkeiten. Jackson Lamb nimmt die drohende Auflösung seiner Dienststelle natürlich nicht kampflos hin und beauftragt seine „slow horses“, wie die in Ungnade gefallenen Agenten gern spöttisch genannt werden, mit der Suche nach zweckdienlichen Informationen zum Aufenthalt von Catherine Standish und eigentlichen Plan der Entführer, für die Cartwright die Akte des Premierministers stehlen sollte. 
Dabei geht es nur vordergründig um die in den „Grauen Büchern“ oder Spinner-Akten festgehaltenen Verschwörungstheorien, auf die Lambs nun entfesselten Agenten stoßen, sondern um weitaus brisantere Informationen, die vor allem dem ambitionierten Innenminister schaden könnten, aber auch die Karriere der beiden MI5-Spitzen gefährden … 
„Es war eine Sache, Intrigen zu schmieden und in der Ecke zu lauern: Darum ging’s im Büroleben ja gerade. Aber tatsächlich etwas in Bewegung zu setzen war eine Kriegserklärung, und der einzige Krieg, den man gegen einen Feind wie Dame Ingrid gewinnen konnte, war ein Krieg, der vorbei war, bevor der Startschuss fiel.“ (S. 395) 
Spannende Spionage-Action kennt der Genre-Liebhaber vor allem durch die vielfach erfolgreich verfilmten Bestseller von Ian Flemings „James Bond 007“, Robert Ludlums „Jason Bourne“ oder John le Carré. In den letzten Jahren hat aber vor allem der britische Schriftsteller Mick Herron mit seiner humorvollen Reihe um eine Truppe von abservierten Agenten Furore gemacht, die sich Tag für Tag von ihrem herrischen Boss Jackson Lamb erniedrigen lassen und sinnlose Bürotätigkeiten ausüben müssen. Doch wie schon in den beiden vorangegangenen Bänden „Slow Horses“ und „Dead Lions“ demonstrieren Lamb und seine Angestellten River Cartwright, Roderick Ho, Louisa Guy, Marcus Longridge und Shirley Dander auch in „Real Tigers“, dass sie zu alter Höchstform auflaufen, wenn es um ihr Team und ihren Job an sich geht. 
Genussvoll beschreibt Herron sowohl, wie Marcus erfolglos bei Louisa zu landen versucht und wie Jackson Lamb nach Belieben furzt und sich die Snacks seiner Angestellten einverleibt, ebenso wie die teils unbeholfen wirkenden, dann aber doch zum Kern des Ganzen vorstoßenden Ermittlungen der Agenten auf dem Abstellgleis. Doch nicht nur das lebendige Treiben in Slough House trägt zur Unterhaltung von „Real Tigers“ bei. Es sind die weitaus perfideren Machtspielchen und Intrigen, die die beiden sehr berechnenden Strateginnen Tearney und Taverner in Regent’s Park spinnen. Dabei wird erst nach und nach deutlich, welche Pläne jede von ihnen schmiedet, und auch wenn es auf ein vorhersehbares Ende zuläuft, macht es einfach Spaß, wie Lamb und seine charismatische Truppe die Dinge zu ihren eigenen Gunsten aufzulösen vermögen, um weiter im Spiel zu bleiben – wenn auch nur am Rande. Aber wenn sie mal wie hier die Gelegenheit bekommen, geht es auch mal ordentlich zur Sache, mit Nahkämpfen, kaputten Nasen und sogar Toten. 
Die Action wirkt dabei weitaus bodenständiger als bei Jason Bourne und James Bond, was die Slow-Horses-Romane etwas authentischer wirken lässt. Zudem lässt sich „Real Tigers“ auch wunderbar als Kommentar zu den machthungrigen wie skrupellosen Politikern lesen, denen ihr eigenes Wohl weit wichtiger ist als das der Menschen, die sie ins Amt gebracht haben. 

Robert Bloch/Ray Bradbury – „Der Besucher aus dem Dunkel“

Samstag, 24. Oktober 2020

(Heyne, 126 S., Tb.) 
Robert Bloch hat sich in den 1950er Jahren als Autor von Krimis wie „Die Psycho-Falle“, „Werkzeug des Teufels“, „Shooting Star“ und natürlich durch die Verfilmung von Alfred Hitchcock berühmt gewordenen „Psycho“ einen Namen gemacht, aber auch immer wieder Beiträge zum Horror-Genre abgeliefert – wie „Der Ripper“ oder seine Geschichten, die auf H.P. Lovecrafts bekannten Cthulhu Mythos aufbauen. Ray Bradbury wiederum hat ebenfalls beginnend in den 1950er Jahren seinen Ruf als herausragender Autor auf dem Gebiet der Science Fiction, aber auch des Krimis und der Phantastik aufgebaut und 1951 mit „Fahrenheit 451“ einen modernen Klassiker geschaffen, der bis heute Pflichtlektüre in den Schulen geblieben ist. 
1972 hat der Heyne Verlag mit „Der Besucher aus dem Dunkel“ insgesamt zehn Storys der beiden Großmeister der Phantastik veröffentlicht, wobei die vier Geschichten aus den Jahren 1945 bis 1948 stammen, die Herkunft der sechs Beiträge von Robert Bloch ist nicht näher ausgewiesen, abgesehen von der eröffnenden Titelgeschichte, die Bloch 1950 im Zuge seiner Verehrung für H.P. Lovecraft veröffentlicht hat. Darin begibt sich Edmund Fiske von Chicago nach New York, wo seine fünfzehnjährigen Nachforschungen ihr Ende finden sollen. Sein enger Freund Robert Harrison Blake war im August 1935 verstorben, nachdem er einer losen Gruppe von Lovecraft-Verehrern angehört hatte, die gelegentlich im Hause Lovecrafts in Providence zusammengekommen waren. Blake hatte damals eine verfallene schwarze Ruine auf dem Federal Hill untersucht und ist dabei – wie zuvor schon ein Reporter des Providence Telegram - unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Blake fand in den halbverfaulten Kleidern des Reporters allerdings ein Notizbuch, in dem von Professor Bowen die Rede gewesen ist, der in der Grabkammer des „vergessenen Pharao“ Nefren-Ka auf ein ungewöhnliches Fundstück gestoßen war und nach seiner Rückkehr aus Ägypten in Providence 1844 eine frühere Baptistenkirche erwarb und eine religiöse Kultgemeinde gründete, die „den Besucher aus dem Dunkel“ verehrten. Fiskes Spurensuche findet bei dem mysteriösen Dr. Dexter ein unrühmliches Ende … 
Ray Bradbury erzählt in „Der Besucher“ die Geschichte des Naturforschers und Zoologen William Tinsley, der wie besessen Insekten mit Fliegenklatsche und Gift vernichtete, weil 99 Prozent des Lebens auf der Erde das Leben von Insekten sei. Doch seine Angst, dass die Milliarden von Insekten ihre Objekte überprüfen und die Menschheit kontrollieren würden, macht einer viel erschreckenderen Erkenntnis Platz. In Blochs „Der grinsende Ghul“ berichtet ein erfolgreicher Psychiater, wie er eines Tages von einem College-Professor konsultiert worden ist, der nachts von schrecklichen Alpträumen geplagt wird, in der eine große, alte Gruft im zentralen Teil des Friedhofs die zentrale Rolle spielt. In seinen nächtlichen Visionen betritt der Mann die Gruft, bewegt sich durch die labyrinthartigen Gänge und stößt auf sogenannte Leichenfresser, Ghuls. Der Psychiater nimmt seinem Patienten das Versprechen ab, gemeinsam mit ihm den unheilvollen Ort seiner Träume aufzusuchen. 
„Reihen kolossaler Stalaktiten hingen von der Decke, und von unten wuchsen ihnen Stalagmiten entgegen, deren Basen Durchmesser von eineinhalb Metern und mehr aufwiesen. Jenseits führten schwarze Öffnungen in andere Höhlen und Spalten. Eine beklemmende Faszination überkam mich, ein langsames kriechendes Entsetzen gemischt mit Neugier. Es schien mir, dass wir mit unserem Eindringen Geheimnisse entweihten, die besser verborgen geblieben wären.“ (S. 42) 
Mit ihren zehn Geschichten entführen Robert Bloch und Ray Bradbury ihre Leser in Abgründe des Grauens, lassen ihre Protagonisten mit einem Toten, dem niemand glaubt, dass er tot ist (Ray Bradburys „Der tote Mann“), Werwölfen (Robert Blochs „Der Werwolf“) und Hexen (Robert Blochs „Eine Frage der Etikette“) zusammentreffen und rufen allzu menschliche Ängste vor dem Unerklärlichen, dem Sterben und den Mächten der Finsternis wach. Diese Kunst beherrscht kaum jemand so glaubwürdig und packend wie diese beiden Ausnahme-Autoren.


James Patterson - (Alex Cross: 24) „Hate“

Freitag, 23. Oktober 2020

(Blanvalet, 447 S., Tb.) 
Der zwölfjährige Timmy Walker lauert mit seinem iPhone in einem Waldstück einem jungen lesbischen Liebespaar auf, als er während der Videoaufnahme von einem sich nähernden Transporter überrascht wird. Als die beiden Mädchen in den weißen Wagen gezerrt werden, ist der Junge geistesgegenwärtig genug, ein paar Bilder von dem Fahrzeug zu schießen, doch dann wird er selbst zum Opfer der Unbekannten … Die beiden entführten Teenager tauchen ebenso wie andere blonde Mädchen auf der Website killingblondechics4fun.org.co auf, auf die John Sampsons neuen Partnerin Ainsley Fox in einem Chatroom gestoßen ist und auf der Snuff Movies präsentiert werden, die die Misshandlung und Tötung von blonden jungen Frauen zeigen. 
Eine Überprüfung durch Keith Karl „Krazy Kat“ Rawlins, einem als freier Mitarbeiter für das FBI tätigen Computer-Spezialisten, ergibt zwar, dass die Tötungen gefälscht sind, doch fehlt von den gekidnappten Mädchen jede Spur. 
Alex Cross kann sich mit diesem Fall eigentlich gar nicht beschäftigen, steht er doch wegen eines mutmaßlichen Doppelmordes vor Gericht. Cross soll zwei unbewaffnete Menschen erschossen haben, die ihre Gesichter mit dem Konterfei des psychopathischen Killers Gary Soneji maskiert waren, mit dem Cross erstmals vor gut fünfzehn Jahren zu tun hatte. Doch sein bester Freund und Partner Sampson hält Cross über den Fall der entführten Mädchen auf dem Laufenden. Als während des Prozesses Videos als Beweismittel zugelassen werden, die die tödlichen Schüsse, die Cross in einer Lagerhalle auf die tatsächlich unbewaffnet erscheinenden Verdächtigen abgegeben hat, aus drei verschiedenen Perspektiven dokumentieren, beginnen sich nicht nur bei den Geschworenen, sondern auch in Cross‘ Familie Zweifel an seiner Unschuld zu entwickeln … 
„Ich wollte fliehen, wollte mir eine neue Identität zulegen und mich auf einer Südseeinsel verkriechen, wollte alles, nur nicht nach Hause kommen und Bree, Nana Mama und den Kindern berichten, was Rawlins mir gerade gesagt hatte. Sie hatten keine Waffen in der Hand gehabt. Ich war im besten Fall geistig verwirrt gewesen, im schlimmsten Fall ein Ausbund des Bösen. Aber so oder so würde ich in einem Bundesgefängnis landen, und zwar vermutlich für den Rest meines Lebens.“ (S. 227) 
Seit seinem ersten Roman um den schwarzen Kriminalpsychologen Alex Cross, der sowohl für das FBI als auch das Metropolitan Police Department von Washington, D.C., außergewöhnliche Fälle zu lösen hilft, zählt James Patterson zu den erfolgreichsten Bestseller-Autoren weltweit. Mit „Hate“ erscheint bereits der 24. Band der Reihe um den charismatischen Psychologen und Ermittler, der nicht nur mit dem Chief Detective Bree Stone verheiratet ist, sondern auch drei bemerkenswerte Kinder hat, von denen Damon gerade das College besucht, Jannie trotz ihrer Fußverletzung eine glänzende Karriere als Läuferin bevorsteht und Ali als Jüngster im Bunde schon etwas in die Fußstapfen seines Vaters tritt. Wie gewohnt bewegt sich Patterson bei seinem Plot auf mehreren Ebenen. Dass sein Protagonist Alex Cross diesmal selbst vor Gericht steht, wo er unter anderem von seiner Nichte Naomi verteidigt wird, verleiht „Hate“ seine besondere Würze und wärmt noch einmal die alte Feindschaft zwischen Cross und Soneji auf, dessen Sohn Dylan Cross nicht vergeben kann, dass er auch seine Mutter erschossen hat. Die Beweislage ist so vertrackt, dass nicht mal die IT-Spezialisten beim FBI auf dem vorgelegten Videomaterial Manipulationen entdecken können. Trotz des vorhersehbaren Endes des Prozesses wirkt hier allerdings die Art der Auflösung wenig glaubhaft. Viel interessanter und auch spannender ist der Fall um die entführten und misshandelten blonden Mädchen konstruiert. Hier erweist sich Patterson als routinierter Dramaturg wendungsreicher Entwicklungen, die zu einem packenden Showdown führen. Erfreulicherweise lässt der Autor auch Raum für Einblicke in Cross‘ Privatleben. Zwar bleibt seine Frau Bree recht blass, dafür nimmt vor allem der clevere Ali eine größere Rolle bei der Aufklärung des Falles ein, und auch Jannies sportliche Karriere wird etwas ausführlicher thematisiert. Zum actionreichen Finale überspannt Patterson etwas den Bogen der Glaubwürdigkeit, aber letztlich zählt „Hate“ doch wieder zu den besseren Alex-Cross-Thrillern. 

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 7) „Der Killer kehrt zurück“

Sonntag, 18. Oktober 2020

(Pendragon, 312 S., Tb.) 
Jesse Stone bekommt unerwarteten Besuch von dem Apachen Wilson „Crow“ Cromartie, der vor zehn Jahren bei einem brutalen Überfall einige Tote in Paradise hinterlassen hat und mit einer stattlichen Millionen-Beute untergetaucht ist, wofür ihn der Polizei-Chef aber nie belangen konnte. Der in Süd-Florida herrschende Mafioso Louis Francisco hat Crow nun beauftragt, seine in Paradise lebende Frau Fiona, die sich hier Frances Franklin nennt, zu töten und seine vierzehnjährige Tochter Amber zu ihm nach Hause zu bringen. 
Doch Amber alias Alice Franklin ist alles andere als daran interessiert, zu ihrem gefühllosen Dad zurückzukehren. Stattdessen hängt sie mit der aus Marshport stammenden Latino-Gang von Esteban Carty ab. Tatsächlich wird Franciscos Frau wenig später erschossen auf dem Grundstück der Crowne-Villa aufgefunden. Der Tatort ist deshalb so interessant, weil die Miriam Fiedler alles daran setzt, dass auf diesem Grundstück nicht wie geplant eine Schule für lateinamerikanische Einwandererkinder entsteht, da sie die Sorge um den Verfall der Grundstückspreise in dem Nobelviertel der Stadt umtreibt. Da sich Crow weigert, Amber zu ihrem Dad zurückzubringen, schickt der Mafioso einen Trupp von Killern, die zuerst Crow zur Strecke und dann dessen Auftrag zu Ende führen sollen. 
Aber auch Esteban wittert das große Geld und verspricht dem Gangster-Boss, Amber zu ihm zu bringen. Jesse Stone ist vor allem am Wohl des Mädchens gelegen und bringt Amber bei seiner Ex-Frau Jenn unter, die als Fernsehreporterin bereits eine tolle Story wittert. Zusammen mit Crow heckt Chief Stone einen Plan aus, Estebans Gang und Franciscos Männer gegeneinander auszuspielen … 
„Stone hatte einen Mordfall aufzuklären und wollte möglicherweise auch Recht und Ordnung zum Siege verhelfen. Für Crow hingegen war’s vor allem ein großer Spaß: Cops gegen Gangster, Cowboys gegen Indianer – ein spannendes Spiel, aber ein Spiel mit scharfer Munition. Eine Episode aus der Reihe ,Crows atemberaubende Abenteuer.‘“ 
Auf wenig mehr als 300 Seiten lässt es Robert B. Parker ordentlich krachen. Das Wiedersehen mit dem Apachen Crow verläuft ganz anders als bei „Terror auf Stiles Island“. Diesmal macht er mit dem prinzipientreuen Auftragskiller nahezu gemeinsame Sache, was dem Krimi eine besondere Atmosphäre verleiht. Zwar werden auch die Bemühungen um die millionenteure Crowne-Villa, die verkorkste Beziehung zwischen Jesse und Jenn sowie und etliche Affären – so vergnügt sich Chief Stones Kollege Suitcase mit der einsamen Fiedler-Frau, deren Mann ständig auf Reisen ist, und selbst die glücklich verheiratete Molly Crane lässt sich auf einen One-Night-Stand mit Crown ein – thematisiert, doch die Spannung fokussiert sich ganz auf das Aufeinandertreffen von Crow und Stone auf der einen Seite mit den jugendlichen Horn-Street-Boys um Esteban und den Mafiakillern aus Südflorida auf der anderen. Bei so viel Action bleiben die einzelnen Figuren leider etwas auf der Strecke. Die Beziehung zwischen Jesse und seiner Ex-Frau, die sich immer noch lieben, aber weder mit noch ohne einander leben können, wird vor allem in den Sitzungen aufgearbeitet, die Jesse bei seinem Psychiater Dix wahrnimmt. Und Crow erweist sich als durchaus sympathischer Mann, der Frauen liebt und bei seinem Vorgehen ebenso effektiv wie vorsichtig agiert. 
So bietet „Der Killer kehrt zurück“ flotte Krimi-Unterhaltung mit pointierten Dialogen und amüsanten zwischenmenschlichen Aktivitäten, doch an den lakonischen Ton der besten Spenser-Romane von Robert B. Parker kommt das Buch nicht heran.


Dan Simmons – (Hyperion: 3) „Endymion - Pforten der Zeit“

(Goldmann, 670 S., Pb.) 
Der 247 Jahre nach dem Fall auf Hyperion geborene Raul Endymion hat als Schafhirte, Soldat der Heimatgarde, Rausschmeißer und Blackjack-Geber, Landschaftskünstler, Führer von Jagdtruppen in den Farnwäldern über der Toshibabucht und Kommandant einer Barke am Oberlauf des Kans gearbeitet, als er im Alter von 27 Jahren mit einem Jäger aneinandergerät, ihn tötet und bei der nachfolgenden Verhandlung zum Tode verurteilt wird. Allerdings lehnt er es nach wie vor ab, die Kruziform anzunehmen, jenes Geheimnis der Unsterblichkeit, das den Menschen vom Pax, der Allianz zwischen der Kirche und dem Militär, im Gegenzug für absoluten Gehorsam der neuen katholischen Kirche gegenüber angeboten wird. Obwohl Raul dieses letzte Angebot eines Pax-Priesters vor seiner Hinrichtung nicht annimmt, wacht er in der leerstehenden Universität von Endymion auf und wird von dem alternden Dichter Martin Silenus auf eine ungewöhnliche Mission geschickt: Raul soll zusammen mit dem Androiden A. Bettik die vor 264 Jahren verschwundene Aenea finden, die Tochter von Brawne Lamia und Johnny (der KI-Rekonstruktion des Dichters John Keats), die im Alter von zwölf Jahren durch das Zeitgrab der Sphinx in die Zukunft verschwand. 
Dort soll Raul Endymion das außergewöhnliche Mädchen auffinden und zum legendären Dichter der „Cantos“ zurückbringen. In diesem Epos wird das von Lamia geborene Kind als Diejenige Die Lehrt bezeichnet. Doch auch der Pax will des Mädchens habhaft werden und schickt mit Pater Captain de Soya einen Pax-Offizier, der mit allen Privilegien des Papstes und entsprechender Unterstützung an Soldaten und Ausrüstung ausgestattet wird. 
Tatsächlich gelingt Endymion der gefährliche Coup, Aenea vor der Pax-Flotte zu erreichen und mit ihr sogar durch einen deaktivierten Farcaster auf einem selbst gebastelten Floß auf dem Thetys zu reisen, der einst hunderte von Welten verbunden hat. De Soya und seine Truppen verlieren viel Zeit beim Absuchen der Welten und müssen durch etliche der ermüdenden Auferstehungsrituale, ehe sie wieder in die Nähe ihres eigentlichen Ziels gelangen. Dabei bekommt De Soya durch Rhadamanth Nemes eine weitere Pax-Kriegerin zur Unterstützung, die allerdings mit einer eigenen Mission ausgestattet wird. Raul, Aenea und A. Bettik sind aber auch nicht auf sich allen gestellt. Das unberechenbare Shrike-Monster kommt dem unerschrockenen Trio ebenso unverhofft zur Hilfe wie die Chitchatuk, die ihre eigenen Methoden haben, durch die gleißende Eiswelt Sol Draconi Septem zu reisen … 
„Es gab – das wird mir jetzt klar – noch einen anderen Grund für diese Oase der Ruhe inmitten der Wüste von Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Es war die Wärme. Die Erinnerung an die Wärme. Das Leben, das von diesen beiden Menschen in mich eingeströmt war, die Tatsache, dass ich es akzeptiert hatte, die Aura einer heiligen Kommunion, die der Tat innewohnte. In der Dunkelheit, beim Schein der Laternen, kümmerten wir uns nun um die dringende Angelegenheit des Versuches, am Leben zu bleiben, diskutierten unmögliche Pläne, etwa uns mit dem Plasmagewehr einen Weg freizuschießen, verwarfen aussichtslose Vorgehensweisen und fingen wieder von vorn an zu diskutieren. Aber währenddessen hielt mich in dieser kalten, dunklen Grube der Verwirrung und wachsenden Hoffnungslosigkeit der Kern der Wärme ruhig, den diese beiden … Freunde … in mich eingehaucht hatten, genauso wie ihre menschliche Nähe mich am Leben gehalten hatte.“ (S. 487) 
Nach seinen beiden preisgekrönten Horror-Werken „Göttin des Todes“ (World Fantasy Award) und „Kraft des Bösen“ (Locus Award, Bram Stoker Award, British Fantasy Award) wandte sich Dan Simmons mit „Hyperion“ 1989 erstmals der Science Fiction zu und initiierte damit eine Saga, die über „Das Ende von Hyperium“ schließlich zu „Endymion. Pforten der Zeit“ geführt hat. 
Allerdings werden die Tetralogie, die mit „Endymion. Die Auferstehung“ ihren Abschluss findet, nur durch den Dichter Martin Silenus und die Welt von Hyperion verbunden, davon abgesehen, steht bei „Endymion. Pforten der Zeit“ ein ganz neues Figuren-Ensemble im Mittelpunkt. 
Simmons hält sich nicht lange damit auf, dem Leser die Welten nach dem Fall näherzubringen. Erst im Verlauf der Mission werden die Funktionen unzähliger Fortbewegungsmittel, Waffen und Welten sowie die machtvolle Verbindung von Kirche und Militär erläutert. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, eine Reise durch faszinierende Welten, die Simmons mit „Endymion. Pforten der Zeit“ präsentiert. Zwar zittert man als Leser mit dem Helden und seiner kostbaren Fracht mit, aber Pater Captain de Soya wird ebenso mit sehr menschlichen und nachvollziehbaren Zügen und Motiven versehen, so dass nach einiger Zeit das Ritual der Auferstehung gar nicht mehr so erstrebenswert wirkt. 
Das Epos gewinnt seine Faszination und Spannung aber nicht nur durch die spektakulären Reisen und die wunderbar beschriebenen exotischen Welten jenseits der Alten Erde, sondern durch interessante philosophische/religiöse Fragen wie dem Sinn des Lebens, Tod und Wiedergeburt. Raul Endymion schildert seine Reise als Ich-Erzähler in der Vergangenheitsform, Pater Captain de Soyas Perspektive kommt in der Gegenwart zum Ausdruck, doch beide Erzählstränge wirken sehr stringent ohne Nebenschauplätze. 
Geschickt webt Simmons in die Handlung immer wieder Auszüge aus der „Cantos“ ebenso mit ein wie Verweise auf die großen Denker und Künstler der Renaissance und die rigorose Macht, die die Kirche auf die Menschen auszuüben pflegt. Allerdings nimmt der Verfolgungscharakter des Space-Opera-Road-Trips den Großteil der Handlung ein. Die Diskussionen und Gedanken zu religiösen Glaubenssystemen, zu Christentum, Judentum und Muslimen, nehmen erst zum Ende hin zu, das noch einige spannende Wendungen aufzubieten hat, aber eben noch das Potential für die Fortsetzung „Endymion. Die Auferstehung“ offenbart.


John Niven – „Die F*ck-It-Liste“

Dienstag, 13. Oktober 2020

(Heyne Hardcore, 320 S., HC) 
Amerika im Jahr 2026 ist fest in der Hand des Trump-Clans. Donald Trump hat zwei Amtsperioden durchregiert und durch einen geschickten Kniff seine Tochter Ivanka erst als Vizepräsidentin installiert und anschließend dafür gesorgt, dass seine Anhänger auch sie zur Präsidentin machen. Die USA haben mittlerweile die Ölreserven im Iran geplündert und Nordkorea in einer postnukleare Wüstenlandschaft verwandelt. Der NRA-Vorsitzende Beckerman hatte als Trumps neuer Mann für Waffenfragen ein Gesetz durchgebracht, das das offene Tragen von Schusswaffen überall in den USA erlaubt. 
Frank Brill, der sechzigjährige ehemaliger Chefredakteur der „Schilling Gazette“ in der 32.000-Einwohner-Stadt Schilling, Indiana, bekommt die fatale Diagnose, mit seinem Darmkrebs im Endstadium nur noch wenige Monate leben zu dürfen. Etwaige Möglichkeiten zur Behandlung interessieren ihn nicht, da es auch keine Verwandten gibt, die etwas von seinem leicht verlängerten Leben etwas haben könnten. Dafür hat Frank aber eine F*ck-It-Liste mit fünf Namen erstellt, die er persönlich auslöschen will, da sie für schmachvolle Erfahrungen in seinem Leben verantwortlich gewesen sind. Dazu zählt nicht nur der tragische Tod seines Highschool-Freundes Robbie, der sich im Alter von 28 Jahren umgebracht hatte, nachdem er von seinem Coach Hauser missbraucht worden war, sondern auch die Tatsache, dass seine Tochter an den Folgen einer illegalen Abtreibung gestorben war und seine erste Frau Grace, nachdem Frank sie mit Cheryl betrogen hatte, an einen Zahnarzt geraten war, der sie um all ihr Hab und Gut brachte. Es ist in diesen Zeiten überhaupt nicht schwierig, an Waffen zu kommen. 
Franks dritte Frau Pippa und ihr gemeinsamer Sohn Adam sind 2017 bei einem Amoklauf an der Grundschule in Schilling ums Leben gekommen. Es gibt für Frank also einige Rechnungen zu begleichen. Er fängt bei den ganz persönlichen Feinden an und wendet sich schließlich auch schwieriger zu erledigenden politischen Verantwortlichen zu … 
„Ihm war übel von dieser endlosen Gülleflut, die er sich zeit seines Lebens auf amerikanischen Golfplätzen anhören musste. Von all dem Dreck, den er dort selbst zum Besten gegeben hatte. America first … beschissene UNO … schaut euch doch an, was Putin für sein Land getan hat, die wischten sich die Ärsche mit der nackten Hand ab … verdammte Demokraten … ein bisschen globale Erwärmung tut uns ganz gut … was diese Menschen wollen, ist ein Holocaust am ungeborenen Leben.“ (S. 224) 
Der schottische Autor John Niven hat sich mit Romanen wie „Gott bewahre“, „Coma“, „Kill 'em all“ und „Alte Freunde“ in den Olymp der zeitgenössischen Literatur geschrieben. Mit seinem angriffslustigen Ton wendet er sich in seinem neuen Roman „Die F*ck-It-Liste“ einem erschreckend aktuellen und zunehmend globaleren Problem zu, nämlich der Art und Weise, wie Donald Trump als Präsident der mächtigsten Nation der Welt die Demokratie systematisch zersetzt. Um das zu veranschaulichen, hat Niven das Geschehen seines Romans in die nahe Zukunft verlegt, um eine gar nicht so unrealistische Vision davon zu entwickeln, wie sich Trumps Gebaren vor allem auf das gesellschaftliche Leben in den USA auswirkt. Das bedeutet konkret den Ausbau der „Mauer“, die Abschaffung der Pressefreiheit, weitreichende Kompetenzen bei der Verfolgung illegaler Einwanderer, rigorose Strafen bei illegalen Abtreibungen und die Erlaubnis, auch schwere Waffen besitzen zu dürfen. Da Amokläufe und Massaker nahezu an der Tagesordnung sind, fallen Franks Morde kaum ins Gewicht. Niven verknüpft eine sehr persönliche Rachemission à la „Kill Bill“ mit einer düsteren Zukunftsvision, die viel zu schnell bittere Realität werden könnte. Was die Story dabei so interessant macht, dass Nivens Protagonist – obgleich er es als langjähriger Zeitungsjournalist hätte besser wissen müssen – selbst Trump gewählt hat, aber aus dem Denkzettel, den er – wie viele Millionen anderer US-Bürger auch – der etablierten Politiker-Klasse verpassen wollte, ist ein zunehmend außer Kontrolle geratener Boomerang geworden. Doch im Gegensatz zu Frank Brill haben die meisten seiner Mitmenschen ihren fatalen Irrtum nicht eingesehen, und nun steuert das Land auf eine Art Polizeistaat zu, der immer mehr persönliche Rechte beschneidet. 
Es wäre zu wünschen, dass „Die F*ck-It-Liste“ zur Standard-Lektüre an US-amerikanischen Schulen wird, doch mag man angesichts der aktuellen Entwicklungen und der nach wie vor ungebrochen großen Unterstützung, die Trumps Politik bei seinen Anhängern erfährt, auch als Optimist nicht mehr so recht an eine Rückbesinnung zu den uramerikanischen Werten von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit glauben. „Die F*ck-It-Liste“ ist fraglos Nivens kompromisslosestes Werk, an dessen satirischem Ton man sich als Leser fast verschluckt, so beängstigend real wirken die hier aufgezeigten Szenarien. 

Owen Nicholls – „Dies ist kein Liebesfilm“

Samstag, 10. Oktober 2020

(Atlantik, 367 S., Pb.) 
London am 4. November 2008. In dieser Nacht wird der neue US-amerikanische Präsident gewählt. Der libertäre Tom veranstaltet in seiner Wohnung eine Wahlparty und hofft, dass der Republikaner John McCain gegen Barack Hussein Obama gewinnt, während seine gut dreißig, Mitte zwanzigjährigen Gäste nicht libertär sind. Doch Tom, der Konfrontationen liebt und vor allem über ein großes Haus, gutes Gras und ein enzyklopädisches Wissen über das asiatische Kino verfügt, hat auch Ellie eingeladen, in die sich der Filmvorführer Nick auf den ersten Blick verliebt. Doch Nick ist sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten allzu bewusst, als dass er auf eine dauerhaft funktionierende Beziehung mit dieser selbstsicheren, hübschen, lustigen und coolen Frau hofft, mit der er sich auch noch vortrefflich über Filme unterhalten kann. 
Wider Erwarten lässt sich die talentierte Fotografin auf eine Beziehung mit Nick ein, zieht mit ihm sogar in eine gemeinsame Wohnung. Doch nach vier Jahren ist der Zauber vorbei. Als Barack Obama wiedergewählt wird, steht Nick vor dem Trümmerhaufen seines Lebens. Ellie hat ihn verlassen, weil er keine andere Träume hat, außer als Filmvorführer zu arbeiten, statt seine Karriere als Drehbuchautor zu starten, während sie selbst nach New York geht, um für Associated Press zu arbeiten. Die Tatsache, dass sein Kino auf digitale Projektionen umrüstet und Nick damit arbeitslos wird, dass seine Eltern ihr Haus verkaufen, um nach Neuseeland auszuwandern, und dass seine Schwester Gabby schwanger ist, lässt Nick vor allem verzweifeln und immer wieder an Ellie denken … 
„Ich bin genauso an der Trennung beteiligt wie sie, und mir das einzugestehen ist in etwa so, als würde ich bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker aufstehen. Was ich immer noch nicht weiß, ist, warum. Ich habe den Verdächtigen. Mich. Den Ort. Ein Wohnung in Clapham. Ich muss nur noch die Mordwaffe finden. Auf der Liste stehen noch immer vier Gründe, und alle sind stichhaltig. Ich denke darüber nach, was in den letzten Monaten passiert ist. Es gibt sicher Faktoren, die ich verdränge. Ob ich für diese Faktoren verantwortlich bin oder nicht, vermag ich noch nicht zu sagen, Ich bin noch nicht bereit für die Wahrheit. Doch die Wahrheit ist irgendwo da draußen.“ (S. 175) 
Dass Owen Nicholls eine große Affinität zum Kino hat, wird auf fast jeder Seite seines Debütromans „Dies ist kein Liebesfilm“ deutlich. Das fängt damit an, dass sich sein Ich-Erzähler in Ellie verliebt hat, nachdem sie auf „Cinema Paradiso“ verweist, als er ihr seine berufliche Tätigkeit offenbart, führt zu mehreren Erwähnungen, wie schlecht „Star Wars – Die dunkle Bedrohung“ im Vergleich zu den früheren „Star Wars“-Filmen von George Lucas sein, oder dass es schon mit dem Teufel zugehen müsse, wenn auf „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ nicht noch „Vier Todesfälle und eine Hochzeit“ folgt. 
Filmfreunde werden bei „Dies ist kein Liebesfilm“ auf jeden Fall auf ihre Kosten kommen. Interessant ist auch der Ansatz, den Anfang und das Ende der Beziehung zwischen Nick und Ellie mit der Wahl und Wiederwahl von Barack Obama als Präsiden der USA zu verknüpfen. Zwischen diesen beiden Eckdaten hin- und herspringend erzählt Nicholls wechselnd zwischen dem Kennenlernen, dem Alltag und der Entfremdung in dieser Beziehung, wobei auch die Trennung von Ellies Eltern nach dreißig Jahren Ehe thematisiert wird. Doch trotz der an sich geschickt aufgebauten Dramaturgie und der meist flüssigen, witzigen Dialoge entwickelt „Dies ist kein Liebesfilm“ keine so starke Sogwirkung wie die Bestseller seiner britischen Kollegen Nick Hornby („High Fidelity“, „Juliet, Naked“) oder David Nicholls („Ewig Zweiter“, „Zwei an einem Tag“). Durch die „Unterbrechungen“, in denen auch Ellies Perspektive thematisiert wird, und die wechselnden Zeitebenen werden zwar immer wieder einzelne Aspekte der gescheiterten Beziehung aufgearbeitet, aber eine besondere Tiefe in der Plotentwicklung entsteht dadurch nicht. Letztlich werden einfach Motive offenbart, an denen jede Beziehung kranken und zerbrechen könnte. Für diese Erkenntnis hätte es nicht einen zwar witzig geschriebenen und mit schönen Verweisen aus der Popkultur versehenen, aber nicht besonders fesselnden Roman gebraucht.


James Patterson – (Women's Murder Club: 16) „Der 16. Betrug“

Sonntag, 4. Oktober 2020

(Limes, 396 S., Pb.) 
Lindsey Boxer, Sergeant beim San Francisco Police Department, und ihr Partner Rich Conklin, sind gerade in eine Sonderkommission zur Terrorismusbekämpfung berufen worden und haben gerade verhindern können, dass der von ihnen beschattete mutmaßliche Terrorist J. mit seiner Sprengweste größeren Schaden anrichten konnte als sich während der Verfolgungsjagd selbst in Luft zu jagen. Doch die Freude über den Erfolg gegen die international agierende Terrorgruppe GAR (Great Antiestablishment Reset) hält nicht lange an. Einen Monat später feiert Boxer mit Joe Molinari, von dem sie seit sechs Monaten getrennt lebt, in einem Fischrestaurant am Pier 9 ihren Hochzeitstag, wo die beiden Zeugen werden, wie das naturwissenschaftliche Museum Sci-Tron am gegenüberliegenden Pier 15 nach einer Explosion zusammenstürzt. 
Als Boxer und ihr Mann am Tatort eintreffen, werden sie auf einen Mann aufmerksam, der das Spektakel mit vor Entzücken geweiteten Augen beobachtet, und stellen ihn zur Rede. Er stellt sich als Connor Grant vor und gibt zu, das Sci-Tron in die Luft gesprengt zu haben, woraufhin ihn Boxer festnimmt und Joe beim Versuch, eine eingeklemmte Frau aus den Trümmern zu retten, selbst schwer verletzt wird. Doch die Gerichtsverhandlung entwickelt sich zum Alptraum für die Strafverfolgungsbehörden. Yuki Castellano, die vor einem Jahr nach einer Nahtoderfahrung einen Job beim Prozesshilfeverein angenommen hatte, kehrt zu ihrem alten Vorgesetzten, Freund und Mentor in die Bezirksstaatsanwaltschaft zurück, um Grant, der 25 Tote und 45 teilweise schwer Verletzte zu verantworten hat, den Prozess zu machen. Der Naturwissenschaftslehrer Grant feuert jedoch nicht nur seine Anwältin, sondern erweist sich als Anwalt in eigener Sache als so geschickt, dass ihn die Geschworenen nicht zweifelsfrei verurteilen können. Zusammen mit ihren Freundinnen, zu denen neben Yuki auch die Gerichtsmedizinerin Claire Washburn und die Reporterin Cindy Thomas zählen, versucht Boxer herauszufinden, was Grant für ein perfides Spiel treibt … 
„Hatten wir nach etwas gesucht, was gar nicht existiert? War Connor Grant vielleicht doch genau der, der er zu sein behauptete – ein Highschool-Lehrer mit einem großen und weiten Geist? Und wenn ja, warum wurde ich dann dieses Gefühl nicht los, dass er uns alle an der Nase herumgeführt hatte und mit einem Massenmord davongekommen war? War Grant ein Geheimnis, das nie aufgedeckt werden würde?“ (S. 366) 
Neben seiner extrem erfolgreichen Thriller-Serie um den Polizeipsychologen Alex Cross, in der seit 1993 mittlerweile insgesamt 28 Romane erschienen sind, von der die ersten beiden mit Morgan Freeman („Im Netz der Spinne“, „… denn zum Küssen sind sie da“) und der zwölfte mit Tyler Perry („Alex Cross“) verfilmt wurden, hat sich die 2001 begründete Reihe um den „Club der Ermittlerinnen“ längst zum zweiten Bestseller-Standbein von James Patterson gemausert. Zwar hat der Titel des 16. Abenteuers – „Der 16. Betrug“ – mal wieder überhaupt keinen Bezug zum Romangeschehen, doch präsentiert Patterson gewohnt leicht geschriebene, flotte Thriller-Unterhaltung. Dabei kann er sich einmal mehr auf die bewährte Zusammenarbeit mit Maxine Paetro verlassen, die mit dem bestverkaufenden Thriller-Autor nicht nur seit dem vierten Roman bei „Woman’s Murder Club“ die groben Handlungsskizzen des Thriller-Stars fertigstellt, sondern auch bei Pattersons weniger bekannten Reihen involviert ist. 
Einmal mehr verweist schon die imponierende Kapitelanzahl von 97 darauf, dass das Publikum vor allem handlungsintensive Spannung vorgesetzt bekommt, bei der Figuren, Schauplätze und Entwicklungen so schnell wechseln, dass kaum Zeit zum Luftholen, aber leider auch kein Raum für eine tiefergehende Figurenzeichnung bleibt. 
Die zweite Handlungsebene um den sogenannten „lautlosen Killer“, der seinen Opfern ein nicht nachweisbares Mittel spritzt, dass die Muskeln und damit die Atmung lähmt, trägt nur dazu bei, die Action auf einem konstant hohen Niveau zu halten,  aber nicht zur Qualität des Plots. Stattdessen hätten sich Patterson und seine Co-Autorin ausführlicher mit der Geschichte von Lindsays Annäherung an ihren Mann beschäftigen sollen, den sie verlassen hat, nachdem er ihr seine Spionage-Tätigkeit für die CIA verschwiegen hatte und eines Tages spurlos verschwand, wobei offensichtlich auch eine Frau beteiligt gewesen ist. Und auch die gemeinsame Ermittlungsarbeit von Lindsay, Yuki, Cindy und Claire kommt viel zu kurz. Patterson-Fans bekommen davon abgesehen aber gewohnt packende Thriller-Unterhaltung mit terroristischem Hintergrund geboten, wobei die Auflösung sowohl des Nebenplots als auch der Geschichte um den Verdächtigen Connor Grant sehr hastig ausfällt. 

Jason Starr – „Twisted City“

Freitag, 2. Oktober 2020

(Diogenes, 332 S., HC) 
David Miller hatte schon bessere Zeiten hinter sich. Der Wirtschaftsjournalist war einst beim renommierten „Wall Street Journal“ angestellt, nun ärgert er sich beim zweitklassigen „Manhattan Business“ nicht nur mit der Hälfte seines vorherigen Gehalts herum, sondern vor allem mit dem fünf Jahre jüngeren stellvertretenden Chefredakteur Peter Lyons herum, der mit seinem pseudobritischen Schreibstil auch Davids Kollegen auf den Zeiger geht. Nachdem seine geliebte Schwester Barbara an Krebs gestorben war, mit der er eine nahezu unzertrennliche Beziehung gepflegt hatte, ließ er sich auf eine Beziehung mit der attraktiven Rebecca ein, die sofort bei ihm einzog, ihren Halbtagsjob in einer Kaffeebar aber verlor und sich ihr vergnügungssüchtiges Leben mit Party-Drogen und Club-Besuchen fortan mit Davids Kreditkarten finanziert. Als dann noch in einer Bar seine Brieftasche geklaut wird, zieht ihn die Pech-Spirale unnachgiebig in den Abgrund. 
David hat gerade all seine Konten sperren lassen, da erhält er einen Anruf von Sue, die ihm mitteilt, seine Brieftasche in einem Bus gefunden zu haben. Als er sie bei ihr zuhause abholen will, steht er einer dürren Drogensüchtigen gegenüber, die natürlich eine saftige Belohnung für ihre gute Tat verlangt. Dabei bekommt sie tatkräftige Unterstützung von ihrem Freund Ricky, den David an der Stimme aus der Bar wiedererkennt, in der ihm seine Brieftasche abhandengekommen ist. Bei einem Handgemenge bringt David seinem Kontrahenten versehentlich um. Während er mit Sue überlegt, wie sie die Leiche aus der Wohnung bekommen, ohne dass es jemand mitbekommt, versucht David daheim, die Beziehung zu Rebecca zu beenden, die zwar immer fuchsteufelswild reagiert, ihn aber mit ihren Verführungskünsten und Qualitäten im Bett zunächst noch besänftigen kann. Doch schließlich macht er ernst, wirft ihre Klamotten auf die Straße und gibt ihr Zeit, bis zum Abend aus der Wohnung zu verschwinden. Als er jedoch wieder nach Hause kommt, entdeckt er Rebeccas Leiche in der Badewanne. 
Was für David ein zwar tragischer, aber normaler Selbstmord sein mag, stellt sich für die Polizei bald anders dar, da auch Sue – die eigentlich Charlotte heißt – tot aufgefunden wird und Detective Romero durch die eingesetzte Waffe Zusammenhänge zwischen beiden Todesfällen herzustellen beginnt … 
„Ich setzte mich auf einen Platz vorn am Tresen und bestellte ein Budweiser. Das Bier kam, doch als sich meine Hand um die Flasche schmiegte, erinnerte ich mich, wie ich die Hände um Rebeccas Hals gelegt hatte. Mit einem kräftigen Schluck wollte ich das Bild aus meinen Gedanken vertreiben, sah dann aber, wie ich Ricky im Schwitzkasten hielt und seinen Schädel gegen die Stahltür rammte. Ich sagte mir, dass es nicht meine Schuld gewesen war, dass ich beide Male nur in Notwehr gehandelt hatte, doch wusste ich selbst nicht so genau, ob ich mir glauben sollte.“ (S. 226) 
Jason Starr hat bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Tob Job“, „Die letzte Wette“, „Ein wirklich netter Typ“, „Hard Feelings“ und „Dumm gelaufen“ als leicht zu lesender Krimi-Autor erwiesen, der genüsslich den Niedergang seiner Mittelschichts-Protagonisten beschreibt. Auch in dem 2004 veröffentlichten „Twisted City“ gerät sein Ich-Erzähler von einer Krise in die nächste, wobei der Tod seiner geliebten Schwester der Ausgangspunkt zu sein scheint, denn die Erinnerungen an die schöne gemeinsame Zeit spenden dem Wirtschaftsjournalisten noch immer Trost und verleiten ihn sogar zu Gesprächen mit ihrem „Geist“. 
Allerdings gerät sein Leben durch einige richtig miese Entscheidungen aus den Fugen. Dass sich David auf die Erpressung einlässt, um seine Brieftasche, vor allem das darin befindliche Portraitfoto von Barbara zurückzubekommen, setzt eine irrwitzige Spirale weiterer, nicht immer glaubwürdige Katastrophen in Gang, zu der auch die schwierige Beziehung zu seinem Party-Feger Rebecca zählt. Dabei gibt es zwischendurch sogar immer wieder Lichtblicke wie die Beförderung zum stellvertretenden Chefredakteur und die Bekanntschaft zu seiner wirklich netten und hübschen Arbeitskollegin Angie. Allerdings bekommt David nicht den Dreh raus, diese guten Entwicklungen für sich zu nutzen. 
So unterhaltsam und flott „Twisted City“ geschrieben ist, wiederholt Starr letztlich nur ein weiteres Mal sein so allmählich ausgelutschtes Erfolgskonzept, so dass der Krimi keine wirklichen Überraschungen bereithält und zum Schluss sogar mit einer wirklich kruden Pointe enttäuscht.




Alexander Kühne – „Kummer im Westen“

Donnerstag, 1. Oktober 2020

(Heyne Hardcore, 350 S., Pb.) 
Anton Kummers Traum, am Rande des Spreewaldes in seinem Heimatdorf Düsterbusch einen Szene-Club nach Vorbild westlicher Metropolen zu etablieren, endete im Krankenhaus. Am 11. November 1989, zwei Tage nach dem Fall der Mauer, hat Kummer das Berliner Krankenhaus mit einer krassen Narbe auf dem deformierten Schädel verlassen und sucht seine alte Freundin Rita in der Lychener Straße auf. Doch statt der superheißen Braut in Stilettos, Netzstrumpfhosen und mit schwarzen Pflasterstreifen auf den Brustwarzen, die Kummer in Erinnerung hat, erwartet ihn ein weiblicher Yeti mit verfilzten Haaren und in viel zu großen Cargohosen. 
Als Kummer am nächsten Morgen im Westen Berlins in der Schlange vor der Sparkasse steht, um sein Begrüßungsgeld zu empfangen, lernt er die hübsche Halbrussin Irina aus Kirchhausen kennen, die sogar einmal in seinem Club „Helden des Fortschritts“ gewesen ist. Davon abgesehen fällt der erste Besuch im Westen ernüchternd aus. Zwar ersteht Kummer wie erhofft einige schöne Platten, aber zwölf Mark für einen Southern Comfort in dem Club, in dem er Nirvana live erleben darf, drücken schon etwas aufs Gemüt. Irina verliert er zunächst aus den Augen, doch schließlich kommt Kummer zum Zug, steht aber nach seiner Kündigung durch VEB Kulturwaren vor der Herausforderung, seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, zumal unklar ist, ob seine kränkelnde Mutter ihre Rente bekommt und sein Vater nach der Auflösung der Firma, die Scheibenwischer für Wartburgs hergestellt hat, mit einem Wessi die Firma neu aufstellen kann oder in Frührente geht. 
Während Kummers alte Weggefährten den Club wieder mit Ossi-Charme wiederbeleben wollen, zieht er selbst das scheinbar große Los und wird Plattenvertreter für das in Minden ansässige Label Rock-Juwelen, dessen minderwertige Bootlegs auf farbigem Vinyl Kummer im Osten vertreiben soll. Das Interesse ist überraschend groß. Die Bestellungen in höheren Tausenderbereichen veranlassen Kummer zu ungeahnten Höhenflügen. Zwar ist seine Fahrerlaubnis noch für etliche Monate weg, trotzdem kauft er sich für 8000 Mark ein BMW-Cabrio. Doch der zunächst so traumhafte Job erweist sich schnell als Katastrophe, und auch die Beziehung zu Irina gerät in starke Schieflage. Kummer sehnt sich in seine Heimat zurück … 
„Eine heile Welt lag vor uns, mit Tchibo, Karstadt und Kochlöffel. Aber war diese Welt aus der Ferne, von einer Mauer getrennt, nicht viel interessanter gewesen? Ich spürte kurz eine gewisse Fremdheit gegenüber dieser Perfektion und hatte Sehnsucht nach dem, was ich kannte, obwohl ich die Zone eigentlich hasste wie die Pest. Ich verzehrte mich nach Baggerseen und den Liedern von Veronika Fischer, nach verkommenen Hausecken und wilden Müllkippen, nach Stille und dem DDR-Gefühl der Siebziger, irgendwie in Watte gepackt zu sein.“ (S. 168) 
Der in Meißen geborene und in Brandenburg aufgewachsene Fernsehjournalist Alexander Kühne hat mit seinem Debütroman „Düsterbusch City Lights“ (2016) wunderbar authentisch die Träume seines Protagonisten Anton Kummer beschrieben, innerhalb des politischen Systems der DDR einen Hauch von West-Feeling und Freiheit in der Dorfkneipe zu erzeugen, doch endete diese Utopie mit mehr als nur Kopfschmerzen. Sein Fortsetzungsroman „Kummer im Westen“ setzt kurz nach der Wiedervereinigung ein und beschreibt die (oft schnell begrabenen) Hoffnungen und Träume der ehemaligen DDR-Bürger, all die Privilegien genießen zu können, von denen die Menschen in der Ostzone immer geträumt haben. Doch mit dem Fall der Mauer kommt vor allem Unsicherheit ins Spiel. Am Schicksal seiner Eltern erlebt Kummer hautnah, dass die Menschen massenhaft von Arbeitslosigkeit bedroht sind, nachdem die Ost-Betriebe mangels Bedarf die Produktion einstellen mussten. Kühne beschreibt die Atmosphäre der deutschen Wiedervereinigung gekonnt als eine Konfrontation von ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen. Kummer muss schnell einsehen, dass im Westen längst nicht alles Gold ist, was glänzt, begegnet Vorurteilen und Herablassung, muss schließlich auch seinen Traum von Vertreter für Rock-Musikplatten begraben. 
„Kummer im Westen“ gefällt neben der wunderbar beobachteten und dargestellten Atmosphäre von Erwartung und Enttäuschung im Zuge des Mauerfalls vor allem durch die vielschichtigen, glaubwürdig gezeichneten Figuren und den komplizierten Beziehungen zwischen ihnen, wobei Humor und Tragik, Freude und Trauer entspannt die Waage halten. Der rührende Schluss lässt hoffen, dass Kühne uns weiterhin mit Anton Kummers turbulenten Überlebensstrategien im Spannungsfeld zwischen Ost und West unterhält. 

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 6) „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“

Montag, 28. September 2020

(btb, 414 S., HC) 
Der Ideenhistoriker Albin Runge lebte zur Jahrtausendwende mit seiner Frau Viveka in Uppsala, wo sie beide an der Universität arbeiteten. Während die Theologin jedoch promovierte und einen halbwegs sicheren Job hatte, wurde Runge nie recht fertig. Als ihm und seinem Kollegen schließlich die Forschungsmittel am Institut gestrichen wurden, nahm er schließlich das Angebot von seinem Schwager Tommy an, in seinem Busunternehmen zu arbeiten. Runge ließ sich von Vivekas älteren Bruder die Ausbildung zum Busfahrer finanzieren und fand überraschenderweise Spaß daran, kunstinteressierte Rentner nach Skagen in Dänemark zu fahren und Orte wie Krakau, Madrid und Sankt Petersburg kennenzulernen, die er sonst nie besucht hätte. 
Doch im März des Jahres 2007 kommt es zur Katastrophe. Als Runge eine Gruppe von Neuntklässlern aus Stockholm zu einer Skifreizeit nach Duved fährt, versucht er einem Tier auf der Straße auszuweichen, gerät dabei auf der vereisten Fahrbahn in den Gegenverkehr und stürzt mit dem Bus zwanzig Meter einen Hang hinunter. Ungefähr die Hälfte der Fahrgäste kommt bei diesem Unfall ums Leben. Runge wird zwar wegen Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Tötung angeklagt, aber in allen Punkten freigesprochen. Die Ehe mit Viveka zerbricht, aber zwei Jahre später erbt Runge vierzig Millionen Kronen von seinen Eltern und lernt in der Bank die attraktive Angestellte Karin Sylwander kennen. Der unscheinbare Runge lädt die jüngere Frau zum Abendessen ein und heiratet sie wenig später. Fünfeinhalb Jahre nach dem tragischen Unglück erhält Runge mysteriöse Briefe, die er als Drohungen versteht und mit „Nemesis“ unterschrieben sind. Als sich die Drohungen auf den Jahrestag des Unglücks zuspitzen, weiht er die beiden Kommissare Eva Backman und Gunnar Barbarotti ein, die sich bereits seit fünfundzwanzig Jahren kennen, aber erst vor kurzem auch ein (heimliches) Liebespaar geworden sind. Viel kann die Polizei nicht unternehmen, ordnet jedoch eine Bewachung an, der sich Runge und seine Frau aber entziehen. Schließlich verschwindet Runge während der gemeinsamen Flucht auf der Fähre spurlos und wird schließlich für tot erklärt … 
Sechs Jahre später erschießt Eva Backman bei einem Einsatz einen siebzehnjährigen Jungen, bevor dieser eine Bombe unter ein Auto mit einem knutschenden Pärchen werfen konnte. Um der Unruhe wegen der internen Ermittlungen zu entgehen, nehmen sich Backman und Barbarotti eine Auszeit und ziehen sich in die Abgeschiedenheit Gotlands zurück. Als Barbarotti Albin Runge wiederzusehen glaubt, erwachen seine kriminalistischen Instinkte und rollt zusammen mit seiner Kollegin und Lebensgefährtin den ungelösten Fall wieder auf … 
„Was störte ihn am meisten, wenn es um diesen verfluchten Runge ging? Das heißt, abgesehen davon, dass er vielleicht lebte. Sicher, Barbarotti gönnte es ihm, dass er dem Tod entronnen war, aber wie in aller Welt war das nur möglich? Was war passiert? Welches Szenario hatten sie so vollständig übersehen, als sie vor fünf … nein, fünfeinhalb Jahren in dem Fall ermittelten? Rein polizeilich war er doch gelöst und zu den Akten gelegt worden. Dennoch blieb die Frage, was damals eigentlich passiert war.“ (S. 225) 
Mit seinem sechsten Fall um den etwas über fünfzigjährigen Kommissar Gunnar Barbarotti präsentiert der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser wieder einmal einen äußerst kniffligen Fall, in dessen Zentrum zwar die Frage steht, was aus dem 2013 verschwundenen Albin Runge letztlich geworden ist, der aber auch die Natur menschlicher Beziehungen thematisiert. Auf der einen Seite beschreibt Nesser, wie sich innerhalb der fünfeinhalb Jahre zwischen dem Verschwinden und dem vermeintlichen Wiederauftauchen von Albin Runge die Beziehung zwischen Barbarotti und der einige Jahre jüngeren Eva Backman von einer rein kollegialen zu einer Liebesbeziehung entwickelte, vor allem wird aber die weitaus komplexere Ehe von Albin Runge und Karin Sylwander seziert. 
Indem der Autor zwischen den Jahren und den Protagonisten hin- und herspringt, hält er geschickt die Spannung hoch. Albin Runge lässt er dabei vor allem durch seine eigenen Notizbuch-Eintragungen selbst charakterisieren, wobei die darin zum Ausdruck kommende Unscheinbarkeit und Lebensmüdigkeit durch die erste Begegnung mit Eva Backman noch verstärkt wird. Wie Backman und Barbarotti während ihrer Auszeit in Gotland schließlich den Fall wieder aufrollen, ist vor allem durch Barbarottis zwischenzeitlichen philosophischen Betrachtungen und dem damit korrespondierenden leichten Humor seiner Lebensgefährtin besonders lesenswert, aber auch die Art und Weise, wie die Geheimnisse in Runges Vergangenheit nach und nach gelüftet werden, sorgen dafür, dass die Leser bis zum Finale glänzend unterhalten werden. 

John Irving – „Das Hotel New Hampshire“

Samstag, 26. September 2020

(Diogenes, 600 S., Tb.) 
Um die Studiengebühren für seinen Aufenthalt in Harvard zu finanzieren, nimmt Win Berry im Sommer einen Aushilfsjob in dem Hotel Arbuthnot-by-the-Sea an, wo er neben seiner späteren Frau Mary auch den jüdischen Schausteller Freud und dessen Motorrad fahrenden Bären Earl kennenlernt. Für 200 Dollar und seine besten Kleider kauft Win dem Schausteller sowohl das Gefährt als auch den leidlich dressierten Bären ab und beginnt, seine Leidenschaft für Hotels auszuleben. Anfangs zieht er mit seiner rasch anwachsenden Familie mit den Kindern Frank, Frannie, John, Lilly und Egg noch von Hotel zu Hotel, dann funktionieren sie in Dairy, Maine, eine ehemalige Mädchenschule zu einem Hotel um. Zwar erweisen sich die Räumlichkeiten und deren Ausstattung als denkbar ungeeignet für den Hotelbetrieb, aber von solchen Widrigkeiten lassen sich die Berrys nicht abschrecken, auch wenn das erste Hotel New Hampshire alles andere als Gewinn abwirft. 
So nimmt Win gern das Angebot von Freud an, ihm bei seinem Hotel in Wien als Manager unter die Arme zu greifen. Allerdings nehmen Mary und Egg einen anderen Flug und stürzen ab. In Wien müssen die anderen Berrys mit dem Umstand fertig werden, dass das Hotel, in das das Familienoberhaupt schon viel Geld für den Umbau investiert hat, vor allem einerseits von Prostituierten wie Kreisch-Annie, die Alte Billig und die Dunkle Inge bewohnt wird, andererseits von sogenannten „Radikalen“, deren politische Absichten allerdings nicht näher definiert werden. Freud ist nicht nur sichtlich gealtert, sondern auch erblindet, Hilfe bekommt er vor allem von einem sprechenden Bären, der sich als Susie entpuppt, die sich als so hässlich empfindet, dass sie ihr Leben nur in einem Bärenkostüm erträgt. Doch als die Berrys auf beherzte Weise einen verheerenden Bombenanschlag der Radikalen auf die nahe gelegene Oper verhindern, werden sie so prominent, dass ihnen auf einmal alle Türen offenstehen. 
Der homosexuelle Frank, der sich während seiner Zeit in Wien für die Volkswirtschaftslehre erwärmt hat, handelt einen lukrativen Vertrag für die stets klein gebliebene Lilly und ihren autobiographischen Debütroman „Wachstumsversuche“ aus, so dass Familie Berry wieder in die USA zurückkehren kann. Dank Lillys Einkommen kann es sich die Familie leisten, im New Yorker Stanhope Hotel zu wohnen, wo die Kinder endlich damit beginnen, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die in Maine von ihrem Schwarm Chipper Dove und seinen beiden Kumpels bei einem Bandenstich vergewaltigte Frannie sieht endlich eine Möglichkeit, sich an ihrem Peiniger zu rächen. John, der schon seit der Kindheit ein besonders inniges, mehr als nur geschwisterliches Verhältnis zu Frannie gepflegt hat, bekommt endlich die Gelegenheit, auf ungewöhnliche Weise über seine Schwester hinwegzukommen. Nur Lilly droht an ihrem eigenen literarischen Anspruch zu scheitern … 
„… wir waren es natürlich alle gewohnt, mit Phantasien zu leben. Vater ging ganz darin auf: seine Phantasie war sein eigenes Hotel. Freud konnte nur dort sehen. Franny, in der Gegenwart ganz gefasst, blickte ebenfalls in die Zukunft – und ich blickte immer vor allem auf Franny (und erhoffte mir Signale, wichtige Zeichen, Anweisungen). Von uns allen gelang es Frank wohl am besten, seine Phantasie umzusetzen; er erdachte sich seine eigene Welt und blieb dort für sich.“ (S. 391f.) 
Drei Jahre nach seinem internationalen Bestseller „Garp und wie er die Welt sah“ veröffentlichte John Irving 1981 mit „Das Hotel New Hampshire“ eine irrwitzige Familienchronik, in der sich Humor und Tragik stets die Waage halten. Genüsslich portraitiert Irving eine Familie, deren durch und durch skurrile Mitglieder zunächst von dem Traum ihres Oberhauptes Win durch ein abenteuerliches Leben geführt werden. Win Berrys Traum von einem eigenen Hotel führt die Familie vom unscheinbaren Dairy in Maine nach Wien und zurück in die USA, zunächst in die Metropole New York und abschließend nach Arbuthnot-by-the-Sea, wo sich der Kreis schließt und eine ereignisreiche Reise ihren versöhnlichen Abschluss findet. Auch wenn es Irving mit dem Inzest-Marathon in New York vor allem die US-amerikanischen Sittenwächter erzürnte, ist ihm mit „Das Hotel New Hampshire“ ein durchweg amüsantes Panoptikum kurioser Charaktere gelungen, unter denen die beiden Bären Earl und Susie noch am harmlosesten erscheinen. 
Irving erweist sich als Meister darin, jede seiner Hauptfiguren mit so vielen sympathischen Eigenschaften zu versehen, dass man als Leser nie das Gefühl bekommt, er würde sich über sie lustig machen. Stattdessen folgt er ihnen auf sehr unbeständigen Wegen zu ihrem jeweils eigenen Glück oder zumindest ihrer wesentlichen Bestimmung.


Bas Kast – „Das Buch eines Sommers“

Mittwoch, 23. September 2020

(Diogenes, 240 S., HC) 
Nicolas Weynbach hatte gerade sein Abitur in der Tasche, als er den ersten großen Schmerz in seinem Leben verdauen muss. Seine Freundin Katharina wollte nämlich lieber im entfernten Sydney studieren als an seiner Seite zu bleiben. Damals holte ihn sein Onkel Valentin mit seinem Porsche Targa ab und reiste mit ihm „ins Leben“. Nachdem Nicolas‘ Vater, der ein kleines Pharmaunternehmen leitete, Valentin eher abschätzig als „Märchenonkel“ tituliert hatte, der vergebens auf den großen Wurf wartete, hatte sein Onkel nach drei, vier mäßig verkauften Büchern dann doch Erfolg mit einer Reihe von Erzählungen, in denen der lebenskluge Christopher im Mittelpunkt stand. 
So sehr Nicolas die sechs Wochen bis zum Beginn seines Studiums bei seinem Onkel genoss, verwirklichte er anschließend doch nicht seinen Traum, Schriftsteller wie Valentin zu werden, sondern trat in die Fußstapfen seines Vaters. Mittlerweile hat Nicolas seinen Doktor gemacht und die Firma seines Vaters übernommen, mit Valerie einen Wissenschaftsjournalistin geheiratet und mit Julian einen aufgeweckten Sohn, der sich vor allem durch Papas „Quatschgeschichten“ verzaubern lässt. 
Mit Michael und seinen Mitarbeitern arbeitet Nicolas am Methusalem-Projekt, das sich nicht weniger vorgenommen hat als den Alterungsprozess zu verlangsamen. Doch gerade in dem Moment, als die Testreihen nicht das gewünschte Ergebnis bringen, erhält Nicolas die Nachricht vom Tod seines Onkels, den er in den letzten Jahren viel zu selten gesehen hat. Mit seiner Familie reist Nicolas kurzerhand zur Villa seines verstorbenen Onkels, um die Beerdigung zu organisieren. So sehr er den Aufenthalt mit seiner Fmilie dort und die Erinnerungen an Valentin genießt, drückt ihn die Verantwortung seines Jobs. In seinen nächtlichen Träumen begegnet er in der geheimen Bibliothek der Villa einem Mann, der Nicolas darauf aufmerksam macht, worauf es wirklich im Leben ankommt. 
„,Warum hat die Gesellschaft oder die Familie bestimmte Ideale? Sind das auch meine Ideale? Am Ende müssen ja nicht die andern dein Leben leben, sondern du. Und so musst auch du die volle Verantwortung und damit zugleich das volle Risiko für deine Träume und dein Leben übernehmen.‘“ (S. 159) 
Bas Kast ist durch sein Buch „Der Ernährungskompass“ zum internationalen Bestseller-Autor avanciert, doch der Neurowissenschaftler sieht sich alles andere als Ernährungsberater, sondern vor allem als Autor. Schließlich hat er schon vor seinem internationalen Bestseller Bücher wie „Die Liebe und wie sich Leidenschaft erklärt“, „Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft“ oder „Ich weiß nicht, was ich wollen soll. Warum wir uns so schwer entscheiden können und wo das Glück zu finden ist“ veröffentlicht. Auch sein neues Büchlein, das sich mit schmalen 240 Seiten mit großer Schrift präsentiert, kommt mit einem Untertitel daher: „Werde, der du bist“
In seiner autobiografisch anmutenden Erzählung kämpft sein Ich-Erzähler als Neurowissenschaftler gegen des Prozess des Alterns, wird durch Termin- und Erfolgsdruck gehetzt. Dabei hat er nach seinem Abitur durch seinen Onkel bereits mitbekommen, dass es im Leben um mehr geht als seine Funktion in Familie und Gesellschaft zu erfüllen. Was folgt, ist eine absolut unspektakuläre Erzählung, die von vorn bis hinten leider allzu vorhersehbar ist und dem Leser keine wirklich neuen Erkenntnisse anbietet. 
In einer Zeit, in der Lebenshilfe-Bibeln und Ratgeber zu ganzheitlicher Gesundheit ganze Regale in den Buchhandlungen schmücken, wirkt „Das Buch eines Sommers“ eher wie eine nostalgische Reise zu den Anfängen der Überzeugung, dass nur ein selbstbestimmtes Leben glücklich machen kann. Allerdings sind diese letztlich einfachen Weisheiten, die im Alltag doch so schwer umzusetzen sind, schon eindringlicher und inspirierender zu Papier gebracht worden als in „Das Buch eines Sommers“. Weder die kaum ausdifferenzierten Figuren noch die seinem Sohn vorgetragenen „Quatschgeschichten“, schon gar nicht die allzu bekannten „Lebensweisheiten“ oder der überraschungsarme Plot machen dieses Büchlein lesenswert. Da möchte man dem Autor doch lieber raten, bei seinem eigentlichen Betätigungsfeld zu bleiben, nämlich Wissenschaftsbücher zu schreiben, die seinem Publikum auch einen Erkenntnisgewinn bringen. Der bleibt bei „Das Buch eines Sommers“ weitgehend aus, zumal die Herausforderungen, die zum Ausleben der eigenen Bestimmung überwunden werden müssten, hier allzu läppisch erscheinen.

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 5) „Die kleine Schwester“

Montag, 21. September 2020

(Diogenes, 352 S., HC) 
Der 38-jährige Privatdetektiv Philip Marlowe ist seit fünf Minuten hinter einer Schmeißfliege in seinem heruntergekommenen Büro in Los Angeles her, als eine junge Frau mit Kleinmädchenstimme anruft und sich einen ersten Eindruck davon verschaffen möchte, ob Marlowe der richtige Mann für das sein könnte, was sie benötigt. Wenig später sitzt sie auch schon in seinem Büro, Orfamay Quest aus Manhattan, Kansas, und berichtet dem Detektiv, dass sie nach ihrem Bruder Orrin sucht, der nach seinem Studium als Ingenieur für die Cal-Western Aircraft Company in Bay City zu arbeiten begann. Da seine Briefe an Mutter und an sie selbst aber seit Monaten ausgeblieben sind, hat Orfamay sich auf die Reise nach Bay City gemacht, doch aus dem Fremdenheim, dessen Adresse sie von Orrin hatte, ist er ohne bekanntes Ziel ausgezogen, sein Arbeitgeber habe ihn entlassen. 
Obwohl er die zwanzig Dollar Vorschuss von Orfamay letztlich nicht annimmt, ist Marlowes Neugierde geweckt. Nachdem er sich in Orrins alter Absteige umgesehen hat, entdeckt er den Verwalter Lester B. Clausen in seiner Wohnung – mit einem Eispickel im Nacken. Wenig später bekommt es Marlowe nicht nur mit den hartnäckigen Cops French und Maglashan zu tun, weil der Privatschnüffler wenig später einen weiteren Toten mit einem Eispickel im Nacken entdeckt. Seine Ermittlungen führen ihn sowohl in den Dunstkreis des Gangsters Weepy Moyer als auch in die gar nicht so glamouröse Welt von Hollywood. 
„Für wen schneide ich mir diesmal die Halsschlagader auf? Für eine Blondine mit sexy Augen und zu vielen Schlüsseln? Für ein Mädchen aus Manhattan, Kansas? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass nicht alles ist, wie es scheint, und das gute alte Bauchgefühl sagt mir, dass der oder die Falsche den Pott verliert, wenn alle ihre Karten so ausspielen, wie sie ausgeteilt worden sind? Geht mich das etwas an? Weiß ich das? Habe ich es jemals gewusst? Fangen wir nicht damit an. Du bist heute kein Mensch, Marlowe. War ich vielleicht nie, werde ich vielleicht nie sein.“ (S. 111) 
Mit seinem ersten Roman um Philip Marlowe, „The Big Sleep“, gelang dem 1888 in Chicago geborenen, aber zunächst in England lebenden Raymond Chandler gleich ein großer Erfolg. 1946 wurde das Buch durch Howard Hawks mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle auch noch wunderbar verfilmt. Bis zu seinem Tod 1959 erschienen sechs weitere Marlowe-Romane, das unvollendete Manuskript zu „Poodle Springs“ wurde erst 1989 durch Robert B. Parker fertiggestellt. 
Mit dem fünften Band der Marlowe-Reihe, „Die kleine Schwester“, hat Chandler 1949 einen coolen Hardboiled-Krimi geschaffen, der Marlowe wieder mit einigen geheimnisvollen, sexy Frauen zusammenbringt, die den Detektiv lange an der Nase herumführen. Es ist aber weniger der komplexe Plot, der „Die kleine Schwester“ so unterhaltsam macht, sondern die Art und Weise, wie Marlowe als Ich-Erzähler mit flotten, zynischen Sprüchen an sein Ziel zu kommen versucht, die Affäre um ein Foto und die offensichtlich damit zusammenhängenden Morde aufzuklären. 
Interessant sind dabei vor allem seine wehmütigen Erinnerungen, als Los Angeles noch kein heruntergekommener Slum mit Neon-Beleuchtung war, sondern ein sonniger, friedlicher Ort, in dem die Menschen draußen auf der Veranda schliefen. Chandler gelingt es, allein durch die knackigen Dialoge ein Gespür für die Zeit bei seinen Lesern zu entwickeln, für die Atmosphäre, in der Cops, Gauner und Hollywood-Sternchen in ihrem Wirken kaum auseinanderzuhalten sind und die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen lassen. Dass sich die Marlowe-Romane aber mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung immer noch so flüssig lesen lassen, liegt einfach auch an der wahrhaften Beschreibung menschlicher Tugenden und Schwächen, an der Hoffnung, die Marlowe trotz aller Rückschläge tapfer in seinem Herzen trägt. Das ist einfach große Literatur, die in der neuen Übersetzung von Robin Detje ihren ganzen sprachlichen Glanz verbreitet. Dazu hat Michael Connelly der Neuausgabe noch ein Nachwort gespendet, in dem er begründet, warum gerade „Die kleine Schwester“ sein Lieblingsbuch von Chandler ist. 

Stewart O’Nan – „Der Zirkusbrand“

Sonntag, 20. September 2020

(Rowohlt, 510 S., HC) 
Als der Zirkus Ringling Bros. and Barnum & Bailey am 6. Juli 1944 in Hartford, Connecticut, sein Gastspiel gab, kamen geschätzte 8700 Besucher zur Nachmittagsvorstellung an diesem heißen Sommertag. Er war einer der wenigen Eisenbahn-Zirkusse, die die Weltwirtschaftskrise überlebt haben und darauf bauen konnte, dass durch die Kriegsindustrie die Lohntüten der Menschen gut gefüllt waren. Zu den Höhepunkten des Programms zählten das von Strawinsky geschriebene und von Balanchine choreographierte Elefantenballett, die Stars Emmett Kelly und Löwen-Dompteur Alfred Court, die Wallendas, die Cristianis, die Fliegenden Concellos und Menagerieattraktionen wie der Riesengorilla Gargantua und seine Braut M’Toto. Das Programm war sehr patriotisch ausgerichtet, Soldaten hatten freien Eintritt, und es gab Freikarten für die Haupttribüne für diejenigen, die Kriegsanleihen gezeichnet haben. 
Für viele Menschen sollte der Besuch dieser Vorstellung allerdings zum Verhängnis werden: Gerade als May Kovar und Joseph Walsh in zwei getrennten Käfigen ihre Raubtiervorführungen beendeten und die Wallendas zehn Meter nach oben kletterten, um mit ihrer Drahtseilakrobatik zu beginnen, da fing ein Feuer an der unbehandelten Zeltwand hinter der südwestlichen Seitentribüne ungefähr zwei Meter über dem Boden zu lodern an. Als es bemerkt wurde, versuchten einige Platzanweiser mit gefüllten Wassereimern den Brand zu löschen, doch erreichten sie nur den unteren Rand der Flammen, die in der wasserdichten Mischung aus Paraffin und Benzin schnell weitere Nahrung fanden. 
Zwar spielte Merle Evans mit ihrem Orchester noch „The Stars and Stripes Forever“, doch die Panik ließ sich nicht mehr aufhalten. Wer auf den unteren Plätzen nicht schnell genug ins Freie rannte, wurde gnadenlos von den nachströmenden Massen zertrampelt, andere wurden von den siebzehn Meter hohen, nun herunterstürzenden Masten erschlagen, von den Laufgittern eingeklemmt, starben durch Rauchvergiftung oder schwere Verbrennungen. 
Die über 400 Verletzten wurden auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt, die Toten zur Identifizierung ins Waffenarsenal gebracht. 
„Das ganze Land war in ständiger Bereitschaft, und nach der Invasion der Normandie war die Moral der Leute gut. Die Ideale von Opferbereitschaft und gemeinsamer Anstrengung waren ihnen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Viele Menschen verließen ungefragt ihren Arbeitsplatz, um zu helfen, als sie vom Brand hörten. Die Blutbank des Roten Kreuzes in der Pearl Street konnte sich vor Spendern kaum retten.“ (S. 217) 
Stewart O’Nan, der 1993 für seinen Debütroman „Engel im Schnee“ mit dem William-Faulkner-Preis ausgezeichnet wurde und seither zu einem der angesehensten zeitgenössischen Schriftsteller avancierte, hatte eigentlich nicht vor, ein Sachbuch über den verheerendsten Zirkusbrand in der amerikanischen Geschichte zu schreiben. Er hatte während der Recherchen zu einem Roman einen Artikel über das Feuer in einer alten „Life“-Ausgabe gelesen und erinnerte sich daran, als er mit seiner Familie nach Hartford zog, wo er neugierig nach näheren Informationen suchte, aber überraschend feststellen musste, dass diese Katastrophe niemand in Worte gefasst hatte. 
Also begann er, die Menschen in der Stadt zu befragen und Material zu sammeln. Stewart O’Nan wurde zum selbsternannten „Hüter des Brandes“, hatte seinen Roman beendet und Zeit, die Geschichte des Brandes und der Überlebenden zu erzählen. Am Ende erzählt „Der Zirkusbrand“ eine gut fünfzig Jahre umfassende Geschichte der Katastrophe, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Minutiös berichtet er wie ein Dokumentarfilmer über die Vorbereitungen und – leider unzulänglichen - getroffenen Sicherheitsvorkehrungen; schildert, wie verschiedene Familien sich auf den Zirkusbesuch vorbereiteten und die Katastrophe ihren Lauf nahm. Illustriert durch unzählige Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert der Autor den Ausbruch der Panik, die selbstlosen Rettungsversuche einiger tapferer Menschen, die Schwächeren beim Verlassen des Unglücksortes halfen; beschreibt die verheerenden Verletzungen und die verzweifelten Versuche von Ärzten und Krankenschwestern, das Leider der Opfer zu lindern. 
Besonders tragisch entwickelt sich die Suche nach den unidentifizierten Opfern, sechs Stück an der Zahl, darunter ein Mädchen, das als „kleine Miss 1565“ bekannt geworden ist. O’Nan nimmt sich auch hier viel Zeit, die Suche nach der Identität des kleinen Mädchens und letztlich nach den Verantwortlichen der Katastrophe zu beschreiben. Beides zog sich bis in die 1990er Jahre hinein. Es ist ebenso bestürzendes wie faszinierendes Zeitdokument, das Stewart O’Nan mit „Der Zirkusbrand“ vorgelegt hat, eine Art Reportage in Romanform, die manchmal zu sehr ins Detail geht, aber letztlich wirklich alle Aspekte dieser Katastrophe abdeckt. Es ist schwerverdauliche Kost, die durch O’Nans gewissenhafte Arbeit lange im Gedächtnis bleibt und vor allem den Opfern und Helden ein Denkmal setzt.