Jack Kerouac – „Die Dharmajäger“

Samstag, 26. März 2022

(Rowohlt, 288 S., HC) 
„On the Road“, der 1957 veröffentlichte, zweite Roman von Jack Kerouac, avancierte nach seinem Erscheinen zur Bibel einer ganzen Generation von sinnsuchenden Menschen, die unter dem Begriff Beat Generation zusammengefasst wurden und zu deren populärsten Wortführern Kerouacs Kommilitonen Allen Ginsberg und William S. Burroughs zählen. 
Zum 100. Geburtstag des am 12.03.1922 geborenen und bereits 1969 an den Folgen seines Alkoholkonsums verstorbenen Kerouac hat der Rowohlt Verlag mit „Die Dharmajäger“ und „Engel der Trübsal“ zwei Werke in grandioser neuer Übersetzung von Thomas Überhoff veröffentlicht, die chronologisch an die autobiografischen Erlebnisse, die in „On the Road“ geschildert werden, direkt anschließen. Der um die Hälfte schmalere Band „Die Dharmajäger“ (im Original passender als „The Dharma Bums“, in deutscher Erstveröffentlichung unter dem Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“ erschienen) wirkt wie ein ausführlicher Prolog zu „Engel der Trübsal“, kreisen beide – wiederum autobiografischen - Werke doch um Kerouacs zweimonatigen Aufenthalt auf dem Desolation Peak. 
Im September 1955 macht sich Ray Smith (Jack Kerouac) im Güterzug auf den Weg von Los Angeles über Santa Barbara nach San Francisco. Obwohl er selbst stets knapp bei Kasse ist, teilt der tiefgläubige Zen-Buddhist seinen Wein und sein Essen mit einem Mitreisenden, denn für ihn, der sich als Bhikkhu aus alten Zeiten in modernem Gewand betrachtet, der durch Freigebigkeit, Nächstenliebe, stille Einkehr, Hingabe und Ekstase schließlich Verdienste als zukünftiger Buddha erwerben würde. Eine Woche später lernt er in San Francisco Japhy Ryder (Gary Snyder) kennen, der in einer Blockhütte tief im Wald aufgewachsen war, Chinesisch und Japanisch lernte und Orientalist mit einem tiefen Verständnis für den Zen-Buddhismus.Bei einer Lesung in der Six Gallery trifft Ray auch Alvah Goldbook (Allen Ginsberg) und andere „Hornbrille tragende Intellekto-Hipster mit ungebändigter schwarzer Mähne“ und feiern in der Hütte von Japhys Freund Sean wilde Partys mit Jazz, Alkohol und willigen Mädchen, die Japhy scheinbar mühelos für seine Zwecke einspannt, während Ray auf dem Rasen sein einsames Nachtlager aufschlägt.
Zusammen mit dem Bergsteiger/Jodler Henry Morley unternehmen Japhy und Ray eine Wanderung den kalifornischen Matterhorn Peak hinauf, wo Ray die wohltuende Kraft der Natur für sich entdeckt. Dieser Aufstieg dient ihm als Vorbereitung für den Sommerjob auf dem Desolation Peak, während Japhy nach Asien reisen will, um seine buddhistischen Studien fortzuführen … 
„Ich wusste, der Klang der Stille war überall, und deshalb war alles überall Stille. Angenommen, wir wachen plötzlich auf und erkennen, dass das, was wir für dieses und jenes gehalten haben, gar nicht dieses und jenes ist? Begrüßt von Vögeln taumelte ich den Hügel hoch und besah mir die gedrängt auf dem Hüttenboden schlafenden Gestalten. Wer waren all diese seltsamen Geister, die mit mir zusammen das dumme kleine Abenteuer Erde teilten? Und wer war ich?“ (S. 224f.) 
Während „Engel der Trübsal“ (das zuvor nur als gekürzte Fassung unter dem Titel „Engel, Kif und neue Länder“ erhältlich gewesen ist) mit der Rückschau auf die letztlich niederschmetternde Erfahrung auf dem Desolation Peak beginnt, wo Jack Kerouac zwei Monate als Brandwächter gearbeitet hat, wird in „Die Dharmajäger“ der Boden für diesen abenteuerlichen Trip bereitet, und zwar in einer weit einheitlicheren Sprache als sie uns bei „Engel der Trübsal“ begegnet. 
Kerouac bzw. sein in diesem Roman Ray Smith benanntes Alter Ego brennt darauf, seinen Zen-Buddhismus-getränkten Geist durch Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen zu schärfen und sich dabei vom Haben zum Sein zu entwickeln. Mehr noch als die obligatorischen Partys mit ihren allseits verfügbaren Verführungen durch Sex, Alkohol und Drogen sind es die Reisen durch Amerika und nach Mexiko, die Rays Gedanken und Gefühle prägen, doch nutzen sich die buddhistischen Plattitüden mit der Zeit doch arg ab. 
Weitaus fesselnder sind die unmittelbaren Eindrücke gelungen, die Kerouac bei den Wanderungen durch die Natur gewinnt. Seine Beschreibungen sind dabei so intensiv und bildreich ausgefallen, dass man sich als Leser an seiner Seite wähnt, das feuchte Gras unter den nackten Fußsohlen und das Knistern des Lagerfeuers zu spüren glaubt. Das ist nicht unbedingt große Literatur, aber doch ein authentisches Zeugnis der Sinnsuche, die Kerouac Zeit seines Lebens getrieben, aber eben nicht glücklich gemacht hat.  

Jack Kerouac – „Engel der Trübsal“

Donnerstag, 24. März 2022

(Rowohlt, 526 S., HC) 
Zusammen mit seinen Kommilitonen an der Columbia University in New York, Allen Ginsberg und William S. Burroughs, war Jack Kerouac (1922-1969) das Aushängeschild der Beat Generation und somit Aushängeschild der Popliteratur. Kerouacs zweiter, 1957 veröffentlichter Roman „On the Road“ wurde zur Bibel der Beatniks. Weit weniger populär wurden Kerouacs Nachfolgewerke, von denen der Rowohlt Verlag zum 100. Geburtstag des Ausnahme-Literaten eine Vielzahl neu bzw. in neuer Aufmachung/Übersetzung veröffentlicht, darunter erstmals in vollständiger deutscher und neuer Übersetzung den 1956 erschienenen autobiografischen Roman „Desolation Angels“
In „Engel der Trübsal“ (der zuvor in Teilen als „Engel, Kif und neue Länder“ veröffentlicht wurde) lässt Kerouac das Jahr vor der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Romans „On the Road“ Revue passieren.
In der Hoffnung, Gott oder Tathagata gegenübertreten und den Grund für die ganze Existenz herauszufinden, übernimmt Jack Duluoz für zwei Monate einen einsamen Job als Brandwächter hoch oben auf dem Desolation Peak in den Cascade Mountains an der Grenze zu Kanada, doch werden die Erwartungen des 34-jährigen Schriftstellers, dessen Roman „Road“ kurz vor der Veröffentlichung steht, schnell enttäuscht. 
Duluoz begegnet letztlich nur sich selbst, gelangweilt von der Einöde ohne Drogen und Alkohol, so dass er mehr als froh ist, am 8. August 1956 wieder den Weg zurück ins Tal antreten zu können. Zurück nach San Francisco bringt er nur die Erkenntnis, dass mit der Freiheits- und Ewigkeitsvision der Wildniseinsiedler kaum etwas in den Großstädten, wo jeder jeden bekriegt, anzufangen ist. Duluoz stürzt sich wieder in das wilde Partyleben in San Francisco, zieht mit seinen Freunden durch die Bars und Jazz-Clubs. Hin- und hergerissen zwischen dem absoluten Frieden, den er in den Bergen erlebte, und den einfachen Freuden des Großstadtlebens mit Sex, Shows und gutem Essen zieht es Duluoz wieder in die Welt, zunächst nach Mexico. 
In Mexico City, wo das Essen gut und die Unterkünfte billig sind, freundet er sich mit dem sechzigjährigen Junkie Bull Gaines an, später tauchen auch Jacks Freunde Cody Pomeray und Irwin Garden (mit dessen Lover Simon) auf, bis alles zu eng und wild wird. Duluoz zieht es zurück in die USA, über Memphis geht es nach New York, wo er mit seinen Freunden bei den Mädchen Ruth Erickson und Ruth Heaper abhängt, doch der vertraute Mix aus Partys, Alkoholexzessen und Sex nutzt sich auch hier schnell ab. Weiter geht’s – nach Tanger, Paris und London, stets finanziert von den monatlich ausgezahlten 100-Dollar-Vorschüssen für sein Buch „Road“. Am Ende unternimmt er noch mit seiner Mutter eine Reise nach Mexico … 
„Und genau wie in New York, Frisco oder sonst wo hocken sie alle im Marihuanadunst rum und reden, die coolen Mädchen mit den langen dünnen Beinen in lässigen Hosen, die Männer mit Kinnbärten, alles furchtbar und öde und damals (1957) noch nicht mal offiziell unter dem Namen ,Beat Generation‘ bekannt. Kaum zu glauben, dass ich damit so viel zu tun hatte, ja, gerade erst wurde das Manuskript von Road für die baldige Veröffentlichung gesetzt, und ich hatte schon die Schnauze voll von all dem. Nichts ist öder als ,Coolness‘ (nicht die von Irwin, Bull oder Simon, die ist natürliche Ruhe), gekünstelte, eigentlich insgeheim steife Coolness, die verschleiert, dass der jeweilige Mensch nichts Starkes oder Interessantes zu vermitteln hat, eine soziologische Coolness, die bald für eine Weile bis in die Mittelschichtsjugend hinein in Mode kommen wird.“ (S. 451) 
Obwohl „Engel der Trübsal“ die Zeit direkt vor der Veröffentlichung von „On the Road“ abdeckt, handelt es sich um den bereits zwölften, erst 1965 und damit vier Jahre vor seinem Tod veröffentlichten Roman von Jack Kerouac. Die desillusionierende Erfahrung, die der Ich-Erzähler auf dem Berg mit dem für ihn prophetischen Namen Desolation Peak macht, bildet nicht nur den Auftakt von Kerouacs/Duluoz‘ Reise durch die USA bis nach Mexiko, Nordafrika und Europa, sondern vermittelt gleichzeitig das Gefühl der Niedergeschlagenheit, das den Autor und sein Alter ego letztlich in die Alkoholsucht und in den Tod trieb. 
Vor allem die ersten Kapitel der Rückbetrachtung auf die einsame Zeit auf den Gipfeln der Berge stellt sich als wilde Improvisation dar, die dokumentiert, was Kerouac unter „spontaner Prosa“ verstand. Die rauschhaft wirkende, unzensierte und unmittelbare Verschriftlichung innerer und äußerer Erfahrungswelten macht sich bei „Engel in Trübsal“ in wilden, zusammenhanglosen Aufzählungen und Kettensätzen bemerkbar, die buddhistische Philosophie, literarische Anspielungen und überhaupt die ganze Weltgeschichte miteinander vereint. Die Handlung, also vor allem Kerouacs/Duluoz‘ Reisen, aber auch seine sexuellen Begegnungen, Gespräche und Erfahrungen bei Partys und Auftritten von Jazz-Musikern, gerät dabei fast in den Hintergrund, so sehr drängt sich die Niedergeschlagenheit des immer auf sich selbst beziehenden Schriftstellers in den Vordergrund. Das ist nicht immer leicht zu konsumieren, stellt aber ein beredtes Selbstzeugnis eines einzigartigen Schriftstellers dar, dessen Werk auch über „On the Road“ hinaus Beachtung verdient – wie diese gelungene Neu- und Gesamtübersetzung beweist. 

Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 2) „Der böse Hirte“

Montag, 21. März 2022

(Blanvalet, 512 S., HC) 
Bevor Jeffery Deaver 1997 mit „The Bone Collector“ den ersten und später erfolgreich mit Denzel Washington und Angelina Jolie verfilmten Roman seiner Lincoln-Rhyme-Reihe veröffentlichte, hatte er bereits einige andere Werke veröffentlicht, aber bis heute ist er vor allem für seine bislang schon vierzehn Romane um den querschnittsgelähmten Ermittler bekannt. Der Erfolg dieser Reihe hat Deaver allerdings nicht davon abgehalten, über die Jahre auch andere Reihen zu entwickeln, wobei sich seit 2007 die Reihe um die Verhörspezialistin Kathryn Dance etabliert hat. Mittlerweile ist mit Colter Shaw eine weitere Figur auf den Plan getreten. Nach „Der Todesspieler“ ist nun mit „Der böse Hirte“ der zweite Teil um Shaw erschienen, dessen Profession darin besteht, vermisste Personen aufzuspüren. 
Colter Shaw wird damit beauftragt, den 27-jährigen Adam Harper aus Tacoma und seinen 20-jährigen Freund Erick Young aus Gig Harbor zu finden, die in Verbindung mit einem Hassverbrechen gesucht werden. Den beiden jungen Männern wird vorgeworfen, neben Schmierereien auf Synagogen und Kirchen in überwiegend schwarzen Gemeinden auch auf einen Prediger und Hausmeister geschossen zu haben. Allein die vom Pierce County ausgesetzte Prämie von 50.000 Dollar lockt auch Colters ungemütlichen Konkurrenten Dalton Crowe an. Bei dem Besuch der Eltern findet Shaw heraus, dass Erick nach dem Tod seines jüngeren Bruders Mark vor sechzehn Monaten eine schwere Zeit durchmachte. Offenbar hat Erick beim Besuch des Grabes seines Bruders auf dem Friedhof Adam kennengelernt, der seine Mutter verloren hatte. 
Unterwegs erhält Shaw die Nachricht, dass die Polizei die Spur der beiden Flüchtigen aufgenommen hat. Als sich Shaw der Verfolgung anschließt, beobachtet er mit Schrecken, wie sich Adam mit glückseligem Ausdruck im Gesicht die Klippen hinunterstürzt. Durch seine Assistentin Mack erhält Shaw Hinweise auf eine Art Selbsthilfegruppe, die Osiris-Stiftung. Shaw schleicht sich unter falschem Namen in die Stiftung ein, deren Anwesen sehr abgeschieden in den Bergen liegt und strengsten Sicherheitsvorkehrungen unterliegt. Da er tatsächlich auch einen Bruder verloren hat, fällt ihm das erste Gespräch bei der Aufnahme nicht schwer. 
„Hier, in diesem kleinen Raum, im Gespräch mit einem einfühlsamen, klugen und sympathischen Mann, hatte die Tarnung schlichtweg versagt. Shaw, nicht Skye, saß hier als Gefährte der Stiftung und litt tatsächlich unter dem tragischen Verlust seines Bruders. Er nahm wirklich an der erste Phase des Prozesses teil, weil er sich erneuern wollte. Er wünschte sich im Ernst, zum Auszubildenden aufzusteigen und dann ein Geselle und Angehöriger des Inneren Kreises zu werden und das begehrte silberne Amulett zu erhalten.“ (S. 228) 
Shaw spielt seine Rolle so gut, dass er von Meister Eli für ein beschleunigtes Förderprogramm auserwählt wird, doch was er im Laufe seines Aufenthalts dort erlebt, lässt ihn am gesunden Menschenverstand zweifeln … 
Wie die ausführliche Bibliographie am Ende des Buches dokumentiert, hat Deaver ausgiebig zum Thema Sekten recherchiert und seine daraus gewonnenen Erkenntnisse in seinem neuen Colter-Shaw-Roman verarbeitet. Die Suche nach zwei mutmaßlichen jungen Straftätern führt den Prämienjäger direkt ins Herz einer Organisation, die nichts dem Zufall überlässt, kaum Spuren im Internet aufweist und ganz auf das Charisma des Stiftungsgründers Eli aufbaut, dem seine Jünger größtenteils völlig verfallen sind. 
Deaver beschreibt die inneren Prozesse der Osiris-Stiftung sehr anschaulich und würzt den Plot immer wieder mit ein paar Action-Einlagen, Verfolgungsjagden, Nahkämpfen, unterbricht zum Finale hin aber den Spannungsbogen, um auf Shaws ursprüngliche Mission zurückzukommen, ein offenbar gefährliches Geheimnis um seinen verstorbenen Vater zu lüften. Schließlich brachte es Shaw fast eine tödliche Auseinandersetzung mit dem Killer Ebbitt Droon ein. 
„Der böse Hirte“ liest sich flüssiger als Deavers Lincoln-Rhyme-Romane, ist weniger komplex aufgebaut und geschrieben, behandelt die Sekten-Thematik auf einem weitgehend oberflächlichen Niveau, das letztlich den Rahmen für einen spannenden Plot bildet, aber wenig Raum für psychologisch ausgefeilte Figuren bietet. Der zweite Colter-Shaw-Roman bietet routiniert inszenierte Spannung vor dem Hintergrund eines nicht mehr ganz so populären Themas, kann aber mit der Klasse von Deavers Reihen und Lincoln Rhyme und Kathryn Dance nicht ganz mithalten.  

L.R. Carrino – „Der Verstoß“

Donnerstag, 17. März 2022

(Pulp Master, 124 S., Tb.) 
Don Antonio ist der Boss der kleinen Mafia-Organisation Acqua Storta und damit Teil der neapolitanischen Camorra. Seinen Sohn Giovanni hat er streng im Geiste der Bibel erzogen, doch bewegt sich der junge Mann außerhalb der Norm. Nachdem er als Jugendlicher einige Monate in der Jugendhaftanstalt verbracht hatte, heiratete er Mariasole Simonette, um den Krieg zwischen der Familie Don Antonio Farnesinis und der von Don Pietro Simonetti zu beenden, der nach Schießereien in Acerra, Nola und Pomigliano außer Kontrolle geraten war. Doch für Giovanni ist die Ehe kein sicherer Hafen. Er lässt sich an der Litorale Domizio von einer nigerianischen Prostituierten einen blasen, doch seine Leidenschaft gehört dem männlichen Geschlecht. 
In einer gesellschaftlichen Struktur wie der Mafia sind homosexuelle Neigungen natürlich tabu, aber bereits im Jugendknast hat Giovanni festgestellt, dass er beim Betrachten einer Vergewaltigung eines Mithäftlings durch zwei Männer einen Ständer wie noch nie in seinem Leben bekam. Als er sich in dem Salvatore, den Buchhalter der Acqua Storta, verliebt, ist ihm durchaus bewusst, dass er damit gegen den moralischen Kodex seines Umfelds verstößt, doch die Leidenschaft, die Giovanni mit Salvatore heimlich auslebt, steht unter einem ungünstigen Stern … 
„Salvatore geht schon wieder neben mir. Aber im Grunde ist doch nichts dabei, wahrscheinlich habe ich nur alle möglichen Filme im Kopf. Das hat mir noch gefehlt: Ich muss mich beruhigen, darf jetzt nicht in Panik geraten. Die Leute können es förmlich riechen, wenn sie merken, wie unsicher und nervös ich bin. Aber das mit Salvatore und mir ist ein Geheimnis in dieser Stadt. In dieser Stadt, wo alles hinter verschlossenen Türen geschieht, die Salz über die Schulter wirft, um das Böse und das Unglück abzuwenden. In unserer Stadt sind wir Waisen, sozusagen, und wir machen auch unsere Kinder zu Waisen, früher oder später.“ (S. 14) 
Der aus Neapel stammende Schriftsteller L.R. Carrino beschreibt in seinem nur 80 Seiten umfassenden Kurzroman ein Ding der Unmöglichkeit: Homosexualität in der Mafia. In einer Organisation, in der die Attribute von Männlichkeit und Stärke alles bedeuten, umreißt der Ich-Erzähler Giovanni gerade mal einen Zeitraum von drei Tagen, in denen die Ereignisse in umgekehrter Chronologie geschildert werden, bis das kompromisslose wie ernüchternde Finale wieder an den Romananfang anknüpft. Carrino lässt seine Figur den Strom der Ereignisse nur kurz umreißen. In Erinnerungen wird die von den verfeindeten Familien organisierte Hochzeit, die homosexuelle Vergewaltigung im Knast, das Verteilen von Löhnen und die Vorbereitungen zu dem von seinem Vater beauftragten Mord aus Rache jeweils kurz skizziert. 
Die verschiedenen homosexuellen Handlungen werden sehr plastisch, aber ohne echte Emotionen auf den rein sexuellen Akt reduziert. Während sich sein Geliebter Salvatore nach einer romantischen Beziehung sieht, versucht Giovanni die Beziehung nicht nur geheim zu halten, sondern auch seine wahren Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das ist Carrino bei aller Kürze sehr anschaulich gelungen. Der anschließend abgedruckte Beitrag von Christian Gabriele Moretti (Mitbegründer und Herausgeber des wissenschaftlichen Journals „Akademia“ der Universität von Calgary), „Der schwule Mafioso: Zur Konstruktion und Dekonstruktion von Männlichkeit in Carrinos Roman Aqua Storta – Der Verstoß“, analysiert sehr anschaulich, wie vor allem in der italienischen, vom Faschismus geprägten Gesellschaft Homosexualität nach wie vor ein absolutes Tabu darstellt und wie die homophobe Intoleranz in der Welt des organisierten Verbrechens auch das krasse Romanende erklärt. 
Als Krimi taugt „Der Verstoß“ allerdings nur bedingt. Dafür muss Carrino hoch angerechnet werden, dass er auf kompromisslose Weise ein bis heute stark tabuisiertes Thema aufgegriffen hat. 

 

Stephen King – „Friedhof der Kuscheltiere“

Mittwoch, 16. März 2022

(Hoffmann und Campe, 384 S., HC) 
Stephen King hatte seit Mitte der 1970er Jahre bereits so erfolgreiche und teilweise durch namhafte Regisseure wie Brian De Palma, Tobe Hooper, Stanley Kubrick und George A. Romero verfilmte Bestseller wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Cujo“, „Schwarz“ und „Christine“ veröffentlicht, als 1983 mit „Pet Sematary“ sein wohl angsteinflößendstes Werk erschien – das mittlerweile zweimal verfilmt (davon einmal mit Fortsetzung) wurde und vor allem in Punk-Rock-Kreisen sehr inspirierend wirkte. 
Als Louis Creed den Posten als Leiter der Krankenstation der University of Maine übernimmt, zieht er mit seiner Frau Rachel und den beiden Kindern, der fünfjährigen Ellie und dem zweijährigen Gage, an den Rand der Kleinstadt Ludlow, wo er sich sofort mit dem älteren Nachbarn Jud Crandall anfreundet. Dieser erzählt ihm nicht nur interessante Geschichten aus der Vergangenheit der Stadt, sondern weist ihn auch in das Geheimnis des Pfades ein, der von der Grenze des geräumigen Grundstücks, auf dem die Creeds jetzt leben, durch Grasland, Wälder und Felsen hinauf zu einem einst von den Micmac-Indianern angelegten Tierfriedhof führt. Eines Tages unternimmt Jud mit der ganzen Creed-Familie einen Ausflug dorthin, worauf Ellie sich sorgen macht, dass ihr Kater Church bald sterben könnte. Schließlich liegt ihr neues Zuhause dicht an der Route 15. Louis beschließt, den Kater zu kastrieren, worauf dieser weit träger und somit ungefährdeter wirkt. Louis hat sich gerade in der Krankenstation eingelebt, als ein Student eingeliefert wird, der beim Joggen von einem PKW erfasst und an einen Baum geschleudert wurde. 
Für Victor Pascow kommt jede Hilfe zu spät, aber der Sterbende röchelt noch ein paar Worte, in denen er erwähnt, dass der Tierfriedhof nicht der richtige Friedhof sei, und schließlich: „Der Acker im Herzen eines Mannes ist steiniger, Louis. Ein Mann bestellt ihn … und lässt darauf wachsen, was er kann.“ In der Nacht darauf führt Pascow den schlafwandelnden (?) Louis zu dem Tierfriedhof, doch glaubt Louis am nächsten Tag, diese Episode nur geträumt zu haben. Churchs Kastrierung hat offensichtlich nicht zur Verlängerung seines Lebens beigetragen, denn wenig später wird tot in der Nähe der Straße aufgefunden. Jud führt Louis mit dem Kater zum Tierfriedhof und führt ihn noch ein Stück weiter, wo Louis den Kadaver vergräbt. Am nächsten Morgen taucht Church im Haus der Creeds wieder auf. Außer Louis hat aus der Familie auch niemand etwas von dem Begräbnis mitbekommen, da Louis‘ Familie zu Rachels Eltern geflogen ist. Nach ihrer Rückkehr beklagt sich zwar vor allem Ellie über den widerlichen Gestank des Katers, aber sonst bemerkt außer Louis kaum die Veränderung, die in dem Tier vorgegangen ist. 
Dazu zählt vor allem die grausame Art, mit der Church nun seine Opfer zerlegt. Doch mit Church ist erst der Anfang einer Kette von schrecklichen Ereignissen in Gang gekommen, an denen Jud mit seinen Erzählungen von der Geschichte des Friedhofs nicht ganz unschuldig ist … 
„Die Laster waren an allem schuld. Diese verdammten Laster. Aber das stimmte nicht. Er spürte, wie der Tierfriedhof an ihm zerrte – und etwas, das dahinter lag. Seine Stimme, die einst eine Art verführerisches Wiegenlied gewesen war, eine Stimme, die Trost in Aussicht stellte und eine verträumte Art von Macht, klang jetzt tiefer und verhängnisvoll – hart und bedrohlich. Halt dich da raus. Aber er wollte sich nicht heraushalten. Dafür reichte seine Verantwortung zu weit zurück.“ (S. 295) 
Es ist überliefert, dass Stephen King selbst so abgestoßen von seiner Geschichte gewesen sei, dass er meinte, damit eine persönliche Grenze überschritten zu haben. Tatsächlich geht einem die Story eines ganz gewöhnlichen Familienvaters, der den Tod des geliebten Haustiers und vor allem seiner Liebsten nicht auf sich beruhen lassen kann. Statt die gewöhnlichen Phase der Trauer zu durchlaufen, fordert er das Schicksal heraus, lässt sich durch die besorgniserregenden Geschichten seines Nachbarn animieren, die Toten eben nicht in Ruhe zu lassen, sondern alles zu unternehmen, sie wieder ins Leben zurückzuführen – wofür er einen schrecklichen Preis bezahlen muss. 
Insofern liefert Stephen King eine höchst moralische Geschichte ab, die davor warnt, den natürlichen Kreislauf von Leben und Tod auf „magische“ Weise zu manipulieren. Was dabei herauskommt, wenn man die Toten nicht ruhen lässt, muss Louis Creed auf furchtbare Art am eigenen Leib feststellen. Dabei drückt die sehr geradlinig mit einem sehr überschaubaren Ensemble inszenierte Geschichte nur die Verzweiflung aus, die der Tod eines geliebten Wesens, sei es Mensch oder Tier, bei den Hinterbliebenen auslöst. Die einzelnen Stationen beschreibt King so minutiös, dass sein Publikum kaum vermeiden kann, sowohl die körperlichen Strapazen als auch die seelischen Nöte seines Protagonisten nachzuempfinden. Die Spannung bleibt dabei allerdings etwas auf der Strecke, da die Ereignisse allzu vorhersehbar sind. Doch das Grauen hat sich da längst schon in die Knochen geschlichen und lässt sich so schnell nicht ablegen. 

 

Michael Connelly – (Jack McEvoy: 3) „Tödliches Muster“

Montag, 14. März 2022

(Kampa, 474 S., HC) 
Durch seine mittlerweile mehr als 20-bändige und erfolgreich als Streaming-Serie von Amazon verfilmte Reihe um den LAPD-Detective Hieronymus „Harry“ Bosch ist Michael Connelly zu einem der wichtigsten Krimi-Autoren der Gegenwart avanciert. Etwas Abwechslung in sein literarisches Schaffen bringen seine sporadisch fortgeführten Serien um den Anwalt Mickey Haller und den Journalisten Jack McEvoy, jüngst auch Renée Ballard als junge Polizistin, deren Wege sich mit Harry Bosch mehr als nur kreuzen. Nach „Der Poet“, der im Original 1996 erschien, und dem 2011 veröffentlichten zweiten Band „The Scarecrow“, der zunächst als „Sein letzter Auftrag“ veröffentlicht wurde und nun von Kampa als „Die Vogelscheuche“ neu aufgelegt worden ist, erscheint wieder mehr als zehn Jahre später nun der dritte Band um den Journalisten Jack McEvoy. 
Mit seinen Büchern zu den Serienkillern „Der Poet“ und „Die Vogelscheuche“ hat sich der Journalist Jack McEvoy einen Namen machen können, doch sowohl sein Ruhm als auch seine Ersparnisse aus den Buchverträgen schmelzen dahin. Nachdem er für die „Los Angeles Times“ und den Blog „Velvet Coffin“ gearbeitet hat, schreibt McEvoy nun für das Online-Nachrichtenportal Fair Warning, dessen Gründer Myron Levin auch Chefredakteur, Reporter und Hauptspendenbeschaffer ist und das sich dem Verbraucherschutz verschrieben hat und vor allem Skandale in der Automobil-, Pharma- oder Tabakindustrie aufdeckt. 
Als McEvoys One-Night-Bekanntschaft Christina Portrero mit gebrochenem Genick ermordet aufgefunden wird, gerät der Journalist ins Visier der Ermittlungen der beiden LAPD-Detectives Mattson und Sakai. Als McEvoy auf eigene Faust Nachforschungen zu ihrem Fall anstellt, stößt er auf eine Atlantookzipitale Dislokation, eine sogenannte innere Enthauptung, bei die Wirbelsäule von der Schädelbasis getrennt wird, als Todesursache und versucht über die Website causesofdeath.net weitere Fälle in Erfahrung zu bringen. 
Dabei findet er heraus, dass es nicht nur mehrere Frauen gibt, die auf diese ungewöhnliche Art zu Tode gekommen sind, sondern dass sie auch noch ihre DNA zu einem preiswerten Analyseinstitut namens GT23 geschickt haben, um vor allem etwas über leibliche Eltern oder weitere Verwandten zu erfahren. Allerdings hat das Institut die Daten an anderen Firmen weiterverkauft, bei denen es offensichtlich Datenschutzlücken gibt. Bei Portreros Freundin Tina Hill kommt der Journalist nicht weiter, auch die Cops geben sich zugeknöpft. Zusammen mit seiner Kollegin Emily Atwater und seiner Ex-Geliebten Rachel Walling, die einst für das FBI arbeitete, macht sich McEvoy auf eine gefährliche Jagd nach einem Mann, der im Darknet als der Shrike bekannt ist … 
„Ich machte nur meine Arbeit, aber es störte mich, dass weder Hill noch Mattson das so sahen. Für sie war ich ein Störfaktor. Das bestärkte mich in meinem Entschluss herauszufinden, was mit Tina Portrero und den drei anderen Frauen genau passiert war. Rachel hatte gesagt, sie wollte die Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen. Ich schon. Zum ersten Mal seit Langem hatte ich wieder eine Story, die mich nicht mehr losließ. Und das fühlte sich gut an.“ (S. 120) 
Auch wenn Connelly mit Mickey Haller und Jack McEvoy zwei Figuren geschaffen hat, die nicht direkt mit polizeilichen Ermittlungen zu tun haben, sind sie doch genau in diesem Metier tätig. McEvoy versichert sich deshalb der Profiling-Expertise seiner Ex Rachel Walling, deren gemeinsame Beziehung wieder neuen Schwung erhält, aber auch wieder die gefährlichen Klippen von Misstrauen zu überwinden hat. Connelly entwickelt den Plot recht geradlinig. Ähnlich wie in seinen Bosch-Romanen lässt der Autor seine Leser an McEvoys kleinteiligen Schritten teilhaben. Nur selten wird später die Ich-Erzähler-Perspektive aufgebrochen, um kurz einen der Beteiligten an der Weitergabe des DNA-Materials und schließlich auch den Shrike zu Wort kommen zu lassen. Dazu hat Connelly auch noch ein aktuell brisantes gesellschaftliches Thema aufgegriffen und es vor dem Hintergrund des real existierenden Nachrichtenportals Fair Warning in einen Plot gepackt, der dramaturgisch geschickt bis zum furiosen Finale immer mehr an Fahrt, Spannung und Brisanz aufnimmt. Connellys dritter McEvoy-Roman kommt zwar nicht an die besten Bosch-Werke heran, bietet aber schnörkellose Krimi-Unterhaltung mit einem interessanten Thema. 

 

Mario Puzo – „Der Pate“

Freitag, 11. März 2022

(Kampa, 640 S., HC) 
Wenn Francis Ford Coppolas dreifach Oscar-prämiertes Meisterwerk „Der Pate“ (1972) zurecht als die Mutter aller Mafia-Filme gilt, trifft dies natürlich auch umso mehr auf die Romanvorlage von Mario Puzo aus dem Jahre 1969 zu. Obwohl Puzo selbst nie Kontakt zu Vertretern der Mafia hatte, ist es ihm gelungen, ein authentisches Bild vor allem des außergewöhnlichen Familiensinns und Ehrenkodex einer einflussreichen Mafia-Familie zu zeichnen. Puzo schrieb zusammen mit Coppola nicht nur das Drehbuch zur Filmadaption seines Romans, sondern arbeitete auch an den Drehbüchern zu den Film-Fortsetzungen mit. 
Fassungslos muss der Bestattungsunternehmer Amerigo Bonasera im New Yorker Strafgericht miterleben, wie die jungen Männer, die seine Tochter krankenhausreif geschlagen haben, zu einer milden Bewährungsstrafe verurteilt werden. In seiner Verzweiflung will er sich an Don Corleone wenden, dem er zur Hochzeit seiner Tochter Connie ebenso seine Aufwartung macht wie Corleones Patensohn Johnny Fontaine, der von seiner zweiten Frau zum Narren gehalten wird, und der Bäcker Nazorine, der darum bittet, dass sein zukünftiger Schwiegersohn Enzo nicht in den Krieg muss, damit er seine schwangere Tochter Katherine zur Frau nehmen kann. Don Corleone steht in dem Ruf, keine Bittsteller zu enttäuschen, doch dafür erwartet er absolute Loyalität, die ihm seine Freunde durch regelmäßige kleine Geschenke oder Gefälligkeiten unter Beweis stellen. Dabei war es ein langer Weg, den Vito Andolini bis zu seiner jetzigen Stellung zurückgelegt hat. 
Nachdem sein Vater nach einem ungenügend geklärten Konflikt den örtlichen Mafiaboss im sizilianischen Dorf Corleone getötet hatte und eine Woche später selbst erschossen worden war, schickten Verwandte seinen zwölfjährigen Sohn Vito nach New York, wo er in der Familie Abbandando aufwuchs und in Andenken an sein Heimatdorf den Namen Vito Corleone annahm. Er arbeitete im Lebensmittelladen seines Pflegevaters, heiratete eine junge Sizilianerin und bekam wenig später mit Santino seinen ersten Sohn. 1915 folgte sein zweiter Sohn Federico. 
Zusammen mit seinen Freunden Clemenza und Tessio überfielt Corleone LKWs und erschoss den Schutzgelderpresser Fanucci, was Corleone soviel Respekt in seinem Viertel verschaffte, dass er zum Schutzherrn italienischer Familien in seinem New Yorker Viertel avancierte. Er gründete eine Handelsgesellschaft für Olivenöl, schaltete seine Konkurrenten aus und wurde während der Weltwirtschaftskrise erstmals Don Corleone genannt. 
Nachdem er seinen Konkurrenten Maranzano ausgeschaltet und sogar Auftragskiller von Al Capone aus Chicago zur Strecke gebracht hatte, brachte Corleone Frieden in die Unterwelt von New York und verständigte sich mit den mächtigsten Verbrecherorganisationen der USA über eine gerechte Aufteilung der Gebiete und Interessen. Vom profitablen Geschäft mit Rauschgift ließ er aber die Finger. Zusammen mit seinen Frau und den mittlerweile drei Söhnen Sonny, Freddie und Michael sowie der Tochter Constanzia zog Don Corleone nach Long Beach. Als Connie Corleone im August 1945 auf dem Anwesen ihrer Familie den temperamentvollen Carlo Rizzi heiratet, vergnügt sich der verheiratete Sonny mit der Brautjungfer Lucy Mancini, während Michael mit seiner Freundin Kay Adams abseits der Familie sitzt. Doch je älter der für seine Weitsicht und Gelassenheit berühmte Don Corleone wird, desto mehr rückt der zunächst unscheinbare Michael als sein Nachfolger ins Rampenlicht. Doch bis dahin sind etliche Konkurrenten und Verräter in den eigenen Reihen auszuschalten … 
„Sie alle gehörten zu jenem seltenen Schlag von Männern, die sich weigerten, die Regeln der organisierten Gesellschaft zu akzeptieren, die nicht daran dachten, sich der Herrschaft anderer Menschen zu beugen. Es gab keinen Sterblichen, keine Macht, die ihnen ihren Willen aufzwingen konnte, es sei denn, es wäre ihr eigener Wunsch. Sie waren Männer, die ihre Freiheit mit List und Mord zu verteidigen wussten. Nur der Tod konnte ihre Entschlüsse ändern.“ (S. 410) 
Mario Puzo hat mit der „Der Pate“ eine Familien-Saga über zwei Generationen vorgelegt, die von der ersten Seite an fesselt. Geschickt beginnt der Roman auf dem Höhepunkt von Don Corleones Macht, um aus den Gefälligkeiten, die er seinen Bittstellern auf der Hochzeit seiner einzigen Tochter gewährt, den moralischen Kompass zu etablieren, mit dem der Don seine Macht aufgebaut hat. Dabei dreht es sich vor allem darum, der Familie ein sicheres Heim und Auskommen zu bieten, und vor allem Michael Corleone setzt später alles daran, dass seine Kinder nicht in das Mafia-Geschäft einbezogen werden.  
Puzo nimmt sich die Zeit, die Geschichte der wichtigsten Figuren ausführlich nachzuzeichnen, verleiht ihnen Charakter und zeichnet ihren Lebenswandel nach. Natürlich nehmen die Auseinandersetzungen mit anderen mächtigen Familien viel Raum in dem Epos ein. Jedes Machtvakuum wird gnadenlos von den Konkurrenten ausgenutzt, wichtige Persönlichkeiten müssen regelmäßig geschmiert, Verräter identifiziert und ausgeschaltet, Verluste in der eigenen Familie brutal gerächt werden – wenn auch manchmal erst nach Jahren, denn Rache ist, wie der Don einmal bemerkt, ein Gericht, das man am besten kalt serviert. 
Puzo beschreibt die Machenschaften der Mafia nicht als primär gewalttätiges Unternehmen mit dem Zweck der Gewinnmaximierung, sondern als Schachspiel, bei dem am Ende nicht unbedingt der Stärkste, sondern der Klügste gewinnt. Der Autor, der als Sohn italienischer Einwanderer im New Yorker Stadtteil Little Italy aufgewachsen ist, verwebt die interessanten Einzelschicksale wie des einst berühmten Sängers Johnny Fontaine, der nach einer Krise zum Hollywood-Star und Studiochef aufsteigt, und Don Corleones zunächst wegen seiner Militärzeit in Ungnade gefallenen Sohnes Michael immer wieder gekonnt ineinander, würzt seine epische Geschichte mit viel Sex und Gewalt sowie großartigen Dialogen, die Coppola letztlich so kongenial auf die Leinwand brachte, dass auch der Roman zu einem der bedeutendsten Werke der Unterhaltungsliteratur wurde.
Die Neuauflage in Kampas Reihe „Red Eye“ lohnt sich nicht nur wegen des Vorworts von Francis Ford Coppola, sondern wartet auch mit stylischem Cover und rotem Farbschnitt auf. 

 

Jim Thompson – „Revanche“

Montag, 28. Februar 2022

(Diogenes, 208 S., Tb.) 
Patrick „Pat“ Cosgrove ist gerade mal dreiunddreißig Jahre alt und hat bereits fünfzehn Jahre seines Lebens im Zuchthaus von Sandstone wegen eines gescheiterten Bankraubs abgesessen. Da seine Eltern mittlerweile verstorben sind und seine Schwester nichts mehr mit ihm zu tun haben will, konnte Cosgrove vor fünf Jahren nicht die erste Gelegenheit für ein Berufungsverfahren nutzen, und sucht nun per Brief jemanden, der sich vor dem Berufungsausschuss für ihn einsetzt. 
Der Psychiater Dr. Roland Luther aus Capitol City setzt sich nicht nur für den jungen Mann ein, sondern besorgt ihm auch eine Unterkunft, teure Kleidung und einen leichten Job beim Straßenbauamt. Wie Cosgrove sofort vom Doc erfährt, praktiziert er seit Jahren nicht mehr, unterhält seine psychiatrische Klinik nur als Tarnung für seine krummen Geschäfte. Bereits die Gespräche, die Luther mit Senator Burkman und Myrtle Briscoe, der staatlichen Beauftragten für den Strafvollzug, führt, lassen bei dem ehemaligen Bankräuber das Gefühl aufkommen, dass Luther seinen Schützling für eine Mission braucht, über die er allerdings kein Wort verlauten lässt. 
Die Sache wird für Cosgrove aber vor allem in dem Moment brenzlig, als er sich sowohl mit Luthers attraktiver Sekretärin Madeline Flournoy als auch Luthers promiskuitiver Frau Lila einlässt und den Detektiv E.A. Eggleston tot an seinem Schreibtisch entdeckt und die Leiche verschwinden lassen muss, um nicht als Täter ins Visier zu gelangen … 
„Mein ganzes Leben war versaut worden. Das Beste, worauf ich jetzt hoffen konnte, war, dass ich meine Bewährung nicht verlor. Madeline war genauso verdorben und verbrecherisch wie der Rest, und sie würde genauso für alles bestraft werden. Aber … Ich wünschte mir, ich könnte aufhören, an sie zu denken.“ (S. 192)
Jim Thompson (1906-1977) zählt wie seine weit prominenteren Kollegen Raymond Chandler und Dashiell Hammett zu den wichtigsten Vertretern des Noir-Krimi-Genres, wurde als Drehbuchautor für Stanley Kubricks Frühwerke „Die Rechnung ging nicht auf“ und „Wege zum Ruhm“ bekannt, erlebte aber kaum noch mit, dass seine Romane „The Getaway“, „The Killer Inside Me“, „A Hell of a Woman“, „Pop. 1280“, „The Kill-Off“, „After Dark, My Sweet“ und „Grifters“ teilweise sehr erfolgreich von Regisseuren wie Sam Peckinpah, James Foley und Stephen Frears verfilmt wurden. Sein sechster Roman „Recoil“ entstand inmitten seiner produktivsten Zeit. 1953 erschienen neben diesem Roman noch drei weitere. Dabei bedient sich Thompson eines fast schon klassischen Noir-Plots: Ein völlig unbedarfter junger Mann kommt dank der Großzügigkeit eines einflussreichen Mannes zwar aus dem Gefängnis frei, begibt sich aber in eine schwer zu fassende Abhängigkeit, bei der gleich zwei Femmes fatale eine tragende Rolle spielen, aber natürlich auch die üblichen Verdächtigen in Form von korrupten Politikern und gierigen Detektiven und Anwälten. 
Die Geschichte wirkt aber unnötig kompliziert aufgebaut, lässt so die Motive der Beteiligten bis zum Ende nicht so recht erkennen, so dass der meist als Ich-Erzähler eingesetzte Cosgrove nur ahnen kann, was mit ihm geplant wird, denn keiner der Leute, die ihm vermeintlich Gutes tun, rückt mit der Sprache raus, bis Cosgrove eines Abends überraschend vor einer Leiche im Büro eines Detektivs steht. „Revanche“ ist sicher nicht der beste Roman von Thompson, fasziniert aber durch seine undurchsichtigen Figuren, die über dem ganzen Setting schwebende unheilschwangere Atmosphäre und einen Hoch knisternder erotischer Spannung. 

 

Jim Thompson – „Texas an der Kehle“

Samstag, 26. Februar 2022

(Ullstein, 144 S., Tb.) 
Als Sohn eines Verlegers von Sonderbeilagen hat es Mitch Corey nicht leicht gehabt und schon gar kein Gefühl dafür entwickelt, dass es die Menschen nicht gut mit ihm meinen könnten. Nach dem Tod seines Vaters verdiente sich Mitch seine Brötchen als Hotelpage und lernte dort Teddy kennen, die als Bilanzbuchhalterin einer Erdölgesellschaft gutes Geld verdiente. Teddy drängte ihn zur Heirat, wurde schnell schwanger und erklärte ihrem Mann, dass er sich um das Baby zu kümmern habe, während sie sich um den Lebensunterhalt kümmern würde. Doch als Mitch herausfand, dass seine verrückte Frau als Prostituierte arbeitete, war es mit der Liebe vorbei. 
Der gemeinsame Sohn Sam wuchs in einem Internat auf. Mittlerweile hat Mitch eine Karriere als Berufsspieler eingeschlagen und lernt Red kennen, die ihn so sehr liebt, dass sie ihm beim Abzocken von Würfelspielern hilft und ihn auch heiraten will. 
Das ist zwar auch ganz in Mitchs Sinne, doch ist er nach wie vor mit Teddy verheiratet, die sich ihr Stillschweigen über das Arrangement gut bezahlen lässt. So schrumpft das Vermögen, das sich Mitch und Red erspielt haben, auf dramatische Weise. Um wieder flüssig zu werden, erhält Mitch die Gelegenheit, eine Aktienoption bei dem Ölbaron Zearsdale wahrzunehmen, doch dafür fehlt ihm wieder das nötige Kapital. Nun muss er sich schnell eine lukrative Einnahmequelle erschließen, ohne dass Red davon etwas erfährt … 
„Er brauchte Texas mit der Rastlosigkeit, der Ungeduld und dem Selbstvertrauen seiner Menschen, deren Verhältnis zum Geld von der Freude am Risiko geprägt war. Hier musste er einsteigen. Wo die Menschen nicht wie in anderen Gegenden schlapp und ängstlich das Geld eingemottet auf der Bank alt werden ließen und lieber zu Bridgekarten griffen! Er hatte nur diese Chance.“ (S. 47) 
Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Erstlings-Roman „Now and on Earth“ aus dem Jahre 1942 (2011 als „Jetzt und auf Erden“ in deutscher Erstveröffentlichung bei Heyne erschienen) hat Jim Thompson 1965 mit „Texas by the Tail“ einen humorvollen Noir veröffentlicht, der hierzulande erst als „Kalte Füße auf heißem Boden“ bei König (1973) und 1988 in gleicher Übersetzung als „Texas an der Kehle“ in der Krimi-Reihe von Ullstein erschien. Thompson hatte zuvor seine später erfolgreich verfilmten Romane „After Dark, My Sweet“, „The Getaway“, „The Grifters“ und „1280 schwarze Seelen“ geschrieben und einen Schlaganfall hinter sich.  
„Texas an der Kehle“ wartet zwar mit einigen Noir-Elementen auf, spielt aber geschickt und ironisch mit ihnen. So verkörpert Teddy die obligatorische Femme fatale, allerdings wird ihr eher eine Nebenrolle zugedacht, die vor allem in den häufig eingestreuten Rückblenden auftaucht, aber immerhin noch so großen Einfluss auf den Protagonisten ausübt, dass sich dieser auf gefährliche Missionen begibt, um zu kaschieren, dass das für die Hochzeit mit Red angesparte Kapital für unliebsame Erpressungszahlungen verwendet worden ist. Thompson beschreibt auf vergnügliche Art und Weise, wie Mitch und Red in Texas von Geld und Gier korrumpiert von einem Schlamassel ins nächste stolpern. Dabei webt der Autor in Rückblenden regelmäßig verschiedene Biografien ein und würzt seinen von spritzigen Dialogen geprägten Plot mit sinnlichen Anekdoten, die Mitch mit seinen beiden Frauen erlebt hat. Im Gegensatz zu Thompsons früheren Werken überwiegt hier die heitere Note und führt Mitch und Red nach einer abenteuerlichen Odyssee zu einem für einen Noir ungewöhnlichen Ende. 

 

Stephen Crane – „Geschichten eines New Yorker Künstlers“

Mittwoch, 23. Februar 2022

(Pendragon, 288 S., HC) 
Gerade mal 28 Jahre wurde der 1871 in Newark, New Jersey, geborene Stephen Crane, der für seine naturalistisch geschilderten Lebensentwürfe von Menschen bekannt wurde, die am Rande der Gesellschaft um ihre Existenz zu kämpfen hatten. Cranes Blick auf die Armen ist nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil er selbst als Sohn eines Methodisten-Predigers keine Not zu leiden hatte, sich früh für das Schreiben begeisterte und nach dem Tod seiner Eltern sein Studium abbrach, um als Journalist in New York vor allem über das Leben in den Slums der Stadt zu schreiben. Diese Erfahrungen brachte Crane in seinen ersten, 1893 veröffentlichten Roman „Maggie, a Girl of the Streets“ ein, der das Zentrum der Story-Sammlung „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ bildet. Neben „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ und dem damit korrelierenden Roman „Georges Mutter“ enthält das Buch viele Geschichten als deutsche Erstveröffentlichung. 
In der eröffnenden, 1902 erstmals veröffentlichten Titelgeschichte beschreibt Crane die Nöte einer Künstlergemeinschaft im New York der 1890er Jahre, das verzweifelte Warten auf ausstehende Honorarzahlungen, das Einteilen der kaum noch vorhandenen Nahrungsvorräte und das schwierige Haushalten mit dem wenigen Geld, das durch den Verkauf von Zeichnungen und Geschichten reinkommt. Dabei ist Crane gar nicht so penetrant darauf aus, Mitleid für seine Figuren zu erzeugen, doch führt seine einfühlsame Sprache genau dorthin. Wenn er beschreibt, wie Penny seine zwanzig noch verbliebenen Cent in zwei Stück Kuchen investiert, von denen er auch ein Stück dem alten Tim abgibt, zeichnet Crane nicht nur das triste Bild eines täglichen Überlebenskampfes. Er beschreibt damit ebenso, dass diese armen Menschen trotz ihrer Armut noch nicht ihre Würde und Nächstenliebe verloren haben. 
Besonders eindringlich ist Crane diese lebensnahe Schilderung in seinem Debüt-Roman „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ gelungen, den Crane 1893 noch unter Pseudonym veröffentlichte. Mit Maggie Johnson, die mit ihrem Bruder Jimmie und ihren alkoholsüchtigen Eltern in einer schäbigen Mietskaserne in der Bowery aufwächst, sich in einer Textilfabrik mit dem Nähen von Kragen und Manschetten abmüht und sich in den großspurigen Pete verliebt, beschreibt Crane ein berührendes Schicksal, wie es viele Mädchen geteilt haben dürften, die von einem besseren Leben geträumt haben und bitter enttäuscht wurden. Ein ähnliches Schicksal teilt George Kelcey in dem Roman „Georges Mutter“. Es stellt sich heraus, dass er im selben Mietshaus wie Maggie wohnt, dass ihr Schicksal vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen hätten, wenn ihre jeweiligen Träume sie nicht in die Irre geführt hätten. Denn so wie sich Maggie von Petes arroganten Getue blenden lässt, führt auch Kelceys Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung nicht zu der erhofften Wende in seinem Leben. 
„Sein brummender Schädel brachte ihn zu der Einsicht, dass es Zeit war, sein Leben zu ändern. Sein Magen vermittelte ihm die Erkenntnis, dass die Weisheit darin lag, ein guter Mensch zu sein. Der Blick in die Zukunft gab jedoch wenig Anlass zur Hoffnung. Vor einer Rückkehr zum alten Trott graute ihm. Für die tägliche Müh und Plage war er nicht geschaffen. Er zitterte beim bloßen Gedanken daran. Doch auch der Weg durch die goldenen Pforte des Lasters hatte seinen Reiz verloren.“ (S. 181) 
Sowohl Maggie als auch George leiden massiv unter dem familiären Umfeld, in dem sie aufwachsen. Während Maggies Eltern im Alkohol die Flucht aus der bedrückenden Realität suchen, ist es bei Georges Mutter der Glauben, an den sie sich so fest klammert, dass sie immer wieder versucht, dass ihr Sohn sie in die Kirche und zur Betstunde begleitet. 
Crane schildert eindringlich den Kampf, den seine Figuren nicht nur ums Überleben, sondern auf dem Weg zum Glück bestreiten, ohne aber aus ihrem Milieu ausbrechen zu können. Selbst kleine Freuden wie ein zugelaufener Hund (in „Der kleine braune Hund“) oder die Teilnahme an einem Picknick („Das Picknick“) bringen nicht die erwünschten Veränderungen auf dem Weg zum Glück. Am Ende steht stets Ernüchterung und Enttäuschung über die geplatzten Träume und die erdrückende Einsicht, dass sich nichts ändern wird. 
Nachdem Pendragon im vergangenen Jahr mit „Die tristen Tage von Coney Island“ Stephen Crane der deutschsprachigen Leserschaft wieder nähergebracht hat, lädt auch „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ dazu ein, tief in Cranes schriftstellerisches Können einzutauchen.  

Jim Thompson – „Der Verbrecher“

Sonntag, 20. Februar 2022

(Ullstein, 124 S., Tb.) 
Jim Thompson (1906-1977) gehört leider zu jenen Schriftstellern, die Zeit ihres Lebens längst nicht die Beachtung erfahren haben, die sie verdienten. Dass er bereits im Alter von 19 Jahren dem Alkohol verfallen war, einen Nervenzusammenbruch erlitt und 1935 für drei Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist, wirkte sich in der McCarthy-Ära nicht gerade förderlich für seine Karriere aus. Nachdem er seinen Lebensunterhalt mit True-Crime-Stories verdient hatte und erste Versuche scheiterten, in Hollywood Fuß zu fassen, veröffentlichte er Anfang der 1940er Jahre seine ersten Romane und hatte seine Blütezeit in den 1950er Jahren. Da schrieb er nicht nur die Drehbücher für Stanley Kubricks Frühwerke „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“, sondern auch die Werke, die zumeist nach Thompsons Tod verfilmt wurden (u.a. „Getaway“, „Grifters“, „After Dark, My Sweet“). Zu den weniger bekannten Werken zählt der 1953 veröffentlichte Roman „The Criminal“, der bislang nur in der 1990 veröffentlichten Übersetzung von Olaf Krämer im Ullstein Verlag vorliegt. 
Der fünfzehnjährige Robert „Bob“ Talbert wird beschuldigt, die ein Jahr jüngere Nachbarstochter Josie Eddleman umgebracht zu haben. Als noch keine weiteren Grundstücke zwischen den Häusern der Talberts und Eddlemans bebaut waren, spielten die Kinder viel miteinander, doch kühlte das Verhältnis zwischen den Nachbarn merklich ab, als im Canyon Drive weitere Häuser entstanden. Während Jack Eddleman Karriere im Immobiliengeschäft gemacht hat, kommt Allen Talbert in Henleys Fliesenfirma nicht so recht voran. Der körperlich gut entwickelten Josie gefällt es, Jungen und Männern schöne Augen zu machen, und letztlich kann sich auch Bob nicht gegen Josies forsches Vorgehen wehren. 
Bob war auf dem Weg zum Golfplatz, um als Caddy etwas Geld zu verdienen und seinem Vater ein Geschenk kaufen zu können, als ihm Josie aufgelauert hat. Die Nachricht von ihrem Tod ist der Zeitung nur acht Zeilen wert, was den Chefredakteur aus der Haut fahren lässt. Er setzt seinen Reporter Donald Skysmith darauf an, die Geschichte auszuschlachten, während der bekannte Rechtsanwalt I. Kossmeyer versucht, den Jungen freizubekommen. Doch die öffentliche Meinung hat bereits ein Urteil gefällt … 
„Ich ging die Story noch mal durch. Und dieses Mal setzten die Zweifel ein, der Verdacht, den ich am Morgen hatte, begann zuzunehmen. Diese Menschen dachten, der Junge sei schuldig. Die, die ihn am besten kannten, seine eigenen Eltern, dachten, er sei schuldig. Wenn man versuchte, es auf den Punkt zu bringen, gab es keinen wirklichen Beweis.“ (S. 72) 
„Der Verbrecher“ liest sich fast wie eine der True-Crime-Stories, die Thompson zu Beginn seiner Karriere verfasst hat, wobei er die Geschichte aus der Perspektive verschiedener Beteiligter erzählt, beginnend mit dem Vater, der von dem nachbarschaftlichen Verhältnis zu den Eddlemans, seiner Arbeit in der Fliesenfirma und einem gemeinsamen Familienausflug berichtet, aber auch von einem Zwischenfall, bei dem Bob und Josie zusammen im Waschkeller der Talberts erwischt wurden. Thompson beschwört eine Atmosphäre von Neid, Gier und Verrat herauf, in der jeder der Beteiligten auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und kein gutes Haar an möglichen Konkurrenten und Nebenbuhlern lässt. 
So wird der Mord an dem vierzehnjährigen Mädchen vor allem durch die Presse mächtig aufgebauscht, und Thompson nimmt sich entsprechend viel Zeit, um die Verhöre, die der mit der Situation völlig überforderte Angeklagte mit den Reportern und seinem Anwalt führt, zu schildern. Thompson selbst lässt allein seine Figuren zu Wort kommen und enthält sich jeder bewertenden Aussage. So entsteht das düstere Szenario eines Verbrechens, das von der Justiz nicht aufgeklärt werden kann, durch die Hetzkampagne in den Medien aber so stark manipuliert wird, dass der Junge letztlich keine Chance hat. Damit präsentierte der Autor bereits in den 1950er Jahren, über welch meinungsprägende Macht die Medien verfügen. 

 

Jim Thompson – „Liebe ist kein Alibi“

Freitag, 18. Februar 2022

(Heyne, 128 S., Tb.) 
Tommy Carver ist ein guter Student, aber als adoptierter Sohn eines bettelarmen Farmers sieht er sich eines Tages sogar gezwungen, ein angebissenes Brot aus dem Papierkorb der Englischlehrerin Miss Trumbull zu fischen, für die er seit vier Jahren Korrekturen an der Highschool von Burdock County, Oklahoma, liest. Der an sich harmlose Vorfall bleibt allerdings nicht ohne Folgen. Der für seine langen Finger weitaus berüchtigter Hausmeister Abe Toolate beobachtet die Szene und berichtet dem Schulleiter Mr. Redbird davon, der den Jungen auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Tommys Probleme werden größer, als sein Vater es mit einem Mann von der Öl-Gesellschaft zu tun bekommt, der ihm ein großzügiges Angebot unterbreitet, dass Mr. Carver allerdings nicht annehmen kann, denn die fünfzehn Morgen der Carvers nützen der Öl-Gesellschaft wenig, wenn sie nicht auch das fünftausend Morgen umfassende Umland für sich gewinnen können, das wie das von den Carvers bewirtschaftete Land Matthew Ontime gehört, der nicht das geringste Interesse daran hat, Versuchsbohrungen auf den Ackerflächen zuzulassen. 
Als Matthew Ontime, mit dessen Tochter Donna ein heimliches Liebesverhältnis hat, eines Morgens tot im Pferch seines eigenen Schweinestalls aufgefunden wird, gerät Tommy in Verdacht, da der Mann mit Tommys Messer ermordet wurde. Weder sein Pa noch die ebenfalls adoptierte Mary wollen Tommy ein Alibi geben, was Tommy wenig verwundert, schließlich unterhält sein Dad ein verbotenes Verhältnis mit Mary, die wiederum auch schon Tommy verführt hat. Mr. Redbird und Miss Trumbull besorgen Tommy einen Anwalt aus Oklahoma City, doch selbst der bissig auftretende Kossmeyer kann nicht verhindern, dass der Junge zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt wird … 
„Sein Gedankenapparat arbeitete ganz anders als meiner. Ich könnte nie so denken wie er. Aber als ich jetzt den Ausdruck in seinen Augen sah, da wusste ich, dass alles, was er getan hatte, ebenso schwer für ihn gewesen war wie für mich. Schwerer vielleicht, weil er nämlich nicht um sein Leben, sondern um meines gekämpft hatte. Und ich wusste jetzt, dass er es nicht des Geldes wegen getan hatte.“ (S. 110) 
Mit seinem fünften, 1952 veröffentlichten und 1972 erstmals ins Deutsche übersetzten Roman „Cropper’s Cabin“ erzählt der mittlerweile kultig verehrte Jim Thompson weit mehr als nur eine einfache Kriminalgeschichte. Thompson, dessen Romane wie „Getaway“, „After Dark, My Sweet“, „Grifters“ und „Der Mörder in mir“ verfilmt wurden und der die Drehbücher zu den beiden Stanley-Kubrick-Filmen „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ schrieb, zeichnet in dem dünnen Büchlein das Bild einer Gesellschaft, die allein als Folge staatlicher Willkür tief zerrissen erscheint. So lässt Thompson seinen Ich-Erzähler erklären, dass die in Oklahoma häufig anzutreffenden Namen Toolate und Ontime darauf zurückzuführen sind, dass das Stammeseigentum der fünf zivilisierten Indianerstämme vor der Bildung des Staates Oklahoma verteilt werden musste. Jedes vor dem dann bestimmten Zeitpunkt geborene Kind bekam ein Anteil von dem Stammesbesitz, jedes danach geborene bekam nichts und war zu einem Leben als einfacher, armer Indianer verdammt. Während das Mordopfer Matthew Ontime von dieser Regelung profitierte und als Besitzer von fast achttausend Morgen einer der reichsten Männer im Staat gewesen wäre, wenn er sein Land für Ölbohrungen verpachtet hätte, muss Abe Toolate seinen Lebensunterhalt als Hausmeister in einer Highschool verdienen. 
Thompson gewährt darüber hinaus auch Einblicke in die Bewirtschaftung des Ackerlandes und die Schwierigkeiten der Pächter, mit den Erträgen ihrer harten Arbeit über die Runden zu kommen. Aber auch Tommys schwierige Beziehungen zur wohlhabenden Ontime-Tochter Donna und der ehemaligen Prostituierten Mary, die sein Vater adoptiert hatte, damit sie sich um Tommy kümmern konnte, spielen eine Rolle in einem Roman, der eine recht unspektakuläre Geschichte erzählt, aber durch die atmosphärische Dichte gefällt. „Liebe ist kein Alibi“ erschien dann 1988 bei Goldmann Verlag erstmals in vollständiger Übersetzung und wurde leider nicht wie die meisten anderen bei Heyne oder Ullstein veröffentlichten Thompson-Werke neu von Diogenes aufgelegt. 

 

Michael Connelly – (Harry Bosch: 13) „Kalter Tod“

Dienstag, 15. Februar 2022

(Heyne, 320 S., Tb.) 
Bei seinem ersten Außeneinsatz in seiner neuen Dienststelle Homicide Special wird Detective Harry Bosch um Mitternacht zum Aussichtspunkt über dem Mulholland Damm geschickt, wo ein Mann mit zwei Schüssen in den Hinterkopf hingerichtet wurde. Bosch informiert seinen neuen Partner – den mehr als zwanzig Jahre jüngeren Ignacio „Iggy“ Ferras – und ist selbst weitaus schneller am Tatort, wo der Tote als Stanley Kent identifiziert wird. Der 42-Jährige hatte quasi zu allen Hospitälern im Großraum Los Angeles Zugang zu radioaktivem Material, das meist gezielt bei bestimmten Krebstherapien zum Einsatz kommt. Das erklärt auch die Anwesenheit von FBI-Agentin Rachel Walling, mit der Bosch während des „Echo Park“-Falls eine alte Affäre wiederaufleben ließ, doch fiel der Abschied am Ende weniger harmonisch aus. 
Walling hatte mit ihrem Partner schon vor einem Jahr Kontakt zu Kent und seiner Frau Alicia aufgenommen, um sie vor einer möglichen Bedrohung durch Terroristen zu warnen. Dieser Verdacht scheint sich zu bestätigen, als Bosch mit Walling zur Wohnung des Opfers fährt, wo sie Alicia Kent nackt und gefesselt in einer Urinlache auf ihrem Bett finden. Ihrer Aussage zufolge wurde sie von zwei maskierten Männern dazu gezwungen, eine Mail an ihren Mann mit dem Foto ihrer Fesselung zu schicken, worauf sie ihren Mann erpressten, ihnen das in der Klinik St. Aggy’s gelagerte Caesium zu übergeben. 
Tatsächlich ergibt die Überprüfung der Caesium-Vorräte, dass das radioaktive Material abhandengekommen ist, was allerlei nationale Sicherheitsbehörden auf den Plan ruft. Zum Glück findet Boschs Partner Ferras in der Nähe des Tatorts mit Jesse Mitford einen kanadischen Jugendlichen, der sich am früheren Anwesen von Madonna versteckt hielt und beobachtete, wie ein Maskierter zwischen den beiden Schüssen „Allah“ gerufen habe. Bosch hält seinen Zeugen in der Hinterhand, um an den Ermittlungen weiterhin beteiligt zu sein, denn aus Erfahrung weiß Bosch, dass das FBI die lokalen Polizeibehörden gerne außen vor lässt und sie nur die Drecksarbeit machen lässt. Schließlich bekommt Bosch im Tausch gegen den Namen seines Zeugen von Walling die Namen zweier mit Al-Kaida in Verbindung stehenden Terroristen, die sich nach neuesten Erkenntnissen in den USA aufhalten sollen … 
„Stanley Kent war gewarnt worden, dass ihn sein Beruf verletzlich machte. Seine Reaktion darauf war gewesen, sich zu seinem Schutz eine Schusswaffe zuzulegen. Und jetzt wäre Bosch jede Wette eingegangen, dass die Waffe, die er gekauft hatte, gegen ihn verwendet worden war, und zwar von einem Terroristen, der den Namen Allahs rief, bevor er abdrückte. Was war das für eine Welt, dachte Bosch, wenn sich jemand den Mut, einen anderen Menschen zu erschießen, dadurch holte, dass er den Namen seines Gottes rief.“ (S. 123) 
Mit seinem 13. Harry-Bosch-Abenteuer liefert Connelly ein ungewohnt kurzes Leseabenteuer ab, was vor allem dem Umstand geschuldet ist, dass „The Overlook“ als 16-teiliger Fortsetzungsroman in der „New York Sunday“ veröffentlicht wurde. So konzentriert sich Connelly ganz auf den Fall und lässt die emotionalen Querelen, die den störrischen und unbequemen Protagonisten wegen seiner Ex-Geliebten Rachel Walling umtreiben, weitgehend außen vor. Dass der Caesium-Diebstahl innerhalb von zwölf Stunden aufgeklärt wird, trägt natürlich ebenfalls zum straff inszenierten Plot bei. 
Der ist wiederum stark von den Ereignissen rund um 09/11 geprägt, vor allem von den anschließenden Restrukturierungen der unterschiedlichen Geheimdienste, die lapidar als „Buchstabensuppe“ zusammengefasst werden. Der Fall selbst beginnt vielversprechend, wirkt aber zum Ende hin zunehmend konstruiert und unglaubwürdig. Wie Bosch am Ende seiner Kollegin vom FBI in einem Quasi-Monolog die Ereignisse und Zusammenhänge erläutert, macht zwar deutlich, was für ein toller Ermittler Bosch doch ist, trägt aber nicht dazu bei, die Geschichte plausibler zu machen. 
So bietet „Kalter Tod“ zwar einen knackig straffen Krimi-Plot, kann aber an die psychologische Tiefe „normaler“ Bosch-Krimis nicht anknüpfen. 

 

Michael Connelly – (Harry Bosch: 12) „Echo Park“

Samstag, 12. Februar 2022

(Heyne, 464 S., HC) 
Michael Connellys Serie um den ambitionierten Cop Hieronymus „Harry“ Bosch ist eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte. Bereits mit seinem Debütroman „Schwarzes Echo“ (1992) heimste der ehemalige Polizeireporter den renommierten Edgar Allan Poe Award für das Beste Erstlingswerk ein, der Nachfolgeroman „Schwarzes Eis“ erhielt den Maltese Falcon Award – und so heimste Connelly über die Jahre etliche weitere Preise wie den Nero Wolfe Award, Prix Mystère de la critique, Anthony Award und Shamus Award ein. 2006 erschien mit „Echo Park“ der bereits 12. Roman um Harry Bosch, dem Amazon bereits eine ähnlich erfolgreiche Serie („Bosch“) gewidmet hat. 
1993 war Harry Bosch mit seinem damaligen Partner Jerry Edgar mit einem Fall beschäftigt, der Bosch auch noch dreizehn Jahre später in seiner Funktion als Detective in der Abteilung „Offen – Ungelöst“ des Los Angeles Police Department beschäftigt. Damals wurden im Kofferraum eines Autos in der Garage einer seit Wochen leerstehenden Wohnung im High Tower die ordentlich zusammengelegten Kleider der jungen Marie Gesto gefunden, die seit zehn Tagen vermisst wurde. Bis heute fehlt von ihr jede Spur. 
Damals hatte sich Bosch auf Anthony Garland, den Sohn des Ölmagnaten Thomas Rex „T. Rex“ Garland, als Täter eingeschossen, doch konnte Bosch weder die Leiche des Mädchens ausfindig machen noch beweisen, dass Garland damit etwas zu tun gehabt haben könnte. Bosch hat sich gerade mal wieder die Akte vorgenommen, als diese vom Staatsanwalt Rick O’Shea und dem Beamten Freddy Olivas angefordert wird, der die Ermittlungen im aufsehenerregenden Fall Raynard Waits leitet. Da ihm wegen eines Doppelmordes die Todesstrafe droht, hat er mit der Staatsanwaltschaft einen Deal ausgehandelt: Waits würde sich zu neun weiteren Morden bekennen, die ihm nicht zur Last gelegt werden – darunter den an Marie Gesto -, und dafür „nur“ lebenslänglich in Haft gehen. Um den Deal abzuschließen, soll Waits die Beamten dorthin führen, wo er Marie Gesto begraben hat. In Begleitung von Staatsanwalt O’Shea, der gerade für das Amt des Bezirksstaatsanwalts kandidiert, Detective Olivas, Bosch, dessen Partnerin Kiz Rider sowie seinem Anwalt Maurice Swann führt Waits die Truppe in ein Waldstück. Doch die Aktion endet in einem Fiasko. Waits kann Olivas die Waffe entwenden, erschießt ihn und trifft auch Boschs Partnerin in den Hals, bevor er fliehen kann. Zusammen mit der FBI-Agentin Rachel Walling, mit der Bosch schon früher eine kurze Affäre unterhielt, macht sich Bosch auf die Suche nach Waits. 
Dabei wird er auch von dem Umstand angetrieben, dass in den Akten zum Fall Gesto ein Vermerk aufgetaucht ist, dass Waits damals versucht hatte, die Beamten zu kontaktieren, doch wurde dem Hinweis nicht nachgegangen. Doch irgendwie wird Bosch das Gefühl nicht los, dass O’Shea mehr mit der Sache zu tun hat, als er zuzugeben bereit ist … 
„O’Shea befand sich mitten in einem erbittert geführten Wahlkampf, und Geld war der Treibstoff, der eine Wahlkampfmaschinerie am Laufen hielt. Es war nicht auszuschließen, dass er in aller Stille Kontakt mit T. Rex aufgenommen hatte, worauf eine Abmachung getroffen und ein Plan in die Tat umgesetzt worden war. O’Shea erhält das Geld, das er benötigt, um die Wahl zu gewinnen, Olivas wird zum Chefermittler von O’Sheas Behörde ernannt, Waits nimmt Gesto auf seine Kappe, und Garland jun. ist endgültig aus dem Schneider.“ (S. 299) 
Mit „Echo Park“ ist Connelly einmal mehr ein fesselnder Thriller gelungen, der auf mehreren Ebenen gut funktioniert. In erster Linie geht es Bosch natürlich um die Lösung des Falles Marie Gesto, der ihn seit dreizehn Jahren beschäftigt. Schließlich ist er mit ihren Eltern immer in Kontakt geblieben, um sie darüber zu informieren, dass er am Ball bleibt. Die Aussicht, dass ein Serienmörder, dem die Todesstrafe droht, gleich mehrere zusätzliche Morde gesteht und Bosch die Möglichkeit eröffnet, den Fall Gesto endlich abzuschließen, bringt eine ganz neue Dynamik ins Geschehen, wobei politische Ränkeschmiede und natürlich viel Geld ebenso eine Rolle spielen wie Boschs Gefühlsleben, denn die neu entfachte Affäre mit Rachel Walling bringt einmal mehr Aspekte von Boschs Persönlichkeit zum Vorschein, die ihm immer wieder Probleme in seinem Liebesleben bescheren. 
Connelly versteht es, seine vielschichtige Story mit gleichbleibend steigender Spannung zu erzählen und dabei immer wieder Einblicke in die Polizeiarbeit zu gewähren sowie Bosch als Ermittler mit Herzblut zu präsentieren, mit dem man sich als Leser gern identifiziert. Interessanterweise sind Waits und Bosch im selben Pflegeheim aufgewachsen, wo Waits das Bild von zwei Hunden erwähnt, bei denen man sich entscheiden muss, welchen man füttert. Offenbar hat sich Waits für den falschen Hund entschieden, doch auch Bosch muss sich am Ende fragen, ob er mit seiner kompromisslosen Art nicht manchmal auf der falschen Seite des Gesetzes steht. 

 

James Sallis – „Driver 2“

Sonntag, 6. Februar 2022

(Liebeskind, 156 S., HC) 
Seit seinem Debüt „Die langbeinige Fliege“, dem Auftakt seiner sechs Bände umfassenden Reihe um den Privatdetektiv Lew Griffin, hat der aus Arkansas stammende Schriftsteller James Sallis zwar bereits einige preisgekrönte Romane vorgelegt, doch erst mit dem 2005 veröffentlichten und sechs Jahre später erfolgreich verfilmten Roman „Driver“ hat sich Sallis in den Olymp des literarischen Kriminalromans geschrieben. 2012 legte Sallis mit „Driven“ eine Fortsetzung nach, die dem Vorgänger in nichts nachsteht. 
Vor sechs, sieben Jahren hat Driver seine Karriere als Stuntfahrer in Hollywood-Filmen begonnen, doch wurden seine Talente auch von der Unterwelt zur Kenntnis genommen. Zunächst beschränkte sich Driver nur darauf, die Fluchtwagen zu fahren, später wurde er zwangsläufig mehr in die Überfälle hineingezogen. Als einer der Deals schiefging und Driver selbst zur Zielscheibe seiner Auftraggeber werden sollte, nachdem sie seine Freundin Elsa ausgeschaltet hatten, machte er mit den auf ihn angesetzten Killern kurzen Prozess, schnappte sich die Tasche mit der Viertelmillion Dollars und begab sich auf einen Rachefeldzug, der ihn schließlich zum Mafiaboss Nino führte. 
Mittlerweile ist Driver Anfang Dreißig und noch immer auf der Flucht. Er hat sich mit Paul West eine neue Identität zugelegt und hält nur noch mit seinem alten Kumpel Felix Kontakt. Der war einst als Ranger bei der Operation Wüstensturm beteiligt und verschafft Driver einen Unterschlupf in Phoenix. Doch irgendwie ist Driver wieder auf dem Schirm bei irgendwem gelandet, offenbar bei Leuten, die noch immer eine offene Rechnung mit ihm zu begleichen haben. Einmal mehr muss sich Driver aus seiner Deckung herausbewegen und eine Odyssee zu den Männern unternehmen, die ihm erneut das Licht auspusten wollen … 
„Das war es also, worauf letztlich alles hinauslief. Man saß mitten in der Nacht am Ende der Welt mit einem gescheiterten Killer zusammen und dachte über Standpunkte nach. Hatte er je welche gehabt? Und welche Art von Lügen erzählte er sich selbst? Etwa die, er könnte einen Weg aus all dem hier finden?“ (S. 88) 
Im Grunde genommen erzählt Sallis mit „Driver 2“ die gleiche Geschichte des Vorgängers noch einmal, nur dass die Nebenfiguren ausgetauscht werden. Immer wieder wird kurz zurückgeblickt, auf Drivers Beziehung zu Elsas Eltern, auf die Art und Weise, wie ihm einst ein Kumpel das Fahren beigebracht hatte, wie sich die Gewaltspirale bis zu Ninos Ableben entwickelt hat. Dieses Spiel beginnt mit „Driver 2“ nun von vorn. Sallis entwickelt den Plot auf wieder nicht mal 160 Seiten in kurzen Sequenzen, die mehr Lücken aufweisen als sie Fragen beantworten. Sallis hat es mit seiner höchst assoziativen Sprache zur Meisterschaft darin gebracht, den Leser so in die Handlung und die Köpfe seiner Protagonisten hineinzuführen, dass er die Leerstellen selbst ausfüllt. 
Angereichert werden die kurzen Begegnungen mit Drivers kurzzeitigen Weggefährten und Kontrahenten regelmäßig mit philosophischen Ideen, die in kurze, knackige Sätze verpackt werden. Auch bei den Actionszenen hält sich Sallis nicht lange auf. Drivers Attentäter tauchen wie aus dem Nichts auf und werden innerhalb kürzester Zeit aus dem Rennen genommen, mal auf der Straße, wo sich Driver natürlich am wohlsten und sichersten fühlt, dann aber auch in schummrigen Gassen oder in seiner vorübergehenden Unterkunft. Die Action treibt letztlich nur die Handlung voran und ist für Sallis eher nachrangig. Ihm geht es eher um die Welt, in der sich Driver bewegt und behaupten muss. Mit lakonischer Lässigkeit bleibt Driver einfach am Leben, da er kaum eine Alternative sieht. Sein Leben lang unterzutauchen ist nicht seine Sache, also sucht er die finale Konfrontation, taucht tief in die triste Dunkelheit großstädtischer Pestilenz ab und räumt mit dem Müll auf. 
Auch wenn die Handlung gegenüber „Drive“ wenig Neues präsentiert, ist die Art und Weise, wie Sallis seinen Figuren und ihrer Umgebung Leben einhaucht, einfach einmalig. 

 

James Sallis – „Driver“

Samstag, 5. Februar 2022

(Liebeskind, 160 S., HC) 
James Sallis war im deutschsprachigen Raum nur durch die drei schmalen in der leider nur kurzlebigen DuMont-Noir-Reihe veröffentlichte Bändchen „Die langbeinige Fliege“, „Nachtfalter“ und „Deine Augen hat der Tod“ bekannt, ehe sein 2005 veröffentlichter Roman „Drive“ zwei Jahre später unter dem Titel „Driver“ bei Liebeskind erschien und mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde. Nicht zuletzt durch die 2011 erfolgte Verfilmung des Romans durch Nicolas Winding Refn hat Sallis‘ noch überschaubares Gesamtwerk endlich die verdiente Aufmerksamkeit in der Gemeinde des literarischen Krimis gewonnen. 
In der Anonymität der amerikanischen Großstädte kennt man ihn nur als Driver. Der junge Mann, der zum bekanntesten Stuntfahrer in Hollywood avanciert ist, hat nichts anderes gelernt, als mit Autos umzugehen. Schon als Junge wurde er von seinem Vater auf Diebstahl-Touren mitgenommen. Da er bis zum zwölften Lebensjahr für sein Alter recht klein gewesen war, passte er nämlich durch die kleinsten Öffnungen. Eines Tages hatte seine Mutter aber genug von ihrem Mann, schlitzte ihm mit einem Messer am Esstisch die Kehle auf und landete in der Psychiatrie. 
Driver wuchs bei Pflegeeltern in Tucson auf, lernte von einem Kumpel das Autofahren, bis er ein paar Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag seine Sachen packte, sich den Ford Galaxie von Mr. und Mrs. Smith schnappte und Richtung Kalifornien fuhr, wo er in einer Kneipe den bekannten Stuntfahrer Shannon kennenlernte. Dieser verschaffte ihm die ersten Jobs in Hollywood, nebenbei verdingte sich Driver als Fluchtwagenfahrer. Mittlerweile hält es Driver selten länger an einem Ort. Seine Sachen sind stets schnell gepackt, Spuren hinterlässt er so gut wie keine. Doch dann macht er bei einem Deal mit, den er eigentlich nicht überleben sollte. Driver begibt sich auf eine Rachemission. Schließlich hat er in den Drehpausen so einige Tricks von den Stuntleuten aufgeschnappt. Auf dem Weg zu Nino hinterlässt Driver einige Leichen, denen er Gutscheine von Ninos Pizzeria anheftet, so dass ihr Auftraggeber schnell erfahren wird, was da auf ihn zukommt … 
„Etwas schnürte ihm den Hals ab. Scheiße – Draht? Er zerrte daran, wusste aber, dass es nichts nützen würde. Irgendwer hinter ihm zog immer fester zu. Und das Warme auf seiner Brust, das musste dann wohl Blut sein. Als er fieberhaft versuchte, nach unten zu sehen, fiel ein glutiger Fleischbrocken, sein Fleisch, auf seine Brust. Das war’s dann also, dachte er, in dieser beschissenen Gasse, mit vollgeschissener Hose. Verdammte Scheiße. Driver steckte dem Espresso-Mann einen Coupon von Nino’s in die Jackentasche. Vorher hatte er die Worte ,Wir liefern auch außer Haus‘ rot eingekreist.“ (S. 119) 
Auch in seinem elften Roman braucht James Sallis nicht viele Worte, um die turbulente Geschichte eines jungen Mannes zu erzählen und nebenbei auch noch ein erschöpfendes Bild eines Landes zu zeichnen, in dem der American Dream längst zum Alptraum für die meisten Menschen geworden ist. In einer Zeit, in der die Städte immer hässlicher werden und ihre verlassenen Ränder mit den dort verbliebenen Menschen vor sich hin faulen, erzählt Sallis die Geschichte eines jungen Kerls, der gerade mal Anfang Zwanzig ist und so ziemlich alles verloren hat, was in seinem Leben mal Wert gehabt hat, vor allem die Familie. 
Nach den eigenen Eltern hat er auch seine Pflegeeltern hinter sich gelassen, Driver verliert Freunde und Ersatzväter wie Shannon und Doc. Ganz auf sich allein gestellt und so gut wie nur möglich in der Anonymität lebend kann sich Driver nur auf seine versierten Künste als Monteur und Fahrer verlassen. Sallis beschreibt in seiner unnachahmlichen Sprache eine durch und durch korrupte Welt, in der nur die Stärksten und Cleversten überleben. Selbst den Leuten, denen er am meisten zu vertrauen bereit ist, verraten ihn ohne Hemmungen. Geld und Macht scheint alles zu sein, was zählt. Driver wird in diese düstere Welt hineingesogen, kann sich behaupten, verlässt sich nur auf sich selbst, schlägt sich durch, strandet immer wieder in heruntergekommenen, anonymen Motels. Auf Rachefeldzug geht er nur, um selbst am Leben zu bleiben. Spaß bereitet es ihm nicht, hinter sich aufzuräumen, aber gewisse Dinge müssen einfach getan werden. Dabei gestatten sich Sallis und sein Protagonist keine Gefühlsduseleien. Liebe und Mitleid haben hier keinen Platz. Sallis wechselt ständig Ort und Zeit, lässt Driver in Träumen und Erinnerungen schwelgen, so dass sich erst nach und nach das Puzzle seines Lebens zusammensetzt. Das ist so temporeich und spannend geschrieben wie ein düsterer Action-Thriller, der einige Jahre später zum Glück mit „Driver 2“ noch seine Fortsetzung finden wird.