(Pulp Master, 124 S., Tb.)
Don Antonio ist der Boss der kleinen Mafia-Organisation Acqua Storta und damit Teil der neapolitanischen Camorra. Seinen Sohn Giovanni hat er streng im Geiste der Bibel erzogen, doch bewegt sich der junge Mann außerhalb der Norm. Nachdem er als Jugendlicher einige Monate in der Jugendhaftanstalt verbracht hatte, heiratete er Mariasole Simonette, um den Krieg zwischen der Familie Don Antonio Farnesinis und der von Don Pietro Simonetti zu beenden, der nach Schießereien in Acerra, Nola und Pomigliano außer Kontrolle geraten war. Doch für Giovanni ist die Ehe kein sicherer Hafen. Er lässt sich an der Litorale Domizio von einer nigerianischen Prostituierten einen blasen, doch seine Leidenschaft gehört dem männlichen Geschlecht.
In einer gesellschaftlichen Struktur wie der Mafia sind homosexuelle Neigungen natürlich tabu, aber bereits im Jugendknast hat Giovanni festgestellt, dass er beim Betrachten einer Vergewaltigung eines Mithäftlings durch zwei Männer einen Ständer wie noch nie in seinem Leben bekam. Als er sich in dem Salvatore, den Buchhalter der Acqua Storta, verliebt, ist ihm durchaus bewusst, dass er damit gegen den moralischen Kodex seines Umfelds verstößt, doch die Leidenschaft, die Giovanni mit Salvatore heimlich auslebt, steht unter einem ungünstigen Stern …
„Salvatore geht schon wieder neben mir. Aber im Grunde ist doch nichts dabei, wahrscheinlich habe ich nur alle möglichen Filme im Kopf. Das hat mir noch gefehlt: Ich muss mich beruhigen, darf jetzt nicht in Panik geraten. Die Leute können es förmlich riechen, wenn sie merken, wie unsicher und nervös ich bin. Aber das mit Salvatore und mir ist ein Geheimnis in dieser Stadt. In dieser Stadt, wo alles hinter verschlossenen Türen geschieht, die Salz über die Schulter wirft, um das Böse und das Unglück abzuwenden. In unserer Stadt sind wir Waisen, sozusagen, und wir machen auch unsere Kinder zu Waisen, früher oder später.“ (S. 14)
Der aus Neapel stammende Schriftsteller L.R. Carrino beschreibt in seinem nur 80 Seiten umfassenden Kurzroman ein Ding der Unmöglichkeit: Homosexualität in der Mafia. In einer Organisation, in der die Attribute von Männlichkeit und Stärke alles bedeuten, umreißt der Ich-Erzähler Giovanni gerade mal einen Zeitraum von drei Tagen, in denen die Ereignisse in umgekehrter Chronologie geschildert werden, bis das kompromisslose wie ernüchternde Finale wieder an den Romananfang anknüpft. Carrino lässt seine Figur den Strom der Ereignisse nur kurz umreißen. In Erinnerungen wird die von den verfeindeten Familien organisierte Hochzeit, die homosexuelle Vergewaltigung im Knast, das Verteilen von Löhnen und die Vorbereitungen zu dem von seinem Vater beauftragten Mord aus Rache jeweils kurz skizziert.
Die verschiedenen homosexuellen Handlungen werden sehr plastisch, aber ohne echte Emotionen auf den rein sexuellen Akt reduziert. Während sich sein Geliebter Salvatore nach einer romantischen Beziehung sieht, versucht Giovanni die Beziehung nicht nur geheim zu halten, sondern auch seine wahren Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das ist Carrino bei aller Kürze sehr anschaulich gelungen. Der anschließend abgedruckte Beitrag von Christian Gabriele Moretti (Mitbegründer und Herausgeber des wissenschaftlichen Journals „Akademia“ der Universität von Calgary), „Der schwule Mafioso: Zur Konstruktion und Dekonstruktion von Männlichkeit in Carrinos Roman Aqua Storta – Der Verstoß“, analysiert sehr anschaulich, wie vor allem in der italienischen, vom Faschismus geprägten Gesellschaft Homosexualität nach wie vor ein absolutes Tabu darstellt und wie die homophobe Intoleranz in der Welt des organisierten Verbrechens auch das krasse Romanende erklärt.
Als Krimi taugt „Der Verstoß“ allerdings nur bedingt. Dafür muss Carrino hoch angerechnet werden, dass er auf kompromisslose Weise ein bis heute stark tabuisiertes Thema aufgegriffen hat.
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