In seinem 1924 veröffentlichten, 1000 Seiten umfassenden Bildungsroman „Der Zauberberg“ fühlte sich Thomas Mann von einem Besuch in einem Sanatorium inspiriert, in dem seine lungenkranke Frau therapiert wurde, und ließ seinen Protagonisten Hans Castorp für sieben Jahre in einem Sanatorium in den Schweizer Bergen verweilen. Heinz Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“, „Jürgen“) hegte seit sieben Jahren schon die Idee, Manns Klassiker in die Neuzeit zu überführen. Sein schmales Bändchen „Zauberberg 2“ könnte man als Fortsetzung missverstehen, stattdessen verströmt der Roman den typischen Strunk-Touch und liest sich bis auf ein Kapitel zum Schluss wie ein moderner Abgesang auf gewinnmaximiert geführte Therapiehäuser.
Bereits mit Mitte dreißig muss sich Jonas Heidbrink keine Sorgen mehr um seinen Lebensunterhalt machen. Sein Start-up hat er so gut verkauft, dass er nie mehr arbeiten muss, doch mit dieser Erkenntnis geht eine mit Angstzuständen und Langeweile einhergehende Sinnkrise einher, mit der sich der in Neumünster geborene und in Hamburg lebende „Erfinder“ in einem Sanatorium in der mecklenburgischen Einöde kurz vor der polnischen Grenze in dreißig Tagen auseinanderzusetzen gedenkt. Doch die ärztliche Eingangsuntersuchung bringt noch andere Baustellen ans Licht: Der Verdacht auf Hautkrebs, eine Fettleber und einen Nierentumor muss erst einmal ausgeräumt werden.
Bis dahin und darüber hinaus setzt sich Heidbrink wie seine Leidensgenossen Tag für Tag mit der einlullenden Sanatoriums-Routine auseinander, mit Visiten, aus Klassikern der Hausmannskost bestehenden Mahlzeiten in fest strukturierten Gruppen und natürlich diversen Therapien. Heidbrink findet weder die Musiktherapie noch die Fototherapie oder Bibliotherapie besonders heilsam, weshalb sich in Heidbrink immer mehr der Wunsch nach selbstgewählter Isolation breitmacht. Aus dem geplanten Monat wird erst ein halbes Jahr, dann ein ganzes. Heidbrink sieht Klienten kommen und gehen, bemerkt aber auch den schleichenden Niedergang des Hauses.
Da wird erst ein Nebengebäude geschlossen, das Essen schmeckt nach in der Mikrowelle aufgewärmtes Convenience Food, das Personal wird sichtlich abgebaut, und Heidbrink geht es noch immer nicht besser…
„Das Klinikum ist nun so groß wie die ganze Welt. Ein mächtiges Gebäude an einer anonymen Straße in einer fremden Gegend in einem verlassenen Land. An jedem Dritten des Monats erhält Heidbrink seine Privatliquidation, die er unverzüglich begleicht. Morgens kämpft er sich, unter einer Ladung Schotter in einem tiefen Schacht begraben, aus Schichten von Müdigkeit, Langeweile und Dumpfheit hoch an die Oberfläche. Er fürchtet die schlaflosen Nächte, die endlosen Nachmittage, all die leeren Stunden.“
Heinz Strunk versteht „Zauberberg 2“ als Hommage an Thomas Manns berühmten Klassiker „Der Zauberberg“ und hat die Begebenheiten entsprechend angepasst. Das Sanatorium hat Strunk von den Schweizer Alpen ins norddeutsche Flachland verlegt, aus Lungenkranken seelische Wracks gemacht, die von den Ärzten möglichst lange in der Heilanstalt „festgehalten“ werden.
Strunks Roman umfasst nicht mal ein Drittel von Manns Werk, doch nimmt sich der Wahlhamburger genügend Zeit, um in der dritten Person von den Zuständen in dem Sanatorium zu erzählen. Die Vorgeschichte seines Protagonisten beschränkt sich auf das Notwendigste. Wichtig scheinen nur die Zustände im Hier und Jetzt. Das liest sich die erste Hälfte recht eintönig, weil im Klinik-Alltag vor allem den Alltag strukturierende Routine angesagt ist. Das macht Strunk nicht zuletzt durch die wiederholte Auflistung von Heidbrinks Vitalwerten deutlich („Sauerstoff 97, Temperatur 36,5, Blutdruck 128:82, Puls 65“). Davon abgesehen erfahren wir mehr über Heidbrinks LeidensgenossInnen als über ihn selbst.
In der ersten Hälfte des Romans ist es vor allem Strunks ausgefeilter Stil, der die triste Atmosphäre auflockert, in der zweiten Hälfte verändert sich merklich der Ton. Das hängt nicht nur mit dem schleichenden Niedergang des Sanatoriums, sondern vor allem mit den Psychopharmaka zusammen, die Heidbrink immer weniger gut verträgt. Das bietet Strunk die Steilvorlage, in dem Kapitel „Kirgisenträume“ ausgiebig aus Manns Vorlage zu zitieren.
Sicher, Strunk blickt mit „Zauberberg 2“ fast schon subversiv pedantisch in die seelischen Abgründe unserer Zeit, doch kann er sich dabei ein immer wieder aufflackerndes Schmunzeln nicht verkneifen.