Peter Straub – (Blaue Rose: 2) „Koko“

Samstag, 14. Mai 2022

(Heyne, 559 S., Jumbo) 
Der amerikanische Schriftsteller Peter Straub hatte Anfang der 1970er Jahre mit seinen Mainstream-Romanen „Marriages“ (dt. „Die fremde Frau“) und „Under Venus“ (dt. „Das geheimnisvolle Mädchen“) zunächst noch mäßigen Erfolg, ehe er 1975 mit „Julia“ erstmals einen übernatürlichen Thriller präsentierte. In diesem Genre erreichte er mit den nachfolgenden Romanen „Geisterstunde“, „Schattenland“ und „Der Hauch des Drachen“ eine größere Popularität, bevor er durch seine Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ auch hierzulande zu einer wichtigen Stimme der phantastischen Literatur avancierte. Der nachfolgende Roman „Koko“ bescherte Straub schließlich seinen ersten World Fantasy Award
Der Kinderarzt Michael Poole ist im Sheraton Hotel in Washington, D.C., mit seinen Vietnamkriegskameraden verabredet, um gemeinsam an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Während er sich auf das Treffen mit seinem ehemaligen Lieutenant, Harry „Beans“ Beevers, Tina Pumo, dem Besitzer eines vietnamesischen Restaurants, und Conor Linklater vorbereitet, muss er an zwei weitere Kameraden denken, die er in Vietnam kennen und schätzen gelernt hat, den mittlerweile erfolgreichen Schriftsteller Tim Underhill und Manuel Orosco „M.O.“ Dengler, der bei einem Autounfall ums Leben kam, als er zusammen mit seinem Kameraden Victor Spitalny Fronturlaub in Bangkok machte. 
Bei ihrem Zusammentreffen kommt die Sprache sehr schnell auf eine Mordserie in Fernost, zu der Harrys noch als Berufssoldaten aktiven Brüder entsprechende Zeitungsberichte sammelten. Den Opfern wurden nicht nur Augen und Ohren entfernt, sondern auch Spielkarten in den Mund gelegt, auf denen neben kryptischen Botschaften der Name „Koko“ stand. Die Vermutung liegt nahe, dass Tim Underhill hinter „Koko“ stehen könnte, also machen sich Poole, Linklater und Beevers auf nach Singapur, wo sie den Schriftsteller vermuten, während Pumo sich weiterhin um sein Restaurant kümmern muss. Doch als das Trio Underhill tatsächlich ausfindig macht, hat Koko bereits wieder zugeschlagen. Offensichtlich räumt der Killer alle Journalisten aus dem Weg, die über die grausamen Morde an vietnamesischen Kindern bei Ia Thuc im Jahr 1968 berichten wollten, an denen Beevers Trupp beteiligt gewesen ist. Zusammen mit Underhill machen sich die drei Veteranen auf die Rückreise in die USA, wo Koko bereits weitere Zeitzeugen zu töten begonnen hat… 
 „Ich habe einen kleinen Jungen erschossen, sagte sich Poole. Doch er wusste, dass er dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden würde. Lieutenant Beevers hatte ein kleines Mädchen so lange gegen einen Baum geschleudert, bis dem armen kleinen Wesen der Kopf zersprungen war. Spitalny hatte Kinder in einem Graben bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wollte man sie dafür bestrafen, so musste man schon den ganzen Zug vor das Kriegsgericht stellen. Auch das war ganz entsetzlich. Diese Untaten würden keine Folgen haben. Was sich sozusagen in einem luftleeren Raum abspielte, zählte nicht. Das war das Schlimme.“ (S. 332) 
Peter Straub hat mit „Koko“ vor allem einen Vietnam-Roman geschrieben. Die Erinnerungen an den sinnlosen Krieg mit seinen brutalen Verbrechen an der Zivilbevölkerung verfolgen die vier Protagonisten noch heute. Und auch wenn sie sich mittlerweile ein neues Leben aufgebaut haben, können sie die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Vor allem können sie nicht zulassen, dass das sinnlose Morden fortgesetzt wird. Straub nimmt sich viel Zeit, sowohl seine vier Protagonisten als auch ihre Erinnerungen an ihren Einsatz in Vietnam ausführlich zu beschreiben. Es geht aber nicht nur um gemeinsame Vergangenheitsbewältigung, sondern auch darum, eine Mordserie aufzuklären. Dabei kommt der Autor nahezu ohne übernatürliche Elemente aus, mit denen er seine Erfolgsromane so überzeugend gespickt hat. Die begangenen Kriegsverbrechen sind grauenvoll genug, um sie noch in einen phantastischen Kontext zu stellen. Geschickt wechselt Straub immer wieder die Erzählperspektive, recht früh auch schon zu Koko, dessen Identität über den ganzen Roman hinweg immer wieder Rätsel aufgibt. So ist mit „Koko“ ein psychologisch tiefgründiger und extrem spannender Mix aus Kriegsroman und Krimi-Thriller gelungen, der zu Straubs besten Werken zählt. Es ist der 2. Band der „Blaue Rose“-Reihe, die mit der gleichnamigen Novelle begann und nach „Koko“ mit „Mystery“ und „Der Schlund“ fortgesetzt wurde. 

 

Dan Simmons – „Göttin des Todes“

Donnerstag, 5. Mai 2022

(Heyne, 318 S., Tb.) 
Dan Simmons hat den perfekten Start für seine Schriftsteller-Karriere hingelegt. Gleich mit seinem 1985 veröffentlichten Debüt „Song of Kali“ wurde er mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet und von Kollegen wie Dean Koontz („Der beste Erstlingsroman, den ich je gelesen habe“) und Stephen King hoch geschätzt. „Kein amerikanischer Autor der Gegenwart ist wie Dan Simmons befähigt, das Reale und das Irreale in gleichem Maße überzeugend zu verschmelzen“, wird Stephen King zitiert. Das trifft insbesondere auf Simmons‘ Debüt zu, das 1991 unter dem Titel „Göttin des Todes“ als deutsche Erstveröffentlichung erschien. 
Der amerikanische Schriftsteller Robert C. Luczak wird im uni 1977 von „Harper’s“ damit beauftragt, nach Kalkutta zu fliegen, um ein bisher unveröffentlichtes Manuskript des seit acht Jahren verschollenen bengalischen Dichters M. Das in Empfang ausfindig zu machen. Abe Bronstein, Herausgeber der kleinen Literaturzeitschrift „Other Voices“, für die Luczak überwiegend tätig ist, versucht vergeblich, seinen Freund von der Reise abzubringen. Für Luczaks Frau Amrita bietet die Reise zudem die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren und als potentielle Dolmetscherin tätig zu werden. 
Als Luczak mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen sieben Monate alten Tochter Victoria in Kalkutta landen, werden sie überraschenderweise von einem gewissen M.T. Krishna in Empfang genommen, der für einen verhinderten Freund des indischen Schriftstellerverbandes eingesprungen ist und sich als Teilzeitlehrer mit guten Kontakten zu Education Foundation der Vereinigten Staaten in Indien vorstellt. Am nächsten Morgen wird Luczak von Michael Leonard Chatterjee empfangen, der ihm als Vertreter des Schriftstellerverbandes von Bengalen versichert, dass M. Das noch lebe, doch von einem persönlichen Treffen zwischen Luczak und dem Bengalidichter will der Verband nichts wissen. Viel interessanter scheint die von Krishna arrangierte Begegnung mit dem Studenten Jayaprakesh Muktanandaji zu sein, der dem Amerikaner von einem Initiationsritus erzählt, bei dem die Kapalikas von jedem neuen Mitglied die Opferung einer menschlichen Leiche vor dem Standbild der Kali im Tempel der Kapalikas fordern. 
Im Laufe der Zeremonie wird diese Leiche durch Kali wiedererweckt. Als Luczak endlich das M. Das zugeschriebene Manuskript erhält, verbringt er eine schlaflose Nacht damit, das lange, verstörende Gedicht zu lesen, das sich ausführlich der hinduistischen Göttin des Todes und der Zerstörung widmet. Nun drängt Luczak sehr vehement darauf, M. Das persönlich zu treffen, worauf sich der in die Defensive getriebene Schriftstellerverband schließlich einlässt. Doch die Begegnung mit Das erschüttert Luczak zutiefst… 
„Ich habe eine Theorie zu Kalkutta entwickelt, obwohl Theorie eine zu hochtrabende Bezeichnung für eine intuitive Meinung ist. Ich glaube, es gibt Schwarze Löcher in der Wirklichkeit. Schwarze Löcher in der menschlichen Seele. Und tatsächlich Orte, wo aufgrund der Dichte von Elend oder schierer menschlicher Perversion die Beschaffenheit der Welt einfach auseinanderfällt und der schwarze Kern in uns alles andere verschlingt.“ (S. 314) 
Auch wenn der amerikanische Schriftsteller und Redakteur Robert Luczak die Hauptfigur in „Göttin des Todes“ verkörpert, nimmt die unheilvolle Atmosphäre in der indischen Metropole Kalkutta doch eine ebenso bedeutende Rolle ein. Simmons hält sich nicht lange mit einer Einführung auf, stellt nur kurz den Verleger Bronstein und den Ich-Erzähler Luczak vor, der sich bereits mitten in den Vorbereitungen für die Reise befindet. Die eigentliche Geschichte beginnt schließlich auch erst in Kalkutta, wo Luczak nicht nur mit dem allgegenwärtigen Elend konfrontiert wird, sondern auch etliche obskure Menschen kennenlernt, die das Mysterium um den seit Jahren verschwundenen Dichter M. Das nur intensivieren. 
In der detaillierten Beschreibung von Kulkuttas Atmosphäre und den dort verwirrenden Vorgängen liegt die Stärke von „Göttin des Todes“. Simmons liefert dabei auch einige eindringliche Beschreibungen der Riten rund um diese zerstörerische Göttin, konfrontiert seinen Protagonisten direkt mit ihrem Auftreten in seinen Träumen und legt so gekonnt die Grundlage für einen zunehmend verstörenden Plot, der nur durch den allzu versöhnlichen zu einem nicht ganz überzeugenden Schluss geführt wird. Simmons legte mit diesem atmosphärisch dichten Horror-Drama den erfolgreichen Start für seine Karriere, in der die Horror-Romane „Sommer der Nacht“, „Kinder der Nacht“ und „Kraft des Bösen“ ebenso nachhaltigen Eindruck hinterließen wie die Science-Fiction-Sagen um „Hyperion“ und „Endymion“, die Joe-Kurtz-Thriller und die historischen Romane „Der Berg“, „Terror“ und „Drood“

 

John Grisham – „Der Verdächtige“

Dienstag, 3. Mai 2022

(Heyne, 416 S., HC) 
Allein die Tatsache, dass seine ersten sieben Romane – von „Die Jury“ und „Die Firma“ über „Die Akte“ und „Der Klient“ bis zu „Die Kammer“, „Der Regenmacher“ und zuletzt „Das Urteil“ – verfilmt worden sind, spricht Bände über den Erfolg des ehemaligen Rechtsanwalts und Bestseller-Autors John Grisham. Seit seinem im Original 1989 veröffentlichten Debüt „Die Jury“ liefert der bekennende Baptist und Demokrat nahezu jährlich einen Bestseller ab und kehrt nun hin und wieder auch zu Figuren aus früheren Romanen zurück. So ist Jake Brigance, Grishams Protagonist aus „Die Jury“, zunächst 2013 in „Die Erbin“ zurückgekehrt, um dann noch einmal in „Der Polizist“ einen 16-Jährigen vor der Todesstrafe zu bewahren. Lacy Stoltz wiederum hat als Anwältin bei der Gerichtsaufsichtsbehörde in Florida in „Bestechung“ einen aufsehenerregenden Korruptionsfall aufgeklärt, bei der eine Richterin jahrelang erhebliche Bestechungsgelder kassiert hat. Nun wird sie mit einem Fall konfrontiert, bei dem ein amtierender Richter mehrere Morde begangen haben soll, die nie aufgeklärt werden konnten. 
Seit ihrem Erfolg vor drei Jahren scheint die Karriere von Lacy Stoltz beim Board on Judicial Conduct (BJC), zuständig für Berufsaufsicht und standeswidriges Verhalten von Richtern, ins Stocken geraten zu sein. Die dienstälteste Mitarbeiterin weiß weder, wohin ihre Beziehung zum FBI-Beamten Allie führt, noch ob sie sich vielleicht beruflich verändern soll. 
Da erhält sie einen zunächst anonymen Anruf von einer Frau, die sich später als die sechsundvierzigjährige Jeri Crosby vorstellt, die als geschiedene und alleinlebende Professorin Politikwissenschaft an der University of South Alabama in Mobile lehrt. Sie behauptet, dass ihr Vater Bryan Burke, Juraprofessor im Ruhestand, von einem amtierenden Richter namens Ross Bannick ermordet worden sein soll. Da weder Spuren noch Motiv ausgemacht werden konnten, ist allerdings nie jemand der Tat verdächtigt worden. Doch damit nicht genug: Jeri hat keine Kosten und Mühen gescheut, um weitere fünf ungelöste Morde ausfindig zu machen, die mit der gleichen Methode ausgeübt worden sind. Den Opfern wurde zunächst der Schädel zertrümmert, dann mit einem Nylonseil erdrosselt, wobei der Druck mit einem doppelten Mastwurf gesichert wurde. 
Offensichtlich rächt sich Bannick an all jenen, die ihn im Laufe seines Lebens gekränkt haben. Dabei beweist er unglaubliche Geduld und Vorsicht, und da die Morde in mehreren Bundesstaaten begangen wurden, sind nie irgendwelche Zusammenhänge untersucht worden. Auch wenn sich Lacy anfangs sträubt, sich mit diesen Vorwürfen auseinanderzusetzen, muss sie mit ihrem Team dem Fall widmen, als Jeri offiziell Beschwerde gegen Bannick einreicht. Die Professorin fühlt sich hinter ihrer anonymen Fassade so sicher, dass sie Bannick aufzuscheuchen versucht, indem sie ihm Gedichte schickt, die auf seine verschiedenen Opfer verweisen, doch Bannick ist auch in technischer Hinsicht so versiert, dass er bald herausfindet, wer ihm das Leben gerade so schwer zu machen versucht… 
„Die Person, die ihm nachstellte, war kein Cop, kein Privatdetektiv, kein Kriminalschriftsteller, der sich auf echte Fälle verlegt hatte und auf Nervenkitzel aus war. Sie war selbst betroffen, jemand, der seit vielen Jahren im Dunkeln agierte, beobachtete, Material sammelte, Spuren verfolgte. Er war mit einer neuen Realität konfrontiert, und brillant, wie er war, würde er auch damit fertigwerden. Er würde das Opfer finden und den Briefen ein Ende setzen. Schluss mit den albernen Gedichten.“ (S. 249) 
Um Lacy Stoltz noch einmal im Fall eines richterlichen Fehlverhaltens ermitteln zu lassen, brauchte es schon einen spektakulären Fall, den er mit der offensichtlichen Mordserie eines Richters auch spektakulär in Szene zu setzen weiß. Dabei wechselt Grisham immer wieder die Perspektive von Lacy Stoltz und Jeri Crosby auf der einen und Richter Ross Bannick auf der anderen Seite. Die persönlichen Hintergründe der drei Protagonisten kommen dabei auch nicht zu kurz, gehen allerdings auch nicht besonders in die Tiefe.  
Grisham konzentriert sich ganz auf die Jagd nach Bannick, die vor allem darin besteht, endlich Beweise für die ihm vorgeworfenen Taten zu finden, wobei vor allem das FBI involviert wird. Das hohe Tempo und die Spannung durch das Katz- und Maus-Spiel lassen fast darüber hinwegsehen, dass die Figur des Richters nicht besonders glaubwürdig gezeichnet ist und die Motivation seiner Taten mehr als fragwürdig erscheint, der Schluss fällt sogar enttäuschend aus. Ein spektakulärer Fall macht noch keinen guten Thriller aus, aber Grisham schreibt immerhin so routiniert und hat mit den beiden tragenden Frauenfiguren zwei sympathische Charaktere geschaffen, dass Grisham-Fans dennoch auf ihre Kosten kommen. Interessant ist dabei vor allem die Vorstellung, dass gerade ein Mann, der das Gesetz schützen soll, zum Verbrecher geworden ist.  

Dan Simmons – „Terror“

Freitag, 29. April 2022

(Heyne, 990 S., HC) 
Seit seinem 1985 veröffentlichten, mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Debüt „Song of Kali“ (1991 erstmals als „Göttin des Todes“ in deutscher Sprache erschienen) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons vor allem im Horror- und Science-Fiction-Genre einen Namen gemacht. 2007 schlug er mit dem historischen Roman „Terror“ ein neues Kapitel in seiner Laufbahn auf, das 2009 mit „Drood“ und 2014 mit „Der Berg“ eindrucksvoll fortgesetzt wurde. Mit dem fast 1000 Seiten starken „Terror“ versucht Simmons das Mysterium zu klären, wie die über hundertköpfige Besatzung zweier Royal-Navy-Schiffe bei der Expedition zur Durchquerung der Nordwestpassage spurlos verschwinden konnten. 
Am 19. Mai 1845 nehmen zwei Schiffe der Royal Navy - die HMS Terror unter Leitung von Kapitän Francis Crozier und ihr etwas kleineres, von Sir John Franklin geführtes Schwesternschiff HMS Erebus – von London aus Kurs Richtung Norden, um mit der legendären Nordwestpassage einen kürzeren Seeweg über die Arktis in den Pazifischen Ozean zu finden. Für Sir John Franklin ist es als Expeditionsleiter vielleicht die letzte Möglichkeit, seine Karriere ruhmreich zu beenden, nachdem er bereits vor dreiundzwanzig Jahren erfolglos versucht hatte, die Nordwestpassage bei einer Überlandexpedition durch Nordkanada zu finden. Von den einundzwanzig Männern, mit denen Franklin 1819 aufgebrochen war, starben neun Männer, von denen mindestens einer von den anderen aufgegessen wurde. Doch auch der neuen Expedition ist wenig Glück beschieden. Obwohl die Schiffe mit dicken Eisenplatten gepanzert und mit Heißwasserheizungen und Dampfmaschinen ausgestattet sind, frieren sie im Winter im Packeis ein. Dabei wird die Erebus von den sich ständig bewegenden Eismassen so schwer beschädigt, dass sie aufgegeben werden muss. Im Kampf gegen Temperaturen von minus 70° Grad, gegen durch verdorbene und zur Neige gehende Lebensmittel verursachten Hunger, der zu etlichen qualvoll dahinsiechenden Skorbut-Opfern führt, und schließlich gegen die wachsenden Differenzen innerhalb der über 130-köpfigen Besatzung gibt es immer mehr Todesfälle zu beklagen. 
Nach nicht mal einem Jahr sind drei Männer bereits an Schwindsucht und Lungenentzündung gestorben. Die Situation spitzt sich zu, als im Winter keine offenen Fahrrinnen mehr im Eis auszumachen sind und sich diese auch im folgenden Sommer nicht auftun. Dabei spielt allerdings nicht nur die Kälte und der Hunger eine tragende Rolle, sondern offensichtlich auch ein schwer zu definierendes, riesengroßes Monster, das einige Männer auf brutale Weise tötet. Einzig die durch das Fehlen ihrer Zunge stumme Eskimo-Frau Lady Silence könnte den übrig gebliebenen Männern einen Ausweg bieten… 
„Die Aufgabe eines Schiffs war der Tiefpunkt im Leben jedes Kapitäns. Es war das Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Und in den meisten Fällen war es auch das Ende der Laufbahn bei der Navy. Für viele Kapitäne, die Francis Crozier persönlich gekannt hatte, war es ein Schlag, von dem sie sich nie mehr erholten. Aber Crozier empfand keine Verzweiflung dieser Art. Noch nicht. Viel wichtiger für ihn in diesem Augenblick war die blaue Flamme der Entschlossenheit, die immer noch in seiner Brust brannte: Ich will leben.“ (S. 553) 
Wie Dan Simmons in seiner Danksagung erwähnt, hat der Autor eine ganze Reihe an Quellen zur Rate gezogen, um die gescheiterte Expedition zur Entdeckung der Nordwestpassage nachzeichnen zu können. Es ist aber vor allem Simmons‘ eindringlicher, vor Details strotzender Schreibstil, der die Beschreibung der Erlebnisse in den letztlich drei Jahren der Expedition bzw. des Überlebenskampfes der Männer so authentisch macht. Simmons nimmt dabei die wechselnden Perspektiven sowohl der beiden Kapitäne Sir John Franklin und Crozier als auch des Schiffsarztes Harry D.S. Goodsir (der meist in altertümlicher Sprache Tagebuch führt), des Dritten Leutnants John Irving und des Unteroffiziers Harry Peglar ein. 
Auf diese Weise wird eine Atmosphäre geschaffen, die nicht nur die Körper und Geist herausfordernden Umstände bildlich vor Augen führt, sondern auch den Leser fast körperlich die unerträgliche Kälte und den Kampf gegen den Hunger und das unbekannte Wesen nachempfinden lässt, das auf dem Eis sein Unwesen treibt. Durch die Perspektivwechsel erledigt Simmons gleichzeitig die sorgfältige Charakterisierung der Expeditionsteilnehmer und macht so deutlich, wie es zu den aufrührerischen Protesten und der Spaltung der Crew gekommen ist. 
Eine besondere Rolle spielt schließlich die Inuit-Frau Lady Silence, deren Figur eine Brücke zu der Kultur schlägt, die es im Gegensatz zu den weißen Männern aus England gewohnt ist, im Eis zu leben. Auch wenn Dan Simmons die Handlung hätte arg straffen können, ist ihm ein Epos gelungen, das sich wie das authentische Zeugnis einer wahnwitzigen Expedition liest, wobei am Ende die Glaubensvorstellungen der Inuit näher ausgeführt und so die Expedition und ihre unerklärlichen Momente in einen anderen Kontext überführt werden, was dem Buch allerdings eher schadet als nützt. 

Stephen King – „In einer kleinen Stadt“

Samstag, 16. April 2022

(Hoffmann und Campe, 698 S., HC) 
Als Stephen King 1991 mit „Needful Things“ seinen 19. Roman veröffentlichte, war er schon längst der unangefochtene „King of Horror“, der mit Bestsellern wie „Carrie“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Stark – The Dark Half“ das Grauen in den Alltag meist kleinstädtischer Bürgerlichkeit Einzug halten ließ. Mit „In einer kleinen Stadt – Needful Things“ kehrt King in die fiktive Kleinstadt Castle Rock zurück, Schauplatz seiner vorangegangenen Bücher wie „Cujo“, „Stark – The Dark Half“ und „Dead Zone – Das Attentat“
Als in Castle Rock das Schild „Eröffnung demnächst!“ darauf hinweist, dass mit „Needful Things“ eine „neue Art von Laden“ seine Tore öffnet, ist die Neugier der Bevölkerung groß. Schließlich verkündet ein Schild für den 9. Oktober eine „Gala-Eröffnung“. Doch noch vor der offiziellen Eröffnung bekommt der elfjährige Brian Rusk mit, was es mit dem neuen Geschäft auf sich hat. Als er noch in Tagträumen an seine Lehrerin Miss Ratcliffe versunken ist, entdeckt er, dass das Schild am Laden schon wieder ausgewechselt worden ist. Neugierig betritt er das Geschäft, in dem ihn der betagte Leland Gaunt begrüßt und ihm als ersten Kunden einen speziellen Preis für das Objekt einräumt, das den Jungen möglicherweise interessiert. 
Auf die Frage, was Brian lieber als alles auf der ganzen Welt hätte, antwortet Brian prompt: „Sandy Koufax“. Tatsächlich findet Gaunt in seinem Karton mit Baseballkarte nicht nur die ersehnte Baseballkarte von Sandy Koufax aus dem Jahr 1956, sondern sie ist auch noch „für meinen guten Freund Brian“ signiert. Dafür muss Brian nur 85 Cent hinlegen, doch zur Bezahlung gehört noch die Ausübung eines an sich harmlosen Streiches, der darin besteht, die zum Trocknen im Garten aufgehängten weißen Laken von Wilma Jerzyck mit Schlamm zu bewerfen. Sie macht dafür Nettie Cobb verantwortlich, die einst ihren gewalttätigen Mann ermordet hatte und einige Jahre im Gefängnis verbrachte, bevor sie als Haushälterin bei Polly Chalmers eine neue Chance im Leben erhielt. Wilma und Nettie tragen nämlich schon seit einiger Zeit einen Streit aus, bei dem nun aber definitiv eine Grenze überschritten wurde. Andere Kunden von „Needful Things“ machen eine ähnliche Erfahrung wie Brian. Hugh Priest, der den städtischen Müllwagen fährt und wegen seiner Trunksucht immer wieder mit Henry Beaufort, dem Besitzer des Mellow Tiger, Ärger bekommt, erwirbt bei „Needful Things“ einen Fuchsschwanz, der ihn an das Kabrio seines Dads erinnert, Deputy Norris Ridgewick eine Angel und der verschuldete Stadtrat Danforth „Buster“ Keeton ein Pferderennspiel, mit dem er zukünftige echte Rennen simulieren und mit den Gewinnen die aus der Staatskasse veruntreuten Gelder zurückzahlen kann. Während diese Objekte nur so viel Geld kosten, wie der Käufer erübrigen kann, sind die damit verbundenen Streiche umso perfider, da sie Feindschaften wie zwischen den Baptisten und den Katholiken, zwischen Keeton und Ridgewick, zwischen Nettie und Wilma, auf die Spitze treiben. Selbst die Beziehung zwischen Sheriff Alan Pangborn und Polly Chalmers droht unter Leland Gaunts Ränkespiel zu zerbrechen. Als schließlich mit Ace Merrill ein früherer Krimineller in die Stadt zurückkehrt, beginnt das Fass überzulaufen, nachdem Wilma und Nettie haben ihren Streit bereits mit dem Tod bezahlen mussten … 
„Die Waren, die auf die Einwohner von Castle Rock einen solchen Reiz ausgeübt hatten – die schwarzen Perlen, die heiligen Reliquien, das Buntglas, die Pfeifen, die alten Comic-Hefte, die Baseballkarten, die antiken Kaleidoskope – waren alle verschwunden. Mr. Gaunt war zu seinem wahren Geschäft übergegangen, und wenn die Sache zu Ende ging, war das wahre Geschäft immer dasselbe. Der Gegenstand, mit dem er handelte, hatte sich im Lauf der Jahre geändert, genau wie alles andere, aber derartige Veränderungen waren oberflächlich, sie waren Guss mit unterschiedlichen Aroma auf dem gleichen dunklen, bitteren Kuchen. Letztendlich bot Mr. Gaunt ihnen immer Waffen an – und sie kauften immer.“ (S. 556) 
Stephen King nimmt sich einmal mehr viel Zeit, die Verhältnisse in Castle Rock zu beschreiben und die Schicksale so einiger ihrer Bürger so zu thematisieren, dass sie für den Leser zu Menschen aus Fleisch und Blut werden. Die einfühlsamen Charakterisierungen gehen auch schnell mit den Antipathien einher, die die einzelnen Figuren anderen Bewohnern der Stadt gegenüber empfinden. Dass der diabolische Geschäftsmann geschickt mit den Begierden und Animositäten innerhalb der Bevölkerung spielt, macht „Needful Things“ von Beginn an zu einer fesselnden Lektüre, da niemand von Leland Gaunts Kunden auch nur ahnt, was er mit den an sich harmlosen Streichen anrichtet. Da ist jeder Einzelne bereits so im Bann des Gegenstandes gefangen, der wichtiger als alles andere geworden ist, dass die Auswirkungen der Streiche gar nicht abzusehen sind. Die Vernunft geht bei der kleingeistigen Habgier völlig flöten, was am Ende in einem blutigen Fiasko mündet, bei dem King leider auch den Bogen etwas überspannt. Bis zum kriegsähnlichen Showdown bietet „In einer kleinen Stadt“ aber einen psychologisch fundierten Blick in die Seele einer Kleinstadt, in der es unter der Oberfläche eben nicht so idyllisch ist, wie es zunächst den Anschein hat.  

„Filmjahr 2021/2022 - Lexikon des internationalen Films“

Sonntag, 10. April 2022

(Schüren Verlag, 544 S., Pb.) 
Der „Filmdienst“ wird in diesem Jahr 75 Jahre alt und gilt gerade in unruhigen, von Corona-Lockdowns und Kriegen, die immer näher an unsere Haustür rücken, als fundierte Orientierungshilfe im kaum noch zu überschaubaren Filmgeschäft. Auch wenn die Zeitschrift „Filmdienst“ 2017 eingestellt worden ist, dient das Online-Portal fimdienst.de nach wie vor als kenntnisreicher Wegweiser durch das immense Angebot an Filmen, die sowohl für das Kino als auch Streaming-Dienste oder die direkte Auswertung auf DVD und Blu-ray produziert werden. 
Eine besondere Leuchtturm-Stellung nimmt nach wie vor Jahr für Jahr das von filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission für Deutschland herausgegebene Film-Jahrbuch des „Lexikon des internationalen Films“ ein. Es fasst nicht nur alle in dem jeweils vergangenen Jahr veröffentlichten Kinofilme mit Synopsis, Kurzkritik und wesentlichen Credits zusammen, die auf dem Online-Portal besprochen worden sind, sondern lässt das Filmjahr auch in verschiedenen Essays und ausführlichen Rezensionen zu den wichtigsten Filmen Revue passieren. In dieser Hinsicht ist auch im Jahr 2021 viel passiert: 
„Auch wenn man nicht so genau sagen kann, woher dieser Reichtum rührt, verblüfft in der Zusammenschau der wichtigsten Filme des Jahres 2021 die Fülle und ästhetische Bandbreite der Werke. Sie holen das Leben zurück, die bunte Fülle des Daseins, seine Zumutungen und Fragen, aber auch den Trost, dass es selbst nach den dunkelsten Katastrophen ein neues Morgen gegeben hat.“ (S. 9)

Das „Filmjahr 2021/2022“ beginnt mit einer Auflistung der erfolgreichsten Filme des vergangenen Jahres, aufgeteilt in die besucherstärksten, die deutschen, Arthouse-, Dokumentar- und Kinderfilme, um dann Monat für Monat die wichtigsten Ereignisse in der Welt (in Schlagzeilen) und in der Filmwelt (in kurzen Artikeln) zu rekapitulieren. Nach diesem Überblick geht es mit ausführlichen Besprechungen der „20 besten Filme des Jahres“ ans Eingemachte. Hier setzen sich die Kritiker:innen von filmdienst.de ausführlich mit ihren Favoriten des Kinojahres auseinander. In ihren fundierten Rezensionen bekommt der Cineast noch einmal neuen Blick auf Oscar-prämierte Werke wie „The Power of the Dog“, „The Father“, „Minari“, „Dune“ und „Nomadland“ ebenso wie auf vielleicht noch zu entdeckende Filme wie „Titane“, „The Green Knight“, „Die Zähmung der Bäume“ und „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“, gefolgt von einer ausführlichen Vorstellung von „15 bemerkenswerten Serien“ wie „Scenes From a Marriage“, „The Underdog Railroad“, „The North Water“, „Lisey’s Story“ und „Nine Perfect Strangers“
In den nachfolgenden Essays gehen die filmdienst-Autor:innen verschiedenen Themen rund um die Filmbranche und Filmkultur, ausgesuchten Themen und Motiven auf den Grund. Da werden das junge französische Genrekino vorgestellt, die Faszination rund um die erfolgreichen Kino-Figuren James Bond einerseits und Indiana Jones andererseits beleuchtet, Wong Kar-wais Einfluss auf das Kino untersucht und schließlich Filmschaffende wie Matt Damon, Simone Signoret, Kelly Reichardt, Denis Villeneuve und Bob Dylan vorgestellt. 
Interviews und Nachrufe runden den umfangreichen ersten Teil des „Filmjahrs 2021/2022“ ab, ehe im Hauptteil 1500 Filme (Kino, Fernsehen, Internet, Silberscheiben) in alphabetischer Reihenfolge kurz, knackig und fundiert vorgestellt werden. Herausragende Veröffentlichungen im Heimkino-Bereich, Preisträger deutscher und internationaler Filmfestspiele und -preise runden das Nachschlagewerk wie gewohnt ab. So lädt das Kompendium zum kurzen Nachschlagen ausgesuchter Filme ebenso ein wie zum Schmökern und Eintauchen in die wunderbar vielschichtigen Aspekte des Films.  

Ross Macdonald – (Lew Archer: 17) „Dornröschen“

Samstag, 9. April 2022

(Diogenes, 390 S., Tb.) 
Zwar hat Ross Macdonald (1915-1983) auch einige eigenständige Romane veröffentlicht (meist unter seinem Realnamen Kenneth Millar), doch berühmt geworden und damit in die Liga von Hardboiled-Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler aufgestiegen ist Macdonald durch seine 18 Bände umfassende Reihe um den empathischen Privatdetektiv Lew Archer. Der Diogenes-Verlag bringt Macdonalds einflussreiches Wirken durch neu übersetzte und mit je einem Nachwort von Donna Leon versehene Werke wieder verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit. Mit „Sleeping Beauty“ ist 1973 der vorletzte Band der langlebigen Reihe erschienen. Darin geht Archer einmal Verbrechen auf die Spur, deren Wurzeln lange in einer verwickelten Vergangenheit liegen. 
Privatdetektiv Lew Archer befindet sich gerade auf dem Rückflug von Mazatlán nach Hause, als er beim Landeanflug auf Los Angeles einen riesigen Ölfleck vor der Küste von Pacific Point entdeckt, unweit des verheerenden schwarzen Ölteppichs die dafür verantwortliche Bohrinsel. Wie Archer aus der Zeitung erfährt, gehört die Bohrinsel Jack Lennox, der verkündete, das Problem innerhalb der nächsten 24 Stunden aus der Welt geschafft zu haben. 
Da Pacific Point für den Detektiv einen seiner Lieblingsplätze an der Küste darstellt, fährt er nicht zu seiner Wohnung in West Los Angeles, sondern zum Strand, wo er eine junge Frau dabei beobachtet, wie sie einen ölverschmierten Vogel zu retten versucht. Archer nimmt sich der verzweifelten Frau an, die sich als Laurel Russo vorstellt und die Tochter von Jack Lennox ist. Doch kaum ist er mit ihr in seiner Wohnung angekommen, verschwindet sie spurlos – mit einer Flasche voller Schlaftabletten, die sie seinem Arzneischrank entnommen hat. Besorgt macht sich Archer auf die Suche nach Laurel und ruft schließlich ihren Mann an, den Apotheker Tom Russo, der Archer offiziell damit beauftragt, seine offenbar selbstmordgefährdete Frau zu suchen, von der er wieder einmal seit ein paar Wochen getrennt lebt. Archer klappert nach und nach die Menschen ab, die Laurel irgendwie nahestehen, ihre beste Freundin Joyce ebenso wie ihre Eltern Jack und Marian, ihre vermögende Großmutter Sylvia und Toms Cousine Gloria, die kurz davor steht, sich neu zu verheiraten, mit einem derzeit mittellosen Mann namens Harry. 
Besonders interessant entpuppt sich der Besuch bei dem ehemaligen Marine-Captain Benjamin Somerville, der nicht nur als stellvertretender Vorstand von Lennox’ Ölfirma fungiert, sondern mit dessen Frau Elizabeth sich Archer auf eine kurze Affäre einlässt. Für Somerville ist es bereits die zweite Katastrophe, für die er sich verantwortlich fühlt, nachdem er im Zweiten Weltkrieg sein Schiff Canaan Sound und viele Männer bei Okinawa durch einen Brand verloren hatte. Als für Laurel eine Lösegeldforderung über 100.000 Dollar eingeht, überschlagen sich die Ereignisse. Bei der Übergabe des Lösegeldes, das Sylvia Lennox bereitgestellt hat, wird John Lennox ebenso angeschossen wie der Entführer, hinter dem man Laurels früheren Bekannten Harold Sherry vermutet. Dann werden zwei weitere Männer ermordet aufgefunden … 
„Anstatt gleich loszufahren, saß ich eine Weile still in meinem Auto und blickte auf die Stadt hinaus, die sich wie eine leuchtende Landkarte bis zum Horizont erstreckte. Es war schwer, ihre sich ständig verändernde Bedeutung zu erfassen. All die Kringel, Punkte und Rechtecke verlangten, wie ein abstraktes Gemälde, nach Interpretation, und dazu war alles heranzuziehen, was die Erinnerung hergab. Der Gedanke an Laurel, die noch immer in diesem Labyrinth verschollen war, durchzuckte mich wie ein stechender Schmerz.“ (S. 326f.) 
Ross Macdonald schickt seinen engagierten Privatdetektiv Lew Archer ebenso wie seine Leser auf eine wilde Ermittlungs-Achterbahnfahrt, die ihren Ausgang zwar in einem Ölteppich hat, der sich vor der Küste von Pacific Point ausbreitet, vor allem aber in das verworrene Labyrinth einer Familie führt, die nicht erst durch die Katastrophe der Ölverschmutzung vor einer Zerreißprobe steht. Lew Archer muss sich die Puzzleteile der Familienverhältnisse mühsam zusammensuchen. 
Es scheint, als würde Macdonald seinen aufopferungsvoll um Aufklärung kämpfenden Detektiv innerhalb einer einzigen Nacht von Pontius zu Pilatus schicken. Aus den nicht immer aufrichtigen Fetzen der Interviews, die er mit den Mitgliedern der Russo- und Lennox-Familien führt, lassen sich nur schwer die Verantwortlichen ausmachen, für die Ölkatastrophe und das lang zurückliegende Schiffsunglück ebenso wie für die – möglicherweise nur vorgetäuschte – Entführung und die anschließenden Morde. Wieder einmal thematisiert Macdonald die Konflikte zwischen den Generationen innerhalb einer Familie, die Bürde, die Eltern ihren Kindern manchmal aufbürden, und die Kette von Ereignissen, die außereheliche Affären und Geldgier auslösen. 
„Dornröschen“ entwickelt sich nach etwas sperrigem Beginn mit dem Hopping von einem Interview-Partner zum nächsten zu einem echten Pageturner, sobald sich erahnen lässt, welch lang zurückliegende und dunkle Geheimnisse den neueren Verbrechen zugrunde liegen.  

John Irving – „Eine Mittelgewichts-Ehe“

Mittwoch, 6. April 2022

(Diogenes, 278 S., Tb.)
Der US-amerikanische Schriftsteller John Irving ist für seine oft skurril agierenden, manchmal auch körperlich deformierten und psychisch angeschlagenen Figuren bekannt, die sich in allerlei für den Normalbürger unvorstellbaren sexuellen Eskapaden hingeben. Das gelingt ihm meist so anschaulich, dass immerhin fünf seiner Werke (darunter „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“) sogar verfilmt worden sind. Mit seinem dritten, im Original 1974 veröffentlichten Roman „Eine Mittelgewichts-Ehe“ greift Irving mehrere seiner immer wiederkehrenden Topoi auf, erzählt von zwei Ehepaaren im Partnertausch-Modus und lässt dabei Ringer-Gewichtsklassen und andere Vergleiche aus dem Sport einfließen.
Die 1938 im österreichischen Eichbüchl in der Nähe von Wien geborene Anna Agathe Thalhammer hat eine traumatisierte Kindheit hinter sich. Als die Russen 1945 nach Österreich kamen, versteckte ihre Mutter sie in dem Körper einer ausgeweideten Kuh, wo sie nach einigen Tagen aber doch von einem georgischen Offizier gefunden und fortan „Utschka“ (Kuh) genannt wurde. Für den namenlosen Ich-Erzähler ist klar, dass „Utsch“, wie er sie abgekürzt zu nennen pflegt, aus demselben Grund verletzlich ist, aus dem sie stark ist. Sie ist ebenso in Wien aufgewachsen wie Severin Winter, dessen Vater wie Utschs Eltern während des Krieges starb. 
Die Tatsache, dass er einige Bilder seines verstorbenen Vaters besitzt, macht ihn mit Edith Fuller bekannt, die im Auftrag des Museum of Modern Art unterwegs ist, Gemälde zu erwerben, die die Sammlung abrunden. Sie erfährt, dass Severins Vater, Kurt Winter, während des Krieges seine Frau Katrina Marek mit einer Mappe voller erotischer Akte nach London geschickt hatte, wo sie eigentlich ihre Schauspielkarriere vorantreiben wollte, aber vor allem wegen der Akte, die Winter von ihr angefertigt hatte, als Modell engagiert wurde. 
Der mit Utsch verheiratete Ich-Erzähler, der nebenbei historische Romane schreibt, unterrichtet Geschichte am selben College wie Severin, der dort Deutsch unterrichtet und die Ringermannschaft trainiert. Die beiden Ehepaare lassen sich auf einen Partnertausch ein, schließlich scheinen die neuen Konstellationen sowohl in körperlicher Hinsicht als auch ihren Interessen nach besser zu passen. Doch als der Erzähler herausfindet, dass es dieses Arrangement wohl nicht gegeben hätte, wenn Edith ihren Mann nicht zuvor im Ringerkäfig mit einer lädierten Tanzlehrerin in flagranti erwischt hätte, verändern sich die Einstellungen der vier Beteiligten zu dem Partnertausch … 
„Ich sagte ihr, dass die schnellste Art, unsere Beziehung zu beenden, darin bestehe, unser Zusammensein als eine Art Provokation von Severin zu missbrauchen. Da schmollte sie mit mir. Ich wollte in diesem Moment sehr gern mit Edith schlafen, weil ich wusste, dass Utsch und Severin nicht konnten, aber ich erkannte, dass ihre Wut auf ihn sie wütend auf alles gemacht hatte und dass es unwahrscheinlich war, heute mit ihr zu schlafen.“ (S. 120) 
Irving nimmt sich in dem Roman viel Zeit, zunächst die Lebensgeschichten der Protagonisten aufzurollen, um ihnen ein Profil zu verleihen und eine Erklärung dafür anzubieten, warum sich die beiden Ehepaare auf einen Partnertausch einlassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Winters ihre beiden Kinder, Dorabella und Fiodiligi, nach den weiblichen Hauptpersonen in Mozarts Oper „Così fan tutte“ benannt haben, in der das Thema Partnertausch auf eine ähnliche Weise inszeniert wird wie in Irvings Roman. 
In seinem dritten Roman nach „Lasst die Bären los!“ und „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ arbeitet Irving viel mit Ringer-Vokabular, benennt einige der Kapitel sogar nach den verschiedenen Gewichtsklassen und verortet den entscheidenden Auslöser für den Partnertausch passenderweise auch in einem Ringerkäfig. Irving springt in seiner Erzählung in der Chronologie hin und her, wechselt die Perspektiven, auch wenn sie stets von dem Ich-Erzähler wiedergegeben werden, und mit sichtlichem Vergnügen beschreibt er auch diverse erotische Episoden. 
Doch letztlich nimmt die Vergangenheit der Protagonisten mehr Raum ein als die gegenwärtigen Verwicklungen, die Dialoge wirken oft gekünstelt, so dass man als Leser eher zum Betrachter einer wissenschaftlichen Operation wird und so wenig Interesse an den Problemen und Leidenschaften der mehr oder wenigen skurrilen Figuren entwickelt. 

 

Buddy Giovinazzo – „Piss in den Wind“

Sonntag, 3. April 2022

(Pulp Master, 256 S., Tb.) 
Buddy Giovinazzo ist zwar in Staten Island, New York City, geboren und aufgewachsen, lebt aber zu großen Teilen in Berlin und hat vor allem als Filmemacher Karriere gemacht, bevor er auch als Schriftsteller bekannt geworden ist. So drehte er hierzulande diverse Folgen für „Tatort“, „Polizeiruf 110“, „SOKO Leipzig“ und „Der Kriminalist“, legte 1993 mit „Life is Hot in Cracktown“ („Cracktown“) sein Debüt als Schriftsteller vor. Mit „Poesie der Hölle“, „Broken Street“ und „Potsdamer Platz“ gewann Giovinazzo eine treue Lesergemeinde. 2009 folgte mit „Caution to the Winds“ sein bisher letzter Roman, der zwei Jahre später hierzulande unter dem kuriosen, saloppen Titel „Piss in den Wind“ bei Pulp Master veröffentlicht wurde. 
Der Mittdreißiger James Gianelli verdient sich seinen Lebensunterhalt als College-Dozent für Fotografie und hofft, dass ihm die ersehnte Festanstellung ermöglicht, etwas mehr Stabilität in sein Leben zu bekommen. Doch als sich seine Freundin Karen nach zwei Jahren von ihm trennt und zu ihrem Bruder ziehen will, bekommt er einen psychotischen Anfall. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, liegt Karen mit Würgemalen am Hals tot neben ihm. Überzeugt, sie umgebracht zu haben, wickelt er sie in einen Teppich und verstaut ihn mit der unerwünschten Hilfe seines Nachbarn John Connor in Karens 82er Chevy. Den Wagen samt Leiche versenkt James nachts am Pier. Zwar fragen zunächst Karens beste Freundin Debbie und später auch die Cops bei ihm nach Karen Verbleiben, da sie nie bei ihrem Bruder angekommen ist, doch wird James offiziell nicht als Verdächtiger behandelt. 
„Solange sie bleibt, wo sie ist, dachte ich, steht mein Wort gegen das der anderen. Ich bin unschuldig, bis meine Schuld bewiesen ist. Doch als ich über die Bucht blickte und ihren desolaten Zustand einfing, die weggeworfenen Zeitungen, das Holz, Flaschen und Autoreifen, all den leblosen, an die Küste gespülten Müll, der sie prägte wie Fingerabdrücke eine Tatwaffe, wurde mir klar, dass es nur eine Frage der Zeit war. Die See weiß, wann es noch eine Aufgabe zu erledigen gilt. Und als jede neue Welle zu einer Warnung wurde, jede Ladung Gischt zu einer Anklage, wusste ich, dass sie zurückkommen würde.“ (S. 169) 
Karens Leiche taucht jedoch nicht auf. Da James das Alleinsein aber zusetzt, versucht er es zunächst mit Telefon-Sex, doch die Dame am anderen Ende will sich nicht auf ein persönliches Treffen einlassen. Und auch die Prostituierte Annabelle lehnt es ab, die ganze Nacht bei James zu verbringen. Als James eines Morgens Zeuge wird, wie die mit mehreren Messerstichen verschandelte Leiche einer jungen Frau ans Ufer gespielt wird, macht er einige Fotos von ihr, die er überall in seiner Wohnung platziert, auch in seinem Büro an der Universität. 
Aus der Zeitung erfährt er, dass es sich um die 23-jährige Dominique handelt, von der er immer stärker besessen wird. Sie nimmt einen für ihn sehr real wirkenden Teil seines Lebens ein, doch als sich James für ihre jüngere Schwester Susan zu interessieren beginnt, entwickelt sich sein Leben zum kompletten Chaos … 
Es ist kein Sympathieträger noch taugt er als Identifikationsfigur. Giovinazzos Ich-Erzähler James Gianelli hat durch seine traumatische Kindheit, die nach und nach in Rückblenden aufgefächert wird, ein mehr als gestörtes Verhältnis zu Frauen. Ihm ist spätestens durch die Trennung von Karen, die er wie viele andere Mädchen zuvor während seines Seminars kennengelernt hat, durchaus bewusst, dass er immer wieder die gleichen Fehler macht und zu sehr die Kontrolle über das Leben seiner Freundinnen gewinnen will. Auf der einen Seite bietet ihm die Beziehung zu Dominique eine erfrischende Abwechslung. Sie ist nicht nur willig, sondern fragt ihn regelmäßig, wie er sie sich wünscht, als hätte sie keinen eigenen Willen. Doch auch dieses Verhalten wird James bald lästig, und als er sich in ihre Schwester zu verlieben beginnt, entwickelt sich Dominique gar zur Bedrohung. 
Hier bewegt sich der Autor auf den vertrauten Pfaden von Stephen King, aber auch Filmemacher wie Alfred Hitchcock und Brian de Palma kommen einem bei diesem Szenario in den Sinn. Was zunächst einen übernatürlichen Charakter aufweist, erweist sich aber bald als psychotische Störung des Protagonisten, doch entwickelt der Autor diese Gratwanderung nicht besonders überzeugend. Auch die Beziehung zu Susan wird nicht besonders gut herausgearbeitet, und so schwankt „Piss in den Wind“ etwas unentschlossen zwischen Psycho-Drama und Krimi, ohne den Figuren oder dem Plot die entsprechenden Konturen zu verleihen. 

 

James Patterson – (Alex Cross: 10) „Und erlöse uns von dem Bösen“

Samstag, 2. April 2022

(Blanvalet, 352 S., Tb.) 
Colonel Geoffrey Shafer, auch als „Wiesel“ bekannt, weilt gerade in Salvador und will sich mit einem 13-jähriges Mädchen vergnügen, als er in die Fänge eines Verbrechers gerät, der in Sachen Grausamkeit in einer weit höheren Liga spielt als er selbst. Der „Wolf“ hat nämlich ein Team zusammengestellt, in dem jeder für eine ganz spezielle Aufgabe engagiert worden ist, ohne den gesamten Plan zu kennen. In dem der Wolf eine zuvor evakuierte Wohnwagensiedlung in Sunrise Valley, Nevada, dem Boden gleichmacht, weckt er wie gewünscht das Interesse des FBI. Direktor Burns lässt Alex Cross, der gerade ein paar Tage mit seinem Sohn Alex in Seattle, Washington, verbracht hatte und sich nun mit seiner in San Francisco lebenden Freundin Jamilla Hughes vom dortigen Morddezernat trifft, direkt zum Tatort fliegen. 
Doch das Attentat in Nevada ist für den Wolf nur eine Aufwärmübung. Es folgen nicht zuvor evakuierte Dörfer in Nordengland und bei Lübeck, die von der Landkarte gebombt werden, dann übermittelt der Wolf gegenüber dem FBI, der CIA und dem Heimatschutz seine Forderungen. Er verlangt zwei Milliarden Dollar und die Freilassung etlicher Gefangener, sonst würde er New York, London, Washington und Frankfurt auslöschen. Wie ernst es dem Wolf ist, unterstreicht er mit einem erfolgreichen Attentat auf CIA-Chef Thomas Weir. Von nun an folgt Cross einzelnen Spuren nach New York, London, Paris, doch alle Spuren, die zum Wiesel oder zum Wolf führen, enden in einer Sackgasse … 
„Von nun an glichen die Ereignisse einer wahnwitzigen Achterbahnfahrt, wilder als alles, was man ich hätte vorstellen können. Das letzte Ultimatum lief in wenigen Stunden ab, und niemand, weder in der Chefetage noch unten bei den einfachen Streifenpolizisten, hatte eine Ahnung, was geschah. Vielleicht wusste der Premierminister etwas? Oder der Präsident? Der Kanzler Deutschlands? Jede Stunde, die verstrich, machte es schlimmer. Dann kamen die Minuten. Es gab nichts, was wir tun konnten. Nur beten, dass das Lösegeld bezahlt wurde.“ (S. 193) 
Seit 1993 schreibt James Patterson an einer der erfolgreichsten Thriller-Serien überhaupt. Doch seit den ersten beiden, jeweils auch verfilmten Bänden „Along Came a Spider“ („Morgen Kinder wird’s was geben“) und „Kiss the Girls“ („…denn zum Küssen sind sie da“) unterliegt die „Alex Cross“-Reihe großen qualitativen Schwankungen. 
Einen Tiefpunkt hat Patterson definitiv mit „Und erlöse uns von dem Bösen“ erreicht. Nach dem Motto, nur mit Superlativen noch Spannung erzeugen und die Leser bei Laune halten zu können, hat der US-amerikanische Bestseller-Autor hier nicht nur ein höchst unglaubwürdiges Szenario entwickelt, sondern galoppiert quasi im ungebremsten Eiltempo durch einen Plot, in dem ausgerechnet natürlich Alex Cross die Welt vor einer umfassenden Katastrophe rettet, nachdem er in Lichtgeschwindigkeit erst durch die Vereinigten Staaten und dann durch Europas Metropolen London und Paris gehetzt ist, immer mal wieder seine Familie hier und da besucht und sich darüber klar zu werden versucht, mit welcher der Frauen, die was von ihm wollen, er sich auf eine Beziehung einlassen könnte. 
Leider vergisst Patterson, bei dem aberwitzigen Tempo sowohl die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte als auch die Charakterisierung seiner Figuren. Stakkato-mäßig lässt der Autor seinen Superhelden in extrem kurzen Kapiteln von Schauplatz zu Schauplatz hetzen, während er überlegen muss, wer eventuell in den Reihen von FBI und CIA Kontakt zu dem Wolf haben und ein Verräter sein könnte bzw. wer überhaupt hinter der Identität des Wolfs steckt. Hier wäre auf jeden Fall viel weniger viel mehr gewesen.  

Don Winslow – „Bobby Z“

Mittwoch, 30. März 2022

(Knaur, 288 S., Tb.) 
Mit seiner epischen, aus den Romanen „Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Jahre des Jägers“ bestehenden Trilogie über den amerikanisch-mexikanischen Drogenkrieg hat sich der in New York geborene Schriftsteller Don Winslow in die Herzen der Kritiker und Krimi-Fans geschrieben. Dass er aber auch leicht konsumierbare, humorvolle und actionreiche Krimi-Kost servieren kann, bewies der Bestseller-Autor mit dem 1997 veröffentlichten Roman „The Life and Death of Bobby Z“, der nach seiner deutschen Erstveröffentlichung bei Suhrkamp nun von Winslows aktuellen Verlag Droemer neu aufgelegt worden ist. 
Sein ganzes Leben scheint der Kleinganove Tim Kearney vom Pech verfolgt zu sein. Zwar beweist er bei seinen Einbrüchen großes Geschick, wird aber durch Kleinigkeiten regelmäßig von der Polizei geschnappt. Besonders übel sieht es für ihn aus, als er im Gefängnisinnenhof einem Hells Angel mit einem rasiermesserscharf zugefeilten Autonummernschild die Kehle durchschneidet. Zu seinem Glück sieht Kearney allerdings dem legendären Drogendealer Bobby Z zum Verwechseln ähnlich. 
Da Bobby Z aber an einem Herzinfarkt gestorben ist, bevor der DEA-Agent Tad Gruzsa ihn beim mexikanischen Drogenboss Don Huertero gegen seinen Kollegen Moreno austauschen konnte, muss Kearney die Identität von Bobby Z annehmen, den ohnehin seit Jahren niemand mehr gesehen hat, wie es scheint. Doch der Austausch fällt sehr bleihaltig aus, wobei Gruzsas Kollegen Escobar und Morena draufgehen. Tim kann dem Massaker entfliehen, wobei ihm seine Vergangenheit bei den Marines nützlich ist. Schließlich landet er auf dem nahe der mexikanischen Grenze liegenden Luxus-Anwesen von Don Huerteros Geschäftspartner Brian Cervier. 
Der mexikanische Drogenboss will nämlich das Netzwerk, das Bobby Z für seinen Handel mit Gras aufgebaut hat, für seine Meth-Geschäfte nutzen. Mehr als für die Geschäfte interessiert sich Kearney alias Bobby Z allerdings für die hübsche Elizabeth, mit der Kearney schnell ein leidenschaftliches Stelldichein genießt. Doch ausruhen kann sich der neue Bobby Z in diesem Luxus-Ambiente nicht, schließlich muss er sich vor mehreren Verfolgern in Acht nehmen. Kearney mag zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte sein, aber im Irak hat er einen gesunden Überlebensinstinkt entwickelt. Er muss sich allerdings nicht nur vor Huertero verstecken, der noch eine offene Rechnung mit Bobby Z begleichen will, sondern auch vor den Hells Angels und Gruzsa. Zusammen mit Elizabeth und dem sechsjährigen Kit, der glaubt, Kearney sei sein richtiger Vater, flüchtet Kearney von einem Ort zum anderen und kann dabei nicht mal mehr dem Mönch trauen, der in Bobby Zs Abwesenheit die Geschäfte für ihn geregelt hat. 
„Leichen pflastern Tims Weg, wie es bei Django nicht besser sein könnte. Es ist ein richtiger One-Man-Krimi, und Gruzsa ist nicht allzu scharf auf die Aussicht, seinen Vorgesetzten erklären zu müssen, warum er diesen Berufsverbrecher auf die Allgemeinheit losgelassen hat. Und genau das wird irgendjemand unweigerlich herausfinden, weil der kleine Timmy eine ziemlich deutliche Spur hinterlässt.“ (S. 206) 
Auf nicht mal 300 Seiten entwickelt Don Winslow einen wahnsinnig tempo- und actionreichen Plot, der es von der ersten Seite an in sich hat. Es braucht nur wenige Zeilen, um zu erahnen, dass sich Tim Kearney scheinbar mühelos von einem Schlamassel in die nächste Katastrophe bewegt. Auf den folgenden Seiten rettet ihm aber ebenso viel Glück wie gesunder Überlebensinstinkt das Leben. Was Winslow da Konfrontationen, Hinterhalten, Intrigen und Verrat inszeniert, macht schon Laune und garantiert ein atemloses Lesevergnügen, bei dem keine Gefangenen gemacht werden. 
Anschaulich beschreibt Winslow sowohl die erotischen Zusammenkünfte als auch die blutigen Schießereien, doch bleibt immerhin genügend Zeit, um kurz den Lebenslauf seines Protagonisten Tim Kearney und die Legende zu rekapitulieren, die sich um Bobby Z entwickelt hat. Aus der Gegensätzlichkeit beider Lebensläufe speist sich ein Großteil der Doppelgänger-Thematik, die zum Finale hin noch wilde Kapriolen schlägt. Bei aller augenzwinkernden Action sind auf der anderen Seite die Szenen zwischen Tim und Kit sehr rührend gelungen. 
Wenn „Bobby Z“ (übrigens 2007 mit Paul Walker und Laurence Fishburne unter dem Titel „Kill Bobby Z“ verfilmt) überhaupt eine Schwäche aufweist, dann die sehr übertrieben inszenierten Momente, in denen Kearney immer wieder aus ausweglos erscheinenden Momenten doch noch mit dem Leben davonkommt. Davon abgesehen bietet der Roman eine wilde Achterbahnfahrt mit einer charismatischen „Superniete“ und teils kuriosen Nebenfiguren wie Boom-Boom, dem Mönch oder One Way.  

Jonathan Lee – „Der große Fehler“

Montag, 28. März 2022

(Diogenes, 368 S., HC) 
Andrew Haswell Green (1820 – 1903) hat wesentlich dazu beigetragen, New York City zu der Metropole zu machen, wie man sie heute kennt. Als Stadtplaner hat der Sohn eines mittellosen Farmers dafür gesorgt, mit dem Central Park einen Erholungsraum für alle Bürger der Stadt zu schaffen, außerdem war er verantwortlich für die öffentliche Bibliothek, den Zoo in der Bronx sowie das American Museum of Natural History und das Metropolitan Museum of Art. Am 13. November 1903 fand sein Leben ein gewaltsames Ende, als ein Schwarzer namens Cornelius Williams ihn vor seiner Haustür erschoss. Jonathan Lee zeichnet in seinem Roman „Der große Fehler“ nicht nur das Leben und Wirken des prominenten „Father of Greater New York“ nach, sondern thematisiert vor allem auch die innige Beziehung zu seinem Freund Samuel Tilden und die Ermittlungen der Polizei. 
Als Andrew Haswell Green am Freitag, 13. November 1903 vor seinem Haus in der Park Avenue erschossen wird, üben sich die großen Tageszeitungen – die New York Times, der Herald, die Tribune und die Sun – in wilden Spekulationen über die Tat. Da ein Motiv noch nicht erkannt werden konnte, thematisieren sie die Berühmtheit des Opfers oder die fünf auf ihn abgegebenen Schüsse. Zurück auf Anfang. Andrew Haswell Green wird als siebtes von insgesamt elf Kindern einer einst angesehenen Familie geboren, die sich während seiner Jugend verschuldet. 
Der Junge hilft auf der Farm und erklärt seinem Vater, wie er das Land besser aufteilen könnte. Später schickt ihn sein Vater nach New York, um eine Lehre in dem Handelsgeschäft von Mr. Hinsdale anzufangen. Später geht er für ein Jahr nach Trinidad, um auf einer Plantage zu arbeiten, nach seiner Rückkehr schlägt er eine Laufbahn als Anwalt ein. Er setzt sich für ein faireres, geordnetes öffentliches Schulsystem ein, plant Parks, Brücken und Museen, kämpft als oberster New Yorker Rechnungsprüfer gegen die Korruption und gründet nach dem Tod seines Freundes Samuel Tilden im Jahr 1886 die erste öffentliche Bibliothek. 
Als Inspektor McClusky die Ermittlungen zur Greens Ermordung aufnimmt, führt ihn eine Spur zur wohlhabenden schwarzen Prostituieren Bessie Davis, die einige der prominentesten New Yorker Bürger zu ihren Kunden zählt. So allmählich entwickelt McClusky eine Theorie über den Mord an Mr. Green, der letztlich als zutiefst einsamer Mann verstarb. 
„Es war so leicht, im Leben nichts zu erreichen, wenn man sich immer allen Launen hingab – der Laune des Augenblicks, des Tages, der Jahreszeit, des Jahres. Launen hatten Folgen. Sie kosteten. Es war zu spät, sich Dingen zu ergeben, die er nicht kontrollieren konnte. Er würde sich nicht im Schmutz der Vergangenheit wälzen, würde nicht betrunken in Zimmer hinaufsteigen, die für die Vergnügungen anderer Leute gedacht waren, würde keinen zufälligen Kuss am Fenster riskieren, einen Kuss, der alles zerstören und eine große Flucht erforderlich machen würde.“ (S. 285) 
Der 1981 im englischen Surrey geborene, in New York lebende Drehbuchautor und Schriftsteller Jonathan Lee legt mit „Der große Fehler“ das Portrait eines außergewöhnlichen Selfmade-Mannes vor, der New York zu einer lebenswerteren Stadt für alle Bürger machen wollte. Zwar beginnt der Roman mit der Berichterstattung über den Mord und den Beginn der Ermittlungen durch Inspektor McClusky, doch bilden seine Verhöre und Gedankenspiele nur den Rahmen für eine vielschichtige Biografie. Dabei nimmt vor allem die homoerotisch geprägte Freundschaft zu Samuel Tilden eine Schlüsselstellung ein. Lee springt zwischen den Zeiten und Schauplätzen der Handlung hin und her, benennt die Kapitel nach den Toren des von ihm geplanten Central Parks und wechselt auch die Perspektiven von seinem Protagonisten zu den Leuten, die in Greens Leben und danach eine besondere Rolle gespielt haben, wobei Bessie Davis eine besonders interessante Rolle einnimmt. 
Lee erweist sich als sprachgewandter Autor, der sich an weitschweifigen Beschreibungen und Gedankengänge seiner Figuren berauscht, dabei aber ein schillerndes Gesellschaftsbild New Yorks zur Jahrhundertwende präsentiert, das – trotz kleinerer Längen - einfach fesselt.  

Jack Kerouac – „Die Dharmajäger“

Samstag, 26. März 2022

(Rowohlt, 288 S., HC) 
„On the Road“, der 1957 veröffentlichte, zweite Roman von Jack Kerouac, avancierte nach seinem Erscheinen zur Bibel einer ganzen Generation von sinnsuchenden Menschen, die unter dem Begriff Beat Generation zusammengefasst wurden und zu deren populärsten Wortführern Kerouacs Kommilitonen Allen Ginsberg und William S. Burroughs zählen. 
Zum 100. Geburtstag des am 12.03.1922 geborenen und bereits 1969 an den Folgen seines Alkoholkonsums verstorbenen Kerouac hat der Rowohlt Verlag mit „Die Dharmajäger“ und „Engel der Trübsal“ zwei Werke in grandioser neuer Übersetzung von Thomas Überhoff veröffentlicht, die chronologisch an die autobiografischen Erlebnisse, die in „On the Road“ geschildert werden, direkt anschließen. Der um die Hälfte schmalere Band „Die Dharmajäger“ (im Original passender als „The Dharma Bums“, in deutscher Erstveröffentlichung unter dem Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“ erschienen) wirkt wie ein ausführlicher Prolog zu „Engel der Trübsal“, kreisen beide – wiederum autobiografischen - Werke doch um Kerouacs zweimonatigen Aufenthalt auf dem Desolation Peak. 
Im September 1955 macht sich Ray Smith (Jack Kerouac) im Güterzug auf den Weg von Los Angeles über Santa Barbara nach San Francisco. Obwohl er selbst stets knapp bei Kasse ist, teilt der tiefgläubige Zen-Buddhist seinen Wein und sein Essen mit einem Mitreisenden, denn für ihn, der sich als Bhikkhu aus alten Zeiten in modernem Gewand betrachtet, der durch Freigebigkeit, Nächstenliebe, stille Einkehr, Hingabe und Ekstase schließlich Verdienste als zukünftiger Buddha erwerben würde. Eine Woche später lernt er in San Francisco Japhy Ryder (Gary Snyder) kennen, der in einer Blockhütte tief im Wald aufgewachsen war, Chinesisch und Japanisch lernte und Orientalist mit einem tiefen Verständnis für den Zen-Buddhismus.Bei einer Lesung in der Six Gallery trifft Ray auch Alvah Goldbook (Allen Ginsberg) und andere „Hornbrille tragende Intellekto-Hipster mit ungebändigter schwarzer Mähne“ und feiern in der Hütte von Japhys Freund Sean wilde Partys mit Jazz, Alkohol und willigen Mädchen, die Japhy scheinbar mühelos für seine Zwecke einspannt, während Ray auf dem Rasen sein einsames Nachtlager aufschlägt.
Zusammen mit dem Bergsteiger/Jodler Henry Morley unternehmen Japhy und Ray eine Wanderung den kalifornischen Matterhorn Peak hinauf, wo Ray die wohltuende Kraft der Natur für sich entdeckt. Dieser Aufstieg dient ihm als Vorbereitung für den Sommerjob auf dem Desolation Peak, während Japhy nach Asien reisen will, um seine buddhistischen Studien fortzuführen … 
„Ich wusste, der Klang der Stille war überall, und deshalb war alles überall Stille. Angenommen, wir wachen plötzlich auf und erkennen, dass das, was wir für dieses und jenes gehalten haben, gar nicht dieses und jenes ist? Begrüßt von Vögeln taumelte ich den Hügel hoch und besah mir die gedrängt auf dem Hüttenboden schlafenden Gestalten. Wer waren all diese seltsamen Geister, die mit mir zusammen das dumme kleine Abenteuer Erde teilten? Und wer war ich?“ (S. 224f.) 
Während „Engel der Trübsal“ (das zuvor nur als gekürzte Fassung unter dem Titel „Engel, Kif und neue Länder“ erhältlich gewesen ist) mit der Rückschau auf die letztlich niederschmetternde Erfahrung auf dem Desolation Peak beginnt, wo Jack Kerouac zwei Monate als Brandwächter gearbeitet hat, wird in „Die Dharmajäger“ der Boden für diesen abenteuerlichen Trip bereitet, und zwar in einer weit einheitlicheren Sprache als sie uns bei „Engel der Trübsal“ begegnet. 
Kerouac bzw. sein in diesem Roman Ray Smith benanntes Alter Ego brennt darauf, seinen Zen-Buddhismus-getränkten Geist durch Reisen und Begegnungen mit anderen Menschen zu schärfen und sich dabei vom Haben zum Sein zu entwickeln. Mehr noch als die obligatorischen Partys mit ihren allseits verfügbaren Verführungen durch Sex, Alkohol und Drogen sind es die Reisen durch Amerika und nach Mexiko, die Rays Gedanken und Gefühle prägen, doch nutzen sich die buddhistischen Plattitüden mit der Zeit doch arg ab. 
Weitaus fesselnder sind die unmittelbaren Eindrücke gelungen, die Kerouac bei den Wanderungen durch die Natur gewinnt. Seine Beschreibungen sind dabei so intensiv und bildreich ausgefallen, dass man sich als Leser an seiner Seite wähnt, das feuchte Gras unter den nackten Fußsohlen und das Knistern des Lagerfeuers zu spüren glaubt. Das ist nicht unbedingt große Literatur, aber doch ein authentisches Zeugnis der Sinnsuche, die Kerouac Zeit seines Lebens getrieben, aber eben nicht glücklich gemacht hat.  

Jack Kerouac – „Engel der Trübsal“

Donnerstag, 24. März 2022

(Rowohlt, 526 S., HC) 
Zusammen mit seinen Kommilitonen an der Columbia University in New York, Allen Ginsberg und William S. Burroughs, war Jack Kerouac (1922-1969) das Aushängeschild der Beat Generation und somit Aushängeschild der Popliteratur. Kerouacs zweiter, 1957 veröffentlichter Roman „On the Road“ wurde zur Bibel der Beatniks. Weit weniger populär wurden Kerouacs Nachfolgewerke, von denen der Rowohlt Verlag zum 100. Geburtstag des Ausnahme-Literaten eine Vielzahl neu bzw. in neuer Aufmachung/Übersetzung veröffentlicht, darunter erstmals in vollständiger deutscher und neuer Übersetzung den 1956 erschienenen autobiografischen Roman „Desolation Angels“
In „Engel der Trübsal“ (der zuvor in Teilen als „Engel, Kif und neue Länder“ veröffentlicht wurde) lässt Kerouac das Jahr vor der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Romans „On the Road“ Revue passieren.
In der Hoffnung, Gott oder Tathagata gegenübertreten und den Grund für die ganze Existenz herauszufinden, übernimmt Jack Duluoz für zwei Monate einen einsamen Job als Brandwächter hoch oben auf dem Desolation Peak in den Cascade Mountains an der Grenze zu Kanada, doch werden die Erwartungen des 34-jährigen Schriftstellers, dessen Roman „Road“ kurz vor der Veröffentlichung steht, schnell enttäuscht. 
Duluoz begegnet letztlich nur sich selbst, gelangweilt von der Einöde ohne Drogen und Alkohol, so dass er mehr als froh ist, am 8. August 1956 wieder den Weg zurück ins Tal antreten zu können. Zurück nach San Francisco bringt er nur die Erkenntnis, dass mit der Freiheits- und Ewigkeitsvision der Wildniseinsiedler kaum etwas in den Großstädten, wo jeder jeden bekriegt, anzufangen ist. Duluoz stürzt sich wieder in das wilde Partyleben in San Francisco, zieht mit seinen Freunden durch die Bars und Jazz-Clubs. Hin- und hergerissen zwischen dem absoluten Frieden, den er in den Bergen erlebte, und den einfachen Freuden des Großstadtlebens mit Sex, Shows und gutem Essen zieht es Duluoz wieder in die Welt, zunächst nach Mexico. 
In Mexico City, wo das Essen gut und die Unterkünfte billig sind, freundet er sich mit dem sechzigjährigen Junkie Bull Gaines an, später tauchen auch Jacks Freunde Cody Pomeray und Irwin Garden (mit dessen Lover Simon) auf, bis alles zu eng und wild wird. Duluoz zieht es zurück in die USA, über Memphis geht es nach New York, wo er mit seinen Freunden bei den Mädchen Ruth Erickson und Ruth Heaper abhängt, doch der vertraute Mix aus Partys, Alkoholexzessen und Sex nutzt sich auch hier schnell ab. Weiter geht’s – nach Tanger, Paris und London, stets finanziert von den monatlich ausgezahlten 100-Dollar-Vorschüssen für sein Buch „Road“. Am Ende unternimmt er noch mit seiner Mutter eine Reise nach Mexico … 
„Und genau wie in New York, Frisco oder sonst wo hocken sie alle im Marihuanadunst rum und reden, die coolen Mädchen mit den langen dünnen Beinen in lässigen Hosen, die Männer mit Kinnbärten, alles furchtbar und öde und damals (1957) noch nicht mal offiziell unter dem Namen ,Beat Generation‘ bekannt. Kaum zu glauben, dass ich damit so viel zu tun hatte, ja, gerade erst wurde das Manuskript von Road für die baldige Veröffentlichung gesetzt, und ich hatte schon die Schnauze voll von all dem. Nichts ist öder als ,Coolness‘ (nicht die von Irwin, Bull oder Simon, die ist natürliche Ruhe), gekünstelte, eigentlich insgeheim steife Coolness, die verschleiert, dass der jeweilige Mensch nichts Starkes oder Interessantes zu vermitteln hat, eine soziologische Coolness, die bald für eine Weile bis in die Mittelschichtsjugend hinein in Mode kommen wird.“ (S. 451) 
Obwohl „Engel der Trübsal“ die Zeit direkt vor der Veröffentlichung von „On the Road“ abdeckt, handelt es sich um den bereits zwölften, erst 1965 und damit vier Jahre vor seinem Tod veröffentlichten Roman von Jack Kerouac. Die desillusionierende Erfahrung, die der Ich-Erzähler auf dem Berg mit dem für ihn prophetischen Namen Desolation Peak macht, bildet nicht nur den Auftakt von Kerouacs/Duluoz‘ Reise durch die USA bis nach Mexiko, Nordafrika und Europa, sondern vermittelt gleichzeitig das Gefühl der Niedergeschlagenheit, das den Autor und sein Alter ego letztlich in die Alkoholsucht und in den Tod trieb. 
Vor allem die ersten Kapitel der Rückbetrachtung auf die einsame Zeit auf den Gipfeln der Berge stellt sich als wilde Improvisation dar, die dokumentiert, was Kerouac unter „spontaner Prosa“ verstand. Die rauschhaft wirkende, unzensierte und unmittelbare Verschriftlichung innerer und äußerer Erfahrungswelten macht sich bei „Engel in Trübsal“ in wilden, zusammenhanglosen Aufzählungen und Kettensätzen bemerkbar, die buddhistische Philosophie, literarische Anspielungen und überhaupt die ganze Weltgeschichte miteinander vereint. Die Handlung, also vor allem Kerouacs/Duluoz‘ Reisen, aber auch seine sexuellen Begegnungen, Gespräche und Erfahrungen bei Partys und Auftritten von Jazz-Musikern, gerät dabei fast in den Hintergrund, so sehr drängt sich die Niedergeschlagenheit des immer auf sich selbst beziehenden Schriftstellers in den Vordergrund. Das ist nicht immer leicht zu konsumieren, stellt aber ein beredtes Selbstzeugnis eines einzigartigen Schriftstellers dar, dessen Werk auch über „On the Road“ hinaus Beachtung verdient – wie diese gelungene Neu- und Gesamtübersetzung beweist. 

Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 2) „Der böse Hirte“

Montag, 21. März 2022

(Blanvalet, 512 S., HC) 
Bevor Jeffery Deaver 1997 mit „The Bone Collector“ den ersten und später erfolgreich mit Denzel Washington und Angelina Jolie verfilmten Roman seiner Lincoln-Rhyme-Reihe veröffentlichte, hatte er bereits einige andere Werke veröffentlicht, aber bis heute ist er vor allem für seine bislang schon vierzehn Romane um den querschnittsgelähmten Ermittler bekannt. Der Erfolg dieser Reihe hat Deaver allerdings nicht davon abgehalten, über die Jahre auch andere Reihen zu entwickeln, wobei sich seit 2007 die Reihe um die Verhörspezialistin Kathryn Dance etabliert hat. Mittlerweile ist mit Colter Shaw eine weitere Figur auf den Plan getreten. Nach „Der Todesspieler“ ist nun mit „Der böse Hirte“ der zweite Teil um Shaw erschienen, dessen Profession darin besteht, vermisste Personen aufzuspüren. 
Colter Shaw wird damit beauftragt, den 27-jährigen Adam Harper aus Tacoma und seinen 20-jährigen Freund Erick Young aus Gig Harbor zu finden, die in Verbindung mit einem Hassverbrechen gesucht werden. Den beiden jungen Männern wird vorgeworfen, neben Schmierereien auf Synagogen und Kirchen in überwiegend schwarzen Gemeinden auch auf einen Prediger und Hausmeister geschossen zu haben. Allein die vom Pierce County ausgesetzte Prämie von 50.000 Dollar lockt auch Colters ungemütlichen Konkurrenten Dalton Crowe an. Bei dem Besuch der Eltern findet Shaw heraus, dass Erick nach dem Tod seines jüngeren Bruders Mark vor sechzehn Monaten eine schwere Zeit durchmachte. Offenbar hat Erick beim Besuch des Grabes seines Bruders auf dem Friedhof Adam kennengelernt, der seine Mutter verloren hatte. 
Unterwegs erhält Shaw die Nachricht, dass die Polizei die Spur der beiden Flüchtigen aufgenommen hat. Als sich Shaw der Verfolgung anschließt, beobachtet er mit Schrecken, wie sich Adam mit glückseligem Ausdruck im Gesicht die Klippen hinunterstürzt. Durch seine Assistentin Mack erhält Shaw Hinweise auf eine Art Selbsthilfegruppe, die Osiris-Stiftung. Shaw schleicht sich unter falschem Namen in die Stiftung ein, deren Anwesen sehr abgeschieden in den Bergen liegt und strengsten Sicherheitsvorkehrungen unterliegt. Da er tatsächlich auch einen Bruder verloren hat, fällt ihm das erste Gespräch bei der Aufnahme nicht schwer. 
„Hier, in diesem kleinen Raum, im Gespräch mit einem einfühlsamen, klugen und sympathischen Mann, hatte die Tarnung schlichtweg versagt. Shaw, nicht Skye, saß hier als Gefährte der Stiftung und litt tatsächlich unter dem tragischen Verlust seines Bruders. Er nahm wirklich an der erste Phase des Prozesses teil, weil er sich erneuern wollte. Er wünschte sich im Ernst, zum Auszubildenden aufzusteigen und dann ein Geselle und Angehöriger des Inneren Kreises zu werden und das begehrte silberne Amulett zu erhalten.“ (S. 228) 
Shaw spielt seine Rolle so gut, dass er von Meister Eli für ein beschleunigtes Förderprogramm auserwählt wird, doch was er im Laufe seines Aufenthalts dort erlebt, lässt ihn am gesunden Menschenverstand zweifeln … 
Wie die ausführliche Bibliographie am Ende des Buches dokumentiert, hat Deaver ausgiebig zum Thema Sekten recherchiert und seine daraus gewonnenen Erkenntnisse in seinem neuen Colter-Shaw-Roman verarbeitet. Die Suche nach zwei mutmaßlichen jungen Straftätern führt den Prämienjäger direkt ins Herz einer Organisation, die nichts dem Zufall überlässt, kaum Spuren im Internet aufweist und ganz auf das Charisma des Stiftungsgründers Eli aufbaut, dem seine Jünger größtenteils völlig verfallen sind. 
Deaver beschreibt die inneren Prozesse der Osiris-Stiftung sehr anschaulich und würzt den Plot immer wieder mit ein paar Action-Einlagen, Verfolgungsjagden, Nahkämpfen, unterbricht zum Finale hin aber den Spannungsbogen, um auf Shaws ursprüngliche Mission zurückzukommen, ein offenbar gefährliches Geheimnis um seinen verstorbenen Vater zu lüften. Schließlich brachte es Shaw fast eine tödliche Auseinandersetzung mit dem Killer Ebbitt Droon ein. 
„Der böse Hirte“ liest sich flüssiger als Deavers Lincoln-Rhyme-Romane, ist weniger komplex aufgebaut und geschrieben, behandelt die Sekten-Thematik auf einem weitgehend oberflächlichen Niveau, das letztlich den Rahmen für einen spannenden Plot bildet, aber wenig Raum für psychologisch ausgefeilte Figuren bietet. Der zweite Colter-Shaw-Roman bietet routiniert inszenierte Spannung vor dem Hintergrund eines nicht mehr ganz so populären Themas, kann aber mit der Klasse von Deavers Reihen und Lincoln Rhyme und Kathryn Dance nicht ganz mithalten.