Dan Simmons – „Terror“

Freitag, 29. April 2022

(Heyne, 990 S., HC) 
Seit seinem 1985 veröffentlichten, mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Debüt „Song of Kali“ (1991 erstmals als „Göttin des Todes“ in deutscher Sprache erschienen) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons vor allem im Horror- und Science-Fiction-Genre einen Namen gemacht. 2007 schlug er mit dem historischen Roman „Terror“ ein neues Kapitel in seiner Laufbahn auf, das 2009 mit „Drood“ und 2014 mit „Der Berg“ eindrucksvoll fortgesetzt wurde. Mit dem fast 1000 Seiten starken „Terror“ versucht Simmons das Mysterium zu klären, wie die über hundertköpfige Besatzung zweier Royal-Navy-Schiffe bei der Expedition zur Durchquerung der Nordwestpassage spurlos verschwinden konnten. 
Am 19. Mai 1845 nehmen zwei Schiffe der Royal Navy - die HMS Terror unter Leitung von Kapitän Francis Crozier und ihr etwas kleineres, von Sir John Franklin geführtes Schwesternschiff HMS Erebus – von London aus Kurs Richtung Norden, um mit der legendären Nordwestpassage einen kürzeren Seeweg über die Arktis in den Pazifischen Ozean zu finden. Für Sir John Franklin ist es als Expeditionsleiter vielleicht die letzte Möglichkeit, seine Karriere ruhmreich zu beenden, nachdem er bereits vor dreiundzwanzig Jahren erfolglos versucht hatte, die Nordwestpassage bei einer Überlandexpedition durch Nordkanada zu finden. Von den einundzwanzig Männern, mit denen Franklin 1819 aufgebrochen war, starben neun Männer, von denen mindestens einer von den anderen aufgegessen wurde. Doch auch der neuen Expedition ist wenig Glück beschieden. Obwohl die Schiffe mit dicken Eisenplatten gepanzert und mit Heißwasserheizungen und Dampfmaschinen ausgestattet sind, frieren sie im Winter im Packeis ein. Dabei wird die Erebus von den sich ständig bewegenden Eismassen so schwer beschädigt, dass sie aufgegeben werden muss. Im Kampf gegen Temperaturen von minus 70° Grad, gegen durch verdorbene und zur Neige gehende Lebensmittel verursachten Hunger, der zu etlichen qualvoll dahinsiechenden Skorbut-Opfern führt, und schließlich gegen die wachsenden Differenzen innerhalb der über 130-köpfigen Besatzung gibt es immer mehr Todesfälle zu beklagen. 
Nach nicht mal einem Jahr sind drei Männer bereits an Schwindsucht und Lungenentzündung gestorben. Die Situation spitzt sich zu, als im Winter keine offenen Fahrrinnen mehr im Eis auszumachen sind und sich diese auch im folgenden Sommer nicht auftun. Dabei spielt allerdings nicht nur die Kälte und der Hunger eine tragende Rolle, sondern offensichtlich auch ein schwer zu definierendes, riesengroßes Monster, das einige Männer auf brutale Weise tötet. Einzig die durch das Fehlen ihrer Zunge stumme Eskimo-Frau Lady Silence könnte den übrig gebliebenen Männern einen Ausweg bieten… 
„Die Aufgabe eines Schiffs war der Tiefpunkt im Leben jedes Kapitäns. Es war das Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Und in den meisten Fällen war es auch das Ende der Laufbahn bei der Navy. Für viele Kapitäne, die Francis Crozier persönlich gekannt hatte, war es ein Schlag, von dem sie sich nie mehr erholten. Aber Crozier empfand keine Verzweiflung dieser Art. Noch nicht. Viel wichtiger für ihn in diesem Augenblick war die blaue Flamme der Entschlossenheit, die immer noch in seiner Brust brannte: Ich will leben.“ (S. 553) 
Wie Dan Simmons in seiner Danksagung erwähnt, hat der Autor eine ganze Reihe an Quellen zur Rate gezogen, um die gescheiterte Expedition zur Entdeckung der Nordwestpassage nachzeichnen zu können. Es ist aber vor allem Simmons‘ eindringlicher, vor Details strotzender Schreibstil, der die Beschreibung der Erlebnisse in den letztlich drei Jahren der Expedition bzw. des Überlebenskampfes der Männer so authentisch macht. Simmons nimmt dabei die wechselnden Perspektiven sowohl der beiden Kapitäne Sir John Franklin und Crozier als auch des Schiffsarztes Harry D.S. Goodsir (der meist in altertümlicher Sprache Tagebuch führt), des Dritten Leutnants John Irving und des Unteroffiziers Harry Peglar ein. 
Auf diese Weise wird eine Atmosphäre geschaffen, die nicht nur die Körper und Geist herausfordernden Umstände bildlich vor Augen führt, sondern auch den Leser fast körperlich die unerträgliche Kälte und den Kampf gegen den Hunger und das unbekannte Wesen nachempfinden lässt, das auf dem Eis sein Unwesen treibt. Durch die Perspektivwechsel erledigt Simmons gleichzeitig die sorgfältige Charakterisierung der Expeditionsteilnehmer und macht so deutlich, wie es zu den aufrührerischen Protesten und der Spaltung der Crew gekommen ist. 
Eine besondere Rolle spielt schließlich die Inuit-Frau Lady Silence, deren Figur eine Brücke zu der Kultur schlägt, die es im Gegensatz zu den weißen Männern aus England gewohnt ist, im Eis zu leben. Auch wenn Dan Simmons die Handlung hätte arg straffen können, ist ihm ein Epos gelungen, das sich wie das authentische Zeugnis einer wahnwitzigen Expedition liest, wobei am Ende die Glaubensvorstellungen der Inuit näher ausgeführt und so die Expedition und ihre unerklärlichen Momente in einen anderen Kontext überführt werden, was dem Buch allerdings eher schadet als nützt. 

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