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Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 3) „Das hohe Fenster“

Montag, 31. Oktober 2022

(Diogenes, 320 S., HC) 
Mit dem Privatdetektiv Philip Marlowe hat Raymond Chandler (1888-1959) eine Kultfigur der Kriminalliteratur und den Prototyp des melancholischen, eigenbrödlerischen Ermittlers geschaffen, der vor allem in der Verkörperung durch Humphrey Bogart in Howard Hawks‘ Verfilmung von „The Big Sleep“ (1946) nachhaltig in Erinnerung blieb. Zu Hollywood hatte der Schriftsteller seit jeher eine innige Beziehung. So schrieb Chandler die Drehbücher zu Billy Wilders „Frau ohne Gewissen“ (1944), George Marshalls „Die blaue Dahlie“ (1946) und Alfred Hitchcocks „Der Fremde im Zug“ (1951), während die meisten seiner acht Marlowe-Romane auch verfilmt wurden. Das 1942 veröffentlichte Werk „The High Window“ war übrigens der erste Marlowe-Roman, der verfilmt wurde. Nun erscheint „Das hohe Fenster“ bei Diogenes als Teil der Neuübersetzungen der Philip-Marlowe-Reihe. 
Philip Marlowe wird nach Pasadena gebeten, wo mit Mrs. Elizabeth Bright Murdock die mürrische und zänkische Witwe von Jasper Murdock im Stadtteil Oak Knoll lebt. Sie beauftragt Marlowe damit, ihr eine wertvolle Goldmünze wiederzubeschaffen, die als sogenannte Brasher-Dublone Teil einer limitieren Probeprägung aus dem 18. Jahrhundert ist und mit einem Wert von zehntausend Dollar beziffert wird. Der alte Herr hat in seinem Testament verfügt, dass seine Münzsammlung auch nicht zu Lebzeiten seiner Frau – auch nicht in Teilen - veräußert werden dürfe. Marlowes Auftraggeberin hätte den Diebstahl auch nicht bemerkt, wenn nicht ein gewisser Mr. Elisha Morningstar aus Los Angeles angerufen hätte, um sich nach dem Verkauf der Münze zu erkundigen. 
Erst bei der Überprüfung der Sammlung sei ihr das Fehlen des kostbaren Stücks aufgefallen. Mit der ebenfalls verschwundenen Schwiegertochter, der ehemaligen Revue-Tänzerin Linda Conquest, hat Mrs. Murdock auch gleich die passende Verdächtige an der Hand. Diskretion ist natürlich Pflicht. Vor allem Mrs. Murdocks Sohn Leslie solle nichts von der Sache erfahren, wahrscheinlich wisse er ohnehin nicht, dass die Münze verschwunden ist. Da nur die Hausbewohner und Angestellten an die verschlossene Kassette mit den Münzen herangekommen sein könnten, nimmt Marlowe auch Mrs. Murdocks pflichtbewusste Privatsekretärin Merle Davis und Leslie Murdock ins Visier. 
Auf dem Weg nach Los Angeles zum Münzhändler Morningstar bemerkt Marlowe, dass er von einem sandfarbenen Coupé verfolgt wird, dessen Fahrer sich wenig später als ungeschickter Privatdetektiv George Anson Phillips entpuppt. Als sich Marlowe mit ihm in dessen Wohnung treffen will, findet er Anson allerdings tot vor. Doch bei diesem Todesfall bleibt es nicht. Marlowe gerät bei seinen Ermittlungen immer tiefer in ein Dickicht von unglücklichen Verbindungen, Gewissensbissen und Ungereimtheiten… 
„Die beinernen Schachfiguren, rot und weiß, standen marschbereit in Reih und Glied und wirkten so zackig, kompetent und kompliziert wie immer am Anfang einer Partie. Es war zehn Uhr abends, ich saß in meiner Wohnung, hatte eine Pfeife im Mund, einen Drink am Ellbogen und nichts im Kopf als zwei Mordopfer und das Rätsel, wie Mrs. Elizabeth Bright Murdock ihre Brasher-Dublone zurückbekommen haben konnte, wenn ich die in der Tasche hatte.“ (S. 131) 
Einmal mehr Philip Marlowe mit einem höchst komplizierten Fall betraut, der den aufgeweckten Privatdetektiv von einer kratzbürstigen und geizigen wie wohlhabenden Witwe über eine völlig verhuschte Privatsekretärin bis in die verruchte Welt der Nachtclubs, ihrer Betreiber und Angestellten führt, die von einem besseren Leben träumen und das große Los gezogen zu haben glauben, wenn sie in eine reiche Familie einheiraten können. 
Auf gewohnt lakonische wie vertrackte Art führt Chandler seinen ausgebufften Protagonisten durch die verschiedenen Milieus, lässt ihn stets einen selbstbewussten, kecken Ton anschlagen, wenn ihm die Cops, selbstgefällige Lackaffen und schmierige Unterweltgrößen zu dumm kommen, und entwirrt am Ende ein höchst kompliziertes Geflecht an Ereignissen und Abhängigkeiten, die auf einen Vorfall von acht Jahren zurückzuführen sind. Vor allem die pointierten Dialoge, die in Ulrich Blumenbachs neuer Übersetzung ebenso zeitgemäß wie modern wirken, machen „Das hohe Fenster“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, ebenso die versierten Beobachtungen, die Marlowe von seinem Umfeld anstellt. Dagegen wirkt der Fall selbst, das wird spätestens in Marlowes langem Monolog am Ende deutlich, etwas arg konstruiert. Davon abgesehen bieten gerade die Momente, in denen Marlowe es mit seiner Auftraggeberin und deren Privatsekretärin zu tun bekommt, höchst vergnügliche Episoden, die dokumentieren, dass Marlowe jede Art von Menschen zu nehmen versteht und sich von niemandem einschüchtern lässt.

 

Robert Bloch – „Lori“

Sonntag, 30. Oktober 2022

(Diogenes, 346 S., Tb.) 
In seiner langjährigen Karriere als Schriftsteller und Drehbuchautor hat sich Robert Bloch (1917-1994) geschickt zwischen Horror, Krimi und Science Fiction bewegt, doch sein Name ist und bleibt vor allem mit der Vorlage für Alfred Hitchcocks Meisterwerk „Psycho“ (1960) verbunden. Mit „Lori“ (1989), einem seiner letzten Romane, akzentuiert er den klassischen Krimi-Plot mit Horror-Elementen, wie sie gerade durch die nachfolgende Generation von Horror-Schriftstellern wie Stephen King, Peter Straub, Ramsey Campbell, Dean Koontz, Whitley Strieber und James Herbert populär geworden ist. 
Mit der Urkunde über ihren erfolgreichen Studienabschluss und dem Verlobungsring ihres Freundes Russ Carter im Gepäck macht sich Lori Holmes mit Russ auf den Weg zum Haus ihrer Eltern, die nicht zur Abschlussfeier kommen konnten, da Loris Mutter durch ihre schwere Krankheit an den Rollstuhl gefesselt ist. Doch als Lori ihr altes Zuhause erreicht, findet sie es bis auf die Grundmauern abgebrannt vor. Dr. Justin, der Hausarzt ihrer im Feuer getöteten Eltern, verschreibt Lori nicht nur Beruhigungsmittel, sondern verweist sie auf einen Psychiater namens Dr. Leverett. 
Während Russ seinem journalistischen Instinkt folgt und nach den Ursachen des Brandes forscht, erhält Lori einen Anruf von dem Medium Nadia Hope, die in einem Traum von dem Brand erfahren und dazu eine männliche Stimme gehört habe, die Nadia davon überzeugte, dass mehr hinter dem Unglück stehe, als es den Anschein habe. Die gemeinsame Untersuchung des Tatorts führt nichts zutage, doch als Nadia noch einmal allein zu den Trümmern zurückkehrt, entdeckt sie in einem Versteck eine verschlossene Kiste, die sie Lori vor die Tür stellt. Wenig später stirbt Nadia bei dem Absturz mit ihrem Auto einen Abhang hinunter. 
In der Kiste finden Lori und Russ ein Bryant-College-Abschlussjahrbuch aus dem Jahr 1968, in dem Lori mit dem Foto von Priscilla Fairmount entdeckt, die ihr verblüffend ähnlich sieht. Während Russ für einen Auftrag seiner Zeitung nach Mexiko muss, begibt sich Lori bei Dr. Leverett in Therapie und versucht durch Ben Rupert, den Anwalt ihrer Eltern, den Nachlass zu regeln. Doch als auch Rupert tot aufgefunden wird, beginnt sich die Polizei immer mehr für Lori zu interessieren, die nachts von fürchterlichen Träumen heimgesucht wird… 
„Knochige Finger kratzten über ihre Schultern, dann gruben sie sich tief ein und drehten sie herum, bis sie dem, was kein Gesicht mehr war, ins Antlitz sah. Diese kahle und fleischlose Schreckgestalt trug eine bewegliche Maske aus winzigen Wesen – Wesen, die die leeren Augenhöhlen umschwärmten, über die Nasenscheidewand huschten und über die lippenlose zackige Zahnreihe. Aber auch Schädel können grinsen, und dieser grinste jetzt.“ (S. 110) 
Robert Bloch, der neben ganz unterschiedlichen Romanen wie „Das Regime der Psychos“, „Cthulhus Rückkehr“, „Du verdammtes Hollywood“, „Der Ripper“ und „Dr. Jekylls Erbe“ auch die Drehbücher zu Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Totentanz der Vampire“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Die Toten sterben nicht“ verfasste, begnügt sich bei „Lori“ nicht allein mit der kriminalistischen Aufklärung eines Feuers, bei dem die junge Protagonistin ihr Elternhaus und ihre Eltern verlor, sondern bringt früh ein sensitives Medium ins Spiel, das allerdings auch kurze Zeit danach unter merkwürdigen Umständen zu Tode kommt. 
Bloch verwendet viel Mühe darauf, sowohl die medialen Fähigkeiten von Nadia Hope zu erläutern als auch Loris Therapie bei Dr. Leverett mit den üblichen psychoanalytischen Termini zu unterfüttern, was dem Roman eine gewisse wissenschaftliche Erdung verleihen soll. Doch hier ist viel Schall und Rauch im Spiel, denn im weiteren Verlauf der komplexen Handlung kommen immer neue Figuren und Zusammenhänge ins Spiel, die sich auf ganz natürliche Weise und Motive zurückführen lassen. Allerdings baut der Autor bis zum Schluss immer wieder gruselige Traumsequenzen ein, um den Horror-Aspekt des Romans zu füttern, was „Lori“ allerdings nicht zu einer besseren Geschichte macht. Der Krimi-Plot ist allerdings grundsolide und hätte auch ohne den Grusel-Touch bestens funktioniert. So leidet das Spätwerk aus Blochs Schaffen an unnötig aufgeblasenen Nebeneffekten, die aber zumindest den Horrorfans unter Blochs Anhängerschaft zusagen dürften. 

 

Jim Thompson – „Kein ganzer Mann“

Donnerstag, 20. Oktober 2022

(Diogenes, 282 S., Tb.) 
Jim Thompson gilt heute neben Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Cornell Woolrich zu den bekanntesten Vertretern des Noir-Genres, wurde zu seinen Lebzeiten aber eher geringschätzenderweise der Pulp-Literatur zugeordnet. Bevor er sich mit seinen beiden Drehbüchern zu den Kubrick-Filmen „Die Rechnung ging nicht auf“ (1956) und „Wege zum Ruhm“ (1957) für kurze Zeit im Glanz Hollywood sonnen konnte und lange bevor seine Romane mit den 1970er Jahren beginnend verfilmt werden sollten („Getaway“, „After Dark, My Sweet“, „Grifters“ u.a.), veröffentlichte er 1954 auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft den Roman „The Nothing Man“, der 1989 zunächst als „Der Garnix-Mann“ bei Ullstein, 1996 dann in der Neuübersetzung von Thomas Stegers als „Kein ganzer Mann“ als deutsche Übersetzung erschienen ist. 
Clinton Brown ist einer der von Herausgeber Austin Lovelace meistgeschätzten Redakteure beim Pacific City Courier. Da Brown im Gegensatz zu seinen Kollegen Dave Randall und Tom Judge über kein nennenswertes Privatleben verfügt, sitzt er meist in der Redaktion und tippt dort an seinem unfertigen Manuskript zur Gedichtsammlung „Gedichte zum Erbrechen“. 
Als Mr. Lovelace unangekündigten Besuch von Deborah Chasen bekommt, wird Brown damit beauftragt, sie etwas in der Stadt herumzuführen, um sie abends wieder in den Zug zu setzen. Brown gefällt der Dame so gut, dass sie zu gern eine Affäre mit ihm beginnen würde, doch weiß sie nicht, dass er im Krieg beim Betreten eines Minenfelds ausgerechnet sein bestes Stück einbüßen musste. Doch nicht nur Mrs. Chasen bringt Brown in Bedrängnis, auch die Ankunft seiner Frau Ellen drüben auf der Insel beunruhigt ihn. Er hatte sich nach seinem Unglück von ihr trennen wollen, worauf sie für drei Monate aus Pacific City verschwand, um jetzt wieder unangekündigt aufzutauchen. 
Einzig Polizeichef Lem Stukey scheint von ihrer Ankunft zu wissen. Als Brown betrunken mit dem Boot zur Insel fährt und sich mit ihr streitet, schlägt er ihr eine Flasche über den Kopf und steckt ihr Bett in Brand. Als Ellens Leiche mit einem Zettel in der Hand aufgefunden wird, auf dem der Vers eines Gedichts geschrieben steht, ist Brown für Stukey natürlich der Hauptverdächtige, doch der Reporter kann die Theorie des Cops schnell entkräften. Schließlich wird Tom Judge für den Mord an Ellen Brown verhaftet, dann wird auch Deborah Chasen tot aufgefunden. Und wieder scheint der Reporter seine Hände im Spiel gehabt zu haben… 
„Es ist schwierig, eine Geschichte an einem bestimmten Punkt anzuhalten und eine genaue Analyse seiner Gefühle vorzunehmen, zu erklären, warum sie so und nicht anders sind. Ich bin eher ein Anhänger des Entwicklungsansatzes, im Gegensatz zum Erklärungsansatz. Aus dem Stegreif heraus, ohne Zusammenhang, ist er nicht sonderlich hilfreich, aber langfristig funktioniert er ausnahmslos. Betrachtet man die Handlungen eines Menschen über einen längeren Zeitraum, treten die Motive deutlicher zutage.“ (S. 140)
 
Jim Thompson stellt seinen Ich-Erzähler Clinton Brown als Mann dar, der wie der Titel bereits andeutet, „kein ganzer Mann“ ist, durch den Krieg seiner Männlichkeit beraubt. Obwohl die Frauen in seinem Leben, und davon gibt es im Verlauf des Romans doch einige, stets beteuern, dass sie ihn auch ohne das „Eine“ lieben würden, hat sein Selbstbewusstsein natürlich schweren Schaden erlitten.  
Thompson beschreibt eindringlich, wie sich der Redakteur und Möchtegern-Dichter stattdessen in die Arbeit stürzt und sich einen Spaß daraus macht, seine Kollegen gegeneinander auszuspielen und vor allem vor dem Hintergrund der sogenannten „Spottlustmorde“ auf diabolische Weise in den Fokus der Ermittlungen des korrupten und unsicheren Polizeichefs Lem Stukey schubst. 
Unterhaltsam ist aber nicht nur das gemeine Spiel, das Brown mit seinen Mitmenschen spielt, sondern auch die allgemeine Atmosphäre der Verruchtheit und Verderbtheit in Pacific City. Fast scheint es, als hätten die Frauen ihr Schicksal durch ihr aufdringliches Verhalten herausgefordert, doch am Ende kann der dem Alkohol mehr als nur zugeneigte Protagonist nicht mal mit Sicherheit sagen, ob er die Frauen tatsächlich ermordet hat oder „nur“ die vorbereitenden Maßnahmen traf und ein anderer für ihren Tod verantwortlich gewesen ist. 
Thompson kreiert mit „Kein ganzer Mann“ eine typische Noir-Stimmung, mit einem Ich-Erzähler, der im Rückblick die Ereignisse zu rekapitulieren versucht und seine eigene Rolle dabei nicht genau zu definieren vermag, sehr wohl aber die niederen Triebe seiner Mitmenschen. Zwar präsentiert Thompson, der selbst schwer dem Alkohol zugetan war, schon früh einen Nervenzusammenbruch erlitt und später an den Folgen eines Schlaganfalls in verarmten Verhältnissen starb, auf der einen Seite einen klassischen Whodunit-Plot, doch erweist sich „Kein ganzer Mann“ vor allem als psychologische Studie eines nicht nur körperlich kastrierten Mannes und seiner schäbigen Umwelt. 

 

Robert Bloch – „Feuerengel“

Donnerstag, 13. Oktober 2022

(Diogenes, 201 S., Tb.) 
Nachdem Robert Blochs frühen Werke aus den 1930er Jahren noch sehr stark von Autoren wie H. P. Lovecraft, August Derleth und Clark Ashton Smith geprägt waren, begann er vor allem Anfang der 1950er Jahre damit, psychologische Krimis zu schreiben. Durch die Vorlage für Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960) wurde Robert Bloch auch international bekannt. Zu den Thrillern, die kurz nach „Psycho“ entstanden sind, zählt auch der 1961 veröffentlichte Roman „Firebug“, der 1969 zunächst als „Mit Feuer spielt man nicht“ im Scherz-Verlag erschienen ist und 1994 in einer Neuausgabe unter dem Titel „Feuerengel“ bei Diogenes wiederveröffentlicht wurde. 
Philip Dempster kommt mit seinem Roman über Sekten gerade nicht weiter, als sein Kumpel Ed Cronin vom „Globe“ ihm das Angebot unterbreitet, für die Sonntagsbeilage eine mehrteilige Serie über die Sekten in der Stadt zu schreiben. Da er die zwölfhundert Dollar gut gebrauchen kann, nimmt Dempster den Auftrag an und bekommt am nächsten Morgen ein Notizbuch mit einer Namenliste – Die Weiße Bruderschaft, Kirche des Goldenen Atoms, Tempel des Neuen Königreichs, Zentrum der Weisheit, Haus der Wahrheit, Tempel der Lodernden Flamme… 
Dempster will seine Nachforschungen mit dem Besuch einer Versammlung der Weißen Bruderschaft von Amos Peabody beginnen, doch stattdessen versackt er in der Kneipe und lernt dabei Diana Rideaux kennen. Allerdings ist Dempster so schnell betrunken, dass er sich von seiner neuen Bekanntschaft nach Hause fahren lassen muss. Als er aus seinem benommenen Zustand aufwacht, steht er neben einem Feuermelder und sieht hinter sich das Bethaus der Weißen Bruderschaft in Flammen ausgehen. Zum Glück verleiht ihm Diana Rideaux ein Alibi, aber auch der nächste Besuch einer Sekte endet in einer Feuerbrunst. Nun ist es die Kirche des Goldenen Atoms mitsamt ihrem charismatischen Führer, Professor Ricardi, der in seinem Bett verbrennt. Daraufhin sucht ihn Ricardis Freundin Agatha Loodens auf, die Dempster auf die Zusammenhänge zwischen Peabody, Ricardi und den Rechtsberater Weatherbee bringt. Die Besuche bei seinem Psychiater, die Gespräche mit dem Kommissar und anderen Beteiligten, die Suche nach einem Mann, der ihn zu verfolgen scheint – all das lässt den Schriftsteller langsam an seinem Verstand zweifeln… 
„Man treibe mehrere Menschen zusammen, mache das Licht aus, entzünde ein Feuer, lasse jemanden mit tiefer Stimme Klimbim reden, und schon hat man die Leute fest in der Hand. Wie aufgeklärt sie auch sein mögen, das Rezept ist narrensicher. Schön, aber warum ist das so? Weil Dunkelheit und Feuer am Ende wirklich Magie verbreiten? Ist der atavistische Zug in uns noch so stark?“ (S. 159) 
Robert Bloch hat mit „Feuerengel“ einen straff inszenierten, klassisch aufgebauten Whodunit-Krimi geschrieben, der vor allem durch den Ich-Erzähler Philip Dempster getragen wird. Der Schriftsteller entpuppt sich allerdings von Beginn an als nicht besonders zuverlässig, macht er doch aus seiner Trinkerei keinen Hehl, auch nicht aus seiner Angst vor Feuer. Dass er es außerdem mit gleich zwei Femmes fatale zu tun bekommt, verschleiert die Ereignisse zunächst eher, als dass sie Licht in das allzu oft vom Feuer erleuchtete Dunkel bringen.  
Bloch seziert dabei nicht nur genüsslich die unlauteren Praktiken der Sekten, sondern bietet auch Einblicke in die Psyche eines Pyromanen. Spannung und Humor gehen dabei oft Hand in Hand und sorgen für einen kurzweiligen, leicht zu lesenden Thrill, der schon vor „Psycho“ bei Bloch zum Markenzeichen geworden ist. 

 

Ian McEwan – „Lektionen“

Montag, 3. Oktober 2022

(Diogenes, 720 S., HC) 
Seit seiner 1975 veröffentlichten Geschichtensammlung „First Love, Last Rites“, die 1982 in der Übersetzung von Harry Rowohlt im deutschen Sprachraum als „Erste Liebe, letzte Riten“ erschienen ist, hat sich der Brite Ian McEwan als einer der bekanntesten europäischen Schriftsteller etabliert, dessen Werke regelmäßig auch verfilmt werden. 2017 gelangten mit „Kindeswohl“, „Am Strand“ und „Ein Kind zur Zeit“ sogar gleich drei McEwan-Adaptionen in die Kinos. Auch in seinem neuen Werk, der auf über 700 Seiten episch angelegten Familiengeschichte „Lektionen“, berührt McEwan wieder Themen, die sich auf die eine oder andere Weise in jedermanns Leben wiederfinden, vor allem die Frage, was den individuellen Menschen ausmacht. 
Für Roland Baines bricht eine Welt zusammen, als er im Frühjahr 1986 mit Mitte dreißig von seiner Frau Alissa verlassen wird und im Zuge ihres spurlosen Verschwindens sogar von der Polizei mit dem Verdacht konfrontiert wird, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Postkarten, die Alissa ihm und ihrem gemeinsamen Sohn Lawrence regelmäßig mit dem gleichen Wortlaut aus Dover, Paris, Straßburg und München geschickt hat, werden mit Handschriftenproben verglichen. Monate nach ihrem Verschwinden, das sie nur mit einer kurzen Notiz kommentiert hat („Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst.“), rekapituliert Baines, wie es dazu kommen konnte, und erzählt seine Geschichte. 
In Libyen als Sohn eines Armeeoffiziers aufgewachsen, kommt im Spätsommer 1959 mit seinen Eltern nach England, wird Zeuge eines Motorradunfalls mit Todesopfern und wird er im Alter von elf Jahren in ein Internat gesteckt. Ihm ist noch nicht klar, dass er die nächsten sieben Jahre dort verbringen und anschließend erwachsen sein wird. Was ihn allerdings am meisten prägt, sind die Klavierstunden bei der Mitte zwanzigjährigen Miriam Cornell, die den dann vierzehnjährigen Jungen verführt und sogar zu seinem sechzehnten Geburtstag in Schottland zu heiraten beabsichtigt. Roland kann sich gerade noch rechtzeitig aus dieser Abhängigkeit und Umklammerung befreien, treibt dann aber recht ziellos durchs Leben. Seine anfänglich so vielversprechende Karriere am Klavier verfolgt er nicht weiter. Stattdessen hält er sich als Tennislehrer, Teilzeit-Journalist und Bar-Pianist über Wasser, bis er beim Deutschunterricht am Goethe-Institut Alissa Eberhardt kennen- und lieben lernt. Doch die angehende Schriftstellerin fühlt sich in der Ehe eingeengt und hat erst dann den ersehnten Erfolg, als sie nach Deutschland zurückkehrt, wo sie sogar als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Roland heiratet schließlich seine alte Freundin Daphne, nachdem er zuvor fast wahllos von einer Affäre zur nächsten gesprungen war. 
Als Daphne viel zu früh an Krebs stirbt, macht er sich daran, sowohl Alissa aufzusuchen als auch seine frühere Klavierlehrerin, die sich für den begangenen Missbrauch nun der Strafverfolgung ausgesetzt sieht… 
„Alissas Verschwinden hatte eine Schneise in die Vergangenheit geöffnet. Fast, als wären Bäume gefällt worden für einen besseren Blick. In seltenen Momenten wie diesem sah er, als scharf umrissenen Lichtpunkt, den Ursprung all dessen, was ihm zusetzte, und all denen, die ihm nahekamen. Die Klavierlehrerin, die ihn in jener ersten Nacht heimgesucht hatte, spukte ihm oft im Kopf herum.“ (S. 310) 
Ian McEwans „Lektionen“ ist weit mehr als die Geschichte eines Lebens. In seinem umfangreichsten Roman holt der versierte Schriftsteller weit aus, lässt die Lebensgeschichte seiner Eltern, seiner beiden Halbgeschwister Henry und Susan und anderer mit gesellschafts- und geopolitischen Ereignissen wie die Widerstandsbewegung Weiße Rose, die Suez- und Kuba-Krise, die nukleare Bedrohung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, der Falkland-Krieg, Margaret Thatchers Regierungszeit, der Aufschwung der Labour-Party, Gorbatschow und der Fall der Berliner Mauer bis hin zum Klimawandel, Brexit und Umgang mit der Corona-Pandemie. 
Die Einbettung in den historischen Kontext hätte McEwan, der einige biografische Verweise wie das Alter, die Kindheit in Libyen und die Halbgeschwister in seinen Roman hat einfließen lassen, allerdings etwas kürzen können, denn die tatsächlich entscheidenden Momente in Roland Baines‘ Leben spielen sich auf rein persönlicher Ebene ab. 
Wenn der Autor die Beziehungen und Konflikte mit der Klavierlehrerin und Alissa beschreibt, hat „Lektionen“ seine stärksten Momente, denn hier fährt alles auf, was zwischenmenschliche Beziehungen ausmacht, mit allen Höhen und Tiefen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und Konflikten. Dabei rückt die Rücksichtslosigkeit von Künstlern, die im Dienste ihrer Kunst alles andere vernachlässigen, ebenso in den Vordergrund wie die Frage nach Lust und Schuld in dem Missbrauchsfall, mit dem Roland seine Klavierlehrerin nach Jahrzehnten konfrontiert. 
Es sind keine „Lektionen“ mit ausgestrecktem Zeigefinger, McEwan bietet keine Antworten auf die komplexen moralischen Fragen, die sich Roland Baines am Wendepunkt seines Lebens zu stellen beginnt und denen er bis ins hohe Alter folgt, sondern präsentiert schon eine altersmilde Gelassenheit gegenüber den geschichtlichen Ereignissen, die man nicht beeinflussen kann, gegenüber den Menschen, die man geliebt und die einen verletzt haben. 
Am Ende ist „Lektionen“ eine reflektierte Lektion über die Unwägbarkeiten des Lebens schlechthin. 

Robert Bloch – „Nacht im Kopf“

Mittwoch, 14. September 2022

(Diogenes, 189 S,., Tb.) 
Mit seinem 1959 veröffentlichten Roman „Psycho“ wurde Robert Bloch vor allem durch die ein Jahr später erfolgte Verfilmung durch Spannungs-Meister Alfred Hitchcock weltberühmt. Psychisch angeschlagene Charaktere standen allerdings auch in späteren Werken des Erfolgsautors, der im Laufe seiner Karriere auch die Drehbücher zu Horrorfilmen wie „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“, „Totentanz der Vampire“ und „Die Toten sterben nicht“ verfasste, immer wieder im Mittelpunkt – so auch in seinem 1972 veröffentlichten Roman „Night-World“, der zunächst 1975 unter dem Titel „Wahnsinn mit Methode“ im Scherz-Verlag erschien und 1986 als „Nacht im Kopf“ in neuer Übersetzung bei Diogenes wiederveröffentlicht wurde. 
Karen Raymond bespricht als Werbetexterin in der renommierten Agentur Sutherland in Los Angeles gerade ihren aktuellen Auftrag mit dem Cheftexter Mr. Haskane, als sie einen Anruf aus Topanga Canyon erhält, dass ihr Mann Bruce vielleicht aus der psychiatrischen Anstalt entlassen wird. Nachdem ihr der behandelnde Arzt Dr. Grisworld geraten hatte, ihren Mann während der Behandlung nicht zu besuchen, sind mehr als sechs Monate vergangen. 
Nun soll die Reaktion ihres Mannes auf ihren Besuch darüber entscheiden, ob er bereit ist, das Luxus-Sanatorium zu verlassen. Vor ihrer Abfahrt sucht sie noch Rita, die Schwester ihres Mannes, auf, die sich wenig angetan von Karens Plan zeigt. Als Karen am Sanatorium eintrifft, ist sie allerdings nicht auf den Anblick des ermordeten Dr. Grisworld vorbereitet. Von der benachrichtigten Polizei erfährt Karen, dass Grisworld nicht das einzige Todesopfer in der Klinik ist. 
Außer ihm wurden neben der an ihrem Pult erwürgten Schwester auch ein Pfleger und eine ältere Patienten tot aufgefunden. Die übrigen fünf Patienten sind allerdings verschwunden. Offensichtlich ermordet wenigstens einer der Geflüchteten weitere Angestellte und Angehörige der Patienten, sodass auch Karen in Lebensgefahr schwebt… 
„Und wenn es doch Bruce gewesen war, der zu ihr wollte – zu ihr wollte, um sie zu töten? Nein, das würde Bruce nicht tun. Oder doch? Karen sah sich selbst mit weitaufgerissenen Augen im Spiegel. Würde er? Das war die Kernfrage – die Frage, der sie die ganze Zeit ausgewichen war. Aber sie musste sich ihr stellen – hier und jetzt. Sie musste der Sache ins Auge sehen, so wie sie sich im blanken Glas des Spiegels selbst ins Auge sah. Nach allem, was geschehen war, und dem, was sie über Bruce wusste – glaubte sie, dass er schuldig war?“ (S. 68) 
Robert Bloch hat sich seit den 1950er Jahren mit Romanen wie „Die Psycho-Falle“, „Werkzeug des Teufels“, „Die Saat des Bösen“, „Mit Feuer spielt man nicht“ und „Amok“ als versierter Krimi- und Horror-Autor etabliert, der es versteht, zunächst konventionell erscheinende Krimi-Plots mit schaurigen Elementen und einer deftigen Prise schwarzen Humors zu würzen. Da macht „Nacht im Kopf“ keine Ausnahme. 
Der Whodunit-Plot bezieht seine Spannung sowohl aus der Frage nach der Identität des Killers als auch aus der Frage nach dem geistigen Zustand von Karens Mann Bruce bezieht. Bis zur Klärung beider Fragen streut Bloch so einige interessante Todesfälle und Wendungen ein, die „Nacht im Kopf“ zu einem kurzweiligen Krimi-Vergnügen machen, wobei Bloch am Rande auch den Zustand der Gesellschaft kritisch beleuchtet. Interessant wird die Geschichte vor allem dadurch, dass Bloch immer wieder die Erzählperspektive zwischen Karen Raymond und dem unbekannten Täter wechselt, so dass Bloch dem Leser erhellende Einblicke in die Psyche des Killers gewährt. 

 

Philipp Djian – „Pas de deux“

Sonntag, 11. September 2022

(Diogenes, 436 S., HC) 
Seit seinem 1982 veröffentlichten Roman „Blau wie die Hölle“ hat der französische Schriftsteller Philippe Djian eine rasante Karriere hingelegt, die in dem auch erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) einen ersten Höhepunkt erreichte. 1991 folgte schließlich „Lent dehors“, hierzulande als „Pas de deux“ veröffentlicht, und präsentierte etwas nachdenklichere Töne. Das Thema Sex steht in diesem Roman allerdings auch so stark im Mittelpunkt, dass die Story selbst fast in den Hintergrund rückt. 
Einst galt Henri-John als talentierter Pianist mit vielversprechender Karriere, doch nach einem aufregenden Leben, zu dem das Touren mit dem renommierten Sinn-Fein-Ballett durch die ganze Welt und aufregende Affären zählten, hat er seine Freundin aus Jugendtagen, die mittlerweile erfolgreiche Schriftstellerin Edith, geheiratet, mit ihr die beiden Töchter Eléonore und Evelyne großgezogen und verdient seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer in Teilzeit an der Schule Saint-Vincent. Sein in ruhigen Bahnen verlaufendes Leben kommt erst wieder in Schwung, als Edith für zwei Wochen zu einer Lesereise nach Japan aufbricht. In dieser Zeit lässt sich Henri-John auf eine Affäre mit seiner jungen Kollegin Hélène, deren Avancen er bisher problemlos widerstehen konnte. 
Als Edith jedoch aus Japan mit ersten Teilen ihres neuen Romanmanuskripts zurückkehrt und Henri-John um eine ehrliche Einschätzung bittet, kommt es zum Affront. Henri-John ist über Ediths Anbiederung an die Literaturschickeria so entsetzt, dass er ihr seine Meinung nicht vorenthalten mag. Als Edith auch noch hinter seine Affäre kommt und ihn vor die Tür setzt, ist Henri-John gezwungen, über seine Prioritäten im Leben neu mit sich zu verhandeln. Er nistet sich im Haus seines Freundes Oli am Meer ein und beginnt mit dem Herumtreiber Finn, die Treppe zum Meer neu zu bauen. In der Zeit erinnert sich Henri-John - nicht zuletzt durch das Lesen von Ediths Tagebuch – an wilden Zeiten seiner Jugend zurück und findet langsam heraus, dass er Edith zurückgewinnen will… 
„Meine Probleme waren nicht aus der Welt, aber dank ihm hatte ich die schlimmsten Klippen umschifft. Ich war wieder zu Kräften gekommen, und mein Verstand war klar. Ich hatte aufgehört, über mein Schicksal zu jammern. Die Wunde war nicht verheilt, aber ich glaubte inzwischen, mit ihr leben zu können, weil ich sie akzeptiertem weil sie mir vertraut war, weil Finn, sagen wir, eine Art hatte, seinen Hammer zu schwingen, die mich mit der Welt versöhnte.“ (S. 259) 
Der von US-amerikanischen Autoren wie Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger beeinflusste Philippe Djian hat nie verhehlt, dass es ihm vor allem um Stil und Sprache geht, und so bilden die Figuren und die Geschichte nur den Rahmen, um mit der Sprache zu jonglieren. Darin hat sich der französische Schriftsteller bereits in seinen frühen Roman als wahrer Fabulierkünstler erwiesen. Mit seinem Roman „Pas de deux“ (der deutsche Titel bezieht sich auf einen Teil des „Nussknacker“-Balletts von Peter Tschaikowsky) erzählt Djian die komplexe Lebensgeschichte eines Musikers, in dessen Erinnerungen vor allem die ersten sexuellen Erfahrungen mit einer reifen Frau wie Romana und nachfolgenden Eroberungen einen breiten Raum einnehmen. Djian ist ein Schriftsteller, der pornographische Inhalte zu einem literarischen Erlebnis macht. 
Seitenlang vermag er die Lust an weiblichen Reizen und an erotischen Handlungen kunstvoll zu beschreiben, ohne dass es einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Doch darüber hinaus erweist sich „Pas de deux“ als feinsinniger Entwicklungsroman. Djian lässt seinen Protagonisten in den Tagebüchern seiner Frau und Briefen seines Freundes Oli schwelgen, führt so immer wieder eine andere Perspektive in den Plot ein, mit der sich Henri-John gezwungenermaßen auseinandersetzen muss, will er seine Frau wieder zurückgewinnen. Dabei entwickelt die Geschichte, die zwischen den ausgehenden 1950er Jahren und der heutigen Zeit pendelt, einen faszinierenden Sog, gelingt es Djian doch vorzüglich, seine Figur mit wahrer emotionaler Tiefe auszustatten und so reifen zu lassen. 
 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 5) „London Rules“

Samstag, 27. August 2022

(Diogenes, 496 S., Pb.) 
Der britische Schriftsteller Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studierte und als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift arbeitete, veröffentlichte bereits in den 2000er Jahren vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm, ehe er 2010 mit dem Roman „Slow Horses“ eine Reihe um ausgemusterte Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes MI5 ins Leben rief, die seit 2018 mit wachsendem Erfolg auch in Deutschland ihr Publikum begeistert. 
Mit „London Rules“ veröffentlicht Diogenes nun den fünften Roman um Jackson Lamb, der als Leiter der verächtlich als „Slow Horses“ betitelten Truppe in Slough House wieder einmal alle Hände voll zu tun hat, seine kuriose Truppe unter Kontrolle zu halten und das Versagen des MI5 auszubügeln. 
Als eine fünfköpfige Söldnertruppe mit Abbotsfield ein ganzes Dorf in Derbyshire auslöscht und spurlos untertaucht, steht Claude Whelan, Chef des britischen Inlandgeheimdienstes MI5, unter Druck, zumal die Attentäter wenig später auch ein Pinguingehege im Londoner Zoo in die Luft sprengen. 
Ob der Anschlag mit einem Auto auf den Ober-Nerd Roderick Ho, den seine Slough-House-Kollegin Shirley Dander im letzten Augenblick verhindern konnte, auch zu dieser Reihe von Attentaten zu zählen ist? Jedenfalls beschließt Shirley mit ihren Kollegen River Cartwright und Louisa Guy, Roddy ein paar Tage lang im Auge zu behalten. Dass der Nerd eine so erstklassig aussehende Freundin wie Kim haben soll, kann nur bedeuten, dass sie ihn ausnutzt. 
Tatsächlich verschwindet sie nach den Attentaten Den Premierminister plagen indes andere Probleme. Das Referendum über den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union könnte ihn die Karriere kosten, zumal sein Konkurrent Dennis Gimball wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist, unterstützt von seiner Frau Dodie, die laufend ätzende Kommentare in ihrer Kolumne gegen den PM veröffentlicht. Die Agenten in Slough House kommen auf den Gedanken, dass die Attentäter es nun auf einen politischen Führer abgesehen haben könnten. Doch die Maßnahmen, die Lambs Agenten trotz des angeordneten Lockdowns durch Lady Di ergreifen, machen die Situation nur schlimmer… 
„Nach den London Rules baute man seine Mauern hoch, und die Reihenfolge, in der man seine Leute darüberwarf, stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Solange er also nützlicher war als Cartwright, ging er nicht als Erster über die Mauer. Coe fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, aber er fühlte sich lebendig, und das war das Allerwichtigste. Zunächst mal saßen sie alle im selben Boot – bis auf Weiteres. Auch das entsprach den London Rules.“ (S. 344) 
Mick Herron schrieb „London Rules“ bereits 2018 – kurz nach dem Referendum, als sowohl die „Brexit“-Befürworter als auch -Gegner in einer Art Schockzustand waren und noch nicht absehen konnten, was der Brexit für die Briten bedeuten würde. Herron nutzt diese Atmosphäre für eine erfrischende Farce, in der sowohl die Politik als auch die Geheimdienste ihr Fett wegkriegen. 
Im Zentrum steht einmal mehr Jackson Lamb, der es sich als Leiter in Slough House bequem eingerichtet hat und über so viel brisante Informationen verfügt, dass er sich auch den „echten“ Agenten in Regent’s Park gegenüber nicht in Zurückhaltung zu üben braucht. Genüsslich lässt er seine ehemalige Kollegin Lady Di, die es auf Whelans Posten abgesehen hat, immer wieder auflaufen, liefert sich mit ihr messerscharfe Dialoge. 
Aber auch Lambs Truppe sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Obwohl allesamt unter der einen oder anderen psychischen Störung leiden, versuchen sie doch, aus der Langeweile ihrer öden Bürojobs auszubrechen und echte Agenten zu sein – mit immer wieder fatalen Folgen, aber letztlich gutem Ende. Mick Herron beweist einmal mehr, dass er mit der Reihe um Jackson Lamb eine der unterhaltsamsten, vor allem aber ungewöhnlichsten Spionage-Romanreihe geschaffen hat, die mittlerweile auf Apple TV+ als Fernsehserie mit Gary Oldman, Kristin Scott Thomas und Jonathan Pryce verfilmt worden ist.  „London Rules“ knüpft mit einem temporeichen Plot, wunderbar spritzigen Dialogen und liebenswert skurrilen Figuren nahtlos an die vier vorangegangenen Romane an und macht neugierig auf die weiteren Fälle, mit denen es Lamb und seine Slow Horses zu tun bekommen werden. 
In England ist mit „Bad Actors“ dieses Jahr schon der achte Band der Reihe erschienen.  

Jim Thompson – „Kill-off“

Donnerstag, 9. Juni 2022

(Diogenes, 282 S., Tb.) 
In seinen überaus produktiven 1950er Jahren schrieb der US-amerikanische Autor Jim Thompson viele seiner besten Werke. Während er selbst die Drehbücher zu Stanley Kubricks Frühwerken „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ verfasste, wurden seine eigenen Romane wie „Der Mörder in mir“, „Ein Satansweib“, „Getaway“ und „After Dark, My Sweet“ - wenn auch viel später - von Regisseuren wie Alain Corneau, James Foley und Sam Peckinpah verfilmt. Das trifft auch auf den 1957 entstandenen Roman „The Kill-Off“ zu, den Maggie Greenwald 1989 für die große Leinwand adaptierte. Dabei zählt der hierzulande zunächst bei Ullstein als „Das Abtöten“ veröffentlichte, dann bei Diogenes in neuer Übersetzung unter dem Titel „Kill-off“ herausgegebene Werk nicht zu Thompsons besten Arbeiten. 
In dem heruntergekommenen Seebad Manduwoc hat sich die einst schöne, nun über sechzigjährige Luane Devore durch ihre bösartige Zunge eine Menge Feinde gemacht. Als sie zwei Tage vor Beginn der Sommersaison ihren Anwalt Kossmeyer anruft und auf ihre gewohnt hysterische Art behauptet, dass sie umgebracht werden soll, nimmt er sie nicht allzu ernst. Schließlich ist es auch schon Jahre her, dass er für seine Dienste auf dem Devore-Anwesen honoriert worden ist. Ihr Mann Ralph hat sich jahrelang mit Gelegenheitsjob über Wasser gehalten und für seine Frau nicht mehr allzu viel übrig. Dafür hat es ihm die Sängerin Danny Lee von Rags McGuires Musikgruppe sehr angetan. Als ihm nicht nur der Hausmeisterjob in der Schule flöten geht, sondern von Mr. Brockton auch noch erfahren muss, dass Doktor Ashton dafür gesorgt hat, dass der Job des Rasenmähens an dessen Sohn Bobbie übergegangen ist, steht Ralph Devor auf einmal ohne Einkommen dar. 
Doc Ashton wiederum, der sich nach dem Tod seiner Frau im Kindbett mit der jungen wie hübschen schwarzen Haushälterin Hattie vor siebzehn Jahren in der Stadt niedergelassen hat, sorgt sich darum, dass sein dunkles Geheimnis um die Beziehung zu Hattie gelüftet wird. Der Staatsanwalt Williams hat ebenso kein Interesse daran, dass bekannt wird, dass seine Schwester ein Baby von ihm erwartet… 
„Das musste man der verdammten Luane schon zugestehen: Sie hatte ein teuflisches Talent, mit dem Gerüchtemesser so zuzustoßen, dass sie immer die richtige Stelle traf und dauernd mächtig Staub aufwirbelte. Henry Clay Williams zum Beispiel war ein Junggeselle. Er hatte immer mit seiner unverheirateten Schwester zusammengelebt. Und diese Schwester hatte jetzt einen Unterleibstumor… der eine Schwellung verursachte, wie es normalerweise nur eine andere Art von Wachstum tut.“ (S. 89)
Jim Thompson hat sich seinen Lebensunterhalt nach seinem Abschluss an der University of Nebraska zunächst mit dem Schreiben von True-Crime-Stories verdient, was ihn – wenn nicht schon vorher – zu der Überzeugung kommen lassen musste, dass die Menschen ein gewalttätiger, habgieriger Haufen sind. Wirklich sympathische, moralisch integre Charaktere finden sich in seinen Büchern eher selten. Der Aufbau von „Kill-off“ ist insofern geschickt, als die einzelnen Kapitel jeweils aus der Sicht einzelner Bewohner von Manduwoc geschrieben sind. Nachdem der Anwalt Kossmeyer im ersten Kapitel durch sein Telefonat mit Luane Devore bereits eine erste Charakterisierung des zukünftigen Mordopfers abgibt und den Lesern einen groben Überblick über die Beziehungen und Zustände in der Stadt verschafft hat, kommen auch Luanes Mann Ralph, Doc Ashton und sein verzogener Sohn Bobbie und Hattie, der Bauunternehmer Pete Pavlov, der Musiker Rags McGuire, der Staatsanwalt Henry Clay Williams und auch Luane Devor selbst zu Wort. Nachdem Luane erwartungsgemäß zu Tode gekommen ist, stellt sich schließlich ab der Mitte des Romans die Frage nach dem Täter. 
Leider versäumt es Thompson, in dieser Hinsicht die Spannung aufrechtzuerhalten. Die nach dem Mord in Stellung gebrachten Ich-Erzähler bringen kaum noch erhellende Informationen zu dem Fall bei, sondern lamentieren eher vor sich hin, so dass man als Leser zunehmend das Interesse an der Geschichte verliert. Mit dem letzten zu Wort kommenden Beteiligten versucht Thompson dann das obligatorische Überraschungsmoment zu setzen und sein Publikum wieder wachzurütteln, doch wirklich überzeugend ist ihm dieser Kniff hier nicht gelungen. 

 

Jim Thompson – „Ein Satansweib“

Dienstag, 7. Juni 2022

(Diogenes, 226 S., Tb.) 
Jim Thompson hat sich nicht nur als Drehbuchautor für Stanley Kubricks Meisterwerke „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ einen Namen gemacht, sondern vor allem als Autor gnadenloser Hard-boiled-Krimis, die nichts für schwache Gemüter sind. Dabei verwendet er zwar die Konventionen des Noir-Genres, verleiht ihnen aber stets einen eigenen Dreh und unterläuft so geschickt die Erwartungshaltung des Lesers. Der 1954 am Ende seiner produktivsten Phase entstandene Roman „A Hell of a Woman“, der 1988 zunächst unter dem Titel „Höllenweib“ bei Ullstein erschienen war, wurde 1996 in neuer Übersetzung als „Ein Satansweib“ durch Diogenes wiederveröffentlicht. 
Als Handelsvertreter für die Pay-E-Zee-Kette tingelt Frank „Dolly“ Dillon mit seinem Musterkoffer von Haustür zu Haustür und versucht seinen potentiellen Kunden überteuerten Ramsch anzudrehen, den sie sich oft genug nur per Ratenzahlung leisten können. Dillon ist nicht nur von dem Job und seinem Chef Staples angeödet, sondern auch von seiner Frau Joyce, die er für eine nichtsnutzige Schlampe hält. Als er einem säumigen Zahler namens Pete Hendrickson auf der Spur ist, lernt er eine alte, hässliche Vettel kennen, die sich für einen Kasten mit Silberbesteck interessiert und Dillon als Bezahlung die Dienste ihrer hübschen Nichte Mona anbietet. 
Dillon ist sofort hingerissen von dem scheuen Geschöpf und denkt gar nicht daran, das bereits nackte Mädchen zu verführen, was ihn allerdings noch mehr für sie attraktiv macht. Als Dillon wegen seiner Mauscheleien verhaftet wird, ist es tatsächlich Mona, die ihn mit einer Zahlung von dreihundert Dollar auslöst, worauf sie ihm mitteilt, dass ihre Tante noch auf hunderttausend Dollar sitzt. Offenbar hat die geizige Alte einst Mona entführt und die wohlhabenden Eltern um diese Summe erpresst, aber selbst nach dem Tod der Eltern nie etwas von dem Geld angerührt. 
Nachdem Joyce bereits Mann und Haus verlassen hat, sieht Dillon nun die Möglichkeit, mit Mona ein ganz neues Leben anzufangen, doch die Art und Weise, wie die Alte aus dem Weg geräumt werden kann, ohne dass der Verdacht auf Dillon und Mona fällt, will gut überlegt sein. Kompliziert wird es für Dillon, als Joyce wieder in sein Leben zurückkehrt und Staples ihm immer näher auf die Pelle rückt… 
„Er konnte einfach nichts wissen. Die Bullen wussten nichts, wie sollte er etwas wissen? Also worüber zum Teufel regte ich mich auf? Irgendwie war ihm aufgefallen, dass mir ein wenig unbehaglich zumute war. Hatte es bemerkt und sofort angefangen darauf herumzuhacken und versucht, die Wahrheit aus mir herauszusticheln. Er schlug wild um sich, in jede Richtung, in der Hoffnung, dass die blinden Schläge irgendwie treffen würden.“ (S. 168) 
Schon mit dem Titel „A Hell of a Woman“ führt Thompson seine Leser in die Irre, suggeriert er doch die für den Noir so typische Konstellation, dass ein zunächst unbescholtener Mann durch eine Femme fatale zu einer folgenschweren Dummheit verführt wird. Tatsächlich ist die Ausgangssituation hier ähnlich gelagert. Der Ich-Erzähler Dillon gerät aber nicht erst durch die Kenntnis der hunderttausend Dollar auf die schiefe Bahn, auf denen die alte Vettel sitzt, die keine Skrupel besitzt, ihre vermeintliche Nichte für sich zu prostituieren. Dillon ist nämlich kein sympathischer Zeitgenosse, der einfach nur Pech in seinem Leben hatte. Er macht keinen Hehl daraus, dass ihm seine Arbeit keinen Spaß macht, dass ihm seine Frau auf die Nerven geht, dass sein Leben eigentlich nicht lebenswert ist. Durch die Aussicht, bald ein reicher Mann sein zu können, wird das kriminelle Element seiner Natur nur zusätzlich motiviert. 
Thompson macht es seinem Protagonisten auch nicht leicht. Sowohl Joyce als auch Mona entpuppen sich nicht als Traumfrauen, die ewigen Betrügereien drohen Dillon irgendwann das Genick zu brechen, und sein Vorgesetzter Staples hängt wie eine nervige Klette an ihm. Thompson gelingt es immer wieder, dem Plot eine interessante Wendung zu verleihen, doch ist die Geschichte des Losers Dillon nicht so packend gelungen wie viele andere von Thompsons Werken. Das liegt nicht nur an der Sprache, die der Autor seinem Ich-Erzähler angepasst hat, sondern auch der am Ende arg konstruiert wirkenden Aufösung. 

 

Jim Thompson – „Eine klasse Frau“

Sonntag, 5. Juni 2022

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Nach schleppenden Beginn seiner Schriftstellerkarriere, die zwischen 1942 und 1949 nur drei Romane hervorgebracht hatte, erlebte Jim Thompson zu Beginn der 1950er Jahre einen wahren Schub an Produktivität, der Noir-Leckerbissen wie „Der Mörder in mir“, „Liebe ist kein Alibi“, „Revanche“, „In die finstere Nacht“, „Ein Satansweib“ und eben auch „Eine klasse Frau“ hervorbrachte. Der Neuübersetzung durch André Simonoviescz bei Diogenes im Jahr 1994 ging 1986 die Erstveröffentlichung unter dem Titel „Ein süßes Kind“ bei Ullstein voraus. 
Nach dem Tod seiner Mutter und der Entlassung seines Vaters durch die Schulbehörde ist Dusty Rhodes gezwungen gewesen, das College aufzugeben und für den Lebensunterhalt für sich und seinen Vater zu sorgen, mit dem er zusammen in einer kleinen Wohnung lebt. Um mehr Geld zu verdienen, hat er sich für die Nachtschicht als Page in dem etwas exklusiveren Manton Hotel entschieden, wo er mit seinem Vorgesetzten Mr. Bascom allerdings mehr schlecht als recht auskommt. 
Während der Nachtportier den jungen Mann dazu drängt, wieder zum College zurückzukehren, sieht Dusty keinen anderen Ausweg, als weiterhin den gut bezahlten Job als Page auszuüben, weil er sonst hinten und vorne nicht über die Runden kommt. Zwar sieht er seinen Vater kaum, da er nach dem Ende der Nachtschicht schlafen muss, aber er versucht ihm, all das zu besorgen, was er braucht, auch wenn er keine Ahnung hat, was sein Vater mit all dem Geld macht, das er ihm ständig zusteckt. Neben den Medikamenten gegen die Depressionen muss Dusty auch für den Anwalt Kossmeyer aufkommen, der seit einiger Zeit – erfolglos – versucht, auf eine Wiedereinstellung seines Vaters zu drängen. 
So richtig Bewegung in seine Alltagsroutine kommt allerdings, als die wunderschöne Marcia Hillis eines Nachts eincheckt. Sie stellt für Dusty die Verkörperung all seiner Träume dar. Als er eines Nachts gebeten wird, ihr Briefpapier zu bringen, gerät Dusty in eine Situation, die eine versuchte Vergewaltigung vortäuschen soll. Allein dem beherzten Eingreifen des großzügigen Tug Trowbridge und seiner zweier Gehilfen, die Marcia Hillis aus dem Hotel schaffen, hat es Dusty zu verdanken, nicht in größere Schwierigkeiten zu geraten, doch Trowbridge handelte alles andere als uneigennützig. 
Als Gegenleistung verlangt dieser, dass Dusty ihm zum Start der Rennsaison, der viele gutbetuchte Gäste ins Hotel bringt, dabei zu helfen, die abschließbaren Postfächer zu leeren und so über zweihunderttausend Dollar zu erbeuten. Dusty bleibt nichts anderes übrig, als bei diesem Coup mitzuspielen, aber er sieht auch die Chance, mit seinem Anteil ein neues Leben mit seiner Traumfrau beginnen zu können… 
„Er würde sie besitzen. Er konnte sich einfach nichts anderes vorstellen. In Gedanken hatte er schon längst von ihr Besitz ergriffen, dort waren sie schon zusammen, er und Marcia Hillis waren entzückt voneinander, entzückten den anderen. Und in diesen Vorstellungen gab es für seinen Vater keinen Platz. Sein Vater verbot diese Gedanken geradezu.“ (S. 171) 
Thompson scheint mit „Eine klasse Frau“ eine klassische Noir-Geschichte zu erzählen, in der ein hart arbeitender, fürsorglicher junger Mann durch die Obsession für eine attraktive Frau vom rechten Weg abkommt. Doch der Autor spielt sehr geschickt mit den Konventionen des Genres, um die Erwartungshaltung des Lesers später immer krasser zu unterlaufen und mit unermüdlichen Wendungen schließlich das Bild zu zerstören, das er von seinem Protagonisten aufgebaut hat. 
Während die seinen Kopf verdrehende Marcia Hillis die meiste Zeit kaum eine Rolle spielt, wird Dusty Rhodes als hart arbeitender und verantwortungsbewusster Mann portraitiert, der sich alle Mühe gibt, für seinen kranken Vater zu sorgen. Erste Risse bekommt der gute Charakter aber durch die Rückblenden, in denen geschildert wird, dass Dusty als nicht mehr ganz so kleiner Junge eine unsittliche Beziehung mit seiner Stiefmutter unterhielt und letztlich auch für die Entlassung seines Vaters verantwortlich gewesen ist, als er eine Petition mit dem Namen seines Vaters unterschrieben hatte. Doch erst die Nachwirkungen des erfolgreichen Überfalls auf die Geldreserven der Hotelgäste bringen das ganze Ausmaß einer komplexen Persönlichkeit zum Ausdruck, der anfangs noch alle Sympathien des Lesers gehörten. 
Thompson erweist sich als wahrer Meister in der Schilderung unmöglicher Situationen und vertrackter Komplizenschaften, bis man nicht mehr weiß, welchem Szenario man glauben schenken soll. 

 

Jim Thompson – „Getaway“

Samstag, 4. Juni 2022

(Diogenes, 220 S., Tb.) 
Obwohl Jim Thompson (1906-1977) bereits Anfang der 1940er Jahre einen Haufen Romane zu veröffentlichen begann (allein zwölf in den Jahren 1952-54), war dem alkoholkranken Schriftsteller lange Zeit kaum Erfolg beschieden. Das änderte sich erst mit seinen beiden Drehbüchern zu den Stanley-Kubrick-Filmen „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ sowie dem 1959 veröffentlichten und 1972 von Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali McGraw verfilmten Roman „Getaway“
 Dank des korrupten Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses, Benyon, wird der vierzigjährige Carter „Doc“ McCoy frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, schuldet dem korrupten Lokalpolitiker allerdings 15.000 Dollar, die er durch einen wohlüberlegten Überfall auf eine kleine Bank in Beacon City besorgen will. Die ist nicht der Bundeszentralbank angeschlossen, so dass die Bankräuber nichts ins Visier des FBI geraten. Bei dem Coup sind McCoy nicht nur seine vierzehn Jahre jüngere Frau Carol, sondern auch der paranoide und gerissene Gangster Rudy Torrento und dessen nervöser Gehilfe Jackson mit an Bord. Torrento bringt Jackson noch während des Überfalls um – je weniger Beteiligte sich die Beute teilen müssen, desto besser. Nachdem der erfolgreiche Überfall hundertvierzigtausend Dollar in bar und weitere zweihunderttausend in Papieren eingebracht hat, kommt es auch zwischen Doc und Torrento zu einer nahezu tödlichen Auseinandersetzung. Der totgeglaubte Torrento lässt sich von einem Veterinär zusammenflicken, nimmt ihn und dessen Frau als Geiseln und macht sich auf die Jagd nach McCoy. Der wiederum will zunächst seine Schulden bei Benyon begleichen und dann nach Mexiko fliehen. Durch einen verhängnisvollen Fehler seiner Frau muss McCoy die Flucht aber neu organisieren, was vermehrt zu Spannungen und Misstrauen zwischen dem Paar führt. Mittlerweile hängt ihnen nicht nur Torrento, sondern auch die Polizei an den Fersen… 
„Doc hatte das Gefühl, sich haltlos im Kreis zu drehen. Sosehr es ihn auch drängte, Carol zu glauben – die Zweifel wollten sich nicht ausräumen lassen. Er gestand sich, dass dieser fast krankhafte Argwohn Teil seines Wesens war. Als Berufsverbrecher konnte er es sich einfach nicht leisten, jemandem völlig zu vertrauen. Und Untreue grenzte in seiner Vorstellung an Verrat und war entweder ein Zeichen für eine gefährliche Charakterschwäche oder für einen Treuebruch, was nicht minder gefährlich war. Jedenfalls bildete die Frau ein Risiko in einem Spiel, das kein Risiko duldete.“ (S. 86) 
In erster Linie scheint Jim Thompson, der als kurzweiliges Mitglied der kommunistischen Partei unter der McCarthy-Ära zu leiden hatte und als Alkoholschmuggler seine eigenen Erfahrungen mit einem Leben am Rande der Legalität sammelte, in „Getaway“ die Flucht eines Ehepaars zu beschreiben, das sich in den vier Jahren, die Doc McCoy im Zuchthaus verbrachte, nicht nur entfremdet hat, sondern sich während der Flucht und des Carols nahezu unverzeihliches Missgeschick die Beute zwischenzeitlich an einen Betrüger aus den Augen verloren zu haben, immer wieder versichern muss, dass die Beziehung noch funktioniert, dass man einander vertraut und liebt, folglich unentbehrlich für einander ist. 
Doch Thompson nutzt seine Gangster-Ballade auch dazu, ein äußerst düsteres Bild eines Staates zu zeichnen, in dem sich die meisten Menschen in öden Jobs abrackern müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Wie konträr sich die hart arbeitende Bevölkerung und die Gangster gegenüberstehen, macht Thompson schon zu Beginn deutlich, wenn er Doc McCoy unter falschem Namen im Beacon City Hotel charmant mit großzügigen Trinkgeldern um sich werfen lässt, während ihm die Hotelangestellten unterwürfig jeden Wunsch von den Lippen abzulesen versuchen. 
Die Vorbereitung und die Durchführung des Banküberfalls nimmt in gebührender Kürze geschildet und bildet für Thompson nur die Ausgangssituation, nach der sich nicht nur McCoy und Torrento misstrauisch beäugen, sondern vor allem McCoy und Carol den Stand ihrer Ehe auf den Prüfstein stellen. Indem der Autor immer wieder geschickt die Perspektiven wechselt, macht er deutlich, aus welch unterschiedlichen Welten die beiden stammen. Carol wird beispielsweise als ehemalige Bibliothekarin beschrieben, die bei ihren spießigen Eltern in einem leblosen Zuhause lebte, einem leblosen Job nachging und in ihrem altjüngferlichen Dasein einigelte. McCoy ist dagegen durch und durch ein Verbrecher mit Leib und Seele. 
Die Spannung des gerade mal 220-seitigen Romans ergibt sich fast schon weniger aus der Frage, ob dem Paar die Flucht nach Mexiko gelingt, sondern ob die beiden das Ziel wohl gemeinsam erreichen oder ob einer der beiden lieber eigene Wege geht. Bemerkenswert ist zudem, wie Thompson das Verbrecher-Milieu mit dem des Arbeiter-Milieus vergleicht, mit einer ausgeprägten Arbeitsmoral, nach der Dinge einfach getan werden müssen, und einem Ehrenkodex, nach dem man Freunde nicht im Stich lässt. Dass das Verbrechertum allerdings auch nicht ein unbeschwertes Leben garantiert, müssen Thompsons Protagonisten auf die harte, oft tödlich endende Tour erfahren.


 

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 5) „Kalt wie dein Herz“

Mittwoch, 25. Mai 2022

(Diogenes, 512 S., Pb.) 
Auch wenn Dennis Lehane hierzulande vor allem wegen seiner erfolgreich verfilmten Romane „Mystic River“ (Clint Eastwood, 2003), „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ (Ben Affleck, 2007) und „Shutter Island“ (Martin Scorsese, 2009) bekannt geworden ist, gingen seine Bücher in seiner US-amerikanischen Heimat schlagartig häufiger über den Ladentisch, als Bill Clinton dabei gesehen wurde, wie er beim Aussteigen aus der Air Force One Lehanes Roman „Prayers for Rain“ in der Hand hielt. Es war der bereits fünfte, 1999 veröffentlichte Roman in der Serie um die Privatermittler Patrick Kenzie und Angela Gennaro, der hierzulande erstmals im Jahr 2001 unter dem Titel „Regenzauber“ erschien und nun in neuer Übersetzung von Peter Torberg als „Kalt wie dein Herz“ im Diogenes Verlag vorliegt. 
Im Februar empfing Patrick Kenzie zusammen mit seinem Kumpel Bubba die Klientin Karen Nichols, die sich von einem Stalker namens Cody Falk belästigt fühlte. Kenzie und sein schlagkräftiger Kumpel statteten Falk, der bereits einige Anzeigen wegen Körperverletzung und Vergewaltigung auf seinem Konto aufwies, einen Besuch ab, der zur Folge haben sollte, dass Falk Karen Nichols in Ruhe ließ. Alles schien in Ordnung zu sein, doch nach ungefähr vier Wochen hinterließ Nichols eine Nachricht auf Kenzies Anrufbeantworter, auf die sich der Privatermittler nicht zurückmeldete, weil er mit seiner gerade angesagten Liebschaft, der Rechtsanwältin Vanessa Moore, auf die Bahamas fliegen wollte. Monate später erfährt Kenzie aus dem Radio, dass seine frühere Klientin nackt von der Aussichtsplattform des Costum House in den Tod gesprungen ist. 
Als sich Kenzie vor allem aus Schuldbewusstsein mit den näheren Umständen von Nichols’ Tod befasst, stößt er auf die Nachricht, dass ihr Freund David Wetterau in der Rushhour bei Rot über eine Straße ging, stolperte und von einem Auto so unglücklich erfasst wurde, dass er seitdem im Koma liegt. Karen Nichols fiel anschließend in ein tiefes seelisches Loch, verlor erst ihre Arbeit, dann ihr Auto und schließlich auch ihre Wohnung, danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt, mietete sich ein Motelzimmer und verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. 
Für weitere Ermittlungen schließt sich Kenzie mit seiner alten Partnerin und Lebensgefährtin Angie Gennaro zusammen, die nach dem letzten desaströs verlaufenden Fall aus Kenzies Wohnung und Leben verschwunden ist, aber offenbar hängen die beiden noch sehr aneinander. Als sie Nichols‘ Mutter Carrie und Stiefvater Christopher Dawe aufsuchen, entfaltet sich allmählich das ganze Ausmaß der Tragödie, die mit einem Kindestausch begann und über den Tod von Karens Schwester über Erpressung führte. Dabei scheint auch Nichols‘ Psychiaterin Dr. Diane Bourne nicht ganz unschuldig gewesen zu sein, die nicht nur Beziehungen zu ihren Patienten und ihrem Sekretär Miles Lovell unterhielt, sondern auch vertrauliche Informationen durchsickern ließ. Schließlich stoßen Kenzie und Gennaro auf einen Psychopathen, der vor wirklich nichts zurückschreckt, um die Dawe-Familie zu vernichten. 
„Ich wusste nicht viel über ihn – wusste nicht, wie er hieß oder wie er aussah -, aber so langsam bekam ich ein Gespür für ihn. Es handelte sich, da war ich mir sicher, um den Mann, den Warren Martens im Motel gesehen und als denjenigen beschrieben hatte, der die Fäden in der Hand hielt. Er hatte Karen Nichols vernichtet, und nun hatte er Miles Lovell vernichtet. Seine Opfer einfach nur umzubringen schien ihn zu langweilen – stattdessen zog er es vor, sie in einem Zustand zurückzulassen, in dem sie sich selber wünschten, tot zu sein.“ (S. 249) 
Lehanes 1994 begonnene und sechs Bände umfassende Reihe um Kenzie und Gennaro zählt zu den besten Krimi-Serien überhaupt. Mit „Gone Baby Gone“ wurde der vierte und damit der „Kalt wie dein Herz“ direkt vorangegangene Roman von Ben Affleck mit Casey Affleck und Michelle Monaghan in den Hauptrollen auch erfolgreich verfilmt. An diese Qualität knüpft „Kalt wie dein Herz“ nahtlos an. Der Thriller thematisiert nicht nur die berufliche und vor allem private Annäherung der langjährigen Partner Kenzie und Gennaro, sondern auch einen besonders komplizierten Fall, in dem nicht nur munter mit falschen Identitäten gespielt wird, sondern Lügen, Mord, Entführung, Erpressung und Folter die Aufklärung des Falles in die Länge ziehen. 
Wie das aus Kenzie, Gennaro und dem skrupellosen Kriegsveteran Bubba Rogowski bestehende Trio die komplexen Zusammenhänge um Karen Nichols‘ Tod aufdröselt und den psychopathischen Täter systematisch in die Enge treibt, ist nicht nur packend mit sehr lebendigen Charakteren geschrieben, sondern auch mit der richtigen Portion Humor gewürzt. Das ist auch Peter Torbergs gelungener Neuübersetzung zu verdanken, der „Kalt wie dein Herz“ wie im Rausch durchlesen lässt. Besser kann Kriminalliteratur nicht sein! 

Ross Macdonald – (Lew Archer: 17) „Dornröschen“

Samstag, 9. April 2022

(Diogenes, 390 S., Tb.) 
Zwar hat Ross Macdonald (1915-1983) auch einige eigenständige Romane veröffentlicht (meist unter seinem Realnamen Kenneth Millar), doch berühmt geworden und damit in die Liga von Hardboiled-Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler aufgestiegen ist Macdonald durch seine 18 Bände umfassende Reihe um den empathischen Privatdetektiv Lew Archer. Der Diogenes-Verlag bringt Macdonalds einflussreiches Wirken durch neu übersetzte und mit je einem Nachwort von Donna Leon versehene Werke wieder verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit. Mit „Sleeping Beauty“ ist 1973 der vorletzte Band der langlebigen Reihe erschienen. Darin geht Archer einmal Verbrechen auf die Spur, deren Wurzeln lange in einer verwickelten Vergangenheit liegen. 
Privatdetektiv Lew Archer befindet sich gerade auf dem Rückflug von Mazatlán nach Hause, als er beim Landeanflug auf Los Angeles einen riesigen Ölfleck vor der Küste von Pacific Point entdeckt, unweit des verheerenden schwarzen Ölteppichs die dafür verantwortliche Bohrinsel. Wie Archer aus der Zeitung erfährt, gehört die Bohrinsel Jack Lennox, der verkündete, das Problem innerhalb der nächsten 24 Stunden aus der Welt geschafft zu haben. 
Da Pacific Point für den Detektiv einen seiner Lieblingsplätze an der Küste darstellt, fährt er nicht zu seiner Wohnung in West Los Angeles, sondern zum Strand, wo er eine junge Frau dabei beobachtet, wie sie einen ölverschmierten Vogel zu retten versucht. Archer nimmt sich der verzweifelten Frau an, die sich als Laurel Russo vorstellt und die Tochter von Jack Lennox ist. Doch kaum ist er mit ihr in seiner Wohnung angekommen, verschwindet sie spurlos – mit einer Flasche voller Schlaftabletten, die sie seinem Arzneischrank entnommen hat. Besorgt macht sich Archer auf die Suche nach Laurel und ruft schließlich ihren Mann an, den Apotheker Tom Russo, der Archer offiziell damit beauftragt, seine offenbar selbstmordgefährdete Frau zu suchen, von der er wieder einmal seit ein paar Wochen getrennt lebt. Archer klappert nach und nach die Menschen ab, die Laurel irgendwie nahestehen, ihre beste Freundin Joyce ebenso wie ihre Eltern Jack und Marian, ihre vermögende Großmutter Sylvia und Toms Cousine Gloria, die kurz davor steht, sich neu zu verheiraten, mit einem derzeit mittellosen Mann namens Harry. 
Besonders interessant entpuppt sich der Besuch bei dem ehemaligen Marine-Captain Benjamin Somerville, der nicht nur als stellvertretender Vorstand von Lennox’ Ölfirma fungiert, sondern mit dessen Frau Elizabeth sich Archer auf eine kurze Affäre einlässt. Für Somerville ist es bereits die zweite Katastrophe, für die er sich verantwortlich fühlt, nachdem er im Zweiten Weltkrieg sein Schiff Canaan Sound und viele Männer bei Okinawa durch einen Brand verloren hatte. Als für Laurel eine Lösegeldforderung über 100.000 Dollar eingeht, überschlagen sich die Ereignisse. Bei der Übergabe des Lösegeldes, das Sylvia Lennox bereitgestellt hat, wird John Lennox ebenso angeschossen wie der Entführer, hinter dem man Laurels früheren Bekannten Harold Sherry vermutet. Dann werden zwei weitere Männer ermordet aufgefunden … 
„Anstatt gleich loszufahren, saß ich eine Weile still in meinem Auto und blickte auf die Stadt hinaus, die sich wie eine leuchtende Landkarte bis zum Horizont erstreckte. Es war schwer, ihre sich ständig verändernde Bedeutung zu erfassen. All die Kringel, Punkte und Rechtecke verlangten, wie ein abstraktes Gemälde, nach Interpretation, und dazu war alles heranzuziehen, was die Erinnerung hergab. Der Gedanke an Laurel, die noch immer in diesem Labyrinth verschollen war, durchzuckte mich wie ein stechender Schmerz.“ (S. 326f.) 
Ross Macdonald schickt seinen engagierten Privatdetektiv Lew Archer ebenso wie seine Leser auf eine wilde Ermittlungs-Achterbahnfahrt, die ihren Ausgang zwar in einem Ölteppich hat, der sich vor der Küste von Pacific Point ausbreitet, vor allem aber in das verworrene Labyrinth einer Familie führt, die nicht erst durch die Katastrophe der Ölverschmutzung vor einer Zerreißprobe steht. Lew Archer muss sich die Puzzleteile der Familienverhältnisse mühsam zusammensuchen. 
Es scheint, als würde Macdonald seinen aufopferungsvoll um Aufklärung kämpfenden Detektiv innerhalb einer einzigen Nacht von Pontius zu Pilatus schicken. Aus den nicht immer aufrichtigen Fetzen der Interviews, die er mit den Mitgliedern der Russo- und Lennox-Familien führt, lassen sich nur schwer die Verantwortlichen ausmachen, für die Ölkatastrophe und das lang zurückliegende Schiffsunglück ebenso wie für die – möglicherweise nur vorgetäuschte – Entführung und die anschließenden Morde. Wieder einmal thematisiert Macdonald die Konflikte zwischen den Generationen innerhalb einer Familie, die Bürde, die Eltern ihren Kindern manchmal aufbürden, und die Kette von Ereignissen, die außereheliche Affären und Geldgier auslösen. 
„Dornröschen“ entwickelt sich nach etwas sperrigem Beginn mit dem Hopping von einem Interview-Partner zum nächsten zu einem echten Pageturner, sobald sich erahnen lässt, welch lang zurückliegende und dunkle Geheimnisse den neueren Verbrechen zugrunde liegen.  

John Irving – „Eine Mittelgewichts-Ehe“

Mittwoch, 6. April 2022

(Diogenes, 278 S., Tb.)
Der US-amerikanische Schriftsteller John Irving ist für seine oft skurril agierenden, manchmal auch körperlich deformierten und psychisch angeschlagenen Figuren bekannt, die sich in allerlei für den Normalbürger unvorstellbaren sexuellen Eskapaden hingeben. Das gelingt ihm meist so anschaulich, dass immerhin fünf seiner Werke (darunter „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“) sogar verfilmt worden sind. Mit seinem dritten, im Original 1974 veröffentlichten Roman „Eine Mittelgewichts-Ehe“ greift Irving mehrere seiner immer wiederkehrenden Topoi auf, erzählt von zwei Ehepaaren im Partnertausch-Modus und lässt dabei Ringer-Gewichtsklassen und andere Vergleiche aus dem Sport einfließen.
Die 1938 im österreichischen Eichbüchl in der Nähe von Wien geborene Anna Agathe Thalhammer hat eine traumatisierte Kindheit hinter sich. Als die Russen 1945 nach Österreich kamen, versteckte ihre Mutter sie in dem Körper einer ausgeweideten Kuh, wo sie nach einigen Tagen aber doch von einem georgischen Offizier gefunden und fortan „Utschka“ (Kuh) genannt wurde. Für den namenlosen Ich-Erzähler ist klar, dass „Utsch“, wie er sie abgekürzt zu nennen pflegt, aus demselben Grund verletzlich ist, aus dem sie stark ist. Sie ist ebenso in Wien aufgewachsen wie Severin Winter, dessen Vater wie Utschs Eltern während des Krieges starb. 
Die Tatsache, dass er einige Bilder seines verstorbenen Vaters besitzt, macht ihn mit Edith Fuller bekannt, die im Auftrag des Museum of Modern Art unterwegs ist, Gemälde zu erwerben, die die Sammlung abrunden. Sie erfährt, dass Severins Vater, Kurt Winter, während des Krieges seine Frau Katrina Marek mit einer Mappe voller erotischer Akte nach London geschickt hatte, wo sie eigentlich ihre Schauspielkarriere vorantreiben wollte, aber vor allem wegen der Akte, die Winter von ihr angefertigt hatte, als Modell engagiert wurde. 
Der mit Utsch verheiratete Ich-Erzähler, der nebenbei historische Romane schreibt, unterrichtet Geschichte am selben College wie Severin, der dort Deutsch unterrichtet und die Ringermannschaft trainiert. Die beiden Ehepaare lassen sich auf einen Partnertausch ein, schließlich scheinen die neuen Konstellationen sowohl in körperlicher Hinsicht als auch ihren Interessen nach besser zu passen. Doch als der Erzähler herausfindet, dass es dieses Arrangement wohl nicht gegeben hätte, wenn Edith ihren Mann nicht zuvor im Ringerkäfig mit einer lädierten Tanzlehrerin in flagranti erwischt hätte, verändern sich die Einstellungen der vier Beteiligten zu dem Partnertausch … 
„Ich sagte ihr, dass die schnellste Art, unsere Beziehung zu beenden, darin bestehe, unser Zusammensein als eine Art Provokation von Severin zu missbrauchen. Da schmollte sie mit mir. Ich wollte in diesem Moment sehr gern mit Edith schlafen, weil ich wusste, dass Utsch und Severin nicht konnten, aber ich erkannte, dass ihre Wut auf ihn sie wütend auf alles gemacht hatte und dass es unwahrscheinlich war, heute mit ihr zu schlafen.“ (S. 120) 
Irving nimmt sich in dem Roman viel Zeit, zunächst die Lebensgeschichten der Protagonisten aufzurollen, um ihnen ein Profil zu verleihen und eine Erklärung dafür anzubieten, warum sich die beiden Ehepaare auf einen Partnertausch einlassen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Winters ihre beiden Kinder, Dorabella und Fiodiligi, nach den weiblichen Hauptpersonen in Mozarts Oper „Così fan tutte“ benannt haben, in der das Thema Partnertausch auf eine ähnliche Weise inszeniert wird wie in Irvings Roman. 
In seinem dritten Roman nach „Lasst die Bären los!“ und „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ arbeitet Irving viel mit Ringer-Vokabular, benennt einige der Kapitel sogar nach den verschiedenen Gewichtsklassen und verortet den entscheidenden Auslöser für den Partnertausch passenderweise auch in einem Ringerkäfig. Irving springt in seiner Erzählung in der Chronologie hin und her, wechselt die Perspektiven, auch wenn sie stets von dem Ich-Erzähler wiedergegeben werden, und mit sichtlichem Vergnügen beschreibt er auch diverse erotische Episoden. 
Doch letztlich nimmt die Vergangenheit der Protagonisten mehr Raum ein als die gegenwärtigen Verwicklungen, die Dialoge wirken oft gekünstelt, so dass man als Leser eher zum Betrachter einer wissenschaftlichen Operation wird und so wenig Interesse an den Problemen und Leidenschaften der mehr oder wenigen skurrilen Figuren entwickelt.