(btb, 286 S., HC)
Mit seinen Romanreihen um die Kommissare Van Veeteren und Barbarotti hat sich Håkan Nesser auch außerhalb seiner schwedischen Heimat eine treue Fangemeinde aufbauen können. Auch wenn es vielleicht kein Alleinstellungsmerkmal darstellt, haben sich Nessers Romane nicht allein um die Aufklärung von Verbrechen gedreht, sondern sind stets tief in die Persönlichkeit der Figuren eingetaucht und waren doch wieder von einer einzigartigen Mischung aus philosophischen Betrachtungen und lakonischem Humor umwoben.
Sein neues Werk trägt den bereits wegweisenden Untertitel „Die Chronik des Adalbert Hanzon in Gegenwart und Vergangenheit, von ihm selbst verfasst“ und lässt mehr als nur erahnen, dass Nesser einmal mehr die konventionellen Krimi-Strukturen auf eigenwillige Weise umschifft.
Der dreiundsiebzigjährige Adalbert Hanzon verbringt seinen Lebensabend in einer nur kurz und anonym als M bezeichneten Stadt und hat verschiedene Methoden entwickelt, seinen Verstand gegen die Vergesslichkeit zu wappnen, indem er sich Sonntagabends eine Liste mit sieben Namen von Personen – samt Beschreibung auf der anderen Seite – erstellt, um sich dann jeden Morgen anhand der Beschreibungen an die Namen zu erinnern.
Zu den Höhepunkten seines Alltags zählen die regelmäßigen Besuche bei Henry Ullberg, der schräg gegenüber wohnt und mit dem er Whisky mit Trocadero-Limonade trinkt, Zigaretten raucht und oft genug heftig streitet. Sein Leben gerät allerdings völlig aus den Fugen, als er in der Apotheke seinen Nachschub an Samarin gegen sein Sodbrennen auffüllen will und auf einem der Stühle eine Frau wiederzuerkennen glaubt, die vor über vierzig Jahren die einzige Liebe in seinem Leben gewesen war und dann spurlos verschwand.
Natürlich traut sich Adalbert nicht, die Frau, die er als Andrea Altman kennt, anzusprechen, aber Gewissheit will er natürlich schon haben, also beauftragt er seine Cousine, im Schwimmbad nach einer Frau Ausschau zu halten mit einer Tätowierung „14/6“ über ihrer Brust. Sein Trinkkumpan schaltet sich ebenfalls eigenmächtig in Adalberts Ermittlungen ein, aber erst ein engagierter Privatdetektiv findet heraus, dass die Adresse mit der Frau heraus, die sich nun Beate Bausen nennt.
Adalbert Hanzon hat da längst angefangen, eine Chronik über die unverhoffte Wiederbegegnung mit seiner alten, großen Liebe zu verfassen. Dabei schweift er immer wieder in die Vergangenheit ab, rekapituliert wichtige Stationen seiner Kindheit und Jugend bis zur Anstellung als stellvertretender Schul-Hausmeister und der ersten Begegnung mit Andrea, die er als Anhalter kennenlernte. Die Einzelteile seiner Geschichte werden erst nach und nach enthüllt, vor allem die Gründe für seinen Gefängnisaufenthalt…
„Es reicht nicht, darauf zu warten, dass etwas geschieht. Hoffen mag ja groß sein, aber Handeln ist größer. Letzteres finde ich in dem Herbst in einem Buch. Die Handlung, die der Hoffnung den Taktstock abnimmt. Aber welche Handlung? Was muss ich tun? Bis jetzt, in all meinen achtundzwanzig Jahren, ist mein Leben von Zufällen gelenkt worden, ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Entscheidung von größerer Tragweite getroffen zu haben.“ (S. 175)
So kurios bereits der Titel „Der Halbmörder“ anmutet, so unbestimmt entwickelt sich auch die Geschichte von Adalbert Hanzon, der als älterer Herr ohne besondere Ambitionen seinen Alltag in der Kleinstadt M bestreitet und die beste Voraussetzung für den „unzuverlässigen Erzähler“ mitbringt, nämlich neben dem fortgeschrittenen Alter auch einen Hang nicht nur zu Hexenschüssen, sondern auch zur Vergesslichkeit.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Liebesgeschichte zwischen Adalbert und Andrea. Immer wieder springt der Ich-Erzähler zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bis sich – wenig überraschend – der Grund für seine Gefängnisstrafe enthüllt. „Der Halbmörder“ entpuppt sich als erstaunlich unspektakuläre Geschichte, die vor allem durch Nessers locker-flüssigen Schreibstil und die eingangs erwähnte Mischung aus philosophischen Erkenntnissen und manchmal sogar etwas schwarzem Humor geprägt wird. Davon abgesehen entwickelt sich Adalbert Hanzons Chronik als erschreckend vorhersehbar. Punkten kann „Der Halbmörder“ vor allem durch die stimmige Atmosphäre. Die eindringlichen Beschreibungen lassen die Empfindungen, Überlegungen, Hoffnungen und Ängste des Ich-Erzählers gut nachempfinden, doch für einen fesselnden Roman reicht das nicht aus.