Jim Thompson – „Gefährliche Stadt“

Freitag, 30. Juli 2021

(Diogenes, 240 S., Tb.) 
Ragtown ist eines dieser öden ehemaligen Viehtreiberkaffs im tiefsten Westen von Texas, wo einst Mike Hanlon mit seiner klapprigen Bohrausrüstung auf Öl gestoßen und zu Reichtum gekommen war. Mittlerweile sitzt der Ölbaron nach einem Unfall im Rollstuhl und ist Besitzer des vierzehnstöckigen Hanlon Hotels, zudem mit der attraktiven Joyce verheiratet, die er damals eigentlich als Empfangsdame einstellen wollte und der er gestattete, ihre Bedürfnisse auch anderweitig zu befriedigen, wenn es denn diskret vonstattengehe. Trotz des großzügigen Arrangements wird Hanlon den Verdacht nicht los, dass Joyce es auf mehr anlegt und ihn endgültig aus dem Weg räumen will. 
Mit seinem vagen Verdacht erreicht er bei dem vermeintlich korrupten Chief Deputy Lou Ford allerdings nicht viel. Als der mehrfach wegen Mordes und Gewalttätigkeiten verurteilte David „Bugs“ McKenna in die Stadt kommt, vermittelt Ford ihm eine Stelle als Hoteldetektiv bei Mike Hanlon, dessen Offenheit ihm sympathisch ist. Doch wie in seinem bisherigen Leben zieht McKenna auch hier die Probleme an. Er lässt sich nicht nur auf eine Affäre mit Joyce und der Hotelangestellten Rosalie Vara ein, sondern hat sich vor allem in die attraktive Lehrerin Amy Standish verguckt, die allerdings mit dem Chief Deputy liiert ist. 
Als der meist betrunkene Hotelmanager Westbrook Bugs ins Vertrauen zieht, dass er einen weiteren Hotelangestellten namens Dudley, den der Manager selbst für einen Job im Hotel empfohlen hat, verdächtigt, 5000 Dollar unterschlagen zu haben, soll Bugs dem Verdächtigen einen Besuch abstatten. Zu seinem Pech verunglückt Dudley in McKennas Anwesenheit tödlich, was den Hoteldetektiv nicht nur in Erklärungsnöte bringt, sondern auch eine Erpressung unbekannter Herkunft um gerade die 5000 vermissten Dollar. Bugs versucht, die Identität des Erpressers herauszufinden und weiß nicht, wem er noch trauen kann. Dabei hängt er trotz aller Schwierigkeiten an seinem Job … 
„Er wusste, dass es ihm schwer fallen würde, hier wieder wegzugehen. Ein Aufstieg in einen besseren Job wäre natürlich nicht schlecht, aber wenn das nicht ging, würde er sich auch nicht beklagen. Er würde ihm schon genügen, so weiterzumachen wie bisher. Und dazu war er fest entschlossen. Noch einmal würde er sich nicht unterbuttern lassen. Er würde bleiben. Irgendwie. Um jeden, wortwörtlich um jeden Preis.“ (S. 161) 
Zwei Jahre vor dem durch Sam Peckinpahs Kultverfilmung berühmt gewordenen Roman „The Getaway“ veröffentlichte Jim Thompson 1957 mit „Wild Town“ einen Krimi, in dem es ein Wiedersehen mit Sheriff Lou Ford gibt, dem Ich-Erzähler aus Thompsons vierten Roman „Der Mörder in mir“ (1952), allerdings spielt Ford hier nur eine – wenn auch undurchsichtige – Nebenrolle, die allerdings die Dinge für McKenna erst ins turbulente Rollen bringt. 
Noir-Ikone Thompson gelingt es einmal mehr, auf gerade mal 240 Seiten die Physiognomie einer Stadt zu umreißen, die durch Ölvorkommen über Nacht „einen Umfang wie eine Frau, die im achten Monat mit Drillingen schwanger geht“, bekam und allerlei zwielichtige Gestalten anzog. Von denen wimmelt es auch in „Gefährliche Stadt“. McKenna wird als Noir-typischer Antiheld eingeführt, der sein Leben lang mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist und auch kurz nach seiner Ankunft in Ragtown eingebuchtet wird, nur um von Deputy Sheriff Ford einen aussichtsreichen Job angeboten zu bekommen. 
Was die nachfolgende Handlung so spannend macht, sind die Menschen, mit denen McKenna folglich beruflich und privat zu tun bekommt. Ohne ersichtlichen Grund verdient er sich nicht nur die Gunst seines an den Rollstuhl gefesselten Bosses, sondern zieht auch ganz unterschiedliche Frauen an, doch gestaltet sich der jeweilige Umgang mit ihnen schwierig, bis McKenna nicht mehr weiß, was er von wem halten soll. Bis also die Umstände von Dudleys Tod und der verschwundenen 5000 Dollar aufgeklärt sind, tappen McKenna und mit ihm die Leser lange Zeit im sprichwörtlichen Dunkeln. Thompsons lakonischer Humor und seine präzise Sprache sorgen in diesem Wirrwarr der Gefühle und herrlich unmoralischen Fallstricken durchweg für prickelnde Unterhaltung. 

 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 17) „Keine Ruhe in Montana“

Sonntag, 25. Juli 2021

(Pendragon, 572 S., Pb.) 
Nachdem der 1936 in Louisiana geborene Schriftsteller James Lee Burke beim Bielefelder Pendragon Verlag seine deutsche Heimat gefunden hat, bemüht man sich dort, nach und nach die zum Glück nur noch wenigen Lücken in der schon legendär gewordenen Dave-Robicheaux-Reihe zu füllen. Mit der deutschen Erstveröffentlichung des 17. von mittlerweile insgesamt 23 Bänden um den charismatischen Detective aus dem New Iberia Parish präsentiert Burke ein weiteres Meisterwerk der Kriminalunterhaltung mit dem ihm typischem Südstaaten-Flair. 
Nachdem der Hurrikan Katrina in New Orleans eine vernichtende Schneise der Verwüstung hinterlassen hat, nimmt sich Detective Dave Robicheaux eine Auszeit und fährt mit seiner Frau Molly und seinem besten Freund, dem Privatermittler Clete Purcel, zum Fischen auf eine Ranch in Montana, die ihr Freund Alber Hollister dort besitzt. 
Als Clete, der von dort aus auf einen zweitägigen Trip zu Swan River Country aufgebrochen war, eines Morgens aus seinem Zelt steigt, wird er von zwei unangenehmen Zeitgenossen, Lyle Hobbs und Quince Wigley, darauf hingewiesen, dass er sich auf dem Privatbesitz von Ridley Wellstone befinde. Als sie seine Personalien überprüfen, stellen sie zudem fest, dass er früher als Fahrer für den Mafioso Sally Dio gearbeitet habe, der bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben kam. 
Doch nicht nur für Clete bedeutet der Trip nach Montana Ärger. Robicheaux wird von seinem Kollegen im Missoula County, Joe Bim Higgins, um Mithilfe bei den Morden an der Studentin Cindy Kershaw und ihrem Freund Seymour Bell gebeten. Es dauert nicht lange, da haben es Clete und Dave mit einer ganzen Reihe von unangenehmen Zeitgenossen und merkwürdigen Begegnungen und Ereignissen zu tun. Da findet der entflohene Häftling Jimmy Dale Greenwood unter neuem Namen einen Job bei Daves Freund Albert und wird von dem Gefängnisaufseher Troyce Nix verfolgt, den Greenwood fast tödlich verletzt hatte, nachdem ihn Nix vergewaltigt hatte. 
Greenwood, der ein begnadeter Gitarrist und Sänger ist, will mit Jamie Sue Wellstone durchbrennen, seiner ehemaligen Freundin und ehemals prominenten Country-Sängerin, die es in der Ehe mit dem völlig entstellten Leslie Wellstone nicht mehr aushält. Dass Clete mit der ebenfalls ermittelnden FBI-Agentin Alicia Rosecrans ins Bett steigt, macht die Sache nicht einfacher. Und schließlich mischt noch ein Fernsehprediger mit, der längst nicht so fromm ist, wie er es nach außen hin erscheinen lässt … 
„Unser Leben war untrennbar mit Gewalt und Blutvergießen verbunden. Wir hatten unsere Jugend in Vietnam verloren und ein Souvenir nach Hause gebracht, das uns Albträume bis ans Lebensende bescherte. Wir hatten aus der Vergangenheit nichts gelernt, sondern waren verdammt, unsere Fehler zu wiederholen. Dieser Parkplatz hier war vielleicht nur ein weiterer Zwischenstopp auf unserer deprimierenden Odyssee.“ (S. 370f.) 
Mit seinem 17. Band, der unter dem Originaltitel „Swan Peak“ bereits 2009 erschienen war, legt der mehrfach preisgekrönte Autor James Lee Burke ein ungewöhnlich handlungsintensives Krimi-Drama vor, das mit dem Mord an einem Studentenpärchen beginnt, aber sehr schnell weite Kreise zieht, in denen auch Cletes Vergangenheit mit dem Mafioso Sally Dio wieder aufgewärmt wird. 
Vor allem ist es eine weit verzweigte Geschichte um Sex, Gewalt, Korruption und Verrat, in der viele, oft undurchsichtige Typen mitmischen. Bei so vielen Nebenschauplätzen, die allerdings alle miteinander verknüpft sind, bleiben einige Figuren allerdings ziemlich auf der Strecke, vor allem Daves Frau Molly, aber auch die für Burke typischen atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen kommen etwas zu kurz. 
Dafür bietet er einen durchweg packenden Plot, bei dem zwar viele Zufälle für immer neue Konstellationen und Begegnungen führen, der aber den Leser bis zum furiosen Finale in Atem hält. 

Jim Thompson – „Es war bloß Mord“

Sonntag, 18. Juli 2021

(Diogenes, 246 S., Tb.) 
Joe Wilmot unterhält mit seiner Frau Elizabeth in der Kleinstadt Stoneville mit 7500 Einwohnern das größere von zwei Kinos, wobei ihnen auch das zweite, allerdings leerstehende Filmtheater gehört. Durch seinen geschickten, durchaus manipulativen Umgang mit seinem Vermieter Andy Taylor, den Filmverleihern, Konkurrenten und seinen Angestellten hat er das Kino zum erfolgreichsten Kleinstadtkino im ganzen Staat gemacht. Doch die Fassade eines erfolgreichen Unternehmers fängt an zu bröckeln, als Elizabeth, die Joe damals beileibe nicht aus Liebe geheiratet hat, mit der unscheinbaren Carol Farmer eine Haushaltshilfe einstellt, die eigentlich nicht notwendig ist. Gerade als Joe mit Carol eine Affäre beginnt, wird er in flagranti von seiner Frau ertappt. 
Joe kann nicht genau sagen, wann sein Leben die verkehrte Richtung einschlug, ob die Affäre mit Carol der Auslöser war oder schon die Tatsache, dass er das Kino seines Konkurrenten Bower dichtmachte oder er und Elisabeth nach der Heirat für sich je eine Versicherung über zwölftausendfünfhundert Dollar abschlossen. Möglicherweise lag die Wurzel allen Übels auch in Joes Aufenthalt in Waisenhäusern und Besserungsanstalten oder in der kriminellen Vergangenheit von Carols altem Herrn. Elizabeth will aber nicht die Scheidung, sondern schmiedet einen Plan, der ihr 25.000 Dollar einbringt, was exakt die Summe ist, die bei dem Unfalltod eines der Versicherten ausgezahlt wird. So wird ein Plan geschmiedet, bei dem Elizabeth spurlos untertaucht und ein Brand in dem Kino inszeniert wird, bei dem eine Frau von außerhalb ums Leben kommt, die für Elizabeth gehalten wird. Nach Auszahlung der Versicherungssumme würden sowohl Elizabeth als auch Joe mit Carol die Gelegenheit bekommen, ein ganz neues Leben anzufangen. 
Doch dann beginnen ihm nicht nur der Kinokettenbesitzer Sol Panzer, sondern auch sein Vermieter, der Filmverleiher Hap Chance und Appleton, der Mann von der Versicherungsgesellschaft, ordentlich zuzusetzen. Aber für Joe gibt es da schon keinen Weg mehr zurück. 
„Ich musste weitermachen. Ich musste den Wert des Barclay erhalten, damit ich mir Haps und Andys Schweigen erkaufen konnte. Wenn ich Schwein hatte, sprang am Ende doch noch was für mich raus. Wenn ich Pech hatte – nur ein klein wenig -, tja … Es war nicht gerecht. Es war verrückt. Dieser ganze Ärger, nur wegen einer Frau, die ich nicht kannte, nie gesehen hatte; einer Frau, die, wenn man’s richtig betrachtete, absolut nichts hermachte.“ (S. 130) 
James Myers „Jim“ Thompson (1906-1977) zählt heute zu den besten Noir-Krimi-Autoren, die das Erbe von Dashiell Hammett, Raymond Chandler und James M. Cain angetreten haben. Nach „Jetzt und auf Erden“ (1942) und „Fürchte den Donner“ (1946) war „Es war bloß Mord“ (1949) Thompsons dritter Roman und ein Paradebeispiel für die menschlichen Abgründe, in die sich der Autor mit seinen Romanen bewegte. 
Nicht eine Figur in „Es war bloß Mord“ erweckt beim Leser auch nur einen Hauch von Sympathie. Stattdessen darf man verfolgen, wie jeder und jede einzelne nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und dafür auch vor Mord nicht zurückschreckt. Erpressung stellt dabei noch das geringste Vergehen dar. Mit scharfzüngigen, knackigen Dialogen, die später auch Regisseure wie Stanley Kubrick (der Thompson an den Drehbüchern zu „Die Rechnung ging nicht auf“ und „Wege zum Ruhm“ mitwirken ließ) oder Schriftsteller wie Stephen King zu schätzen lernten, kreiert der zum Ende seines Lebens völlig verarmte Autor hier eine bitterböse Atmosphäre, die die Figuren schnurstracks ins Verderben rennen lassen. 
Die feinen Beobachtungen über das Studiosystem in Hollywood der 1940er Jahre und der lakonische Schreibstil macht „Es war bloß Mord“ zu einem kurzweiligen, düster-makabren Krimi-Vergnügen, das Thompson zwar noch nicht auf der Höhe seiner Schaffenskraft zeigt, aber beweist, wie sehr Habgier, Gewalt und Korruption bei Thompson in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt sind. 

 

Tom Franklin – „Wilderer“

Sonntag, 11. Juli 2021

(Pulp Master, 256 S., Tb.) 
Der in der Kleinstadt Dickinson, Alabama, geborene Tom Franklin hat kurz nach seinem Studium an der University of Southern Alabama in Mobile und dem 1998 erhaltenen Master of Fine Arts an der University of Arkansas mit „Poachers“ seine erste Sammlung mit Kurzgeschichten veröffentlicht, die 2020 vom Berliner Verlag Pulp Master unter dem programmatischen Titel „Wilderer“ auch hierzulande herausgebracht wurde und den Weg weist auf Franklins nachfolgenden Romane „Smonk“ und „Krumme Type, krumme Type“. 
In den zehn Geschichten widmet sich Franklin ausnahmslos und wie in seinen Romanen den Menschen am unteren Rande der Gesellschaft. Es sind die noch tief im Rassismus verwurzelten verkrachten Existenzen in Alabama, die eher schlecht als recht über die Runden kommen und entweder aus Zufall oder Not auf die kriminelle Spur gelangen. Mit dem Prolog „Jagdzeit“ gibt Franklin zunächst einen Einblick in sein eigenes Leben, in die Jugend, als er im Dezember mit seinem Bruder Jeff zu jagen ging, wie er im Alter von dreißig Jahren zu einem weiterführenden Studium nach Fayetteville, Arkansas, ging, aber sich stets in Alabama zu Hause fühlte, wo auch seine Geschichten spielen. 
„Mein Süden – der mir bis heute im Blut liegt und meine Vorstellungswelt bestimmt, der Süden, in dem diese Geschichten spielen – ist das südliche Alabama, üppig, grün und voller Tod, die waldreichen Countys zwischen dem Alabama und dem Tombigbee River.“ (S. 5) 
Nach diesem Einblick in das besondere Verhältnis zu seiner Heimat legt Franklin mit „Kies“ seine erste eindrucksvolle Geschichte vor, in der der zweiundvierzigjährige Glen als Geschäftsführer eines Kieswerks nördlich von Mobile von den beiden in Detroit lebenden Besitzern Ernie und Dwight angewiesen wird, der Zweimannnachtschicht zu kündigen. Für Roy Jones bedeutet das keinen Beinbruch. Schließlich verdient er als Buchmacher nicht schlecht nebenher, auch Glen steckt bei ihm mit über viertausend Dollar in der Kreide. Roy kann den halben Alkoholiker und notorischen Spieler Glen dazu überreden, mehrmals in der Woche schwarz Black-Beauty-Sandstrahlgut an einen „unabhängigen Abnehmer“ zu liefern. Roy hat zudem gute Verbindungen nach Detroit, ist über unangekündigte Besucher von Ernie und Dwight rechtzeitig informiert und versorgt diese mit Prostituierten und Alkohol, so dass sie sich im Kieswerk nur kurz blicken lassen. Doch als sich Glen nicht mehr von Roy bevormunden lassen will, findet er zunehmend Gefallen an dem Gedanken, selbst das Spiel von Intrigen, Gewalt und Korruption zu spielen … 
In „Shubuta“ beschreibt Franklin eine Welt voller stillgelegter Traktoren, trockener Felder, Häuser auf Betonhohlblöcken, erzählt von dem schwarzen Wassermelonen-Farmer Willie Howe, der sich durch das Auge schoss, weil seine Alte ihn verlassen hatte, von Onkel Dock, der seine fette Nachbarin dabei beobachtet, wie sie regelmäßig Besuch von einem dürren Hippie bekommt, mit dem sie auf der Veranda Joints durchzieht und ihn dann ins Haus bittet, um sich mit ihm zu vergnügen. „Die Ballade von Duane Juarez“ beschreibt der unscheinbare, mittellose und geschiedene Ich-Erzähler, wie sehr er seinen reichen Bruder Ned beneidet, der ständig die intelligentesten und hübschesten Frauen abschleppt. Als Ned ihm eines Tages eine Tüte mit einer silbernen Pistole und 22er-Patronen überreicht, sieht er die Chance auf ein besseres Leben für sich. 
Mit der abschließenden Titelgeschichte „Wilderer“, mit gut 80 Seiten die längste und stärkste Story, präsentiert Franklin ein packendes Southern-Noir-Drama, das von den drei Gates-Brüdern handelt, die zunächst einen Wildhüter töten, der sie beim Wildern erwischt hat, und dann nacheinander selbst unter mysteriösen Umständen sterben. Der alte Kirxy, Tankstellenbetreiber und Ladenbesitzer, hat sich stets als Ersatzvater für die Jungen betrachtet und glaubt, dass Frank David, der neue Wildhüter, für die Morde an den Gates-Jungen verantwortlich ist. 
Es ist eine harte, unbarmherzige Welt, in der Franklins Figuren ums Überleben kämpfen und unter psychischem oder finanziellem Druck schnell zu gewalttätigen und endgültigen Lösungen tendieren, die ihre Situation letztlich nicht verbessern. Franklin beschreibt nicht nur eindringlich die außergewöhnliche Natur, sondern zeichnet auch sehr fein die Charakterzüge seiner Figuren, die sich zwischen Spielschulden, Alkohol, Verbrechen, Krankheit, Einsamkeit und Prostitution aufreiben und früher oder später daran zugrunde gehen. Das gelingt dem Autor gerade mit der letzten Geschichte auf so unnachahmlich faszinierende und packende Weise, dass es bedauerlich ist, dass Franklin bislang so wenig veröffentlicht hat. Zuletzt erschien mit „Das Meer von Mississippi“ ein Roman, den er mit seiner Frau Beth Ann Fennelly geschrieben hat.  

Simon Beckett – (Jonah Colley: 1) „Die Verlorenen“

Donnerstag, 8. Juli 2021

(Wunderlich, 416 S., HC) 
Zwar veröffentlichte der in Sheffield geborene und lebende Schriftsteller Simon Beckett auch schon seit Mitte der 1990er Jahre einige Romane, doch erst mit „Die Chemie des Todes“, dem 2006 inszenierten Auftakt seiner Reihe um den Forensiker David Hunter, gelang Beckett der internationale Durchbruch. Nach fünf weiteren Hunter-Romanen und dem davon unabhängigen Bestseller „Der Hof“ markiert „Die Verlorenen“ nun den Beginn einer neuen Reihe des britischen Erfolgsautors. 
Vor zehn Jahren geriet das Leben von Jonah Colley, Mitglied einer bewaffneten Spezialeinheit der Londoner Polizei, völlig aus den Fugen, als sein damals vierjähriger Sohn Theo spurlos von dem Spielplatz verschwindet, den Colley mit ihm aufsuchte. Die Polizei vermutete, dass Theo durch ein Kanalgitter gerutscht und ertrunken sei, und schloss den Fall mangels weiterführender Hinweise ab. Über den Verlust ihres gemeinsamen Sohnes trennte sich Jonah von seiner Frau Chrissie, auch der Kontakt zu Jonahs bestem Freund Gavin McKinney - ebenfalls im Polizeidienst, aber in einer anderen Einheit – brach abrupt ab. 
Umso überraschter ist Colley, als sich Gavin nach so langer Zeit bei ihm meldet und um ein dringliches Treffen bittet, um Mitternacht am Slaughter Quay. Doch als Colley dort mit mulmigem Gefühl auftaucht, ist von seinem ehemals besten Freund nichts zu sehen, sein auf dem Boden liegender Dienstausweis und der unverkennbare Geruch von Blut lassen aber das Schlimmste befürchten. Tatsächlich findet Colley eine völlig entstellte Leiche, dann bei näherer Untersuchung der Umgebung drei weitere in Plastikfolie eingewickelte Körper. Bei einem der Plastikkokons entdeckt Colley sogar noch Lebenszeichen, doch erfährt er nur den Namen der Frau – Nadine -, bevor er selbst niedergeschlagen wird. 
Als Colley später im Krankenhaus wieder zu sich kommt und von Detective Inspector Jack Fletcher befragt wird, erfährt er, dass Gavins mutmaßliche Leiche verschwunden ist, die Frau nicht überlebt hat und die anderen beiden, männlichen Opfer ebenfalls noch nicht identifiziert werden konnten. Während Colley selbst in Verdacht gerät, etwas mit den Morden am Slaughter Quay zu tun zu haben, ermittelt Colley mit zertrümmerter Kniescheibe und Krücken auf eigene Faust. 
Er stellt fest, dass der damals 34-jährige, vielmals vorbestrafte Owen Stokes, den die Cops nach Colleys Beschreibung als Verdächtigen aus dem Park identifiziert haben, auch in den aktuellen Fall verwickelt zu sein scheint, denn offenbar haben Gavin und Stokes Kontakt miteinander gepflegt. Mit der Hilfe von Gavins ehemaligem Partner, dem abgehalfterten Ex-Detective Wilkes, versucht Colley, Hinweise auf Gavins Verwicklungen in die Morde am Slaughter Quay zu finden, doch erst die attraktive Journalistin Corinne Daly kann ihm Namen nennen, die Colley auf die richtige Spur bringen. Als er in einer geheimen Absteige von Gavin McKinney eine vollgestopfte Geldtasche entdeckt, fragt sich Colley, wie tief sein alter Freund wohl in diese Sache verwickelt gewesen ist … 
„Eine Dreiviertelmillion Pfund war ein handfestes Motiv. Es waren schon Menschen für weit weniger gestorben. Das ließ lauter neue und beunruhigende Schlussfolgerungen zu. Falls Gavin mit Stokes gemeinsame Sache gemacht hatte, war es dann nicht möglich, dass er dabei über irgendetwas gestolpert war, das ihn die Ereignisse vor zehn Jahren in einem neuen Licht hatte sehen lassen? Also etwas, das mit Theo zu tun hatte? Womit sich der Kreis schloss und Jonah erneut vor der Frage stand, warum ihn Gavin an jenem Abend angerufen hatte.“ (S. 253) 
Mit dem forensischen Anthropologen David Hunter hatte Beckett Mitte der 2000er Jahre einen Protagonisten geschaffen, der durch den Unfalltod seiner Frau und seiner Tochter schwer traumatisiert aus London wegzog, um als Assistenz eines Landarztes ein neues Leben zu beginnen. Sein neuer Seriencharakter Jonah Colley trägt eine ähnlich schwere Last mit sich herum. Dabei hat er nicht nur das Verschwinden seines Sohnes vor zehn Jahren, die Trennung von seiner Frau und das Ende seiner Freundschaft mit Gavin zu verkraften, sondern auch die Ungewissheit, ob Theo vielleicht noch lebt. Beckett mag dieser Hintergrund genügen, um seinem Helden eine tiefgründige Persönlichkeit zu verleihen, doch außer harten Fakten bekommt der Leser kein wirkliches Gefühl für Colleys seelische Nöte. Statt seinen Protagonisten sorgfältig einzuführen, legt Beckett gleich mit der Action los und lässt seine auf Dauer zunehmend überkonstruiert wirkende Geschichte auch eher vom Tempo als von psychologischer Tiefe bestimmen. 
So fällt es einem als Leser schwer, eine Beziehung zu Colley aufzubauen, und auch die Nebenfiguren, von dem trinksüchtig-schmuddeligen Ex-Cop über die attraktive Journalistin bis zu den skeptischen Ermittlern, wirken erschreckend eindimensional und wie ausgelutschte Klischees. Es ist einzig dem ausgeklügelten, nicht immer glaubwürdigen, aber mit durchgängig straffem Tempo inszenierten Plot zu verdanken, dass „Die Verlorenen“ nicht ganz in die Mittelmäßigkeit abrutscht. Für die Fortsetzungen ist auf jeden Fall sehr viel Luft nach oben.  

Tom Franklin – „Krumme Type, krumme Type“

Montag, 5. Juli 2021

(Pulp Master, 402 S., Tb.) 
Larry Ott, 41, ledig, lebt allein im Haus seiner Eltern im ländlichen Mississippi, kümmert sich um seine Hühner, betreibt eine schlecht gehende Werkstatt und besucht regelmäßig seine an Alzheimer erkrankte Mutter im Pflegeheim, die zunehmend weniger gute Tage hat als schlechte. Seit Larry vor 25 Jahren verdächtigt worden ist, für das Verschwinden von Cindy Walker verantwortlich gewesen zu sein, da er offenbar der Letzte gewesen war, der sie lebend sah, wird er vor allem „Scary“ Larry genannt und von allen Menschen gemieden. 
Als er eines Abends nach Hause kommt, steht ihm ein Mann mit einer Zombiemaske gegenüber und schießt auf ihn. Larry wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, fällt ins Koma, kommt aber durch. Chief French übernimmt die Ermittlungen, stellt einen Wachposten vor Larrys Krankenzimmer und hofft auf ein Geständnis, sobald Larry wieder ansprechbar ist, denn es scheint klar, dass der Mann, der sich offenbar selbst erschießen wollte, auch für das Verschwinden der kleinen Rutherford, der Tochter des Sägewerkbesitzers, vor acht Tagen verantwortlich gewesen ist. 
Nur Silas Jones, seit zwei Jahren – der einzige – Gesetzeshüter von Chabot, weiß, dass Larry Ott nicht der Täter gewesen sein kann. In ihrer Kindheit in den 1970er Jahren waren Larry und Silas nämlich so etwas wie geheime Freunde und so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Larry, weiß, dicklich, unsportlich und eine Leseratte mit einer besonderen Vorliebe für Stephen King, war der typische Nerd und Außenseiter, während der schwarze Silas ein grandioser Baseballspieler mit Zukunft ist, es aber mit seiner alleinerziehenden Mutter schwer hat, über die Runden zu kommen. Nur Silas und Larry wissen, was sie einander verbindet, doch gingen sie irgendwann getrennte Wege, behielten ihre jeweiligen Geheimnisse über die Jahre für sich. Doch als Silas bemerkt, dass nur er allein dafür sorgen kann, dass Larry nicht für zwei Morde belangt wird, die er nicht begangen hat, bringt er Klarheit in die Geschichte, während Larry unabhängig davon plant, seine Geschichte zu erzählen … 
„Larry beschloss zu reden, sobald French ins Krankenhaus käme. Erzählen, woran er sich erinnerte. Dass er zunächst eine Art Beschützerinstinkt gegenüber dem Mann empfunden hatte, der auf ihn geschossen hatte. Der sein Freund gewesen war. Aber er hatte ja auch geglaubt, Silas wäre sein Freund gewesen, oder? Vielleicht täuschte er sich ja, was das Wort Freund anging, vielleicht war er schon so lange von allen weggestoßen worden, dass er nur noch ein Schwamm für die Untaten war, die andere begingen.“ (S. 347) 
Schon mit seinem bei Heyne als Hardcover veröffentlichten Debütroman „Die Gefürchteten“ hat sich Tom Franklin als großartiger Erzähler in der Tradition von Cormac McCarthy, William Faulkner, Flannery O’Connor, James Lee Burke oder Joe R. Lansdale erwiesen. Nach „Smonk“ präsentierte er mit „Krumme Type, krummer Type“ einen vielschichtigen Kriminalroman über zwei Verlierer-Typen, die im rassistischen Milieu der Südstaaten der 1970er Jahre fast so etwas wie Freunde geworden wären, wenn die Umstände es erlaubt hätten. Franklin erzählt die Geschichte der beiden Männer aus unterschiedlichen Perspektiven, beleuchtet mal Silas‘, dann Larrys Geschichte, springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her, bis sich die Puzzleteile des Dramas allmählich zusammenfügen. Der Autor bleibt stets dicht bei seinen Figuren, charakterisiert sie mit all ihren persönlichen Facetten und entwickelt gerade in der sukzessiven Enthüllung der tragischen Nacht vor 25 Jahren einen Sog, der den Leser bis zum packenden Finale souverän in seinen Bann zieht. Es ist aber auch eine berührende Geschichte über Rassismus und die Art und Weise, wie Männer mit Geheimnisse umgehen. Kein Wunder, dass „Crooked Letter, Crooked Letter“ – so der Originaltitel - in Baden-Württemberg im Fach Englisch zum Abiturstoff zählt, Platz 1 der Krimibestenliste belegte und 2019 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde.  

Dave Zeltserman – „Paria“

Mittwoch, 30. Juni 2021

(Pulp Master, 370 S., Tb.) 
Als Kyle Nevin nach acht Jahren ohne Bewährung den Knast von Cedar Junction verlässt, kennt er vor allem nur ein Ziel: sich an Red Mahoney zu rächen, den irischen Mobster im „Southie“ genannten Süden Bostons, der keine Skrupel kannte, seinen Schützling ans FBI zu verpfeifen. Sein Bruder Danny holt ihn in einem verrosteten Honda Civic ab. Im Gegensatz zu Kyle, der seine volle Strafe für einen Bankraub absaß und niemanden verraten wollte, hatte sich Danny, der wegen einer Schutzgeldangelegenheit mit einem Nachtclub hopsgenommen worden war, auf einen Deal eingelassen, musste aber aus Southie wegziehen und sich von seinen alten Kumpels fernhalten. Nun rackert er sich auf dem Bau ab, haust in einem kleinen Apartment im Studentenviertel von Brighton, wo er mit seiner spaßbefreiten Freundin Eve lebt, die in Kyles Augen viel zu kleine Titten hat. 
Kyle lässt sich in seiner alten Kneipe Scolley’s ordentlich feiern und lernt dort mit Nola eines der heißen Mädchen kennen, die es auf harte Jungs abgesehen haben. Er wechselt von der Couch seines Bruders in Nolas schicke Apartment und plant, mit seinem Bruder eine Entführung durchzuziehen, die für beide so viele Millionen bringt, dass sie ausgesorgt haben. Doch das Opfer stirbt unerwartet, das FBI nimmt Kyle wegen der Entführung ordentlich in die Zange, kann aber letztlich nicht beweisen, dass er etwas mit der Entführung zu tun hat. Kyle schreibt einen langen Brief an die „New York Times“ und erregt mit dem Bericht über seine Erfahrungen mit dem FBI die Aufmerksamkeit eines New Yorker Verlags, der ihm einen Vorschuss von 600.000 Dollar für zwei Bücher anbietet. Der Hype, der sich daraufhin um seine Person in der Medienlandschaft entwickelt, überrascht Kyle und bringt ihm endlich seinem Ziel näher, Mahoney ausfindig zu machen und zu eliminieren … 
„Es gab einen Grund, warum ich den Knast ohne Probleme überstanden hatte und jetzt wieder frei war. Damit ich Red aufspüren und es ihm heimzahlen konnte. Es ging dabei nicht nur um mich, es ging darum, dass er unseren Kodex verhöhnt hatte und unser aller Leben. Und es sah danach aus, dass es nur auf diese Weise geschehen konnte, auf meine Weise.“ (S. 219) 
Der amerikanische Noir-Autor David Zeltserman hat mit Kyle Nevin einen herrlich diabolischen Schurken geschaffen, der in „Paria“ als Ich-Erzähler seine Erlebnisse seit der Entlassung aus dem Knast niederschreibt und dabei mit seinen „Anmerkungen für das Lektorat“ immer wieder auf fiktive Erhöhungen und Abweichungen hinweist, die Nevin noch selbstsüchtiger und -überschätzender erscheinen lassen, als es seine Lebensgeschichte an sich schon tut. Nevin gehört zu jenen Exemplaren von Menschen, die sich auch durch eine langjährige Gefängnisstrafe nicht eines Besseren belehren lassen, nicht für einen Hungerlohn einer anständigen Arbeit nachgehen, sondern gleich das große Geld kassieren wollen. 
Nevin vermag seine selbstsüchtigen Aktionen aber geschickt hinter einer Rache für den Verrat an Freundschaft, Loyalität und Ehre zu tarnen, so dass der Leser nicht umhin kann, den Protagonisten für seine moralisch zwar durchaus anrüchige, aber konsequente Haltung zu respektieren. Nevin kennt keine Tabus, nimmt sich einfach, wonach ihm gerade ist und macht kurzen Prozess mit den Leuten, die ihm irgendwie in die Suppe spucken. Wenn darunter ein unschuldiges Kind oder selbst sein eigener Bruder leiden muss – Pech gehabt, was soll’s? 
Allein durch Nevins Perspektive bekommt der Leser eine düstere Weltsicht vermittelt, in der es nur um den eigenen Erfolg, die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, um Ruhm, Geld und Anerkennung geht. Zeltserman bringt diese Geschichte äußerst knackig mit dem richtigen Gefühl für die Atmosphäre innerhalb des Bostoner Mobs zum Ausdruck und karikiert zum Ende hin auch noch das Medieninteresse, das so taffe Typen wie Nevin durch ihr großspuriges Verhalten auslösen. Vor allem die Art und Weise, wie Nevin „sein“ Buch an den Mann zu bringen versucht, darf auch als Kritik sowohl an die Sensationsgier des Publikums als auch der nach hohen Auflagen gierenden Verlage gelesen werden und sorgt für ein fast schon amüsantes Finale. 

 

Douglas Coupland – „Generation A“

(Blumenbar, 333 S., HC)
In einer Zeit, die unserer Gegenwart nur wenig voraus zu sein scheint, leben die Menschen ohne Bienen und Liebe, verfetten angesichts hochdosierter Fruktosesirupe, die aus Mais gewonnen werden, und befinden sich im seligen Entschleunigungsrausch, den ihnen die Droge Solon verschafft. Doch dann werden plötzlich fünf Menschen an ganz unterschiedlichen Orten der Welt jeweils von einer Biene gestochen: der auf Sri Lanka für Abercrombie & Fitch arbeitende Call-Center-Agent Harj, der im Mahaska County, Iowa, lebende Nacktmähdrescher-Fahrer Zack, der einen vier Hektar großen Schwanz mit Eiern in ein Maisfeld mäht, die Neuseeländerin Samantha, deren Eltern ihr gerade verkünden, dass sie an nichts mehr glauben, der in Paris lebende Julien, der den Verlust seiner World-Of-Warcraft-Identität betrauert, und die vierunddreißigjährige, am Tourette-Syndrom leidende kanadische Zahnhygienikerin Diana.
Natürlich entwickeln sich die Opfer der Bienenstiche zu einer viralen Attraktion. Um herauszufinden, warum nach fünf Jahren, in denen keine Biene mehr gesichtet worden ist, ausgerechnet diese fünf Menschen von Bienen gestochen wurden, werden Harj, Zack, Samantha, Julien und Diana in den Research Triangle Park nach North Carolina verfrachtet und in absoluter Abgeschiedenheit gründlich untersucht. Nach ihrer Entlassung beginnen die plötzlich berühmten Bienenstichopfer sich füreinander zu interessieren, um herauszufinden, ob sie etwas gemeinsam hatten, das den Wissenschaftlern entgangen war.
„Ich sah, dass jeder von uns auf seine Weise ein völlig isoliertes Leben führte. Ich glaube, dass die moderne Welt die Menschen voneinander trennt – dazu ist sie da -, aber es gibt zahllose Möglichkeiten, aus der Gesellschaft herauszufallen, das Leben jedes Einzelnen von uns jedoch wies im Moment des Gestochenwerdens eines auffällige Gemeinsamkeit mit dem der anderen auf: Es war ein Augenblick, in dem wir mit dem gesamten Planeten in Beziehung traten.“ (S. 150) 
Vor über fünfundzwanzig Jahren schrieb der in Vancouver lebende Douglas Coupland Geschichten über die Generation der 20- bis 30-Jährigen und ihrem Wunsch, ein interessantes Leben jenseits der Arbeitswelt zu führen, wobei sie für die ökologischen und ökonomischen Sünden ihrer Eltern büßen müssen, und nannte sie „Generation X“. Als Kurt Vonnegut 1994 bei einer Rede vor Absolventen der Syracruse University die Generation A als Anfang einer Reihe von spektakulären Errungenschaften und Reinfälle bezeichnete, fühlte sich Coupland inspiriert, einen Neuanfang zu wagen, aber auch mit dem Thema der Generationenbildung abzuschließen. 
Am Anfang seines Romans „Generation A“ steht allerdings das große Bienensterben, mit dem ein ökologischer Kollaps einhergeht, dem die Weltbevölkerung nur mit Eskapismus begegnen kann. Die mit hohem Suchtpotenzial ausgestattete Droge Solon nimmt den Konsumenten die Angst und lässt Einsamkeit als Ideal erscheinen. Auf einer einsamen kanadischen Insel kommen die fünf Bienenstichopfer schließlich zusammen, um sich selbst erdachte Geschichten zu erzählen, in denen Außerirdische Menschen züchten, die umso schmackhafter sind, je mehr Bücher sie gelesen haben, aber es geht vor allem um den Verlust von Sprache, um Menschen, die ihre Seelen, Geschichten und das Gefühl der Liebe verlieren. 
Gerade durch das Erzählen ihrer Geschichten einer merkwürdigen Welt bilden die fünf unterschiedlichen Individuen eine neue Gemeinschaft und so den Hoffnungsschimmer für eine neue Welt. Coupland erweist sich in „Generation A“ einmal mehr als visionärer Erzähler mit soziologischem Gespür und beißendem Humor. Bei allem Pessimismus, den Coupland einer Welt entgegenbringt, die sich eher in virtuellen Welten als in der richtigen bewegt, verliert er aber nicht die Hoffnung, dass die Menschen sich auf ihre ureigenen Qualitäten besinnen.  
Nachdem der Klett-Cotta-Imprint Tropen den Titel bereits 2010 veröffentlicht hatte, ist das im Original 2009 erschienene Buch nun bei Blumenbar wieder als Hardcover verfügbar gemacht worden.


Tom Franklin – „Die Gefürchteten“

Samstag, 19. Juni 2021

(Heyne, 416 S., HC) 
Mitcham Beat, Alabama, 1897. Um sich ihren ersten Besuch in einem Bordell leisten zu können, kommen die beiden bei der Witwe Gates aufgewachsenen Waisen und Teenager-Brüder William und Matt Burke auf die Idee, das nötige Kleingeld durch einem Überfall zu besorgen, doch dass sie dabei versehentlich den beliebten Ladenbesitzer und Lokalpolitiker Arch Bedole töten, lässt die ohnehin schwierige Situation in dem Landstrich außer Kontrolle geraten. Bedsoles Cousin Tooch macht wider besseres Wissen die Städter aus dem benachbarten Grove Hill für die Tat verantwortlich und gründet mit Hell-at-the-Breech einen Geheimbund, der die darin versammelten Farmer Rache an Bedsoles Tod nehmen lassen will. Wenn ein Farmer wie Floyd Norris jedoch aus familiären Gründen nicht dabei sein möchte, muss er sich zumindest verpflichten, den mit schwarzen Kapuzen umherziehenden Räubern auf Nachfrage ein Alibi zu verschaffen. 
Unter diesen Umständen gelingt es dem alternden und alkoholsüchtigen Sheriff Billy Waite kaum, die Verantwortlichen für den Mord sowohl an Bedsole als auch an dem Farmer Anderson auszumachen. Er reitet mit seinem treuen Pferd King in die Stadt, um sich bei seinem Cousin, den örtlichen Richter Oscar York, Rat zu holen. Doch der verfolgt seine eigenen Pläne, hat mit Ardy Grant bereits einen Nachfolger für Waite im Auge. Allerdings ist Ardy Grant nicht der, der er vorgibt zu sein. Während er als von York engagierter Privatermittler die Identitäten hinter dem Geheimbund herausfinden soll, richtet Grant bei seiner Mission ein regelrechtes Massaker an. Währenddessen muss Mack in Bedsoles Laden, den Tooch übernommen hat, die Schulden der Witwe abarbeiten und bekommt so heimlich mit, wie Tooch die Überfälle seiner Bande organisiert, zu der auch sein volljähriger Bruder gehört …
„Als er die schwefelige Luft roch, blieb er stehen. Wie lange war er schon nicht mehr hier gewesen, im Haus seiner Kindheit, bei der alten Frau, die sich dafür geopfert hatte, ihn und William großzuziehen? Als er ein Baby war, wie viele Nächte hatte sie durchgewacht, als er nicht atmen konnte, wie viele Stunden mit ihm geredet, ihm Geschichten erzählt, das Meer beschrieben? Und wie hatte er es ihr vergolten? Er hatte einen Mann getötet. Mack versuchte, sich Arch Bedsoles Gesicht vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Es sah nur Tooch vor sich, als versperrte der ihm die Sicht auf Arch.“ (S. 256) 
Nach seiner Kurzgeschichtensammlung „Poachers“ (1999), die erst 2020 im Berliner Pulp Master Verlag unter dem Titel „Wilderer“ veröffentlicht wurde, markierte „Hell at the Breech“ 2003 das Romandebüt des aus Alabama stammenden Schriftstellers Tom Franklin, das zwei Jahre später vom Heyne Verlag als Hardcover mit dem Titel „Die Gefürchteten“ erschien. Basierend auf dem Sachbuch „The Mitcham War of Clarke County, Alabama“ von Harvey H. Jackson III, Joyce White Burrage und James A. Cox, erzählt Franklin in seinem fesselnden Roman vom gewalttätigen Konflikt zwischen der armen Landbevölkerung und den vermeintlich reicheren Städtern in Alabama, wobei der versehentliche Mord an einem aufstrebenden Lokalpolitiker fast bürgerkriegsähnliche Zustände auslöst, die von dem rachsüchtigen Cousin des Toten und seiner von ihm ins Leben gerufenen Bande einerseits, von dem auswärtigen Killer Ardy Grant auf der anderen Seite befeuert werden. 
Raubüberfälle, Morde, Brandanschläge sind an der Tagesordnung und bringen nicht nur Sheriff Waite zur Verzweiflung, sondern entfremden die beiden Brüder Mack und William auch von ihrem Zuhause, das ihnen die Witwe Gates jahrelang gegeben hat, und voneinander. So finden sich alle Beteiligten in einer wachsenden Spirale der Gewalt wieder, die zum Finale hin fast schon groteske Züge annimmt. Franklin erweist sich als detailverliebter Chronist dieser von Rache, Misstrauen und Hass geprägten Atmosphäre im US-amerikanischen Süden zum Ende des 19. Jahrhunderts und verbindet auf gekonnte Weise eindringliche Landschaftsbeschreibungen und Spät-Western-Elemente mit einer ungewöhnlichen Coming-of-Age-Geschichte und einem starken Noir-Touch, wobei Gut und Böse bei den unterschiedlichsten Protagonisten kaum klar voneinander zu trennen sind. Auch wenn prominente Kollegen wie Richard Ford und Philip Roth ihrem Kollegen eine große Zukunft bescheinigt haben, blieb Franklin hierzulande ein weithin unbeschriebenes Blatt. Seine nachfolgenden Bücher sind in deutscher Übersetzung beim kleinen Berliner Verlag Pulp Master erschienen, bevor sein neues, mit seiner Frau Beth Ann Fennelly geschriebenes Buch „Das Meer von Mississippi“ wieder bei Heyne veröffentlicht wurde. Dabei bietet „Die Gefürchteten“ ähnlich packende Südstaaten-Literatur wie sie Cormac McCarthy, William Faulkner, Flannery O’Connor, James Lee Burke oder Joe R. Lansdale geprägt haben. Zu bemängeln sind nur die allzu häufigen Perspektivwechsel, die den Lesefluss immer wieder stören. 

 

Donal Ryan – „Die Stille des Meeres“

Sonntag, 6. Juni 2021

(Diogenes, 276 S., HC) 
Bereits mit seinen drei vorangegangenen, oft preisgekrönten Büchern „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“ und „Die Lieben der Melody Shee“ hat sich der 1976 geborene Ire Donal Ryan zu einer international gefeierten eigenständigen Stimme in der irischen Literatur entwickelt. Nachdem er mit seinem letzten Roman „Die Lieben der Melody Shee“ das Schicksal zweier Frauen erzählte, stehen in seinem neuen Werk drei Männer im Mittelpunkt, deren jeweilige Geschichten zunächst nacheinander in eigenen Kapiteln thematisiert werden, bevor sie im vierten und abschließenden Kapitel auf fast magische Weise zusammengeführt werden. 
Der syrische Arzt Farouk kommt schwer damit klar, dass seine Frau sich nicht verhüllt und sich so offensichtlich der Begierde anderer Männer zur Schau stellt, während seine Tochter bereits die westliche Kultur mehr als die eigene wertzuschätzen scheint. Als sich die Zeichen für einen Bürgerkrieg mehren, die Polizei zur Miliz wird und immer mehr bewaffnete Fremde das Stadtbild prägen, lässt er sich von einem Schleuser überreden, sich und seine Familie in Sicherheit bringen zu lassen, bevor seine Frau und Tochter vergewaltigt werden und er selbst getötet wird. Doch das Schiff, in das Farouks Familie mit anderen gut gekleideten Passagieren steigt, entpuppt sich nicht als das sichere Boot, das sie nach Europa bringt, sondern dockt auf dem Meer an einen alten Holzkahn an, wo die Passagiere die Überfahrt unter Deck verbringen sollen, bis der Sturm das Boot zwischen den Wellen zerschellen lässt. In Irland muss sich Farouk schließlich damit abfinden, ein neues Leben ohne seine Frau und Tochter zu beginnen. 
Der junge Laurence „Lampy“ Shanley lebt mit seiner Mutter Florence und seinem temperamentvollen Großvater Dixie in einer irischen Kleinstadt lebt, wo er als Busfahrer für ein Altenheim arbeitet und die Tatsache verkraften muss, dass seine Freundin Chloe mit ihm Schluss gemacht hat, weil sie in Dublin studieren will. Immerhin hat er mit Eleanor einen kurzfristigen Ersatz mit großen Brüsten aufgetan, begeht allerdings einen fürchterlichen Fehler, als er nach einer Panne den Bus wechseln muss. 
„Wie sollte er seinem Großvater klarmachen, dass er doch nur nach einem Ort suchte, an dem an einen Mann andere Maßstäbe angelegt wurden. Die nichts mit Geld oder Sport oder einer Straße in einer Stadt zu tun hatten. Oder war das überall gleich? Er wollte keine Vergangenheit haben, keine Adresse, er wollte einfach nur irgendein Ire sein.“ (S. 140) 
Das Trio ganz unterschiedlicher Männer wird durch den von Grund auf bösen John abgerundet, der sich schon bei der Beichte nicht an das Reuegebet erinnern konnte, obwohl er es wenige Stunden zuvor noch in der Schule gesungen hatte. Später sah er tatenlos zu, wie sein sechs Jahre älterer Bruder Edward zuhause nach der Hurling-County-Meisterschaft zusammenbrach und an einem Herzversagen verstarb. John setzte den Kindern in der Schule böse zu, verleumdete auch als Erwachsener Menschen, denen er nicht wohlgesonnen war, verfolgte als Lobbyist gnadenlos seine eigenen Interessen und die seiner Klienten, bis er selbst krank und reumütig wird … 
Im letzten, „Seeinseln“ betitelten Kapitel führt Ryan die drei Männerschicksale auf furiose Weise zusammen und findet auch dafür eine eigene Sprache, so wie er für die Geschichten seiner Protagonisten mit je einer eigenen Stimme erzählte. Ryan ist ein Meister darin, sein Publikum mit eindringlichen Schilderungen in die Psyche seiner Figuren hineinzuziehen. Hier sind es vor allem die auch kulturell unterschiedlichen Vorstellungen von Männlichkeit, die die Handlungen von Farouk, Lampy und John prägen und ihr Schicksal bestimmen, und so sehr sie auch an ihren moralischen Grundsätzen festhalten, hadern sie früher oder später mit der Unausweichlichkeit ihres Tuns. 
Donal Ryan ist mit „Die Stille des Meeres“ ein Buch gelungen, dessen Seelenfrieden, sehnsuchtsvoll verheißender Titel trügerisch wirkt, denn die Sehnsucht nach Erlösung bleibt für seine Protagonisten unerfüllt. 

David Pfeifer – „Patong“

Mittwoch, 2. Juni 2021

(Heyne Hardcore, 350 S., Pb.) 
Mit „Schlag weiter, Herz“ präsentierte der 1970 in Österreich geborene, in München aufgewachsene und dann nach Hamburg umgezogene Journalist und Autor David Pfeifer („Tempo“, „Stern“, „Vanity Fair“, „Süddeutsche Zeitung“) 2013 bei Heyne Hardcore sein Romandebüt, das dort nun um ein Vorwort von Bela B Felsenheimer (Die Ärzte) ergänzt unter dem Titel „Patong“ neu aufgelegt worden ist. 
Der in Thailand auf der Touristeninsel Phuket als Thaiboxer lebende Deutschtürke Mert Schulz erinnert sich an die schwierige Beziehung mit der Liebe seines Lebens, die er im Bus der Hamburger Boxauswahl kennengelernt hat, die auf dem Weg nach Schwerin zu einem Vergleichskampf gegen die Ukraine unterwegs gewesen ist. Nadja ist die Schwester von Felix Borau und fasziniert den 182 Zentimeter großen Schwergewichtler augenblicklich, doch er trifft sie erst im folgenden Herbst bei den Vorentscheidungen zur Hamburger Meisterschaft wieder, als er sich in Halbschwergewicht gehungert hat und nun gegen Nadjas Bruder antreten muss. 
Sie kommen über das Buch, Patrick Süskinds „Das Parfum“, das Nadja damals im Bus gelesen hatte, ins Gespräch, verabreden sich fürs Kino, halten bei „Braveheart“ schließlich Händchen. Sie beendet die Beziehung zum Versicherungskaufmann Holger und lässt sich auf eine Beziehung mit Mert ein, doch das Zusammenleben in der gemeinsamen Wohnung gestaltet sich schwierig. Während Mert darauf hinarbeitet, Profikämpfe zu boxen, damit er den Türsteher-Job im Hamburger Eck aufzugeben und das große Geld zu verdienen, etwas von der Welt zu sehen, versteht sich Nadja kaum selbst, liegt nachts oft wach und sieht sich außerstande, das zu artikulieren, was sie bewegt. Mert rutscht durch seinen Kumpel Stefan in die zwielichtige Welt der Kokser ab, versucht die zwischenzeitliche Trennung von Nadja durch besonders häufig wechselnde Sex-Kontakte zu kompensieren, nur um frustriert festzustellen, wie sehr sie ihm fehlt. 
„Sie hatten Zeit verschwendet, die sie nie wiederbekommen würden, und litten an einem Verlustschmerz, den sie nur mit Nähe lindern konnten. Mit der andauernden Versicherung, dass der andere da war. Sie klammerten sich aneinander, als würde einer von ihnen untergehen, wenn sie den Griff lockerten.“ (S. 255) 
Wie sehr David Pfeifer dem Boxsport verbunden ist, lässt der in Bangkok lebende Süd-Ost-Asien-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in „Patong“ früh heraushängen. Ausführlich schildert der Autor den Werdegang von Mert Schulz und Felix Borau, beschreibt akkurat die Trainingsabläufe, Taktiken, Kämpfe und die anschließende Erholung von den Verletzungen, so dass Leser, die so gar nichts mit dem Boxen anfangen können, Schwierigkeiten haben werden, dazwischen Interesse an der vertrackten Liebesgeschichte von Mert und Nadja zu entwickeln und am Ball zu bleiben. 
Pfeifer gelingt es allerdings recht gut, die Waage zwischen den Wettkämpfen und den Beziehungsquerelen zu halten, auch wenn nie so recht deutlich wird, warum der Boxer und die in sich gekehrte Leserin weder mit- noch ohneeinander können und Mert schließlich nach Thailand auswandern muss (nun gut, hier spielen auch seine halbkriminellen Aktivitäten für Stefan mit den Albanern eine Rolle). Auch wenn „Patong“ kein großer Sport-Roman ist und auch keine besonders originelle Liebesgeschichte präsentiert, liest sich der Roman flüssig weg. Pfeifer ist dabei vor allem die Darstellung des Boxer-Milieus großartig gelungen, was sich auch auf die Glaubwürdigkeit der männlichen Figuren überträgt. Nadja bleibt dagegen – wie ihre Schönheit - schwer zu fassen, weil ihre offenbar von Depression geprägten Gefühle und Gedanken längst nicht so deutlich artikuliert werden wie Merts. David Pfeifer macht diese Undeutlichkeit allerdings durch ein rasantes Erzähltempo, Zeitsprünge und eine klare, fesselnde Sprache wieder wett.  

Tom Franklin & Beth Ann Fennelly – „Das Meer von Mississippi“

Samstag, 29. Mai 2021

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)  
Tom Franklin ist hierzulande vor allem durch die in Frank Nowatzkis Verlag Pulp Master erschienen Werke „Wilderer“, „Smonk“ und das mit dem Deutschen Krimipreis 2019 ausgezeichnete „Krumme Type, krumme Type“ bekannt geworden, hat aber schon lange zuvor im Heyne Verlag 2005 seinen Roman „Die Gefürchteten“ veröffentlicht. Zusammen mit seiner Frau Beth Ann Fennelly, Autorin eines Sachbuchs und dreier Gedichtbände, legt er nun „Das Meer von Mississippi“ einen Roman vor, der vor dem realen Hintergrund einer fast vergessenen Naturkatastrophe aus dem Jahr 1927 eine temporeiche Abenteuer-, Krimi- und Liebesgeschichte erzählt. 
Damals ließ der titelgebende Mississippi mit einem Pegel von über sechzehn Metern etliche Dämme im gleichnamigen Bundesstaat brechen und überflutete siebzigtausend Quadratkilometer Hinterland. Im April 1927 werden die beiden Prohibitionsagenten Ham Johnson und Ted Ingersoll von ihrem ambitionierten Chef Herbert Hoover nach Hobnob Landing geschickt, wo sie zum einen die beiden seit zwei Wochen verschwundenen Kollegen Little und Wilkinson auffinden und zum anderen die dort ansässigen Schwarzbrenner entlarven. Getarnt als Ingenieure erschleichen sie sich das Vertrauen einiger Ortsansässiger und stellen schnell fest, dass Jess Holliver mehr als alle Offiziellen das Sagen in der Kleinstadt hat. Während Ingersoll das Baby von getöteten Plünderern in die Hände von Hollivers zweiundzwanzigjähriger Frau Dixie Clay übergeben will, die ihr eigenes Baby verloren hatte, bietet Johnson seine Unterstützung bei der Bewachung des Damms an, nachdem bekannt geworden ist, dass Saboteure sechsunddreißig Stangen Dynamik aus Armeebeständen entwendet haben. 
Die Dinge geraten außer Kontrolle, als sich Ingersoll und Dixie Clay ineinander verlieben und der Prohibitionsagent erfährt, dass Dixie und nicht wie vermutet ihr Mann die Destille führt, in der der beliebte Black Lightning Whiskey gebrannt wird. Johnson tötet einen der Saboteure lässt dessen Partner aber in einem Boot fliehen. Als Jesse Wind davon bekommt, dass seine Frau ihn offensichtlich mit einem anderen Mann betrügt, rastet er völlig aus und entführt mit seiner Geliebten Jeanette das Baby, das Dixie Clay so schnell in ihr Herz geschlossen hat. Für Ingersoll und Dixie Clay beginnt nun eine lebensgefährliche Odyssee über das überflutete Mississippi-Delta, auf der Suche nach dem Baby ebenso wie nach Ingersolls Partner … 
„(…) Ham war vielleicht tot. Ingersoll glaubte nicht daran, er war überzeugt, dass er es gespürt hätte – sicherlich würde die Welt sich anders anfühlen, irgendwie verarmt, wenn Ham Johnson nicht mehr darin lebte -, aber so oder so würde er diesen Ort nicht verlassen, ohne seinen Partner gefunden zu haben.“ (S. 360) 
Franklin und Fennelly haben für ihre Geschichte einen realen dramatischen Hintergrund aufgegriffen, dessen Flut die Handlung und die darin verwickelten Figuren unbarmherzig mit sich reißt und vorantreibt. In seiner eineinhalbseitigen Vorbemerkung fasst das Autorenduo kurz die erschütternden Fakten der Mississippi-Katastrophe von 1927 zusammen, bei der über dreihundertdreißigtausend Menschen von Dächern, Bäumen und Deichen gerettet werden mussten. Tatsächlich wird das Schriftstellerpaar seinem selbstgesteckten Anspruch mehr als gerecht, diese schreckliche Episode der amerikanischen Geschichte wieder ins kollektive Gedächtnis zurückzuholen, da es eindringlich die bedrückende Atmosphäre in Worte fasst, in der die Dämme brachen und die schlammigen, riesigen Wassermengen des Mississippi den meist armen Menschen ihr Zuhause und ihre wenigen Habseligkeiten weggerissen haben. 
In diesem hochdramatischen Rahmen wirkt die eigentliche Geschichte fast schon nebensächlich. Franklin und Fennelly fokussieren sich von Beginn an auf wenige Figuren, deren Persönlichkeit sich zunächst in Rückblenden offenbart wird, wie Jesse Holliver als Pelzhändler die erst dreizehnjährige Dixie Clay kennengelernt und drei Jahre darauf gewartet hat, sie zu heiraten. Nun, mit zweiundzwanzig, hat die junge Frau die Destille ihre Mannes übernommen, während Jesse dafür sorgt, dass der Alkohol unter die Leute kommt. Und von den beiden Prohibitionsagenten erfahren wir, dass sie sich auf den Schlachtfeldern in Frankreich während des Ersten Weltkriegs kennengelernt haben und zu Freunden wurden. 
Doch obwohl das Figurenensemble sehr überschaubar bleibt, versäumen es die Autoren, ihren Protagonisten Tiefe zu verleihen. Stattdessen wirken sowohl Jesse mit seinen unterschiedlich farbigen Augen und seinen Temperamentsausbrüchen mit seiner schlampigen Geliebten ebenso wie Klischees wie Dixie Clay als junge Frau, der das Schicksal übel mitgespielt hat und nun eine zweite Chance erhält. Mit dem Zusammentreffen von Dixie Clay und Ingersoll entfaltet sich die Geschichte in absolut vorhersehbaren Bahnen ohne echte Überraschungsmomente. Selbst die Liebesszenen zwischen Dixie Clay und Ingersoll fehlt es an Inspiration. 
Auf der anderen Seite machen Franklin und Fennelly diese Schwächen durch die jederzeit stimmige Southern-Noir-Atmosphäre wett, die die Leserschaft von Beginn an in den Bann zieht. Eindringlich beschreiben sie, wie die Flutkatastrophe das Leben und die Lebensgrundlagen hunderttausender Menschen bedroht und zerstört hat. Damit bewegen sie sich durchaus in den Gefilden von gefeierten Kollegen wie Joe R. Lansdale und James Lee Burke.  

John Grisham – „Der Polizist“

Sonntag, 23. Mai 2021

(Heyne, 672 S., HC) 
In seinem 1989 veröffentlichten Debütroman „Die Jury“ ließ John Grisham den jungen Anwalt Jake Brigance mit dem Schwarzen Carl Lee Hailey den Vater eines zehnjährigen Mädchens verteidigen, das brutal misshandelt und vergewaltigt wurde, worauf Hailey den geständigen Täter tötete. Über dreißig Jahre später lässt Grisham Brigance in einem ganz ähnlichen Fall die Verteidigung übernehmen. Diesmal nimmt er sich des sechzehnjährigen Drew Gamble an, der sich vor Gericht wegen des Mordes an dem Polizisten Stu Kofer verantworten muss. Kofer war zwar ein guter Polizist, betrank sich aber häufig, zettelte in Bars Schlägereien an und misshandelte auch seine Freundin Josie, der er mit ihren Kindern Kiera und Drew ein Zuhause gab. 
Als Stu eines Nachts nach einem seiner Saufgelage nach Hause torkelt, schlägt er Josie bewusstlos und schläft schließlich seinen Rausch aus. Als die verängstigten Kinder nach ihrer Mutter sehen und sie reglos auf dem Küchenfußboden finden, erschießt Drew den verhassten Mann mit dessen Dienstwaffe und ist beim Eintreffen der Polizei kaum ansprechbar. Sheriff Ozzie Walls nimmt den schmächtigen Drew fest, Richter Omar Noose beauftragt Jake mit der Verteidigung des Jungen, womit sich der ansonsten beliebte Anwalt in der Kleinstadt Clanton, Mississippi, nicht gerade beliebt macht. 
Vor allem Earl Kofer, der Vater des ermordeten Polizisten, fordert lautstark die Todesstrafe für den Jungen. Zusammen mit seiner schwarzen Assistentin Portia, die kurz vor der Aufnahme ihres Jura-Studiums steht, und seinen Freunden/Kollegen Harry Rex und Lucien Wilbanks, setzt Jake alles daran, dem Jungen die bestmögliche Verteidigung zu bieten und ihn möglichst vor der drohenden Todesstrafe zu bewahren. Dazu muss er allerdings vor der Jury die dunkle Seite des getöteten Cops offenlegen … 
„Er dachte an Drew und versuchte wieder einmal vergeblich zu definieren, was Gerechtigkeit bedeutete. Töten musste bestraft werden. Doch ließ es sich nicht manchmal auch rechtfertigen? Wie jeden Tag grübelte er darüber nach, ob er Drew aussagen lassen sollte. Um das Verbrechen rechtfertigen zu können, musste man den Angeklagten selbst anhören, die grauenvolle Situation heraufbeschwören, den Geschworenen deutlich machen, welche Panik im Haus herrschte …“ (S. 455) 
Mit Jake Brigance hat John Grisham ganz zu Beginn seiner Schriftsteller-Karriere einen ebenso sympathischen wie kämpferischen Pflichtverteidiger geschaffen, der fünf Jahre nach dem spektakulären Hailey-Prozess noch immer davon träumt, ein berühmter Prozessanwalt zu werden. Da er jedoch das Herz am rechten Fleck hat, übernimmt er weiterhin die Mandate für nahezu mittellose Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hat. Grisham erweist sich in „Der Polizist“ nicht nur als versierter Erzähler und Dramaturg, der einst das Genre des Justiz-Thrillers zu Bestseller-Form aufpolierte, sondern vor allem als Menschenfreund, der seinen Figuren bei all ihren offensichtlichen Schwächen die Sympathien entgegenbringt, um die Leserschaft auf die Seite des Angeklagten zu ziehen. Den an sich eindeutigen Fall eines Polizistenmordes versieht Grisham mit – wenn auch etwas überzogen wirkenden – derart ungewöhnlichen Umständen, dass sich auch der Leser fragen muss, ob in diesem Fall nicht eventuell der Mord an dem launischen und gewalttätigen Polizisten gerechtfertigt gewesen sein könnte. Das bedrohliche Klima, das in Clanton während des Prozesses herrscht, fängt Grisham ebenso überzeugend ein wie die gekonnt inszenierte Gerichtsverhandlung mit pointierten Dialogen und juristischen Feinheiten, dass es eigentlich unnötig ist, Jakes zweitem Prozess um eine Familie, die bei einem Bahnübergang in einen vorbeifahrenden Güterzug gefahren ist, weil die Warnleuchten nach Zeugenaussagen defekt gewesen sein sollen, größere Aufmerksamkeit zu widmen. 
Am Ende enttäuscht dieser „Smallwood“-Prozess, von dem sich Jake einen Befreiungsschlag für seine finanziell angeschlagene Kanzlei erhofft hat, so dass sich Grisham besser ganz auf den Gamble-Prozess hätte konzentrieren sollen. Mit „Der Polizist“ ist ihm aber auf jeden Fall ein durchweg packender Thriller gelungen, der Grishams Fähigkeiten voll zum Tragen kommen lässt und hoffentlich die eine oder andere Fortsetzung nach sich zieht. 

Lee Child – (Jack Reacher: 14) „61 Stunden“

Montag, 10. Mai 2021

(Blanvalet, 443 S., HC) 
Jack Reacher ist mal wieder unterwegs. An einer Raststätte zwischen Little Town on the Prairie und dem Dakotaland-Museum steigt er einem Bus zu, der eine Senioren-Reisegruppe aus Seattle auf Kulturreise zu Nationalparks, Prärien und Museen bis zum Mount Rushmore führen sollte. Doch in der Nähe der Kleinstadt Bolton, South Dakota, kommt der Bus von der verschneiten Fahrbahn ab, die Passagiere werden von der Polizei schließlich bei Privatleuten in Bolton untergebracht. 
Reacher erfährt, dass Bolton mit seinen über 12.000 Einwohnern deshalb größer ist als auf der Landkarte, weil es ein nagelneues Bundesgefängnis bekommen hat, an das das neue Staatsgefängnis angegliedert worden ist, so dass viele neue Jobs und Motels für die Besucher entstanden sind. 
Reacher kommt aber nicht dazu, die Zeit bis zur Weiterreise auszuspannen, sondern wird gleich vom überfordert wirkenden Polizeichef Holland eingespannt, nachdem er sich über dessen Hintergrund bei der Militärpolizei informiert hat. Die Polizei hat nämlich nicht nur den Mord an einem Anwalt aufzuklären, sondern auch die Kronzeugin im Prozess gegen den kleinwüchsigen mexikanischen Drogenboss Plato, die frühere Lehrerin und Bibliothekarin Janet Salter, zu beschützen. Holland und sein Stellvertreter, Andrew Peterson, rechnen damit, dass Plato jemanden nach Bolton entsandt hat, um die Kronzeugin auszuschalten, was durch einen Aufstand im Gefängnis ein leichtes Unterfangen wäre, denn der Notfallplan sieht vor, dass ausnahmslos alle Polizeikräfte beim Ertönen der Gefängnissirene dorthin auszurücken haben. 
Während Reacher zunächst die Gastfreundschaft von Peterson annimmt, zieht er am nächsten Tag ins gemütliche Haus der Kronzeugin um und versucht über seine Nachfolgerin beim 110th Special Unit in Rock Creek, Virginia, Susan „Amanda“ Turner, herauszufinden, was es mit der im Kalten Krieg erbauten und nun aufgegebenen Militäranlage auf sich hat, die überwiegend von Bikern benutzt wird. In den Tiefen dieser Anlage scheint das Geheimnis verborgen zu sein, warum es Plato nach Bolton zieht … 
„Vor Reachers Augen stand ein verrücktes Diagramm, das dreidimensional explodierte: Raum, Zeit und Entfernung. Überall in der Stadt waren Cops unterwegs, bewegten sich willkürlich nach Norden, Süden, Osten, Westen, fuhren auf Hollands Anweisung zur Polizeistation, hörten alle die Sirene, änderten sofort ihre Richtung, auch Salters sieben Bewacher stürzten in die Nacht hinaus, verstärkten die allgemeine Verwirrung, rasten in Richtung Gefängnis davon und ließen Janet Salter schutzlos zurück.“ (S. 351) 
Es ist immer wieder erstaunlich, wie Lee Child seinen mittlerweile auch im Film durch Tom Cruise verkörperten Protagonisten Jack Reacher aus der mittlerweile allzu vertrauten Grundsituation des ohne Gepäck reisenden Anhalters in ständig neue Ausnahmesituationen gerät, die er mit militärischer Präzision aufzulösen versteht. 
In seinem bereits 14. Abenteuer bietet die unter eisigen Temperaturen leidende Kleinstadt Bolton eine ungewöhnliche Kulisse für die Probleme, die Reacher zusammen mit Holland und dessen mutmaßlichen Nachfolger Peterson zu lösen hat, wobei der immer wieder von 61 Stunden runtergezählte Countdown unnötigerweise das Tempo vorgibt, bis Plato seine Operation nahe der stillgelegten Militäranlage vollendet. Ein überschaubares Ensemble, die Suche nach einem Verräter in den eigenen Reihen, die sogar leicht sinnlich aufgeladenen Telefonate zwischen Reacher und seiner Nachfolgerin und Platos Organisation reichen aus, um einen temporeichen, allerdings auch arg vorhersehbaren Plot zu kreieren, der einen immer wieder sensiblen, verletzlichen Reacher zeigt, der allerdings im richtigen Moment zu alter Durchschlagskraft zurückfindet. 
Am interessantesten gestaltet sich dabei die rein telefonische Kommunikation zwischen Reacher und Susan Turner, die auch sehr persönliche Aspekte zur Sprache bringt und in späteren Reacher-Romanen zum Glück ihre Fortsetzung findet.  

Peter Straub – (Blaue Rose: 4) „Der Schlund“

Sonntag, 2. Mai 2021

(Heyne, 812 S., Tb.) 
Der aus der Kleinstadt Millhaven, Illinois, stammende Tim Underhill schrieb nach seiner Entlassung aus der Army, für die er in Vietnam gedient hatte, in Bangkok einen Roman namens „The Divided Man“ geschrieben, in dem er die als „Blaue Rose“ benannte Mordserie in seiner Stadt fiktional verarbeitete. Während die Morde vor dreißig Jahren ungelöst blieben, hat Underhill in seinem Roman den Alkoholiker und Detective William Damrosch unter einem anderen Namen als Täter identifiziert. Schließlich wurde die Leiche des Detectives in seiner Wohnung gefunden, neben ihm ein Zettel mit den Worten „Blaue Rose“ auf seinem Schreibtisch. 
Zusammen mit Peter Straub schrieb er mit „Koko“ und „Mystery“ zwei weitere Bücher im Zusammenhang mit den „Blaue Rose“-Morden, womit das Kapitel für ihn abgeschlossen schien. Doch dann erreicht den seit sechs Jahren in New York lebenden Schriftsteller die Nachricht seines alten Bekannten John Ransom, der nach wie vor in Millhaven lebt und dem Autor von dem Überfall auf seine Frau April erzählt, die zusammengeschlagen wurde und nun im Koma im Krankenhaus liegt. Der Täter, der sein Opfer wohl tot wähnte, hatte über ihrem Körper die Worte „Blaue Rose“ an die Wand gekritzelt. Der Schriftsteller kehrt auf seinen Wunsch nach Millhaven zurück, erinnert sich daran, wie seine zwei Jahre ältere Schwester April im Alter von neun Jahren ermordet wurde, und auch an die ersten „Blaue Rose“-Morde zu jener Zeit. 
Zu den Opfern zählten eine sechsundzwanzigjährige Prostituierte, die beiden Männer James Treadwell und Monty Island sowie der Fleischer Heinz Stenmitz. Im „Ledger“ wurde der Zusammenhang zwischen Stenmitz und seiner Vorliebe für kleine Jungen mit Damrosch aufgedeckt, der ebenfalls als Pflegekind in der Fleischerfamilie zum Opfer wurde und sich offensichtlich später an ihm auf blutige Weise rächte. Für Underhill ist die Rückkehr nach Millhaven ebenso mit Furcht verbunden wie seine Zeit in Vietnam, und er hofft, durch seine Ermittlungen bei der Rückkehr des „Blaue Rose“-Mörders auch zu erfahren, wer damals seine Schwester getötet hatte. 
John Ransom lehrte wie sein Schwiegervater Alan Brookner am Arkham College, stand aber stets im Schatten des berühmten Religionswissenschaftlers, der geistig aber nicht mehr ganz auf der Höhe ist und gar nicht mitbekommen hat, was mit seiner Tochter geschehen ist. Mittlerweile scheint es erwiesen zu sein, dass Damrosch nicht Blaue Rose gewesen sein kann, denn die Blaue Rose ist nicht nur nach Millhaven zurückgekehrt, sondern tötet ihre Opfer an denselben Orten wie vor vierzig Jahren. Zusammen mit dem passionierten Privatermittler Tom Pasmore machen sich Tim Underhill und John Ransom auf die Spurensuche, die zu den Eigentümern des St. Alwyn Hotels ebenso führt wie zurück nach Vietnam … 
„Ein einziger Blick auf der Straße hatte mir einen Moment erschlossen, eine Reihe von Momenten, die ich vor vierzig Jahren in eine Truhe gesperrt hatte. Eine Kette nach der anderen hatte ich um diese Truhe geschlungen und sie dann in einen seelischen Brunnenschacht gestürzt. Seither hatte sie dort gegärt und Blasen geworfen. Zu den Gefühlen, die aus mir hervorbrachen, gehörte auch das Staunen - denn das war mir geschehen, mir, und ich hatte es absichtlich und für mich höchst verderblich völlig verdrängt.“ (S. 715) 
Mit „Der Schlund“ bringt Peter Straub nach „Blaue Rose“, „Koko“ und „Mystery“ sein Magnum Opus um die „Blaue Rose“-Morde zu einem spektakulären Abschluss. Noch mehr als die Vorgänger-Bände erweist sich das 1993 veröffentlichte 800-Seiten-Epos als immens komplexes Kriminaldrama, das ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt, dafür aber ein paar eindringliche Halluzinationen im Zusammenhang mit der Vietnam-Vergangenheit des Ich-Erzählers Tim Underhill zu bieten hat. 
„Der Schlund“ präsentiert sich auch deshalb so vielschichtig, weil es wie in den Film noirs der 1940er Jahre um ein raffiniertes Spiel mit Identitäten und Initialen geht, wobei der Film-noir-Klassiker „On Dangerous Ground“ am Ende sogar eine Schlüsselrolle spielt. Immer wieder scheint die Identität der Blauen Rose gelüftet worden zu sein, bis weitere Morde und Indizien auf einen anderen Täter verweisen. Wer erst einmal die etwas umständlich wirkende Einführung hinter sich hat, wird mit einem packenden, atmosphärisch dichten und extrem wendungsreichen Krimi-Drama belohnt, das zu den besten Werken aus der Feder des Horror-Autors („Geisterstunde“, „Der Hauch des Drachen“) zählt. 

 

Andrea De Carlo – „Margherita und der Mond“

Mittwoch, 28. April 2021

(Diogenes, 288 S., Pb.) 
Eigentlich wollte Margherita Malventi auf jeden Fall einen anderen Beruf als ihr faschistischer, von Gegensätzen wie Naivität und autoritärem Gehabe, aggressivem Auftreten und konventioneller Höflichkeit, Größenwahn und Depressionen geprägter Vater Achille ergreifen, doch letztlich ist sie genau in die Fußstapfen ihres etwas klein geratenen Vaters getreten, der einst als Sternekoch ein berühmtes Restaurant unter seinem Namen in Venedig geführt hatte, sich aber auf die falschen Leute einließ und sein Restaurant verlor. Die mittlerweile vierzigjährige Margherita führt ebenfalls ein kleines Restaurant in Venedig, hat sich aber entschlossen, auf ganz andere Weise zu kochen als ihr tyrannischer alter Herr. 
Mit ihrem Restaurant kommt sie gerade so über die Runden, der Beruf macht ihr Spaß. Allein die egozentrische Art der Männer in ihrem Leben bereiten Margherita Sorgen. Neben ihrem Vater, der sich so gar nicht für sie interessiert, lebt sie zwar mit ihrem Mann Luca in einer Wohnung, doch eben nebenher als mit ihm zusammen. Als ihr Vater zu einer Fernseh-Kochshow nach Mailand eingeladen wird, lässt sie sich darauf ein, ihn zu begleiten – einerseits als Abwechslung zu ihrem in Routinen erstarrten Alltag, anderseits hofft sie, durch den Trip ihrem Vater etwas näherzukommen. 
Doch die Hoffnungen werden schnell enttäuscht. Während ihr Vater über die aufgeblasenen Schaumschläger in den Fernsehkochshows herzieht und das für die Show verabredete Gericht beharrlich nach seinen speziellen Zutaten zubereiten will, entflieht Margherita der tristen Studioatmosphäre und rekapituliert einmal mehr in melancholischer Stimmung ihr bisheriges Leben. Das Theater, das ihr Vater schon während der Aufzeichnung der Kochshow abzog, setzt sich schließlich im Hotelrestaurant fort, als Margheritas Vater den Chefkoch wegen des völlig verhunzten Risottos zur Rechenschaft ziehen will. Dabei macht Margherita die Bekanntschaft des Franzosen Jules, der in ihr eine besondere Saite zum Klingen bringt und sie in wenigen Momenten schon besser zu kennen scheint als Luca oder ihr Vater es je könnten … 
„Was mich am meisten beunruhigte, war nicht etwa all das, was er über mich erraten hatte, sondern vielmehr das beunruhigende Gefühl, dass er wirklich wusste, wer ich war: dass er um mein Verhältnis zum Mond, zu meiner Arbeit und zu meinem Vater wusste. So schien es mir jedenfalls. Vielleicht war ich ja so sehr daran gewöhnt, dass Luca und meinem Vater jegliches Interesse an mir abging, dass ich den erstbesten Mann, bei dem das anders war, gleich außergewöhnlich fand …“ (S. 150) 
Drei Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung ist Andrea De Carlos Roman „Una di luna“ auch hierzulande in deutscher Übersetzung erhältlich. „Margherita und der Mond“ erzählt die Geschichte einer Frau, die stets im Schatten ihres einst berühmten Vaters stand und letztlich doch so von ihm geprägt wurde, dass sie nach wie vor in der Nähe ihrer Eltern lebt und ebenfalls Karriere als Köchin gemacht hat.  
Andrea De Carlo hat schon immer ein feines Gespür für die Psychologie seiner Figuren gehabt. In dieser Hinsicht stellt sein neuer Roman keine Ausnahme dar. Dass sich ein Großteil der Geschichte um das Kochen dreht, erlaubt dem wortgewandten Autor, mit unzähligen sinnlichen Ein- und Ausdrücken zu spielen, und zwar so eindringlich, dass man als Leser die beschriebenen Zutaten selbst auf der Zunge zu schmecken vermag. Während die Geschichte selbst eher unspektakulär und ohne große Überraschungen auf ein viel zu vorhersehbares Ende dahintreibt, entfaltet De Carlo das Innenleben seiner sympathischen Protagonistin in allen Facetten, macht dabei deutlich, wie Margherita sich zwischen den Männern in ihrem Leben zu behaupten versucht, ohne jedoch einen Hauch von Beachtung zu ernten. 
Während die Beziehungen zu ihrem Vater und zu Luca jedoch fein aufgedröselt werden, bleibt die von Zufällen und „Zaubern“ geprägte Bekanntschaft mit Jules eher an der Oberfläche, wirkt wie ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Stilistisch bleibt De Carlo auch mit seinem neuen Roman eine Klasse für sich, als Geschichtenerzähler hat er jedoch schon packender unterhalten.