(Rowohlt, 416 S., HC)
Mit seinem Sachbuch „The Rule of the Land: Walking
Ireland’s Border“ durfte sich der im irischen Donegal geborene Garrett
Carr rühmen, bei BBC Radio 4 ein „Book of the Week“ vorgelegt zu haben,
hierzulande ist der Dozent für Kreatives Schreiben an der Queen’s University
und Autor für „The Guardian“ und „The Irish Times“ noch gänzlich unbekannt. Das
wird sich allerdings mit seinem nun veröffentlichten Debütroman „Der Junge
aus dem Meer“ schnell ändern.
In der Donegal Bay leben die paar Tausend Männer, Frauen und
Kinder vor allem von der Fischerei. Sie arbeiteten hart, um ihre Hypotheken
abzubezahlen, Erstbesitzer eines Autos zu sein und den Kindern all das
mitzugeben, um später selbst eine Familie gründen zu können und ein Auskommen
zu haben. Das Leben in der Küstenstadt nimmt eines Freitagmorgens eine
eigenartige Wendung, als Mossy Shovlin mit einem Baby im Arm zur Filiale der
Ulster Bank bringt, wo er verkündet, dass der Kleine, den er in den Armen hält,
ein Geschenk aus dem Meer sei und in einem Fass gelegen habe. Der Fischer Ambrose
Bonnar erklärt sich schnell bereit, sich zusammen mit seiner Frau Christine des
niedlichen Babys anzunehmen. Sie nennen es Brendan und adoptieren es.
Doch
nicht alle sind von der wundersamen Ankunft des Babys entzückt, am wenigstens
Brendans zwei Jahre älterer Bruder Declan, aber auch Christines Schwester
Phyllis, die sich um ihren gemeinsamen, zunehmend pflegebedürftigen Vater
kümmert, sieht mit Besorgnis, dass sich Christine nur noch um Brendan kümmert
und die eigentliche Familie vernachlässigt. Vor allem Ambrose ist aber ganz
vernarrt in das Kind, was der Rivalität zwischen den Brüdern in den kommenden
Jahren neue Nahrung gibt. In dem Bemühen, es seinem Vater recht zu machen, verlässt
Declan schließlich die Schule und lässt sich auf dem Schiff seines Vaters zum
Fischer ausbilden. Brendan dagegen ist schon als Kind seine eigenen Wege
gegangen, ist durch die Gegend gestromert und hat Hausbesuche gemacht, um die
Menschen zu segnen.
„Tatsächlich war es so, dass viele von uns etwas Tiefergehendes spürten, wenn Brendan uns segnete, unter seiner Berührung wurde uns unsere eigene Bedeutungslosigkeit bewusst, wir waren Fässer, die im Meer trieben, doch zugleich hatten wir das Gefühl, dass hier eine wohlwollende Kraft am Werk sein könnte, eine hilfreiche Strömung, und das war tröstlich. Also ließen wir uns von ihm segnen, und eine Woche später dann vielleicht wieder.“
Doch als die Segnungen ihren Reiz einbüßen, sieht sich Brendan
gezwungen, sich einen eigenen Platz in der Gemeinschaft zu schaffen, die ihn so
wohlwollend aufgenommen hat…
Garrett Carr ist mit „Der Junge aus dem Meer“ ein
besonders einfühlsamer Roman über das Leben in einer irischen Küstenstadt
gelungen, in der durch die schicksalhafte Aufnahme eines Findelkindes die
besten und die schlechtesten Seiten in den Menschen hervorgekehrt werden. Aus
der Perspektive eines nicht ganz außenstehenden, aber mit den Ereignissen auch
nie direkt verbundenen Erzählers wird beschrieben, wie „der Junge aus dem Meer“
über zwanzig Jahre lang die Geschicke in Donegal beeinflusst, wie Familienbande
zerrüttet und wieder geflickt werden, wie viel Geld verdient wird, große Häuser
gebaut und Fischfangquoten mit immer größeren Schiffen gebrochen werden, wie Eifersucht,
Trauer, Fürsorge, Glaube, Hoffnung, Verzeihen und Liebe die Menschen
voneinander weg treibt, um sie dann wieder nur umso enger wieder
zusammenzuführen. „Der Junge aus dem Meer“ zieht den Leser bereits mit
den ersten Seiten in den Bann, da es der Autor versteht, mit ausdrucksvollen
Bildern die nicht nur physische, sondern auch die seelische Topografie von
Donegal zu beschreiben, wo das Herz der Menschen am Ende doch am rechten Fleck
zu sitzen scheint. Mit feinfühligen Charakterisierungen und deutlicher
Sympathie für seine Figuren ist Carr ein großer irischer Roman gelungen,
der stets den richtigen Ton trifft.