Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 16) „Die Rache des Uhrmachers“

Samstag, 28. Juni 2025

(Blanvalet, 480 S., HC)
Zwar hat der ehemalige Zeitungsautor und Rechtsanwalt Jeffery Deaver bereits Ende der 1980er Jahre das Schreiben zu seiner Hauptbeschäftigung gemacht, doch erst mit dem ersten, 1997 veröffentlichten und später von Phillip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie erfolgreich verfilmten Thriller „Der Knochenjäger“ dem US-Amerikaner der internationale Durchbruch. Auch wenn Deaver zwischendurch immer wieder für sich stehende Thriller und weitere Romanreihen veröffentlichte, stehen nach wie vor die Thriller um den seit einem tragischen Arbeitsunfall querschnittsgelähmten forensischen Ermittler Lincoln Rhyme und seiner Assistentin/Frau Amelia Sachs im besonderen Fokus. In dem mittlerweile 16. Fall für das ungewöhnliche Ermittler-Duo haben es Rhyme und Sachs erneut mit dem Uhrmacher zu tun, der ihnen seit „Der gehetzte Uhrmacher“ immer mal wieder das Leben schwer gemacht hat.
Vor vier Monaten ist ein Unbekannter in das New Yorker Bauamt eingebrochen und hat eine Vielzahl von digitalen Dokumenten zur Infrastruktur heruntergeladen – Baupläne, Grundriss und technische Zeichnungen – sowie einige Ausdrucke der Dateien mitgenommen. Bislang haben sich die Befürchtungen von NYPD und Homeland Security aber nicht bewahrheitet, dass hinter dem Diebstahl ein geplanter Terrorakt stehen könnte. Doch dann kippt aus zunächst unerklärlichen Gründen ein Kran auf einer Großbaustelle an Manhattans Upper East Side um, tötet einen Menschen und verletzt sechs weitere. Wenig später erhält der Bürgermeister eine E-Mail mit der Forderung an die Stadt, ein gemeinnütziges Unternehmen zu gründen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Solange die in der Mail erwähnten Liegenschaften nicht übertragen worden sind, wird New York City alle 24 Stunden einen verheerenden Unfall erleben. Vom Kommunalka-Projekt, dem Verfasser der Mail, hat noch niemand etwas gehört. Während die Polizei alle weiteren Großbaustellen in der Stadt und vor allem die installierten Baukräne unter strenger Beobachtung hält, gehen Rhyme und Sachs mit Hilfe des ambitionierten Nachwuchs-Forensikers Ron Pulaski u.a. der These nach, ob der oder die Täter die Grundstückspreise nach unten drücken wollen, um günstig an die interessanteren Projekte zu gelangen. Der Täter hat den Kran mit der äußerst aggressiven Flusssäure präpariert, die sich auch durch Beton frisst. Während der weiteren Ermittlungen gerät vor allem der Abgeordnete Stephen Cody in den Fokus, da dessen Text aus einem Positionspapier auf seiner Internetseite von den Erpressern zitiert worden ist. Für echte Beunruhigung sorgt allerdings die Tatsache, dass Charles Vespasian Hale alias der Uhrmacher in der Stadt ist und einmal mehr Lincoln Rhyme nach dem Leben trachtet…

„Läufer und Türme und Bauern … Ich sehe die Züge unserer Schachpartie, Charles. Sie erfolgen – wie stets bei dir – mit der Präzision eines Uhrwerks, ökonomisch und ohne zu zögern. Auf schwarze Felder und auf weiße Felder. Läufer und Türme und Bauern … Ein Feld, zwei, zehn … Doch was ich nicht verstehe, Charles, ist deine Strategie. Wie soll ich auf diesen oder jenen Zug reagieren, ohne im Mindesten zu wissen, wie du meinen König angreifen willst?“ (S. 232)

Jeffery Deaver erweist sich auch in seinem 16. Abenteuer mit Lincoln Rhyme und Amelia Sachs als routinierter Thriller-Autor, der mit einem sauber recherchierten, extrem durchstrukturiert, zum Ende hin aber auch übermäßig konstruiert wirkenden Plot überzeugt. Die ungewöhnliche Ausgangssituation mit den sabotierten Baukränen in New York City, die faszinierende Sammlung und Auswertung der Spuren und Beweise sowie die geschilderten technologischen Möglichkeiten, mit ausgefeilten Überwachungssystemen gefühlt jede Bewegung einer verdächtigen Person nachvollziehen zu können, sowie die wechselnden Perspektiven der Ermittler auf der einen und der Täter auf der anderen Seite sorgen für fesselnde Unterhaltung, bei der einzig die emotionalen Momente zu kurz kommen. In dieser Hinsicht geraten Rhyme und Sachs tatsächlich zu Nebenfiguren, denn ihre persönliche Beziehung wird überhaupt nicht thematisiert. Stattdessen rückt Ron Pulaski in den Vordergrund, der sich nach einem von ihm verschuldeten Unfall der Innenrevision stellen muss und um seine berufliche Zukunft als möglicher Nachfolger von Lincoln Rhyme bangt. Dafür überzeugt die wendungsreiche Handlung, bei der der Uhrmacher erneut zu großer Form aufläuft.

Don Winslow – (Boone Daniels: 1) „Pacific Private“

Dienstag, 24. Juni 2025

(Suhrkamp, 396 S., Tb.)
Bevor Don Winslow seit Mitte der 2000er Jahre zunächst mit der Kartell-Trilogie („Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Jahre des Jägers“), der Danny-Ryan-Reihe („City on Fire“, „City of Dreams“ und „City in Ruins“) und Romanen wie „Zeit des Zorns“ und „Kings of Cool“ zu einem der prominentesten Thriller-Autoren avancierte, bewies er bereits mit der Reihe um Neal Carey und anderen Werken, dass er thematisch und stilistisch breit aufgestellt ist. Das demonstrierte vor allem auch die 2008 veröffentlichte Roman „Dawn Patrol“, der eine packende Krimi-Handlung in der Surferszene von Kalifornien einbettete.
Pacific Beach, Kalifornien. Hier warten die Mitglieder der sogenannten „Dawn Patrol“ – Boone Daniels, Hang Twelve, Dave the Love God, Johnny Banzai, High Tide und Sunny Day – auf die große Wellenfront, eine Brandung, wie sie nur alle zwanzig Jahre vorkommt. Doch der Ex-Cop Boone Daniels, der zwar für sein Leben gern surft, aber auch als Privatdetektiv seinen Lebensunterhalt zu verdienen versucht, muss seine Lieblingsbeschäftigung stark einschränken, als er von der attraktiven Anwältin Petra Hall, deren Kanzlei den Stripclub-Besitzer Dan Silver vertritt, der außerdem noch eine Reihe von Lagerhäusern besitzt, von denen eins kürzlich abgebrannt ist. Das Versicherungsunternehmen will nicht zahlen, weil es von Brandstiftung ausgeht, denn Tammy Roddick, eine von Silvers Tänzerinnen, mit denen er ein Verhältnis unterhielt, will gesehen haben, wie Silver selbst das Lagerhaus abgefackelt hat. Doch bevor Tammy vor Gericht aussagen kann, wird ihre Leiche an einem Hotel-Swimming-Pool aufgefunden, nachdem sie aus unerklärlichen Gründen vom Balkon gestürzt war. Die Tote wird allerdings nicht als Tammy identifiziert, sondern als ihre Freundin Angela Hart. Als Boone zusammen mit der Anwältin die Umstände von Angelas Tod und dem Verbleib von Tammy auf den Grund geht, stößt er auf einen Ring von Mädchenhändlern…

„Was ich gesehen habe, denkt Boone. Ich habe die Welt von einer Welle heraus gesehen, das Universum in einem einzigen Wassertropfen. Sie haben keine Ahnung von der Welt da draußen. Bald wird die Sonne aufgehen, die Dawn Patrol wird rauspaddeln, die großen Wellen angehen, Sunny wird ihre Chance nutzen. Er wäre gern mit ihnen da draußen, wäre gern für immer und ewig dort draußen. Aber es gibt Sonnenaufgänge, die man alleine beobachten muss.“ (S. 354)

„Pacific Private“ – so der etwas unglückliche deutsche Titel von „Dawn Patrol“ – ist alles andere als ein klassischer Kriminalroman. Don Winslow nimmt sich nicht nur viel Zeit, um die Hintergründe der Dawn-Patrol-Mitglieder, die Beziehung zwischen Boone und Sunny und natürlich die Untersuchung zum Mord an Angela Hart und das Auffinden der verschwundenen Zeugin Tammy Roddick zu beschreiben, sondern er rekapituliert auch minutiös, wie die kalifornische Küste zum Surferparadies avancierte, woran nicht nur gewiefte Immobilienspekulanten, sondern auch Brian Wilson und die Beach Boys großen Anteil hatten. Wer also nur eine spannende Krimihandlung erwartet, könnte angesichts der unterhaltsam aufbereiteten Hintergrundgeschichte gelangweilt sein. Aber wer Don Winslow als stilistisch großartigen Erzähler schätzt, wird an der authentisch vermittelten Atmosphäre ebenso seinen Spaß haben wie an der bedrückenden Krimihandlung. Ein Jahr später folgte mit „Pacific Paradise“ sogar noch eine Fortsetzung. 


Stephen King – „Kein Zurück“

Montag, 23. Juni 2025

(Heyne, 640 S., HC)
Über die Jahre hat sich Stephen King offensichtlich etwas in seine Figur Holly Gibney verliebt. Als Privatermittlerin in der von Bill Hodges geleiteten Agentur Finders Keepers spielte sie zunächst in der Bill-Hodges-Trilogie (bestehend aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“) zunächst eine sympathische Nebenrolle, ehe sie eine prominentere Rolle in „Der Outsider“ und in der Titelgeschichte der Kurzgeschichtensammlung „Blutige Nachrichten“ einnehmen durfte. 2023 nahm die hochbegabte Ermittlerin in „Holly“ die ungeteilte Hauptrolle ein. Nun hat Holly Gibney in Stephen Kings neuen Roman „Kein Zurück“ die nicht leichte Aufgabe, als Bodyguard für eine feministische Rampensau zu fungieren, während ein Serienkiller ihre Freundin Izzy auf Trab hält.
Als Detective Isabelle „Izzy“ James zu ihrem Vorgesetzten gebeten wird, überreicht dieser ihr einen Brief, in dem ein gewisser Bill Wilson ankündigt, für den Tod eines unschuldig Verurteilten 13 Unschuldige und einen Schuldigen zu töten. Offenbar ist mit dem Unschuldigen Alan Duffrey gemeint, den zwölf Geschworene der Kinderpornographie für schuldig befanden, worauf Duffrey im Knast niedergestochen wurde. Später gestand sein an Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium leidender Arbeitskollege, Duffrey die belastenden Pornomagazine untergeschoben zu haben, um sich dafür zu rächen, dass Duffrey statt seiner befördert worden war. Dass der Briefeschreiber keinen Scherz gemacht hat, beweist er mit dem Mord an einer unbescholtenen Frau - in ihrer Hand fand die Polizei einen Zettel mit dem Namen einer Geschworenen, die an der Verurteilung eines Unschuldigen beteiligt war. Izzy zieht ihre Freundin Holly Gibney zurate, die den Fall höchst interessant findet, aber selbst alle Hände voll zu tun hat. Die Feministin Kate McKay, die von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht, um in großen Hallen gegen Abtreibungsgegner zu wettern, ist zur Zielscheibe radikaler Kirchengruppierungen geworden, und nachdem ihre Assistentin Corrie Anderson bereits Opfer zweier Attacken geworden ist, nimmt Holly die Stelle als Bodyguard für den egozentrischen Medienstar an. Als McKay in der Halle auftreten soll, in der auch die Soulsängerin Sista Bessie ihr Comeback feiert, bahnt sich eine Katastrophe an…

„Sie muss daran denken, wie ein Irrer namens Brady Hartsfield versucht hat, genau diesen Saal in die Luft zu sprengen. Dem alten Spruch, dass der Blitz nie zweimal an derselben Stelle einschlägt, traut sie absolut nicht, aber was kann sie machen? Nicht zum ersten Mal hat sie den Eindruck, von den Ereignissen einfach mitgerissen zu werden.“ (S. 424)

Obwohl er vor allem als Meister des übernatürlichen Horrors gilt, was er Werken wie „Carrie“, „The Stand“, „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Brennen muss Salem“ zu verdanken hat, wird Stephen King längst einfach als glänzender Erzähler geschätzt, der gerade in den Romanen mit Holly Gibney auch auf klassische Horrorelemente verzichtet. Schließlich bietet der Alltag in dieser Zeit so viel Grauen, dass ein Autor wie Stephen King, der stets das Zeitgeschehen im Blick hat und dieses mit seinen Romanen auch reflektiert, keine übernatürlichen Gruselszenarien beschwören muss, um seine Leserschaft zu fesseln. „Kein Zurück“ präsentiert sich als klassische Kriminalgeschichte mit zwei zunächst parallellaufenden Plots und zwei weiteren Nebenschauplätzen. Im Mittelpunkt stehen die sogenannten „Stellvertretermorde“ eines Mannes, der durch die harte Erziehung seines Vaters auf Abwege geraten ist, und die religiös motivierten Taten eines Mannes, der den Verlust seiner Schwester auf ganz eigene Art zu verarbeiten versucht. Unnötig aufgebläht wird das Ganze durch einen Sportwettkampf zwischen der Feuerwehr und der Polizei und dem Auftritt von Sista Bessie, was „Kein Zurück“ auf stolze 640 Seiten anschwellen lässt. Es braucht nicht viel, um „Kein Zurück“ als Kommentar auf sowohl religiöse Fanatiker als auch engstirnige Populisten zu verstehen, die momentan auf der ganzen Welt für politischen und gesellschaftlichen Zündstoff und blutige Kriege sorgen. Das ist durchaus spannend zu verfolgen, bleibt aber zu sehr an der Oberfläche, um nachhaltig überzeugen zu können. Die Charakterisierungen sind - für King ungewöhnlich – nämlich recht klischeehaft ausgefallen. King selbst führt seine Hüftoperation im September 2023 an, dass er den Roman mehrmals umschreiben musste.

Benjamin Myers – „Strandgut“

Dienstag, 17. Juni 2025

(DuMont, 288 S., HC)
Mit seinen allesamt bei DuMont veröffentlichten Romanen „Offene See“, „Der perfekte Kreis“, „Der längste, strahlendste Tag“ und „Cuddy – Echo der Zeit“ hat der nordenglische Schriftsteller und Journalist Benjamin Myers bereits eine Vielzahl von deutschen Lesern begeistert und mittlerweile auch die SPIEGEL-Bestsellerlist erobert. Nun erscheint mit „Strandgut“ ein neuer Roman des Briten, der sich einmal mehr sehr überzeugend in das Innenleben seiner Figuren einzufühlen versteht.
Earlon „Bucky“ Bronco hat mit seinen siebzig Jahren eigentlich nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt. In seinen Jugendjahren hatte er als Soulsänger zwei Singles – „Until the Wheels Fall Off“ und „All the Way Through tot he Morning“ - aufgenommen, dann seine große Liebe Maybell kennengelernt, doch dass sein vielversprechender Bruder Cecil ungerechterweise eine lange Haftstrafe abbüßen musste und seine geliebte Maybell im vergangenen Jahr aus dem Leben schied, brach Buckys Lebenswillen. Nun verbringt er seine schmerzerfüllten Tage – sehnsüchtig erwartet er nur „die goldene Stunde“, die ihm durch die Opioide gegen seine unerträglichen Hüftschmerzen geschenkt wird – zwischen Bett und Walmart-Apotheke. 
Doch während er in Chicago auf das Ende seines Leidens wartet, erreicht ihn die Einladung zu einem Soul-Festival im englischen Scarborough. Im Gegensatz zu seiner Heimat, wo Buckys vier aufgenommenen Songs längst vergessen sind – die zweite Single hat es nicht mal über das Stadium einer Testpressung hinaus geschafft -, sind die seltenen Singles hochgehandelte Sammlerstücke, Bucky selbst eine Legende, die den Höhepunkt des Weekenders an der britischen Küste bildet. Nach seiner Ankunft auf dem Flughafen in englischen Yorkshire wird der „King of Soul“ von der Mittfünfzigerin Dinah empfangen, die ihn über das Wochenende in Scarborough begleitet. 
Die melancholische, aber auch begeisterungsfähige Frau hat selbst ihr Päckchen zu tragen, einen ebenso nutzlosen Mann wie Sohn, und erfreut sich regelmäßiger Fluchten in das kalte Wasser der Nordsee. Zwar kann auch sie nicht für neue Opioide sorgen, die er im Flugzeug hat liegenlassen, aber mit ihrer lebensklugen Art hilft sie Bucky über einige emotionale Klippen hinweg. Und dann ist da auch noch die aus Afghanistan stammende Hotelangestellte Shabana, die ihm den Aufenthalt im Hotel etwas versüßt. Vor dem Auftritt leidet Bucky nicht nur unter heftigen Entzugserscheinungen, sondern auch unter großer Nervosität, vor so vielen Leuten aufzutreten. Doch die Zeit, die er vor allem mit Dinah hier in England bislang verbracht hat, verleiht ihm auch einen neuen Lebenswillen, eine andere Einstellung zu den Dingen, die ihn zu dem gemacht haben, was er heute ist.

„Und so tat Bucky das hier heute nicht nur für seine geliebte Maybell, sondern auch für Cecil Bronco, der für immer der junge Mann an der Schwelle zu etwas ganz Großem geblieben war. So musste es sein. Das hier war das letzte Geleit, das Bucky seinem Bruder nie hatte geben können. Die Elegie, die er nie hatte lesen, das Klagelied, das er nie hatte singen können. Er tat es für die Zukunft, die sein Bruder nie hatte erleben dürfen.“

Benjamin Myers ist mit „Strandgut“ ein bei aller Kürze einfühlsames Buch über die Schicksale zweier Menschen gelungen, die zunächst nur durch die Musik verbunden zu sein scheinen, auf dem Festival in England, wo sich der Sänger und die ihn betreuende Dinah kennenlernen, aber entdecken, wie viel Kraft, Verständnis und Lebensmut sie einander geben. So stellt „Strandgut“ eine Art Entwicklungsroman zweier Menschen dar, die mit ihrem Schicksal eigentlich abgeschlossen hatten, bevor sie sich begegneten, um dann durch die jeweils andere Perspektive einen neuen Blick auf ihr Leben gewinnen. 
Das ist ebenso berührend wie humorvoll erzählt, wobei der Autor auch die kulturellen Unterschiede zwischen den USA und England auf witzige Weise thematisiert. Dass Myers große Sympathien für seine Figuren empfindet, vergrößert das Lesevergnügen, denn sowohl Bucky als auch Dinah verfügen über ein markantes Identifikationspotenzial, wachsen dem Publikum schnell ans Herz. Mit einer einfachen, aber bildhaften Sprache und feinem Gespür für die Empfindungen seiner Figuren ist „Strandgut“ ein wunderbarer Feel-good-Roman nicht nur für die ältere Generation.


Robert McCammon – (Matthew Corbett 2-2) – „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten Band II“

Donnerstag, 12. Juni 2025

(Luzifer Verlag, 444 S., HC)
Die mehrjährige Schaffenspause, in der sich der einst prominente Horror-Autor Robert R. McCammon („Blutdurstig“, „Die schwarze Pyramide“) von seinem angestammten Genre lösen wollte, hat offenbar Wunder gewirkt. Denn mit der 2002 begonnenen Serie um den jungen Matthew Corbett, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Gerichtsdiener und Hobby-Ermittler seine Karriere startet, hat McCammon eine erfolgreiche Reihe initiiert, die mittlerweile sieben Bände umfasst. Die ersten beiden Werke – „Speaks the Nightbird“ und „The Queen of Bedlam“ – sind sogar so umfangreich gelungen, dass der Luzifer Verlag die deutschen Übersetzungen in jeweils zwei Hardcover-Bänden veröffentlichte. Nachdem im ersten Band von „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten“ die drei New Yorker Geschäftsleute Dr. Godwin, Pennford Deverick und Eben Ausley von dem sogenannten „Maskenschnitzer“ bestialisch ermordet wurden, hat sich unser junger Held auf die Suche nach dem Täter gemacht und dabei Bekanntschaft mit Mrs. Herrald und ihrem Gehilfen Greathouse geschlossen, die Corbett für ihre Ermittlungs-Agentur in ihre Dienste zu nehmen wünschten.
Matthew Corbett und Greathouse folgen einer Einladung von Dr. Ramsendell nach Philadelphia, der durch Marmaduke Grigsbys Zeitung „Der Ohrenkneifer“ auf die Anzeige der Herrald Vertretung in New York gestoßen ist und die Ermittler bittet, die Identität einer Patientin herauszufinden, die in ihrer Anstalt nach modernen Methoden betreut wird und nur als die „Königin“ bekannt ist. Ramsendell und sein Kollege Dr. Hulzen fragen sich, warum sich die Patientin in ihrem in sich eingeschlossenen Zustand befindet, und hoffen, durch weitere Nachforschungen einen besseren Behandlungszugang zu finden. Der einzige Kontakt, der Corbett und Greathouse zur Verfügung steht, ist der Anwalt Dr. Primm, der sich um die jährliche Zahlung für die Unterbringung der unbekannten Frau kümmert und größten Wert auf ihre Anonymität legt. Als sich die beiden Ermittler in dem Zimmer mit dem vornehmen Ambiente einen ersten Eindruck von der Person verschaffen wollen, fragt die alte Dame nur, ob die „Antwort des Königs“ inzwischen eingetroffen sei. Corbett versucht sich vorzustellen, wie die Verbindung von Deverick, dessen Namen die alte Dame wohl zu kennen scheint, zum Maskenschnitzer aussehen mag, aber auch die Verbindung zwischen dem Mörder, der Königin der Verdammten und den drei Mordopfern. Bei seinen Recherchen erfährt Corbett, dass Deverick nach seinem Erfolg in New York seine Aktivitäten auch auf Philadelphia ausgedehnt hatte und zwischenzeitlich sogar eine Seereise nach London unternommen hatte, obwohl er wegen seiner Verdauungsbeschwerden ungern gereist ist. Schließlich macht Corbett die Bekanntschaft von Mr. Chapel, der sehr an dem Notizbuch interessiert ist, das Ausley bei sich geführt hatte und nun verschwunden zu sein scheint. Wie Corbett auf dem mondänen Landsitz von Mr. Chapel erfährt, bestand offenbar eine Geschäftsbeziehung zwischen dem von Ausley geleiteten Waisenhaus und Mr. Chapel, der die größten Talente unter den Jungen in seine eigenen Dienste übernahm. Nun wird Corbett auch langsam klar, was die Königin in dem Tollhaus mit dem mysteriösen Maskenschnitzer gemein hat…

„Diese Königin der Verdammten sah den Strudel der Menschheit mit all seinen Freuden und Tragödien, seiner Weisheit und Verrücktheit. Diese Königin der Verdammten knobelte, trank in großen Zügen und raufte sich gelegentlich. Aber hier war sie nun einmal, in ihrem nachtschwarzen Gewand mit Laternenlicht, das wie gelbe Diamanten strahlte. Hier war sie, schwieg über ihre Gedanken und schrie ihr Verlangen heraus. Hier war sie, an der Grenze zur Neuen Welt.“ (S. 434)

Da die amerikanische Originalausgabe als ein Band veröffentlicht worden ist, geht der zweite Band in der deutschen Ausgabe nahtlos mit Teil 3 des Buches weiter. Und nun erfahren wir Leser auch endlich, was es mit dem Buchtitel auf sich hat. Mit der Bekanntschaft der Königin der Verdammten und Corbetts Aufenthalt bei Mr. Chapel erhält der Plot einen neuen Schwerpunkt, dazu kommt auch die leicht romantisch angehauchte Beziehung zwischen Corbett und Berry Grigsby. Während der erste Band noch den Gothic Touch von „Penny Dreadful“ verströmte, wechselt die Atmosphäre im zweiten Band zu einem klassischen Sherlock-Holmes-Plot, wobei Matthew Corbett die Darlegung seiner Schlussfolgerungen fast aus dem Nichts vorträgt. Das sorgt zwar für einige Wendungen und dramatische Entwicklungen, doch die bedrückende Stimmung des ersten Bandes wird nicht mehr erreicht. McCammon ist zweifellos ein hervorragender Stilist mit einem guten Gespür für interessante Plots, doch verliert er sich hier zu sehr in Ausschweifungen auf Kosten stimmiger Charakterisierungen. Gerade das Ensemble auf dem Landsitz von Mr. Chapel mit der mannstollen Charity LeClaire und dem preußischen Grafen Dahlgren verkommen zur bloßen Karikatur. Nach vielversprechendem Beginn mit dem ersten Band fällt die Geschichte von „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten“ im zweiten Band leider merklich ab.


Hanns-Josef Ortheil – „Die große Liebe“

Samstag, 31. Mai 2025

(btb, 318 S., Tb.)
Hanns-Josef Ortheil, Fachmann für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus hat bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Faustinas Küsse“ und „Im Licht der Lagune“ sein Faible für das Sehnsuchtsland Italien sprachgewaltig zum Ausdruck gebracht, in dem 2003 veröffentlichten Roman mit dem programmatischen Titel „Die große Liebe“ holte der in Köln geborene und in Hildesheim lehrende Schriftsteller, Pianist, Drehbuchautor und Ratgeber zumindest in Sachen Sprache zum großen Wurf aus.
Der Fernsehredakteur Giovanni reist mit dem Zug nach San Benedetto an die italienische Adriaküste, um für einen Dokumentarfilm über das Meer zu recherchieren. Nachdem er sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut gemacht und ein Bad im Meer genossen hat, sucht er die Direktorin des meeresbiologischen Instituts, Dottoressa Franca, auf, erzählt ihr von seinem Vorhaben, in seinem Film das Thema Meer auf einfache, meeresbiologische Weise auf angenehm lehrreiche Art anzugehen, mit genauem Beobachten der Fische, der Pflanzen und des Treibens am Strand. Schon bei diesem ersten Gespräch wird von beiden Seiten eine besondere Magie wahrgenommen, die sie bei weiteren Begegnungen zu erkunden versuchen. Giovanni hat sich ohnehin gerade aus einer längeren Beziehung verabschiedet, die er durch Francas Kennenlernen kurz Revue passieren lässt. Franca ist allerdings mit dem ambitionierten Institutskollegen Dottore Alberti verlobt ist. „Es ist schön hier mit Ihnen“, offenbart die Meeresbiologin bei einem der ersten Treffen, doch bei aller Anziehungskraft lassen sich Giovanni und Franca Zeit miteinander, bis für beide völlig klar ist, dass sie füreinander bestimmt sind…

„… ich glaube, dachte ich, es ist auch in ihrem Fall die große Liebe, ich bin sicher, auch sie erlebt es zum ersten Mal, das Wort ,Liebe‘ ist zwischen uns noch nicht gefallen, aber es muss nicht ausgesprochen werden, das ganze Brimborium der Annäherung mit all seinen Umwegen und den oft kindischen Komplikationen haben wir uns einfach erspart. Wenn das aber so ist und sie es auch so empfindet, gibt es im Blick auf die Zukunft im Grunde nichts zu überlegen, die Zukunft ist vorgezeichnet, wir werden zusammenbleiben, wir sind ein Paar, noch nie habe ich mich mit jemandem so verbunden gefühlt…“ (S. 198)

Es ist tatsächlich eine ungewöhnlich, fast schon langweilig unkomplizierte Liebesgeschichte, die Hanns-Josef Ortheil mit diesem Roman erzählt, der mit dem provozierend kitschigen Titel „Die große Liebe“ versehen ist. Denn auch wenn Ortheils Ich-Erzähler kaum größere Hürden zu überwinden hat, als die mahnenden Ratschläge seines Kollegen und Freundes Rudolf sowie des Hoteliers Carlo in den Wind zu schießen, sich mit Francas Verlobten – ganz gesittet – auseinanderzusetzen und ihren Vater kennenzulernen, nimmt der Autor die Herausforderung an und erzählt schlicht und einfach vom Kennen- und Liebenlernen zweier intelligenter, psychisch unauffälliger Erwachsener, die keine Tragödien, Dramen oder unüberwindbare Konflikte bewältigen müssen, um endlich zueinander zu finden. So unspektakulär das in der Nacherzählung klingt, gelingt es Ortheil jedoch, die besonderen Vorzüge und Genüsse der italienischen Kultur, Lebensart und Kulinarik einzusetzen, um das Aufkeimen und Entwickeln der großen Liebe ansprechend in Szene zu setzen. Es ist aber nicht nur die absolut authentisch wirkende Kulisse, die die Leserschaft für sich einnimmt, es ist vor allem Ortheils sprachliches Geschick, mit dem die beschriebene Liebe an Farben, Gerüchen, Geschmack und Klängen gewinnt. Das muss man bei einem so ballastfreien Plot auch erst einmal schaffen, sein Publikum damit zufriedenzustellen.  

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 6) „Moonlight Mile“

Freitag, 30. Mai 2025

(Diogenes, 384 S., Pb.)
In seinem mit dem Shamus Award für den besten Debütroman ausgezeichneten, 1994 veröffentlichten Krimi „A Drink Before the War“ hat Dennis Lehane bereits seine Klasse als filmreifer Autor mit Gespür für packende Plots, interessante Figuren und pointierte Dialoge unter Beweis gestellt. Sein Ermittlerduo Patrick Kenzie und Angela Gennaro durfte in den folgenden Jahren weitere Fälle aufklären, doch erst als sich Lehane im Jahr 2001 eine Pause von seiner bis dato fünf Bände umfassenden Kenzie-&-Gennaro-Reihe gönnte, um mit „Mystic River“ neues Terrain zu erschließen, wurde er zum Shooting-Star der US-amerikanischen Literaturszene, denn der meisterhafte Filmemacher Clint Eastwood nahm sich der Leinwandadaption an und machte Lehanes Namen international bekannt. 2010 präsentierte Lehane mit „Moonlight Mile“ eine Quasi-Fortsetzung des vierten Bandes „Gone Baby Gone“ (von und mit Ben Affleck verfilmt) und schloss die Reihe damit ab. Ebenso wie die erstmals bei Ullstein und dann in den letzten Jahren von Diogenes wiederveröffentlichten Kenzie-&-Gennaro-Romane erscheint nun auch „Moonlight Mile“ in neuer Übersetzung von Peter Torberg als schickes Paperback bei Diogenes.
Es hat sich einiges geändert im Leben von Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Mittlerweile ist das Paar verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter, Angela steht kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, und Patrick wartet auf eine Festanstellung bei der Bostoner Privatdetektei Duhamel-Standiford. Nun wird Patrick mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwölf Jahren wurde die vierjährige Amanda McCready von ihrem Onkel Lionel und ein paar fehlgeleiteten Polizisten entführt worden, um das Mädchen von ihrer alkoholsüchtigen Mutter Helene wegzuholen und sie bei fürsorglicheren Eltern unterzubringen. Nachdem Patrick und Angela das Mädchen damals zu ihrer rechtmäßigen Mutter zurückgebracht hatten, ist die nun fast Siebzehnjährige erneut verschwunden, wie Patrick von Amandas Tante Beatrice erfährt. Patrick nimmt den Fall mit gemischten Gefühlen an, denn natürlich fühlt er sich für Amandas Schicksal verantwortlich. Dass er das Mädchen ihren liebevollen Ersatzeltern entzogen und wieder der zwar rechtmäßigen, aber lieblosen Mutter zurückgeführt hat, bereitet Patrick noch immer Kopfschmerzen, weshalb er sich umso eifriger in die Suche nach ihr stürzt. Allerdings bekommt er es schnell mit russischen Drogen- und Mädchenhändlern zu tun, als er erfährt, dass auch Amandas beste Freundin Sophie verschwunden ist. Einmal mehr wird Patrick bewusst, wie verrückt die Welt um ihn herum geworden war…

„Wenn man in letzter Zeit jemandem eine einfache Frage stellte oder eine unverfängliche Bemerkung machte, traf einen plötzlich ein Aufschrei aus Verlust und Wut. Wir begriffen überhaupt nicht, wie wir da hineingeraten waren. Wir erfassten nicht, was uns widerfahren war. Eines Tages wachten wir auf, und jemand hatte alle Straßenschilder gestohlen und alle Navigationssysteme ausgeschaltet. Im Auto war kein Benzin, im Wohnzimmer standen keine Möbel, der Abdruck im Bett neben uns war glattgestrichen worden.“ (S. 254)

Wie schon in vielen seiner vorangegangenen Romanen erweist sich Dennis Lehane auch in „Moonlight Mile“ als virtuoser Schriftsteller, der weit mehr bietet als nur einen spannenden Krimiplot. Der Roman thematisiert eindrucksvoll, wie systematisch das Gesundheits- und Fürsorgesystem in den USA versagt, wenn sich ein Kind in Verhältnissen befindet, in denen es in jeder Hinsicht zu verwahrlosen droht. In dem Lehane das Schicksal der damals vierjährigen Amanda mit dem des selbstbewussten Teenagers von heute gegenüberstellt, werden die Defizite des Systems umso deutlicher herausgestellt. Das Kindeswohl-Thema gesellt sich in „Moonlight Mile“ aber nahtlos zu anderen Problemfeldern der modernen Zivilisation, Korruption, Gewissenlosigkeit, wachsende Jugendkriminalität, ausufernde Drogen- und Menschenhandel, alles angefeuert von einer Rezession, in der jeder irgendwie nur versucht, über die Runden zu kommen. 
Diese Themen werden bei aller Wichtigkeit jedoch nicht ausschweifend in den Mittelpunkt gestellt, vielmehr fließen sie in die Gedanken des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, der sich selbst am Scheitelpunkt seiner beruflichen Existenz befindet und sich fragt, ob er für den Job, den er ausübt, überhaupt noch gemacht ist. „Moonlight Mile“ erweist sich als stringent erzählter Krimi, der weniger durch einen spannenden, temporeichen Plot besticht als durch die emotionalen Fahrgewässer, die Patrick und Angie bei der Suche nach Amanda durchqueren müssen. Die bildhafte und doch schnörkellose Sprache und vor allem die vor sarkastischem Humor triefenden Dialoge machen den Abschluss der großartigen Krimi-reihe zu einem perfekten Lesevergnügen.

Robert McCammon – (Matthew Corbett 2-1) – „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten Band I“

Samstag, 24. Mai 2025

(Luzifer Verlag, 424 S., HC)
Robert McCammon zählte seit Ende der 1970er Jahren zu den bekanntesten Horrorautoren, auch wenn er stets in zweiter Reihe hinter den Großen wie Stephen King, Peter Straub, Dean Koontz oder Clive Barker stand. Allerdings überwarf er sich nach einigen erfolgreichen Genreromanen mit seinem Verlag, weil er dem Horror-Genre nicht verhaftet bleiben wollte – und nahm sich schließlich eine mehrjährige Auszeit. Zehn Jahre nach seinem Roman „Gone South“ (dt. „Durchgedreht“) legte der US-Amerikaner mit „Speaks the Nightbird“ den Beginn einer Reihe um den Ermittler Matthew Corbett vor, der in zu Beginn des 18. Jahrhunderts ungewöhnliche Fälle bearbeitet. Nachdem der Luzifer Verlag das Buch in zwei Bänden unter dem Titel „Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal“ in deutscher Erstveröffentlichung vorgelegt hatte, erschien auch die nachfolgende Geschichte „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten“ in zwei Bänden.
Nachdem Matthew Corbett als Gerichtsdiener für den reisenden Richter Isaac Woodward in den Carolina-Kolonien gearbeitet hatte, zog es ihn nach New York, wo er nun ebenfalls als Gerichtsdiener für Richter Powers arbeitet, bei der örtlichen Zeitung als Setzer aushilft und ein Zimmer unter dem Dach bei der Töpferei-Familie Stokelys bewohnt. Die wachsende Stadt mit derzeit 5000 Einwohnern steht unter Schock, als der angesehene Arzt Dr. Godwin erstochen und mit merkwürdigen Schnitten um die Augen herum aufgefunden wird. Marmaduke Grigsby, Herausgeber der einzigen Zeitung in der Stadt, hat den Täter als „Maskenschnitzer“ bezeichnet und so die Unruhe in der Bevölkerung nur noch mehr angestachelt. Matthew hat zunächst noch eine eigene Fehde zu begleichen, nämlich Rache an dem sadistischen Waisenhausbesitzer Eben Ausley zu nehmen, der sich nicht nur an Matthew selbst, sondern auch an dessen Freund John Five vergangen hat. Doch Matthew kann seinen Freund nicht zu einer Aussage vor Gericht überreden, das Ausley seiner gerechten Strafe zuführen würde. Doch als auch Ausley Opfer des gefürchteten Maskenschnitzers wird, hat Matthew ganz andere Sorgen. Da Richter Powers in den Ruhestand gehen wird, muss sich Matthew eine neue Anstellung suchen. Während er selbst nach Hinweisen auf die Identität des Schnitzers sucht, macht Matthew die Bekanntschaft von Mrs. Herrald, die Matthew in ihre Dienste nehmen würde, wenn er sich denn bei seiner ersten Aufgabe bewährt und von ihrem Gehilfen Greathouse in verschiedene Kampftechniken eingewiesen wird. Besonders verdächtig erscheinen Matthew einige angesehene Leute der Stadt, so auch Wachtmeister Lillehorne und Reverend Wade, der ausgerechnet in der Nähe des anrüchigen Etablissements von Madam Blossom gesehen wurde.

„Matthew schien es, dass eine potenzielle Verbindung zwischen Dr. Godwin, Deverick und nun ausgerechnet Ausley vielleicht in der Geschäftswelt lag, sofern es überhaupt eine gab. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass es sich vielleicht um die falsche Fährte handelte. Denn wie, um alles in der Welt, konnte der Leiter eines Waisenhauses mit einer Sucht nach dem Spieltisch in enger Beziehung zu einem wohlhabenden Großhändler stehen, der sich von den bitteren Straßen Londons nach oben gekämpft hatte? Und weiter: Wie war ein überragender und allgemein bewunderter Arzt mit diesen beiden Männern verbunden?“ (S. 326f.)

Robert McCammon hatte sich vor allem mit seinen Südstaaten-Romanen und vor allem mit dem Coming-of-Age-Drama „Boy’s Life“ als hervorragender Stilist etabliert, und diese Fähigkeit spielt er in seiner historischen Mystery-Krimi-Reihe um den jungen Ermittler Matthew Corbett voll aus. Der Autor verwendet das noch junge New York mit wenigen tausend Einwohnern als Kulisse für eine atmosphärisch dichte Story, die an „Jack the Ripper“ ebenso denken lässt wie an die Krimis von Sherlock Holmes. Es sind vor allem die lebendigen Beschreibungen der Gasthäuser, dem Treiben auf den dreckigen Straßen und am Hafen, aber auch die bildhaften Charakterisierungen der vielen Figuren, die McCammon im Verlauf der gemächlich inszenierten Handlung einführt. 
Da es sich bei „The Queen of Bedlam“ – so der 2007 veröffentlichte Originaltitel – in der deutschen Ausgabe um zwei Bände handelt, entwickelt sich die Spannung nur sehr langsam. Man muss sich beim Lesen stets vor Augen halten, dass die eigentliche Zuspitzung der Handlung und die Verbindung zur titelgebenden Königin der Verdammten erst im nächsten Band erfolgt. So darf man sich erst in Ruhe mit dem weiteren Werdegang des ambitionierten Ermittlers auseinandersetzen und seinen nicht immer freundlichen Bekanntschaften mit Zeugen, Familienangehörigen, Verdächtigen und zwielichtigen Gestalten jeglicher gesellschaftlicher Herkunft folgen. Es hilft zumindest, ein Gefühl für die Lebensumstände im New York des Jahres 1702 zu bekommen.

Colin Wilson – „Der Stein der Weisen“

Samstag, 17. Mai 2025

(Festa, 490 S., HC)
Der britische Schriftsteller Colin Wilson (1931 – 2013) war Zeit seines Lebens von schöpferischen Individuen fasziniert und Biografien zu einflussreichen Persönlichkeiten wie Rudolf Steiner, Carl Gustav Jung, P.D. Ouspensky, Georges I. Gurdjieff, Wilhelm Reich und Aleister Crowley verfasst. Ein besonderes Anliegen war ich, Wege zu finden, der Enge des Alltagsbewusstseins zu entkommen und unser Potential zu entwickeln. Wilson schrieb neben unzähligen Sachbüchern, darunter Klassiker wie „The Outsider“ und „The Occult“, aber auch immer wieder Romane. Sein erster, 1960 veröffentlichter Roman „Ritual in the Dark“ über einen Serienmörder war an die Geschichte von Jack the Ripper angelehnt. Als er in seinem Buch „The Strength to Dream“ (1962) die Horrorliteratur von H. P. Lovecraft kritisierte, nahm Wilson die Herausforderung von Lovecrafts Freund und Verleger August Derleth an, etwas Besseres zu schreiben. Nachdem er diese Aufgabe mit „The Mind Parasites“ (1967) bravourös gemeistert hatte, setzte er 1969 mit „The Philosopher’s Stone“ sogar noch einen drauf und legte eine Geschichte zur Entstehung von Lovecrafts legendären Cthulhu-Mythos vor, der später von Autoren wie Robert Bloch, Ramsey Campbell, Graham Masterton, Brian Lumley und Wolfgang Hohlbein aufgegriffen und weiterentwickelt worden ist. Der auf Horror-Literatur spezialisierte Festa-Verlag hat das Werk nun in der – limitierten - Reihe H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens unter dem Titel „Der Stein der Weisen“ als deutsche Erstausgabe veröffentlicht.

Howard Lester ist 1942 als Sohn eines Wartungstechnikers in Nottinghamshire in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und die Erinnerungen an seine ersten zehn Lebensjahre waren von Schmutz und Langeweile geprägt. Hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zur Wissenschaft einerseits und zur Musik andererseits, begann sich Lester schon in frühen Jahren für das Phänomen der Zeit zu interessieren. Die schicksalhafte Begegnung des 13-jährigen Jungen mit dem 45-jährigen Wissenschaftler Sir Alastair Lyell führte Lester zur Erkenntnis, dass das menschliche Leben von der Realität entrückt und der Tod unsere letzte Abrechnung sei. Als sein Mentor versorgte Lyell den Jungen mit Büchern über Huxley, Darwin, Tyndal und Herbert Spencer, bis Lester das Thema fand, dem er fortan sein Leben widmen würde: Das „große Geheimnis“ des Lebens zu ergründen und einen Weg zu finden, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Denn seiner Auffassung nach sterben Menschen nur deshalb, weil sie sich langweilen und sich nicht anstrengen, nach höherem Wissen zu streben, weil sie sich durch das Triviale versklaven lassen. Nach dem Tod von Lyell im Jahr 1967 erbt Lester genügend Geld, um sich weiterhin seinen Forschungen zu widmen, wobei er sich zunehmend mit den Mystikern auseinandersetzt, viel Zeit im Lesesaal des Britischen Museums verbringt und schließlich die Bekanntschaft von Sir Henry Littleway macht, mit dem Lester fortan nicht nur Forschungen über das Älterwerden betreibt, sondern vor allem auch Operationen vornimmt, bei denen eine spezielle Legierung in den präfrontalen Kortex des Gehirns eingeführt wird, um die Geisteskräfte zu steigern und einen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, bei dem die äußere Welt durch die Macht des Gehirns in ihre Schranken gewiesen wird. Schließlich stoßen Lester und Littleway auf eine Basaltstatue und das Voynich-Manuskript und erfahren durch bewusst herbeigeführte Rückschauen, die sie bis zu Stonehenge und der Kultur der Maya führen, von den Großen Alten, die bereits Arthur Machen und H. P. Lovecraft in ihren Werken thematisiert haben…
„Meine ,Zeitschau‘ war noch immer relativ schwach, wenn ich versuchte, sie auf die ferne Vergangenheit anzuwenden, obwohl sie durchaus klar war, wenn ich sie mit weniger Epochen beschäftigte. Was die Basaltfigur betraf, so schien ihre Geschichte nicht mehr vollkommen undurchsichtig. Wenn ich sie jetzt anschaute, konnte ich spüren, dass auch sie mit einer seltsamen Religion von entsetzlichem Humor zu tun hatte. An dieser Erkenntnis war etwas seltsam Erfrischendes. Der Mensch neigt dazu, seine Götter nach seinem Bilde zu gestalten, um sie zu vermenschlichen. Aber diese Götter waren wild und ganz und gar fremd.“ (S. 356)
„Der Stein der Weisen“ wird nicht von ungefähr im Untertitel als „philosophischer Roman“ bezeichnet, denn eine konventionelle Handlung weist das Buch nicht auf. Dafür berichtet der Ich-Erzähler Howard Lester von seinen ausgiebigen Studien und Experimenten, die ihn schließlich zu weitreichenden Erkenntnissen über die Evolution des Menschen und die Rolle der Großen Alten bis in die heutige Zeit hineinführen. Das ist vor allem in philosophischer Hinsicht interessant und dürfte vor allem die Leser interessieren, die bereits Wilsons „Das Okkulte“ verschlungen haben. Für Lovecraft-Fans ist dieser Exkurs nur insofern interessant, als Lovecraft, der Cthulhu-Mythos ebenso wie das sagenumwobene „Necronomicon“ erwähnt und die Ursprünge der Großen Alten erklärt werden, doch von der atmosphärisch dichten Sprache, die Lovecrafts Erzählungen prägen, ist Wilsons „Der Stein der Weisen“ weit entfernt. Der sachliche, zuweilen etwas überhebliche Ton des Erzählers und seine Erkenntnis, zu den wenigen Individuen mit großer Einsicht und unbegrenztem Entwicklungspotenzial zu gehören, sorgen eher dafür, sich mit den philosophischen Fragen auseinanderzusetzen, als sich vor den Großen Alten zu fürchten.


Robert Bloch – „Der große Kick“

Dienstag, 13. Mai 2025

(Diogenes, 260 S., Tb.)
Ähnlich wie sein gleichermaßen in den Genres Krimi, Horror und Science-Fiction bewanderter Zeitgenosse Ray Bradbury hat „Psycho“-Autor Robert Bloch zwar auch einige Romane geschrieben, doch sein liebstes Betätigungsfeld schien das der Short Story gewesen zu sein, sind doch auch im deutschsprachigen Raum neben seinen ebenfalls allesamt kurzen Romanen etliche Kurzgeschichten-Sammlungen von ihm veröffentlicht worden. Dazu zählt auch „Der große Kick“, eine Zusammenstellung von zwölf Geschichten, die im Original in den Sammelbänden „Such Stuff As Dreams Are Made of“ (1979), „Cold Chills“ (1977) und „Mysteries of the Worm“ (1981) erschienen sind, somit dem Spätwerk des 1994 verstorbenen Autors zuzurechnen sind.
„Der Spiegelfluch“ erzählt zu Beginn die Geschichte von Ron, der als Ansager auf einem Rummelplatz nicht nur „exotische Menschenwesen“ vorstellt, sondern auch das gefürchtete Rummelplatzmonster, das tief unten in einer Grube haust und Hühnern, die dort hinuntergeworfen werden, im Nu den Kopf abbeißt. Tatsächlich handelt es sich bei dem „Monster“ um einen armen Schlucker, der bereit ist, alles für seine tägliche Ration Schnaps zu tun. Als sich Ron mit Cora, der Enkelin der Handlesedame Madame Sylvia, vergnügt und sie schwängert, hat das fatale Auswirkungen auf ihn…
Auch „Die Tierschau“ thematisiert das nicht immer koschere Treiben auf einem Rummelplatz, diesmal sorgt Captain Ryders Hollywood-Dschungelsafari für eine unangenehme Wendung im Leben des Anhalters Dave, der den Fehler macht, Ryder auf einen kränklich wirkenden Gorilla anzusprechen…
Schließlich bleibt „Die Karten lügen nicht“ diesem Gewerbe verhaftet, begleitet den Showstar Danny Jackson dabei, wie er mit der Prophezeiung, dass er auf Sonntag sterben würde, wie es in den Karten zu lesen stand, umgeht. Es ist Mittwochabend, also noch genügend Zeit, den Unsinn, den die alte Frau verzapft hat, zu vergessen. Doch Danny hat noch ein anderes Problem: Er ist hochverschuldet, seine letzten drei Filme waren Flops, nun enden auch die Probeaufnahmen für ein lukratives Fernsehprojekt in einem Fiasko…
Mit „Der Tempel des Schwarzen Pharaos“ und „Das Geheimnis des Sebek“ begibt sich Robert Bloch in die Tiefen der ägyptischen Mystik. Da begibt sich der Protagonist der zuletzt erwähnten Geschichte in Louisiana auf das Kostümfest von Henricus Vanning, wo der Autor von ägyptischen Geschichten auf einen Mann trifft, der wie Priester des alten Ägypten gekleidet ist und der eine schreckliche Entdeckung macht, als er die Krokodilsmaske zu ergreifen versucht…

„Das Ägypten meiner Träume – war es real? Warum hatte der eine Blick auf den rätselhaften Mann mit der Maske solchen Eindruck auf mich gemacht? Die Priester Sebeks hatten Blut vergossen, um sich die göttliche Rache zu sichern – konnten sie einen uralten Fluch Wirklichkeit werden lassen?“ (S. 136)

Diogenes veröffentlichte 1994 mit „Der große Kick“ eine durchaus interessante Kurzgeschichten-Sammlung von Robert Bloch, der ja auch vor allem in seinen produktiven 1960er Jahren Drehbücher zu Horrorfilmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Totentanz der Vampire“ geschrieben hatte, wobei einmal mehr die flüssige, leicht verständliche Sprache und die Fähigkeit zu komprimierten Pointen im letzten Satz den Reiz der Geschichten ausmachen. Das Rummelplatz-Thema wird zu Anfang etwas arg ausgereizt, während „Der Dickschädel“ auch Blochs Hang zu schwarzem Humor deutlich macht. Aber diese zwölf Geschichten sind trotz ihres Unterhaltungswerts weit von Blochs besten Erzählungen entfernt, präsentieren sie doch kaum wirklich neue Ideen.


Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 1) „Mensch ohne Hund“

Samstag, 10. Mai 2025

(btb, 542 S., HC)
Nachdem der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser mit dem zehnten Buch „Sein letzter Fall“ seinen Kommissar Van Veeteren in Rente schickte, sollte es immerhin drei Jahre dauern, bis Nesser in Inspektor Barbarotti einen „Nachfolger“ präsentierte. Allerdings ist ihm in dem hierzulande 2007 veröffentlichten Debüt „Mensch ohne Hund“ fast nur eine Art Nebenrolle beschieden.
Wenige Tage vor Weihnachten bereitet Rosemarie Wunderlich Hermansson das große Familientreffen anlässlich des gemeinsamen Geburtstages ihres verhassten Ehemanns Karl-Erik und ihrer gemeinsamen Tochter Ebba vor. Die ehemalige Handarbeits- und Deutschlehrerin sieht mit Grauen dem Ruhestand entgegen, den ihr Mann, den sie wenig liebevoll als „pädagogische Fichte“ bezeichnet, mit ihr in Spanien an der „Rentnerküste“ verbringen will. Das Familienfest steht allerdings unter einem ungünstigen Stern, vor allem, weil ihr Sohn Walter, einst ein erfolgreicher Sportler, in einer TV-Reality-Soap dabei gefilmt wurde, wie er am Strand der Masturbation frönte und fortan als „Wichs-Walter“ die schwedische Boulevard-Presse beherrschte. Die Ärztin Ebba, die ihren 40. Geburtstag begeht, wird von ihrem Ehemann, dem Supermarkt-Leiter Leif, und den halbwüchsigen Söhnen Henrik und Kristoffer begleitet. Die jüngere Schwester Kristina erscheint mit ihrem Gatten, dem reizbaren Fernsehproduzenten Jakob und dem zweijährigen Sohn Kelvin. Unter der Oberfläche der Feierlichkeiten, des vermeintlich ausgelassenen Essens und Trinkens brodelt es allerdings. Kristoffer kommt dahinter, dass sein älterer Bruder offensichtlich schwul ist. Als sich Henrik nachts aus dem Zimmer schleicht, glaubt er noch, dass er sich mit dessen Freund Jens treffen will. Stattdessen ist Henrik zu seiner Tante Kristina unterwegs, die sich mit Jakob und Kelvin in einem Hotel eingemietet haben, das Jakob allerdings wegen einer Konferenz vorzeitig verlassen musste. Nachdem Kristina ihren Neffen davon überzeugen kann, dass er nicht homosexuell ist, verschwinden sowohl Walter als auch Henrik spurlos. Hauptkommissar Asunander beauftragt Inspektor Gunnar Barbarotti mit dem Fall, der sich mit konventionellen Mitteln nicht aufklären lässt.

„Wen zum Teufel hatte Henrik Grundt in Kymlinge treffen wollen? Sein kleiner Bruder hatte ja auch darauf hingewiesen: Er kannte keine Menschenseele dort. Konnte es sein, dass es sich um einen Bekannten aus Uppsala handelte, mit dem er das Stelldichein verabredet hatte? Ein Bekannter, der sich auch in dieser Landesecke aufhielt, um Weihnachten zu feiern? (…) Und hing das wirklich nicht mit Walters Verschwinden in der Nacht zuvor zusammen?“ (S. 295)

Mittlerweile machen sich vor allem Rosemarie und dann ihre Tochter Ebba nach einem Hinweis eines Hotelportiers vermehrt Gedanken um das Schicksal ihrer vermissten Familienmitglieder, bis sich auch Kristoffer zu einer fatalen Entscheidung durchringt…
Allein die Tatsache, dass Inspektor Barbarotti erst nach 200 Seiten erstmals in die Handlung eingeführt wird, veranschaulicht, dass es sich bei „Mensch ohne Hund“ nicht um einen klassischen Krimi handelt. Der Titel bezieht sich übrigens auf ein gut 650 Seiten umfassendes gleichnamiges Romanmanuskript des vermissten Walter Hermansson, spielt für die Handlung aber keine entscheidende Rolle. Barbarotti wird als sympathischer und geschiedener Mittvierziger vorgestellt, der über die Feiertage seine achtzehnjährige Tochter Sara zu Besuch hat und eine Affäre mit der Urlaubsbekanntschaft Marianne unterhält. Der Schwerpunkt des Romans liegt allerdings in der Beschreibung der angespannten Verhältnisse innerhalb der Hermansson-Familie. Ausgedehnte innere Monologe der einzelnen Familienmitglieder sorgen für die Charakterisierung sowohl der Figuren als auch ihrer Beziehungen zueinander. Was sich aus diesen zwischenmenschlichen Dramen entwickelt, macht den eigentlichen Reiz der Handlung aus, wobei die Aufklärung der Schicksale der beiden Vermissten fast in den Hintergrund gerät. 
Nesser erweist sich in „Mensch ohne Hund“ weniger als Kriminalist, sondern als guter Beobachter menschlicher Befindlichkeiten, die zu tragischen Entscheidungen führen können. Das ist nicht besonders spannend, aber die gefällige, mit vielen humorvollen Einschüben versehene Sprache des Autors macht Lust auf die Fortsetzung der Barbarotti-Reihe.

David Baldacci – (Amos Decker: 7) „Long Shadows“

Montag, 5. Mai 2025

(Heyne, 510 S., HC)
Der ehemalige Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist David Baldacci hat sich seit seinem von und mit Clint Eastwood verfilmten Romandebüt „Absolute Power“ (dt. „Der Präsident“) zu einem der meistgelesenen Thriller-Autoren weltweit entwickelt und vor allem in den 2000er und 2010er Jahren eine beeindruckende Anzahl an Romanreihen um charismatische Protagonist:innen entwickelt. Mit „Long Shadows“, dem siebten Band um den mit einem fotografischen Gedächtnis gesegneten FBI-Berater Amos Decker, führt der sogenannte „Memory Man“ nun allein die Spitze hinsichtlich der Anzahl der in einer Reihe veröffentlichten Romane an. Und auch qualitativ bewegt sich die Reihe nach wie vor auf hohem Niveau.
Als hätte Amos Decker nicht schon genug daran zu leiden, dass er während seiner Laufbahn als Detective seine Tochter Cassie, seine Frau Molly und deren Mann in seinem Heim bestialisch ermordet vorfand, verfügt er als ehemaliger Footballspieler nach einem Zusammenstoß mit einem gegnerischen Spieler über ein fast perfektes autobiografisches Gedächtnis und über die Fähigkeit der Synästhesie, die sich bei Decker u.a. in der Fähigkeit manifestiert, Zahlen, Personen und Empfindungen in Farben zu sehen. Für seine jetzige Tätigkeit als Berater für das FBI sind diese Fähigkeiten Gold wert, verfügt Decker doch über eine Aufklärungsquote von hundert Prozent. Dennoch ist die unorthodoxe Art, mit der Decker auftritt und arbeitet, bei seinen Vorgesetzten ein Dorn im Auge. 
Nun muss Decker einen weiteren Verlust verkraften. Seine ehemalige, an Demenz leidende Partnerin beim Burlington Police Department in Ohio, Mary Lancaster, ruft Decker mitten in der Nacht an, um ihm zu berichten, dass sie ihre eigene Tochter vergessen habe. Dann wird Decker Zeuge, wie sich Mary mit ihrer Pistole das Leben nimmt. 
Für Trauerarbeit bleibt jedoch keine Zeit. Mit seiner neuen Partnerin Frederica White wird Decker nach Florida geschickt, um den Doppelmord an einer Bundesrichterin und ihrem Bodyguard aufzuklären, wobei sie von dem dort zuständigen Beamten Doug Andrews unterstützt werden. Interessant ist nicht nur, dass der Bodyguard mit zwei Schüssen niedergestreckt worden ist, während die Richterin mit mehreren Messerstichen getötet wurde, sondern auch, dass die Richterin eine durchlöcherte Augenbinde umgebunden bekam, dem Bodyguard dagegen alte slowakische Geldscheine in den Hals geschoben wurden. Zu den Verdächtigen zählt natürlich der Ex-Mann der Richterin, der sich offenbar mit der Trennung nicht abfinden konnte, aber auch die Firma, bei der der Bodyguard angestellt war, scheint etwas zu verbergen zu haben. Jedenfalls verschwinden nach und nach wichtige Zeugen, und die wenigen, mit denen Decker und White sprechen können, sind nicht so auskunftsfreudig wie erhofft…

Was wirst du jetzt tun, Decker? Du hast einen Fall aufzuklären, aber kaum Spuren, nur einen großen Haufen Sand, in dem du nach irgendeinem Körnchen suchst, das dir weiterhelfen könnte. Du wirst mit einem Wust an Informationen konfrontiert, von denen viele keinen erkennbaren Sinn ergeben, und sollst irgendeinen Zusammenhang herausfiltern, ein Muster erkennen. Er seufzte tief. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ob ich es überhaupt will.“ (S. 143)

Mit den letzten „Memory Man“-Romanen drohte sich der versierte Autor an dem komplexen Arrangement an Figuren, Action und Zusammenhängen zu verheben, doch hat Baldacci mit „Long Shadows“ nun wieder etwas mehr die Kurve gekriegt. Nach dem erschütternden Auftakt mit dem Selbstmord seiner früheren Partnerin und der Tatsache, dass sich Decker nun an eine neue Partnerin gewöhnen muss, kommt Baldacci mit einem interessanten Doppelmord schnell zur Sache, wobei er nicht auf einen handlungsgetriebenen Plot setzt, sondern auf hartnäckige Ermittlungsarbeit, die sich in vielen, zuweilen etwas ermüdenden Dialogen Ausdruck verschafft. Auf die neue Arbeitsbeziehung zwischen Decker und White hätte dabei etwas tiefer eingegangen werden können, um dem Thriller auch eine emotionale Gewichtung zu verleihen. Meist beschränken sich die persönlichen Themen nämlich auf Erinnerungen an die Familienangehörigen, die sowohl Decker als auch White verloren haben. Dafür beweist Baldacci mit wiederholten Verhören, die sein neues Ermittler-Duo durchführt, echte Steher-Qualitäten, mit denen Stück für Stück die wahren Motive für den Doppelmord herausgearbeitet werden. Und das Ende macht Hoffnung, dass die Reihe um den „Memory Man“ weiterhin fortgesetzt wird, zumal noch die Frage im Raum steht, wie sehr sich Deckers Persönlichkeit mit der vorhergesagten Veränderung seiner Gehirnstruktur entwickeln mag.

Martin Suter – „Wut und Liebe“

Montag, 28. April 2025

(Diogenes, 294 S., HC)
Martin Suter ist vor allem deshalb ein Bestseller-Autor, weil er mit leichter Hand und simpler Sprache geschickt konstruierte Geschichten über meist bürgerliche Schicksale zu erzählen versteht. Zudem ist er ein Meister der Selbstdarstellung, wie die im Buch auf separaten Karten mit Hinweisen auf Lesungen mit prominenter Unterstützung und auf seine eigene Homepage mit der Möglichkeit zu einem exklusiven, aber kostenpflichten „Member“-Zugang dokumentieren. Mit seinem neuen, nicht mal 300 Seiten umfassenden Roman versucht sich der Schweizer an einer Mischung aus Liebes-, Kriminal- und Enthüllungsroman.
Noah wartet mit seinen dreiunddreißig Jahren noch immer auf seinen Durchbruch als Künstler. Seine einunddreißigjährige Freundin Camilla erwartet allerdings mehr vom Leben, als einen langweiligen Job als Buchhalterin auszuüben und einen mittellosen Künstler durchzufüttern. Also verlässt sie ihn und sucht sich einen wohlhabenderen Mann, der allerdings noch verheiratet ist und Camilla deshalb in eine Mietwohnung abschiebt. Da scheint für Noah die Verlockung groß, das Angebot der wohlhabenden Witwe Betty Hasler anzunehmen, die er in der Kneipe „Die Blaue Tulpe“ kennenlernt, für eine Million Schweizer Franken den ehemaligen Geschäftspartner ihres Mannes zu liquidieren. Peter W. Zaugg soll dafür gesorgt haben, dass ihr Mann Pat vor Überarbeitung drei Herzinfarkte erlitt und mit fünfundsechzig zur ewigen Ruhe gebettet wurde. Nun strebt die Witwe nur noch danach, dass Zaugg vor ihr stirbt. Für Noah wenden sich die Dinge langsam zum Besseren. Sein Triptychon mit drei Akten von Camilla wird in der Galerie für 14.000 CHF gehandelt, und Noah setzt mit diesem Erfolg alles daran, Camilla wieder zurückzugewinnen. Schließlich habe sie ihm versichert, ihn noch zu leben, nur eben nicht das Leben mit ihm unter diesen Umständen. Aus dieser Konstellation entwickelt sich munteres Hin und Her zwischen Liebenden und Hassenden, zwischen Künstlern und skrupellosen Geschäftemachern, zwischen Idealisten und Pragmatikern. Und Noah setzt alles auf eine Karte…

„Und wie er sie so betrachtete, begann etwas ganz anderes vom Gefühl der Liebe abzulenken: der Hass auf Zaugg. Er wollte dieses Ungeziefer vernichten. Aber nicht einfach so, wie man beiläufig eine Mücke totklatscht. Eher so, wie man eine Fliege killt, die einen lange und schlau und absichtlich gereizt hat. Mit Wut und Vergnügen. Und wenn das auch noch fürstlich bezahlt war, umso besser.“ (S. 242)

Suter beginnt seinen neuen Roman „Wut und Liebe“ mit einem kleinen Paukenschlag, die kopflastige Buchhalterin trennt sich aus finanziellen Gründen von ihrem Künstlerfreund, nicht weil sie ihn nicht mehr lieben würde. Bevor sich der Autor aber näher mit seinen beiden Protagonisten näher auseinandersetzt, wird die nächste interessante Konstellation vorbereitet. Noah geht in die Kneipe „Die Blaue Tulpe“, um seinen Liebeskummer zu ertrinken, die Witwe Betty, um ihren Hass auf den „Mörder“ ihres Mannes zu schüren. Aus diesen beiden Beziehungen zaubert Suter souverän einen vertrackten Plot, in dem Camilla ihre Kopfentscheidung zu bereuen beginnt, Noah eine Idee davon bekommt, ein erfolgreicher Künstler zu sein, und Betty ihren ganz persönlichen Rachefeldzug vorantreibt. Die titelgebenden Empfindungen Wut und Liebe spielen in der weiteren Entwicklung der Geschichte natürlich eine tragende Rolle, aber interessanter wird das Spiel mit den Identitäten, hinter denen sich die Figuren verstecken. Was anfangs so wirken mag, als würde Suter die Charakterisierung seiner Figuren vernachlässigen, erweist sich im weiteren Verlauf als geschickter Schachzug, um die klischeehaft gezeichneten Charaktere in einem Wirbelwind von Charaden und Intrigen ganz anders dastehen zu lassen. Allerdings übertreibt es Suter zum Finale hin mit den Zufällen und konstruierten Wendungen, so dass der anfängliche Spaß, das Schicksal eines Thirtysomething-Liebespaars nach der Trennung weiterzuverfolgen, mit der zunehmend abstrusen Krimihandlung deutlich an Unterhaltungswert einbüßt.

Jardine Libaire – „Dein Herz, ein wildes Tier“

Samstag, 26. April 2025

(Diogenes, 322 S., HC)
Hierzulande ist die New York geborene, mittlerweile im texanischen Austin lebende Jardine Libaire mit dem 2018 bei Diogenes erschienenen Liebesroman „Uns gehört die Nacht“ bekannt geworden. Nun legt Libaire, die ehrenamtlich für ein Hilfsprogramm für Frauen im Gefängnis arbeitet, mit „Dein Herz, ein wildes Tier“ einen ebenfalls rasant inszenierten Roman voller wilder Gefühle vor.
Eben noch zählten Staci, Ray, Ernie und Coral zu einer Clique von verkrachten Existenzen, die in einem ehemaligen Pfadfinder-Lager in Oklahoma ihren Lebensunterhalt mit dem Kochen und Verkaufen von Drogen verdienten. Doch nachdem das Quartett aus der Stadt zurückgekehrt ist, um gut 10.000 Dollar für den verkauften Stoff einzusacken, finden die Vier ihr altes Heim nach einer Explosion in Trümmern zerfetzt vor. Bevor die Polizei sie erwischen kann, machen sie sich auf ihren beiden Bikes auf den Weg nach Texas. Unterwegs erfahren sie, dass ihr Anführer Tim und seine Freundin Shayna fliehen konnten, die anderen haben sich in alle Winde verstreut. Nur Lynn wird noch vermisst, Judy liegt im Koma im Krankenhaus. Nach ein paar Wochen sollen sie Chris anrufen, um in Erfahrung zu bringen, wo sie Tim das Geld übergeben sollen. Der über fünfzigjährige Biker Ray und die ehemalige Striptänzerin Staci sind schon seit Ewigkeiten ein Paar, Ernie war mit Anfang dreißig eine Leseratte, die ein dramatisches Leben zwischen manischer Freude und Depressionen führte. Das taube Teenagermädchen Coral hatte im Camp noch Shaynas Baby die Brust gegeben und wurde von den sechzehn anderen Bewohnern heftig umworben worden. Während ihrer Reise nach Texas, aber auch nach ihrer Ankunft in dem Haus mit Schuppen, Scheune und riesigem Garten, das sie mieten, versuchen die drei Erwachsenen, vor allem aber Ernie, irgendeine Beziehung zu ihr aufzubauen.

„Die Wahrhaftigkeit ihrer Existenz war ins Innerste seines Bewusstseins gedrungen. Sie war real. Er spürte die Wärme ihres Blutes, das Pumpen ihrer Herzkammern, den Puls an ihrem Hals, und er erschauderte. Kleeblüten umrahmten ihr Gesicht, und sie kniff die Augen zusammen, als wollte sie fragen: Was ist los mit dir? Er konnte nicht mal ihren Blick erwidern.“ (S. 195)

Coral beweist nicht nur ein geschicktes Händchen im Garten, sondern baut auch eine Beziehung zu einem außergewöhnlichen Haustier auf. Schließlich entscheidet sich die Gemeinschaft, die Beziehung zu Tim abzubrechen und das Geld zu behalten, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Doch dann erhält ihr idyllisches Versteck ungewollte Aufmerksamkeit, und das Leben, das sich die vier verschrobenen Individuen gerade erst aufgebaut haben, droht wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen…
Bereits in ihrem Romandebüt hat Jardine Libaire es überzeugend verstanden, die Geschichte einer Liebe zweier Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten als Drama mit Shakespeare-Touch zu erzählen. Auch in „Dein Herz, ein wildes Tier“ nimmt sich die Autorin ungewöhnlicher Figuren an, die am Rande der Gesellschaft irgendwie zurechtzukommen versuchen, teilweise ihre Träume von Erfolg und Familie und Heimat begraben haben, um in einer zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft neu anzufangen und dabei ganz eigene Bindungen eingehen. Gerade der Beginn in dem ehemaligen Pfadfinder-Lager mit unübersichtlich eingeführtem Figurenarsenal macht deutlich, wie sich quasi per Zufall eine Gemeinschaft geformt hat, die durch den Drogenhandel zusammengehalten und zerrissen wird, aber die wirklich bedeutenden Beziehungen und die Tiefe der Erzählung entwickelt sich erst mit dem Road Trip der vier Ausreißer auf ihrem Weg nach Texas. Libaire gelingt es, im Verlauf ihrer Geschichte nicht nur die besonderen Eigenschaften ihrer Figuren sehr bildhaft zu beschreiben, sondern auch die ungewöhnlichen Beziehungen zwischen ihnen mit viel Empathie zum Leben zu erwecken. So ist Libaires zweiter Roman eine gelungene Mischung aus literarischem Road Movie, zärtlichem Coming-of-Age-Roman und exzentrischem Abenteuer-Drama gelungen, der Lust auf die weiteren Werke dieser außergewöhnlich talentierten Autorin macht.               
 Leseprobe Jardine Libaire - "Dein Herz, ein wildes Tier"

Robert Bloch – „Boten des Grauens“

(Heyne, 158 S., Tb.)
Robert Bloch (1917-1994) wird vor allem durch seine 1959 veröffentlichte Romanvorlage für Alfred Hitchcocks „Psycho“ in Erinnerung bleiben, doch hat der u.a. mit dem World Fantasy Award und dem Bram Stoker Award für sein Lebenswerk ausgezeichnete Schriftsteller im Verlauf seiner langjährigen Karriere ein umfassendes Werk an Romanen und Geschichten hinterlassen, die anfänglich von H.P. Lovecraft und dem „Cthulhu-Mythos“ inspiriert waren und dann in eine breite Palette von Krimi-, Horror- und Science-Fiction-Stories übergingen. 1967 erschien mit „The Living Demons“ eine Sammlung von elf Kurzgeschichten, die zwischen 1941 und 1967 vorwiegend in „Weird Tales“ erstmals veröffentlicht worden waren und 1970 als „Boten des Grauens“ in einem schmalen Bändchen bei Heyne in deutscher Erstausgabe erschienen.
In „Harrys Zeitkapsel“ lässt Professor Dr. Dr. Harrison Cramer eine Zeitkapsel vor allem mit Dingen füllen, die ihm überwiegend seine fünfzehn Jahre jüngere Frau vorschlägt, und die dann im neuen Haus des Humanismus ins Fundament eingemauert werden soll. Schließlich würde seine Frau, die übrigens eine Affäre mit dem Anwalt Rick unterhält, den sie nach einer schnellen Scheidung von Harry zu heiraten beabsichtigt, Harrys Meinung nach die Mehrheit repräsentieren. Also lässt er Plattenalben, Filmkopien der Fernsehreihe „Irgendwo, USA“ und Abenteuerromane zusammentragen und hebt sich das interessanteste Stück bis zum Schluss auf…
„Von einem Geist skalpiert“ erzählt die Geschichte von einem Mann namens Orlando Crown, der betrügerische Amateurokkultisten und berufsmäßige Geisteraustreiber entlarvt. Vor allem die weit verbreitete Praxis, indianische Geister als Mittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten zu verwenden, stößt bei Crown auf Ablehnung. Als er jedoch die Bekanntschaft von Mrs. Prinn macht, wird Crown eines Besseren belehrt…
In „Tod eines Vampirs“ spielt Graf Barsac die Rolle des Vampirs so gut, dass er die bereits auf der Bühne des Grand Guignol in Paris erprobte Hauptrolle auch im realen Leben zu verkörpern beabsichtigt, mit unvorhersehbaren Folgen…
„Die Bestien von Barsac“ stellt wiederum eine Variante des Sujets um einen verrückten Wissenschaftler dar. Hier wird Dr. Jerome in die Burg des exzentrischen Sebastian Barsac eingeladen, mit der an der Sorbonne studiert hatte. Barsac habe seit Verlassen der Universität einzig an einer Veränderung der Zellstruktur des Gehirns gearbeitet, um ein Bindeglied zwischen Mensch und Tier zu entdecken. Ihm sei es gelungen, mittels mechanischer Hypnose menschliche Charakteristiken auf Tiere zu übertragen. Dr. Jerome muss sehr schnell feststellen, dass hinter dem wahnwitzig wirkenden Gefasel seines alten Kommilitonen mehr steckt, als er ahnt…
In „Der Pakt mit dem Schatten“ hadert ein Drugstore-Betreiber, der Pharmazie studiert hatte, mit seinem Schicksal, jeden Tag zehn bis fünfzehn Stunden auf den Füßen zu sein, um seinen Kunden Coca-Cola und Schokoladensodas auszuschenken. Da ist es eine willkommene Abwechslung für ihn, als ein Mann, der sich als Chemiker ausgibt, der Experimente durchführt, ungewöhnliche Dinge wie Eisenhuttinktur, Belladonna, Phosphor und ein Dutzend Kerzen nachfragt. Allerdings bittet er, den fälligen Betrag für drei Tage zu stunden. Zwar hält der Mann sein Versprechen, wird aber fortan von einem geheimnisvollen Schatten begleitet…

„Als ich an diesem Abend nach Hause ging, sah ich die dunkle Straße mit neuem Interesse. Die schwarzen Häuser standen wie eine Barriere, hinter der phantastische Geheimnisse lauerten. Reihe auf Reihe, keine Häuser mehr, sondern dunkle Kerker von Träumen. In welchem Haus verbarg sich mein Fremder? In welchem Raum beschwor er welche seltsamen Götter? Wieder einmal fühlte ich die Gegenwart von Wundern in der Welt, von versteckten Seltsamkeiten hinter der Szene von Drugstore und technischer Zivilisation. Noch immer wurden schwarze Bücher gelesen, und wildäugige Fremde gingen und murmelten, Kerzen brannten in der Nacht, und eine vermisste Katze mochte ein Tieropfer bedeuten.“ (S. 99)

Robert Bloch erweist sich in einer seiner besseren Kurzgeschichten-Sammlungen als Meister des Schreckens, erzählt – natürlich – von den obligatorischen Vampiren, Okkultisten und experimentierfreudigen Wissenschaftlern, von leichtgläubigen und skeptischen Menschen, die mehr als dicht davor sind, die Schwelle zum Wahnsinn zu überschreiten, die aber auch oft genug eine böse Überraschung erleben. Vor allem ist Robert Bloch, der auch Drehbücher zu Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Totentanz der Vampire“ schrieb, ein Meister der kurzen, knackigen Pointe.