Stephen King – „Das Mädchen“
Samstag, 12. Juni 2010
Mit seinem aktuellen Streich „Das Mädchen“ erzählt der „King des Horrors“ auf ungewohnt geradlinige Weise die Geschichte der neunjährigen Trisha, die mit ihrem Bruder und ihrer Mutter eine Wanderung unternimmt, im Wald aber vom Weg abkommt und sich verirrt, ohne dass jemand mitbekommt, dass sie sich verirrt hat.
Die Stärke in Kings Geschichte liegt dabei in der Beschreibung der Ängste, die das Mädchen gerade mit dem nahenden Hereinbrechen der Dunkelheit durchmacht. Doch die Einsamkeit, die Mücken und die wilden Tiere stellen sich noch als die geringsten Probleme heraus, die Trisha zu bewältigen hat. Um sie herum scheint sich ein Grauen zu manifestieren, dessen Intensität zum einen auf Grimms Märchen von Hänsel und Gretel basiert, aber auch an den Schocker „The Blair Witch Project“ denken lässt.
Stephen King - „Im Kabinett des Todes“
Stephen King ist seit jeher ein Meister der Kurzgeschichte gewesen, hat sein Ausnahmetalent in diesem literarischen Genre in Sammlungen wie „Nachtschicht“, „Frühling, Sommer, Herbst & Winter“, „Im Morgengrauen“, „Alpträume“ und „Abgrund“ immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Nach längerer Zeit legt der „King des Horrors“ mit „Im Kabinett des Todes“ endlich wieder eine packende Sammlung gruseliger wie literarisch anspruchsvoller Geschichten vor, darunter unter anderem „Achterbahn“, jener erfolgreicher Versuch, eine Geschichte allein über das Internet zu verkaufen. Ein junger Student erhält die Nachricht, dass seine Mutter einen Schlaganfall erlitten hat, und per Anhalter zu seinem Zuhause in Harlow fährt. Dabei wird er von seinem gar nicht menschlichen Fahrer vor die Wahl gestellt, ob er selbst oder seine Mutter sterben soll... Wunderbar witzig ist „L.T.s Theorie der Kuscheltiere“, in der L.T. seinen Kumpels erzählt, wie seine Frau ihn verlassen hat, und er bringt all die kuriosen Anekdoten zum Besten, die ihre Ehe so schmackhaft gemacht haben. Andere Stories wie „Autopsieraum vier“, in der es um die Angst vor dem Scheintod geht, oder „1408“ – die Geschichte eines unheimlichen Hotelzimmers, dessen Geheimnis ein Schriftsteller zu lüften versucht – bearbeiten bekanntes Terrain, aber es ist eben Kings meisterhafte und vielseitige Art des Erzählens, die sein Werk so unterhaltsam machen.
Stephen King - „Atlantis“
Seine erzählerische Meisterschaft stellt Stephen King in seinem Roman „Atlantis“ eindrucksvoll unter Beweis. In diesem Epos, das in der Woodstock-Ära angesiedelt ist und damit das Lebensgefühl von Stephen Kings Generation widerspiegelt, entwirft King das einfühlsame Szenario einer Freundschaft zwischen dem elfjährigen Bobby Garfield und seinem neuen Nachbarn Ted Brautigan, der durch seine Lebenserfahrung und Klugheit schnell zu Bobbys Lehrmeister wird.
Allerdings bittet der Alte seinen jungen Freund bald um Beistand gegen mächtige Feinde in senfgelben Mänteln, als Menschen getarnte Außerirdische. Was Bobby anfangs als Spinnerei abtut, entpuppt sich schließlich als reale, mächtige Bedrohung nicht nur für Bobby und seinen väterlichen Freund, sondern für die ganze Kleinstadt Harwich im Nordosten der USA. Geschickt zeichnet King das komplexe Portrait seiner eigenen Generation, macht durch die Verstrickung von der im Zuge des Vietnam-Traumas aufkeimenden Paranoia mit Verrat, Gewalt, Träumen und Ängsten das Lebensgefühl einer Ära transparent, deren Alltag ebenso vom normalen Wahnsinn durchzogen wurde wie heute.
Die filmische Adaption von Scott Hicks („Shine“, „Schnee, der auf Zedern fällt“) mit Anthony Hopkins in der Rolle von Ted Brautigan zählt übrigens auch zu den besten unter den unzähligen Stephen-King-Verfilmungen.
Dan Simmons - "Drood"
Donnerstag, 3. Juni 2010
(Heyne, 976 S., HC)
Über 125 Jahre nach dem Ableben der beiden miteinander befreundeten großen englischen Schriftsteller Wilkie Collins („Die Frau in Weiß“) und Charles Dickens („Oliver Twist“, „Große Erwartungen“) taucht eine Geschichte auf, in der Wilkie Collins die letzten Jahre im Leben seines Freundes beschreibt, das am 9. Juni 1865 eine tragische Wendung genommen hat. An diesem Tag befand sich Charles Dickens im Tidal Train auf der Rückreise nach London (nachdem er in Paris an seinem Buch „Our Mutual Friend“ gearbeitet hatte), als der Zug an einer Baustelle nicht rechtzeitig zum Stehen kam und über einer Brücke entgleiste. Nur ein Wagen der ersten und einer der zweiten Klasse schafften es auf die andere Seite. Zu den Glücklichen, die in jenem Wagen der ersten Klasse saßen, gehörte der damals wohl neben Shakespeare berühmteste Autor, der sich gleich auf den Weg machte, zu den Toten und Verletzten zu eilen. Doch während seiner Rettungsaktion fiel Dickens ein großer, dünner Gentleman in einem schweren, schwarzen Umhang auf, der ausgemergelt wie eine Leiche aussah und dem mehrere Finger teilweise oder ganz fehlten. Als sich die beiden Herren einander vorstellten, meinte Dickens den Namen „Drood“ verstanden zu haben, und offensichtlich wollte er nach East London, wo der Zug eigentlich nicht hinfuhr.
Dan Simmons hat sich erfolgreich als Autor im Horror-Genre („Kinder der Nacht“, „Kraft des Bösen“) und in der Science-fiction („Hyperion“, „Ilium“) einen Namen gemacht, mit dem 2007 veröffentlichten „Terror“ nahm er sich John Franklins abenteuerlichen Suche nach der Nordwestpassage an und landete mit dem historischen Thriller einen Bestseller. Mit „Drood“ setzt Simmons nun seine Arbeit in diesem Genre fort und spinnt aus dem Eisenbahnunglück, das Dickens tatsächlich an besagtem 9. Juni 1865 erlebte und von dem er sich nie so recht erholte, eine höchst spannende Geschichte, die eindrucksvolle Einblicke in das Leben zweier berühmter englischer Schriftsteller gewährt und dabei ihre Epoche lebensnah vor Augen führt.
Jed Rubenfeld - „Morddeutung“
Mittwoch, 2. Juni 2010
Als Ehrendoktor der Clark University in Worcester, Massachusetts, wird Sigmund Freud im Jahr 1909 zu einer Vorlesungsreihe über Psychoanalyse eingeladen. Zur gleichen Zeit wird eine junge Frau, die zuvor mit Peitschenhieben gefoltert wurde, an einem Kronleuchter aufgehängt in ihrem Luxusapartment aufgefunden. Wenig später erleidet die hübsche Nora Acton fast ein ähnliches Schicksal, überlebt den Angriff aber mit einem Schock, der sie nicht nur die Stimme, sondern auch das Gedächtnis verlieren lässt.
Der junge Psychologe Stratham Younger, der Freud und seine Kollegen C.G. Jung und Sándor Ferenczi in Empfang genommen hat, wird damit beauftragt, mit Freuds Unterstützung die Erinnerungen der jungen Frau zurückzugewinnen, um so Aufschluss über den Täter zu erhalten. Währenddessen wird einiges darangesetzt, dass Freud seine Vorlesungen an der Universität absagt. Und während der nervöse Bürgermeister McClellan, der profilneurotische Pathologe Hugel und der tüchtige Jung-Detective Littlemore sich auf die Suche nach dem Serienkiller machen, macht sich zunehmend Unruhe in den höchsten Schichten der New Yorker Gesellschaft breit, denn alles deutet darauf hin, dass unter ihnen der Täter zu finden ist …
Jed Rubenfeld hat die Spekulationen über Freuds Amerika-Reise, von der seine Biografen meinen, dass dort ein unbekanntes Ereignis eine Art Trauma bei dem berühmten Psychoanalytiker verursacht haben könnte, als Ausgangspunkt für einen faszinierenden Thriller in bester Jack-the-Ripper-Manier genommen.
Clive Barker – „Imagica“
Dienstag, 18. Mai 2010
Als Charlie Estabrook das erste Mal der schönen Judith begegnete, war er sogleich hin und weg. Dass sie noch mit dem von der Frauenwelt weithin begehrten Künstler John Furie Zacharias, kurz Gentle genannt, liiert war, machte ihm nicht viel aus. Er wartete, bis seine Zeit gekommen war und heiratete das Objekt seiner Begierde, doch waren auch ihm nur fünf glückliche Jahre mit Judith vergönnt. Die anschließende Trennung rief einen solchen Schmerz der Demütigung bei ihm hervor, dass Charles nun seinen Chauffeur Chant damit beauftragt, einen Killer zu finden, der Judith ins Jenseits befördert. Pie‘oh‘pah soll der Beste seines Fachs sein und wird von Estabrook nach New York geschickt, wo sie mittlerweile mit einem neuen Mann lebt. Doch dann plagen den gehörnten Liebhaber Gewissensbisse, und er wendet sich an Gentle, den Killer aufzuhalten. Da Gentle gerade selbst eine weitere Trennung von einer Frau verarbeiten muss und von dem Händler Chester Klein keine Aufträge für Fälschungen erwarten kann, reist er ebenfalls nach New York und kann tatsächlich den Anschlag auf seine ehemalige Geliebte verhindern. Gentle ist allerdings so von Pie’oh’pahs gestaltwandlerischen Fähigkeiten fasziniert, dass er sich von Pie in ein Mysterium einweihen lässt, dass nur wenigen Eingeweihten vertraut ist: Die Erde ist nur eine von fünf Domänen.
Maestro Sartoris Versuch, die Fünfte Domäne mit den anderen vier zu vereinen und so den Riss in Imagica zu schließen, endete in einer Katastrophe, bei der viele Theurgen, Schamanen und Theologen ihr Leben verloren. Einige der Überlebenden versuchen seitdem in einer Organisation namens Tabula Rasa, das magische Wissen aus der Fünften Domäne zu tilgen. Doch es gibt immer noch viele Schlupflöcher zwischen den Domänen. So betreibt Oscar Edmond Godolphin regen Handel mit dem „Sünder“ genannten Kaufmann Hebbert Nuits-St. Georges aus Yzordderrex in der Zweiten Domäne, den er mit Götzenbildern, Fetischen und Reliquien aus der Fünften Domäne beliefert. Judith findet im Safe ihres Ex-Mannes Charles außergewöhnliche Gegenstände, mit denen sie selbst auf die Reise zwischen den Welten geht. Neugierig geworden, beginnt sie eine Beziehung mit Oscar, dem Bruder ihres Mannes, der seine eigene Zuflucht besitzt, die ihn in die Domänen bringt. Und als man Pie nach dem Leben trachtet, nimmt dieser Gentle auf einen abenteuerlichen Trip in die anderen Domänen. Sowohl Judith als auch Gentle erfahren auf ihren Reisen nach Imagica, dass der Unerblickte einst durch sein Reich wanderte und alle Kulte zerstörte, die er für unwürdig erachtete, meistens Göttinnen und Prophetinnen. Doch Gentle und Pie stoßen auf Huzzah, die zehnjährige Tochter des untalentierten Malers Aping, die offensichtlich noch die Gabe zu sehen besitzt. In ihren Träumen erblickte sie eine Göttin, Tishalullé, die in der Wiege nur darauf wartet, aus den Fluten aufzusteigen. Gentle erfährt, dass ihm eine ganz besondere Rolle dabei zufällt, die getrennten Domänen wieder zusammenzuführen. Doch bei dieser Mission sind etliche Gefahren zu bewältigen …
Clive Barkers Phantasie kennt offensichtlich keine Grenzen, und mit Leichtigkeit scheint er neue Welten, Wesen und Namen zu erfinden, die abenteuerliche Missionen erleben. Mit „Imagica“ ist dem visionären Künstler ein weiteres Meisterwerk gelungen, dessen Geschichte zwar im gegenwärtigen England wurzelt, aber schnell die dem Leser bekannte Geographie verlässt, um neue magische Welten zu erschließen, mythologische Systeme einzuführen und eine ganz einzigartige Apokalypse zu inszenieren, in der nichts so zu sein scheint wie zunächst angenommen. Diese erfrischend vielschichtige Auseinandersetzung zwischen Autokraten, selbsternannten Heilsbringern, schaurigen Dämonen, Scharlatanen, Dienern, Menschen und Göttinnen beschreibt Clive Barker in einer wundervoll eleganten, anspruchsvollen Sprache, dass es eine Wonne ist, seinen ausgefallenen Ideen und seinen phantasievollen Worten zu folgen. Das ist große Fantasy-Kunst!
Clive Barker - “Galileo”
Angefangen hatte und berühmt wurde der in Liverpool aufgewachsene Clive Barker mit seiner sechs Bände umfassenden Kurzgeschichten-Sammlung “Die Bücher des Blutes”, die ihn gleich auf den Horror-Olymp katapultierten. In den letzten Jahren sind Barkers Geschichten zum einen immer umfangreicher geworden, zum anderen haben sie mit dem blutigen Splatter-Horror seiner literarischen Frühzeit nicht mehr viel gemein. So ist sein neues, über 900 Seiten umfassendes Werk “Galileo” nur noch am Rande gerade mal der Fantasy zuzuordnen, weist ansonsten aber alle Merkmale einer opulenten Familienchronik auf, die der Erzähler Maddox Barbarossa niederzuschreiben gedenkt.
Wertvolle Unterstützung erhält er dabei von seiner Stiefmutter Cesaria, die ihm durch die Übermittlung von Visionen an den Schicksalen nicht nur der beinahe unsterblichen Familie Barbarossa teilhaben lässt, sondern auch an denen des mächtigen Clans der Gearys, mit denen die Barbarossas durch Liebe und Hass fast unzertrennlich verbunden sind. Besondere Aufmerksamkeit richtet Maddox auf das Leben der jungen Rachel, die den reichen und herrschsüchtigen Mitch Geary heiratet, sich aber bald von ihm trennt und die Arme des geheimnisvollen Seefahrers Galileo Barbarossa flieht, der eine magische Anziehungskraft auf alle Frauen der Gearys auszuüben scheint. Clive Barker erzählt diese faszinierende Verbindung zwischen den beiden auf unterschiedliche Weise mächtigen Familien mit jenem phantastischen Einfallsreichtum und ausgereiften Stil, den man von ihm seit jeher gewohnt ist, aber gerade mit seinen letzten Romanen “Stadt des Bösen” und “Das Sakrament” an fesselnder Eindringlichkeit noch gewonnen haben.