Paolo Coelho – „Untreue“

Donnerstag, 23. Oktober 2014

(Diogenes, 315 S., HC)
Die 31-jährige Linda ist eine bekannte Journalistin einer angesehenen Tageszeitung in Genf, die glücklich verheiratet mit dem mehr als wohlhabenden Manager eines renommierten Investmentfonds ist, mit dem sie zwei Söhne hat, und trotzdem meint die ebenso begehrte wie beneidete Frau, dass jeder vor ihr liegende Tag ein Desaster wird. Das wird ihr besonders nach einem Interview mit einem Schriftsteller bewusst, dem es nicht darum geht, glücklich zu sein, sondern sein Leben voller Leidenschaft zu gestalten. Mit diesem Statement im Kopf beginnt Linda ihr Leben in Frage zu stellen. Hin- und hergerissen zwischen der Angst, ihr Leben bis zum Ende der Tage in völliger Gleichförmigkeit zu verbringen, und der Angst, dass sich von einem Augenblick zum anderen alles verändern könnte, quält sich Linda mit verschiedenen weiteren damit zusammenhängen Fragen, die sich um die Liebe und ihre Abwesenheit drehen und um die Sorge, dass sie ihre besten Jahre mit Routine vergeudet.
Als sie den ein Jahr jüngeren Politiker Jacob König interviewt, für den sie schon als Jugendliche geschwärmt hat, beginnt sie eine leidenschaftliche Affäre mit ihm, die auch ihr Eheleben zu bereichern scheint. Doch je mehr sich Linda auf den ebenfalls verheirateten Mann einlässt, desto mehr hinterfragt sie sich selbst und ihr Verhalten.
„Kann man lernen, den richtigen Mann zu lieben? Selbstverständlich. Dafür muss es einem allerdings gelingen, den falschen Mann zu vergessen, der, ohne um Erlaubnis zu bitten, in unser Leben getreten ist, weil er gerade vorbeikam, und nachher sagt, die Tür habe doch offen gestanden. Was wollte ich von Jacob? Ich wusste doch von Anfang an, dass unsere Beziehung zum Scheitern verurteilt war, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie auf so demütigende Weise enden könnte. Vielleicht wollte ich nur, was ich bekommen habe: Abenteuer, Lust und neue Lebensfreude. Oder hatte ich etwa mehr gewollt?“ (S.254) 
Wie bei dem brasilianischen Bestseller-Autor üblich, wird „Untreue“ nicht durch die Handlung dominiert. Stattdessen dient die Ausgangssituation einer erfolgreichen, jungen, attraktiven und wohlhabenden Frau dazu, den Leser einmal mehr dazu zu animieren, sich über wesentliche Aspekte seines eigenen Lebens Gedanken zu machen. Statt seine Leser zu emotionaler Anteilnahme an Lindas Schicksal zu animieren, lässt Coelho sein Publikum vor allem an Lindas Gedanken und Gefühlen teilhaben. Allerdings wirken diese inneren Monologe nicht immer schlüssig und stellen auch Lindas Verhalten immer wieder in Frage. Stattdessen wird der Leser den Eindruck nicht los, dass Coelho sich selbst mit seinen wohlwollenden, spirituell angehauchten Weisheiten in den Vordergrund rückt und dabei leider vergisst, eine interessante Geschichte zu erzählen.
Wenn der eine oder andere Leser zum Nachdenken über das wahre Glück und wie es zu erreichen und zu bewahren ist angeregt wird, hat Coelho sein Ziel sicher erreicht. Doch die Geschichte an sich ist nicht glaubwürdig und packend genug geschrieben, um auch Leser fesseln zu können, die nicht an einer spirituellen Entwicklung interessiert sind.
Leseprobe Paolo Coelho - "Untreue"

Joe R. Lansdale – „Dunkle Gewässer“

Donnerstag, 16. Oktober 2014

(Heyne, 320 S., Tb.)
Sue Ellens Daddy hat es aufgegeben, Fische mit dem Telefon oder mit Dynamit zu fangen, nachdem er dabei einige Finger verloren hatte. Stattdessen vergiftet er sie mit einem Jutesack voller grüner Walnüsse. Als Sue Ellen eines Tages ihren Vater und Onkel Gene zum Angeln begleitet, wird sie Zeuge, wie mit dem Jutesack auch die Leiche ihrer Freundin May Lynn Baxter auftaucht. Nach ihrer Beerdigung am nächsten Tag macht sich der Constable nicht die Mühe, nach dem Mörder des Mädchens zu suchen, aber Sue Ellen und ihre Freunde Terry und Jinx sind der Meinung, dass die Zeit ihres jungen Lebens hübsche May Lynn etwas Besseres verdient habe, als in einem Armengrab zu verrotten. Da das Mädchen immer davon geträumt hatte, ein Filmstar in Hollywood zu werden, beschließen die Freunde, May Lynns Leiche auszugraben und zu verbrennen und ihre Asche nach Hollywood zu bringen.
In May Lynns Sachen finden sie sogar den Hinweis auf die Beute aus einem Banküberfall, mit der sie sich zusammen mit Sue Ellens psychisch labiler Mutter auf ein Floß begeben, um damit den Fluss hinab nach Süden zu reisen. Doch auf ihre Fährte begeben sich nicht nur der korrupte Constable, sondern auch ein sagenumwobener Auftragskiller, der dafür bekannt ist, Spielchen mit seinen Opfern zu spielen … Sogar die alte Frau, bei der die Reisenden unterwegs Unterschlupf und vor allem Essen zu finden hoffen, hat von Skunk gehört.
„‘Er ist wie die Hitze, wie Wind, Regen und die Erde‘, sagte die alte Frau. ‚Ihm bedeuten Tage nichts. Zeit ist ihm gleichgültig. Er tut, was er tut, weil er etwas dafür bekommt. Schuhe, was zu essen, einen Hut. Wenigstens sind das die Gründe, wenn man die Sache oberflächlich betrachtet, aber sobald man ein wenig an dieser Oberfläche kratzt, dann stellt man fest, dass er es macht, weil es ihm gefällt. Er hat Geschmack am Töten gefunden. Wenn er sich etwas vorgenommen hat, dann macht er das auch, selbst wenn es eine halbe Ewigkeit dauert. Weder Tod noch Teufel können ihn davon abhalten. Und jetzt habt ihr diesen eiskalten Mörder an meine Tür geführt.‘“ (S. 263) 
Der texanische Autor Joe R. Lansdale ist vor allem durch seine Krimi-Serie um den weißen, heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap Collins und den schwarzen, homosexuellen Vietnam-Veteran Leonard Pine bekannt geworden, er fühlt sich aber im Science-Fiction-, Western- oder Fantasy-Genre heimisch. Mit „Dunkle Gewässer“ legt Lansdale nun einen Horror-Thriller vor, der es wirklich in sich hat. Sue Ellen, die jugendliche Ich-Erzählerin der Geschichte, ist mit einem temperamentvollen Vater und einer Mutter geschlagen, die ihr Leben im Bett verbringt und sich mit ihrer sonderbaren Medizin stets im Dämmerzustand befindet. Unter diesen Umständen hat sich das Mädchen zu einer selbstständigen und humorvollen Teenagerin entwickelt, die mit ihrem mutmaßlichen schwulen Freund Terry und der schwarzen Jinx zu einer abenteuerlichen Odyssee aufmacht, zu der sich sogar Sue Ellens Mutter aufrafft und dabei neuen Lebensmut schöpft.
Lansdale begleitet seine unerschrockene Crew mit viel Sympathie für seine Figuren und mit einer lebendigen Sprache, die immer wieder humorvoll die irrwitzigsten Vergleiche heraufbeschwört. Dieser Sprachwitz bildet dabei einen interessanten Kontrast zu den wenig erbaulichen Zwischenfällen, mit denen die Reisenden konfrontiert werden, die schließlich in der unausweichlichen Konfrontation mit dem gefürchteten Skunk kulminieren.
„Dunkle Gewässer“ bietet erfrischend leichtflüssig geschriebene Grusel- und Spannungs-Unterhaltung auf höchstem Niveau, verbindet brillanten Wortwitz mit überzeugend gezeichneten Figuren in einem dramaturgisch perfekt ausbalancierten Plot.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Dunkle Gewässer"

Richard Laymon – „Der Geist“

Samstag, 11. Oktober 2014

(Heyne, 512 S., Tb.)
Während der Semesterabschlussfeier, die die junge Literatur-Dozentin Dr. Corie Dalton für ihre Studenten bei sich zu Hause veranstaltet, entdeckt Lana unter einem Stapel von Gesellschaftsspielen ein Ouija-Brett, das sie entgegen des Rats ihrer Gastgeberin mit ihren Kommilitonen ausprobiert. Tatsächlich gelingt es den Studenten, Kontakt zu einem Geist namens Butler aufzunehmen, der die Spieler erst auf einen 100-Dollar-Schein zwischen den Sofakissen aufmerksam macht und ihnen schließlich einen Schatz am Calamity Peak, einer schwer zugänglichen Bergregion in Kalifornien, in Aussicht stellt.
Als Corie in der Nacht Besuch von Chad, dem Bruder ihres verstorbenen Mannes, bekommt, der sich vor fünf Jahren in die Berge zurückgezogen hatte, machen sich Keith, Lana, Doris, Glen, Howard und Angela auf den Weg – mit dem Ouija-Brett, das ihnen den Weg zum Schatz weisen soll. Während Corie in der Nacht endlich erfährt, warum Chad damals so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden ist, packen die Studenten ihre Sachen, wobei Howard Angela erst einmal aus den Fängen ihres Peinigers Skerrit befreien muss. Der Vorfall bringt die beiden einander ebenso näher, wie Corie und Chad die Vergangenheit ruhen lassen, um gemeinsam einen Neubeginn zu wagen. In Sorge um ihre Studenten macht sie sich mit ihrem neuen Lover auf den Weg, die jungen Leute von ihrem Vorhaben abzubringen. Tatsächlich durchkreuzt ein muskelbepackter Irrer die Pläne der jungen Schatzsucher, doch warten noch weitaus schlimmere Gefahren in der Wildnis auf sie.
Währenddessen erfährt Howard, warum Angela ihm immer so merkwürdig vorkam, als sie ihm ihre Geschichte erzählt.
„Er hatte Mitleid mit ihr. Und mit sich selbst. Er wollte, dass alles wieder so wäre, wie es war, bevor sie ihm ihre schreckliche, unglaubliche Geschichte erzählt hatte. Doch als er sie danach umarmt hatte, hatte er sich geekelt. Als wäre sie unrein, verdorben. Schmutzig. Als stänke sie nach all den anderen, nach ihrem Schweiß und ihrem Samen. Irgendwie hatte sie seine Empfindungen gespürt. Ich will nicht so sein, sagte er sich. Außerdem ist es dumm. Sie ist immer noch Angela. Sie hat sich nicht verändert, weil sie die Geschichte erzählt hat. Und vorher schien sie nicht schmutzig zu sein.“ (S. 276 f.) 
Richard Laymons Horror-Thriller zeichnen sich nicht gerade durch eine besonders raffinierte Sprache oder komplexe Handlungen aus, dafür gelingt es ihm spielend, seine Leser schon mit den ersten Sätzen voll ins Geschehen zu ziehen und seine Figuren äußerst lebendig zu zeichnen. In dieser Hinsicht macht „Der Geist“ keine Ausnahme. Allerdings war es noch nie Laymons Stärke, übersinnliche Elemente besonders überzeugend in seinen Geschichten darzustellen. So verliert „Darkness, Tell Us“, so der 1991 veröffentlichte Originaltitel, immer dann an Eindringlichkeit, wenn das Ouija-Brett ins Spiel kommt, und gewinnt an Dynamik, wenn das Grauen ganz reale Züge annimmt. Und wie bei Laymon üblich darf es in „Der Geist“ auch an expliziten Sexszenen nicht fehlen.
„Der Geist“ zählt sicher nicht zu den stärksten Werken des 2001 verstorbenen Amerikaners, aber Laymon-Fans dürfen sich auf einen bewährten Mix aus Sex, Spannung und Gewalt freuen, dem man so einige Ungereimtheiten gern verzeiht, wenn es die Handlung entsprechend vorantreibt.
Leseprobe Richard Laymon - "Der Geist"

J. R. Moehringer – „Tender Bar“

Samstag, 4. Oktober 2014

(S. Fischer, 459 S., HC)
Seit Steve 1970 die Bar im Herzen der idyllischen Vorstadt Manhasset, siebenundzwanzig Kilometer südöstlich von Manhatten liegend, kaufte und sie nach dem englischen Schriftsteller Charles Dickens in „Dickens“ umbenannte, gibt er seinen Gästen nicht nur den Schutz und den Glanz, den sie wie jeder Amerikaner suchen, sondern lässt sie an diesem egalitären Ort vor allem ihre Einsamkeit vergessen. Es soll einen Gegenpol zu der Welt draußen darstellen, ein Wohnzimmer jener Bilderbuchfamilie, die es nicht gibt. Der siebenjährige John Joseph Moehringer, Jr. wurde nach seinem erfolgreich als Radio-DJ arbeitenden Vater benannt, den seine Mutter verlassen hatte, als er gerade sieben Monate alt war, und der Verlust schmerzt den Jungen so sehr, dass er eine tiefe Verbundenheit zu den Männern entwickelt, die sich regelmäßig im „Dickens“ einfinden. Hier empfängt JR, wie er sich nennt, um nicht mit dem Namen seines Vaters verbunden zu sein, die Geborgenheit und die Ratschläge, die Jungen eigentlich von ihren Vätern bekommen sollten.
JR lernt, woher Smelly, Sooty, Joey D, No-Drip, Bob the Cop und Cager ihre Spitznamen bekommen haben, folgt ihren Diskussionen um Baseballstars und Frauengeschichten. Mit seiner alleinerziehenden Mutter versucht JR immer wieder, aus der Tristesse auszubrechen, die das Leben unter dem Dach seiner Großeltern mit all den Cousinen bedeutet, aber da seine Mutter nie genug verdient, um eine eigene Wohnung auf Dauer zu finanzieren, kehren sie immer wieder zurück. Als JR älter wird, bekommt er ein Stipendium für Yale, doch fühlt er sich im elitären Zirkel all der wohlhabenden Kommilitonen aus gutem Hause wie ein Underdog. Er lernt mit Sidney seine große erste Liebe kennen, die ihn immer wieder wegen anderer Männer sitzenlässt, aber im „Publicans“, wie die Bar nun heißt, findet der nun volljährige JR immer wieder den Mut und die Zuversicht, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen.
„Ich mauserte mich von einem verschwommenen Wesen zu einer wirklichen Person. Onkel Charlie fuhr nicht mehr erschrocken in die Höhe, wenn er mich neben sich stehen sah, und die anderen Männer nahmen mich bewusster wahr, redeten mit mir, brachten mir Dinge bei. Sie brachten mir den richtigen Griff für einen Curveball bei, den richtigen Schwung für ein Neuner-Eisen, die richtige Drehung beim Footballwurf, die Tricks beim Seven-Card Szud-Poker. Sie brachten mir bei, wie man mit den Schultern zuckt, wie man die Stirn in Falten legt, wie man seinen Mann steht. Sie brachten mir Haltung bei und versicherten mir, das Auftreten eines Mannes sei seine Philosophie. Sie brachten mir bei, wie man das Wort ‚fuck‘ benutzt, schenkten mir das Wort wie ein Taschenmesser oder ein gutes Kleidungsstück, wie etwas, das jeder Junge haben sollte.“ (S. 117). 
Der 1964 in New York geborene J. R. Moehringer studierte tatsächlich in Yale und wurde Reporter bei der Los Angeles Times, gewann 2000 sogar den Pulitzer-Preis und veröffentlichte 2005 mit „Tender Bar“ seinen international gefeierten Debüt-Roman. Mit lakonischem, stets selbstironischen Humor und tiefsinnig bewegendem Ton beschreibt Moehringer, wie er den frühen Verlust seines Vaters, den er immer nur als „Die Stimme“ bezeichnet, kompensiert, indem er auf die Stärke seiner Mutter ebenso bauen kann wie auf die weisen Ratschläge all der Männer im „Publicans“.
Wir erfahren, wie der junge JR durch seine „Worte“ den Respekt der Männer erwirbt, wie er durch einen Nebenjob skurrile Buchhändler kennenlernt, die ihn für Yale vorbereiten, wie seine Initialen mit Punkten versehen werden und warum Frank Sinatra eine so große Rolle in seinem Leben spielt. In all diesen biografischen Sequenzen lernen wir nicht nur, wie J. R. Moehringer zu dem Mann geworden ist, der uns schließlich mit diesem wundervollen Roman beglückt, sondern werden auch echten Männern vorgestellt, die auf ihre jeweils einzigartige Weise einen besonderen Einfluss auf das Leben des jungen Mannes genommen haben.
Mit diesem Entwicklungsprozess sind so einige schmerzhafte, aber auch erleuchtende Erkenntnisse verbunden, die „Tender Bar“ bei allem Humor und manchmal tragischen Episoden eine fundamentale Tiefe verleihen, die das Lesen auch zu einem philosophischen Vergnügen macht. Leseprobe J. R. Moehringer - "Tender Bar"

Nick Cutter – „Das Camp“

Sonntag, 28. September 2014

(Heyne, 464 S., Tb.)
Falstaff Island ist eine kleine unbewohnte Insel fünfzehn Kilometer vor der Nordspitze des kanadischen Festlands, die nur als Quartier für gelegentliche Exkursionen dient – wie für die Pfadfindertruppe von Gruppenleiter Tim Riggs. Kaum wurde der 42-Jährige mit den Jungs Kent, Shelley, Newton, Max und Ephraim von einem Boot mit Proviant für drei Tage auf der Insel abgesetzt, bekommt die Truppe Besuch von einem Schiffbrüchigen, wie es aussieht, einem völlig ausgemergelten Mann, der von einem unsäglichen Hunger gequält wird.
Doch die unerschöpfliche Nahrungszufuhr richtet wenig aus. Stattdessen zerfällt der Körper des Mannes immer mehr, und dem als Arzt praktizierenden Gruppenleiter wird schnell bewusst, dass der Mann unter einer tödlichen Infektion leidet.
 „Der Fremde sah nicht mehr ganz wie ein Mensch aus, sondern eher wie etwas, das ein zurückgebliebenes Kind mit einem Buntstift malen würde. Sein Körper bestand nur noch aus Strichen. Seine Arme waren Kritzeleien. Seine Finger kalligrafische Spinnen. Die Haut legte sich furchtbar straff um seinen Brustkorb und spannte sich um jede Rippe, sodass man die einzelnen Muskelfasern sehen konnte. Sein Brustbein war nur noch ein Knoten und sein Becken ein schauerliches, biegsames Gabelbein. Seine Gesichtshaut hatte die Patina von altem Kupfer und klebte so fest an seinem Schädel, dass Max die klaffenden Knochenringe seiner Augenhöhle sehen konnte. Seine Ohren standen wie die Henkel eines Krugs ab und waren so dünn, dass sie sich wie verkohltes Papier nach innen kräuselten.“ (S. 115) 
Riggs schickt die Jungs auf einen Orientierungsmarsch, um sich allein mit dem Kranken zu beschäftigen, wird aber schließlich selbst von dem befallen, das sich unter der Haut und in den Eingeweiden des Gestrandeten schlängelnd bewegt. Nun scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Riggs Schützlinge in Kontakt mit der tödlichen Gefahr kommen …
Mit „The Camp“ hat der kanadische Schriftsteller Craig Davidson (der u.a. für die Romanvorlage des Films „Rost und Knochen“ verantwortlich zeichnete) unter dem Pseudonym Nick Cutter einen hoffentlich nicht einmaligen Ausflug ins Horror-Genre unternommen. Dass Cutter „The Camp“ mit einem Zitat aus William Goldings Klassiker „Herr der Fliegen“ einleitet, ist mehr als nur naheliegend, schließlich wirkt das Setting zunächst allzu vertraut: Fünf Jungen auf der Schwelle zum Erwachsensein werden auf einer einsamen Insel mit einer tödlichen Gefahr konfrontiert, die auch das Verhalten untereinander beeinflusst.
Cutter hat – wie er in seiner Danksagung zugibt – den Aufbau der Story aus Stephen Kings „Carrie“ übernommen, und auch wenn er eine komplett andere Story erzählt, weist „Das Camp“ wesentliche Charakteristika des King of Horror auf, beispielsweise eine eindrucksvolle, glaubwürdige Figurenzeichnung, eine farbenprächtige Sprache und einen packenden Spannungsaufbau, der immer nur durch Auszüge aus Beweismittellisten, Zeitungsartikeln, Gutachten, wissenschaftlichen Vorträgen und eidesstattlichen Aussagen unterbrochen werden, die auf den schrecklichen Ausgang der Story hinweisen.
Natürlich kommt hier auch der berühmte wahnsinnige Wissenschaftler ins Spiel, aber dem Autor gelingt es, dieses vertraute Mittel nicht allzu abgeschmackt zu verwenden, sondern sinnvoll in die Thematik von dem Sinn und Unsinn von wissenschaftlichem Ehrgeiz einzufügen.
„The Camp“ ist ein Horror-Thriller, der sprichwörtlich unter die Haut geht. Dabei überlassen Cutters detaillierte Schilderungen allerdings kaum etwas der Phantasie des Lesers. Aber indem er den Fokus der Geschichte ganz auf das Geschehen auf Falstaff Island reduziert, entwickelt die Story einen unheimlich fesselnden Sog, der keine Gefangenen macht.
Leseprobe Nick Cutter - "Das Camp"

Olen Steinhauer – „Die Spinne“

Sonntag, 21. September 2014

(Heyne, 494 S., Pb.)
Seit der Xin Zhu die sogenannte „Tourismus“-Abteilung der CIA für den Mord an seiner Tochter verantwortlich gemacht hat, löschte er diese in einer spektakulären Racheaktion mit den akkurat ausgeführten Morden an dreiunddreißig Agenten nahezu komplett aus. Zu den wenigen Überlebenden der Abteilung zählten neben dem Leiter Alan Drummond und der Agentin Leticia Jones auch Milo Weaver, der das Massaker an seiner Dienststelle zum Anlass nahm, seinen Job an den Nagel zu hängen.
Doch sein Freund Alan hat es bis heute nicht verwunden, dass er die Morde an seinen Agenten nicht verhindern konnte, und bittet Milo um Unterstützung bei der Vernichtung des Chinesen, der eine Abteilung des chinesischen Geheimdienstes leitet. Weaver lässt sich zunächst nicht ködern, doch dann verschwindet Drummond spurlos aus einem Londoner Hotel. Offensichtlich verfolgt er einen anderen Plan als Senator Nathan Irwin und die NCS-Beamtin Dorothy Collingwood, mit denen er zuvor eine Operation gegen Xin Zhu besprochen hatte.
Als Weavers Frau und Tochter gekidnappt werden, muss er sich wider Willen auch an der Suche nach Drummond beteiligen.
„Er wusste – oder vermutete -, dass sich Alans Plan um Rache drehte, während die Gruppe um Collingwood einen anderen Zweck verfolgte der vielleicht in den Abgründen der Außenpolitik verborgen lag. Was Alan auch vorhatte, es war auf jeden Fall so problematisch, dass Collingwood eine weltweite Suchaktion nach ihm angeleiert hatte. An diesem Punkt kam es auch darauf an, sich von seinen Vorurteilen zu verabschieden. Egal, wie durchgeknallt Alan war, Milo tendierte natürlich zu seiner Seite, denn auf der anderen Seite stand Irwin. Milo versuchte zwar, einen Bogen um Begriffe wie gut und böse zu machen, aber ihm war klar, dass er die beiden Lager automatisch in diese Schubladen einsortierte.“ (S. 276) 
Es dauert mehr als 100 Seiten, bis Milo Weaver, der Protagonist aus Steinhauers ersten beiden Thrillern „Der Tourist“ und „Last Exit“, die Bühne betritt. Bis dahin werden vor allem die Bemühungen des chinesischen Geheimdienstes beschrieben, die Gründe des zu spät bemerkten Aufenthalts von Leticia Jones in Shanghai aufzuklären. Doch sobald Milo Weaver in die Operation eingebunden wird, kommt Tempo und Spannung in den Plot, wie man es sonst nur aus dem Umfeld von James Bond und Jason Bourne kennt.
Steinhauer gelingt es dabei allerdings, die Story nicht unnötig komplex aufzubauschen, sondern diese sehr persönlich zu färben. Erst im letzten Viertel schlägt er vielleicht ein paar Haken zu viel und verliert seinen Helden etwas aus dem Blick. Interessant sind die vertrackten Pläne sowohl des amerikanischen als auch des chinesischen Geheimdienstes aber allemal.
Leseprobe Olen Steinhauer - "Die Spinne"

John Niven – „Coma“

Dienstag, 2. September 2014

(Heyne, 397 S., Pb.)
Unterschiedlicher können zwei Brüder kaum sein wie Gary und Lee Irvine. Sie sind beide nie aus dem beschaulichen Ardgirvan an der schottischen Westküste herausgekommen, doch da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Gary schlug sich in der Verwaltung von Hendersons Gabelstaplerwerk durch und unterminierte konsequent die höher gesteckten Erwartungen seiner Frau Pauline, die sich damals nur auf Gary einließ, weil er der einzige in der Stadt mit einem Job und Auto gewesen war.

Garys große Leidenschaft gilt aber dem Golfsport, die er von seinem vor Jahren verstorbenen Vater geerbt hat, der im Gegensatz zu seinem Sohn aber ein guter Spieler war. Wenn sich Gary auf das Grün wagt, endet sein Auftritt meist in peinlichen Fiaskos. Seinem Bruder Lee ergeht es ganz ähnlich. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und ist sich nicht zu schade, das Darth-Vader-Sparschein seines Sohnes zu plündern, um sich das nächste Pint in der Kneipe leisten zu können. Als er einen Drogendeal vermasselt, sieht es um seine Zukunft noch schwärzer aus. Das Leben der beiden Brüder ändert sich schlagartig, als Gary von einem fehlerhaften Golfball direkt an der rechten Schläfe so schwer getroffen wird, dass er ins Koma fällt, nachdem er gerade den besten Schlag seines Lebens absolviert hat. Als Gary aus dem Koma erwacht, leidet er unter einer außergewöhnlichen Art des Tourette-Syndroms.
„Robertson hatte Cathy und Pauline erklärt, dass all das unfreiwillig geschah, dass es sich dabei um eine spastische Reaktion handelte, die sich unwesentlich von einem Schluckauf unterschied, und dass Gary häufig gar nicht wahrnahm, was er da tat. Dennoch fiel ihnen auf, dass er den Kraftausdrücken manchmal eine hastige Entschuldigung oder einen durchaus bewussten Fluch aus Frustration über seinen Zustand folgen ließ. Ein solcher Satz hörte sich dann folgendermaßen an: ‚Hi, Mum, ich war bloß – O MANN! Du geile Sau, ficken – `tschuldigung! – blöde Kuh, lutsch meinen – SCHEISSE! – lutsch meinen Schwanz. SCHEISSE! SORRY! Grrr!‘“ (S. 154). 
Während Gary und seine Liebsten mit der neuen Situation zurechtzukommen versuchen, plant Garys Frau Pauline, mit dem reichen Teppich-Händler Findlay Masterson ein neues Leben anzufangen. Doch dazu muss erst einmal Findlays Frau aus dem Weg geräumt werden, da eine Scheidung nicht in Frage kommt. Derweil startet Gary allerdings auf dem Golfplatz voll durch und qualifiziert sich aus dem Nichts für die Open in St. Andrews, wo er sogar auf sein Idol Calvin Linklater trifft. Durch Garys unverhoffter Teilnahme und seiner Chance auf ein komfortables Preisgeld verändert sich gleich für etliche Freunde, Bekannte und Verwandte die jeweilige Lebenssituation.
Man muss wirklich kein Golf-Freak sein, um John Nivens „Coma“ lieben zu können. Zwar bedient sich der schottische Kultautor natürlich auch des dazugehörigen Fachjargons, doch lebt der Roman vor allem durch die außergewöhnliche Metamorphose, die Gary Irvine im Verlauf der Geschichte durchmacht. Allein die Sequenz, in der Niven beschreibt, wie Gary mit dem Aufkommen des Tourette-Syndroms auch unter ständigen Erektionen leidet, ist einfach herrlich.
Dazu wird „Coma“ von einer ganzen Reihe herrlich schräger Figuren bevölkert, die die Handlung in jeder Hinsicht bereichern. So wird aus „Coma“ nicht nur eine herrliche Golfer-Satire, sondern auch eine irrwitzige Gangster-Posse und Gesellschafts-Komödie, die durch Nivens grandiosen Wortwitz und wunderbare Dialoge besticht.
Leseprobe John Niven - "Coma"

Stewart O’Nan – „Alle, alle lieben dich“

Freitag, 29. August 2014

(Rowohlt, 413 S., HC)
Im Juli 2005 bereiten sich die drei Freundinnen Kim, Nina und Elise im beschaulichen Kleinstädtchen Kingsville darauf vor, im Herbst aufs College zu gehen. Bis dahin jobben Nina und Kim noch jeden Abend im Laden der Conoco-Tankstelle und hängen ihren Träumen und Hoffnungen nach, die mit dem Weggehen aus Kingsville verbunden sind. Doch eines Abends tritt Kim ihre Schicht im Conoco nicht an, nachdem sie kurz zuvor noch mit ihrem Freund J.P. und Nina ausgelassen am Fluss herumgealbert hat. Es dauert nicht lange, da alarmiert Kims Mutter die Polizei.
Suchtrupps werden zusammengestellt, Befragungen von Freunden und Verwandten durchgeführt, doch erst nach Tagen wird Kims Wagen aufgefunden, von ihr selbst fehlt jede Spur. Die nächsten Tage, Wochen und Monate dreht sich das Leben der Larsens ganz um das Auffinden von Kim. Die Polizei ist keine große Hilfe, also organisiert vor allem Fran mit Flugblättern und einem Online-Auftritt die Suche, während ihr Mann Ed Tag für Tag neue Gebiete nach seiner Tochter absucht und in Motels übernachtet. Die verzweifelte Suche nach ihrer Tochter verändert die Beziehung zwischen den Eheleuten.
„Plötzlich stellten sie sich persönliche Fragen. Wie sie schlafe. Ob die Pillen wirkten. Ober er auch welche haben wolle. Was er heute gegessen habe. Was sie morgen vorhabe. So hatten sie seit ihren ersten Verabredungen nicht mehr miteinander gesprochen, und das Mädchen in ihr hätte das gern romantisch gefunden, sie und er vom Schicksal getrennt, umhüllt von Nacht, zwei Stimmen verbunden durch unsichtbare Wellen, die zwischen weit auseinanderliegenden Türmen durch die kalte Luft gleiten – ein heimliches, unverdientes Band, das sich bei dem Gedanken, dass Kim allein irgendwo dort draußen war, in Luft auflöste.“ (S. 176). 
Stewart O’Nan zeichnet einmal mehr das diffizile Psychogramm einer amerikanischen Mittelschichtsfamilie, die durch das Verschwinden der ältesten Tochter auf eine harte Probe gestellt wird. Dabei beschreibt O’Nan nicht nur die Verzweiflung der Eltern, die sich zunächst auf ganz unterschiedliche Weise mit der traumatischen Situation auseinandersetzen.
Während Ed gern das Weite sucht und den Kummer in sich hineinfrisst, setzt Fran alle Hebel in Bewegung, um ja nichts unversucht zu lassen, die geliebte Tochter wieder in den Schoß der Familie zu führen. Auch Kims jüngere Schwester und die Befindlichkeiten von Kims Clique seziert O’Nan mit der ihm eigenen Gründlichkeit. Der Kriminalfall dient ihm nicht als Plot für einen Thriller um ein vermisstes Mädchen, sondern als Grundlage für ein Drama, das sich vor allem innerhalb der Familie abspielt. Das ist zwar nicht unbedingt etwas für Krimi-Fans, aber spannend ist die Art, wie stückchenweise auch dunkle Geheimnisse thematisiert werden, allemal.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Alle, alle lieben dich"

Jess Walter – „Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten“

Montag, 18. August 2014

(Blessing, 383 S., HC)
Der amerikanische Traum ist für Matt Prior schnell ausgeträumt. Als er noch ein halbwegs erfolgreicher Wirtschaftsjournalist war, konnte er sich mit seiner hübschen Frau Lisa und den beiden Jungs Franklin und Teddy ein nettes Häuschen in einer Vorortsiedlung leisten, doch als der verhinderte Poet seinen Job an den Nagel gehängt hatte, um eine Website für Poesie und Geldanlagen ins Leben zu rufen, kam das Unglück so richtig ins Rollen.
Da Matt mit der Website keine nennenswerten Einnahmen erzielte, musste er seinen alten Job wieder aufnehmen, nur um vor acht Wochen wieder gekündigt zu werden. Durch den Einbruch des Immobilienmarktes drohen den Priors der Verlust des Hauses und des Autos. Ganze sieben Tage bleiben Matt, seine Altersvorsorge aufzulösen und 31.000 Dollar Restzahlung an die Bank zu leisten. Vor diesem desaströsen Hintergrund erscheint es Matt eine gute Idee, beim Milchholen im Supermarkt um die Ecke, auf das Angebot zweier Kiffer einzugehen, mit ihnen auf eine Party zu gehen und mal wieder richtig schön einen durchzuziehen. Dabei kommt ihm die Idee, seine Rücklagen über 9400 Dollar in gutes Gras zu investieren, um es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Als Matt erfährt, dass seine Frau mit einem gewissen Chuck eine Affäre zu haben scheint, gerät seine Welt allerdings immer mehr ins Wanken.
„Es ist beinahe, als bekämen Lisa und ich bloß, was wir verdienen. Zumindest bilden wir uns das ein. Irgendwie scheint das ganze Land davon überzeugt zu sein, wir alle hätten etwas getan, das diese Katastrophe rechtfertigt, diese globale Erwärmung, diesen ewigen Krieg, diesen Haufen Scheiße, in dem wir uns befinden. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, unsere Zukunft verprasst, Ressourcen geplündert, in einer Luftblase gelebt.“ (S. 210)
Matts Versuch, durch den Handel mit Gras zumindest seine finanziellen Sorgen vorübergehend in den Griff zu bekommen, scheitert allerdings schon im Frühstadium, als zwei Beamte einer Sondereinheit auftauchen und Matt zur Zusammenarbeit zwingen …
Wer „Breaking Bad“ kennt, wird das literarische Pendant von Jess Walter lieben. Ebenso wie Walter White angesichts seiner Lungenkrebserkrankung aus Sorge vor der finanziellen Absicherung seiner Familie beginnt, in den Handel mit Methamphetamin einzusteigen, sieht auch Jess Walters Protagonist im Drogengeschäft die besten Möglichkeiten, kurzfristig große Gewinne einzufahren.
Mit einer gelungen Mischung aus geballtem Sprachwitz und durchaus tiefsinnigen Einsichten in die Befindlichkeiten der amerikanischen Mittelschicht, die durch die Immobilien- und Bankenkrise ihrer Fundamente beraubt worden ist, beschreibt der Pulitzer-Preis-Träger die verzweifelten Versuche eines Durchschnittamerikaners, nicht nur sein Eigenheim, sondern auch seine Ehe zu retten und seinen Kindern ein guter Vater zu sein. Neben treffenden Statements zu den wirtschaftlichen Zusammenhängen der Krise und den Auswirkungen auf die amerikanische Mittelschicht bezaubert der kurzweilige Roman durch seinen warmherzigen Humor und den wunderbar lakonischen Ton, mit dem Matt immer wieder seine ausweglose Lage beschreibt, ohne die Hoffnung zu verlieren.
Leseprobe Jess Walter - Die finanziellen Abenteuer des talentierten Poeten

Paul Auster – „Sunset Park“

Sonntag, 10. August 2014

(Rowohlt, 317 S., HC)
Ähnlich wie die terroristischen Anschläge vom 9/11 hat die ab 2008 grassierende Finanzkrise die amerikanische Seele stark erschüttert und die kulturelle Produktion beeinflusst. Der vielfach international prämierte New Yorker Schriftsteller Paul Auster hat die Folgen der Wirtschaftskrise als Ausgangspunkt für seinen Roman „Sunset Park“ genommen, um ganz verschiedene Figuren in einem heruntergekommenen Haus in Sunset Park zusammenzuführen und ihre Geschichten zu erzählen.
Seit der achtundzwanzigjährige Miles Heller vor siebeneinhalb Jahren das College verlassen hat, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Seit einem Jahr arbeitet er mit drei Kollegen für die Immobiliengesellschaft Dunbar in Florida und ist für die Entrümpelung der Häuser zuständig, die von ihren Eigentümern aufgegeben werden mussten. Während seine Kollegen sich immer wieder an den zurückgelassenen Dingen bereichern, beschränkt sich Miles darauf, sie zu fotografieren. Der Zufall oder das Schicksal will es, dass Miles eines Tages in einem Park in Miami der siebzehnjährigen Pilar begegnet, die wie er gerade in F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ liest. Sie lieben sich, ziehen verbotenerweise zusammen, und um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, kehrt Miles nach New York zurück, wo er bei seinem Jugendfreund Bing Nathan Unterschlupf findet. Bing betreibt nicht nur eine „Klinik für kaputte Dinge“, sondern besetzt mit zwei jungen Frauen ein verlassenes Haus im Brooklyner Viertel Sunset Park. Ellen Brice möchte eigentlich Malerin sein, schlägt sich aber stattdessen erfolglos als Immobilienmaklerin durch, die einer verflossenen Liebe nachtrauert, während Alice Bergstrom ihre Doktorarbeit verzweifelt zu beenden versucht und im Büro des PEN arbeitet. Miles komplettiert diese desillusionierte Wohngemeinschaft, in der nur wenige Regeln zu befolgen sind, wie Bing ihm erklärt.
„Jeder Bewohner hat eine Aufgabe zu erfüllen, aber von der Verantwortung für diese Aufgabe abgesehen, kann jeder kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Er ist Hausmeister, Ellen ist Putzfrau, Alice kauft ein und kocht auch meistens. Vielleicht wolle Miles sich den Job mit Alice teilen und sich beim Einkaufen und Kochen mit ihr abwechseln. Miles hat keine Einwände. Er koche gern, sagt er, er habe im Laufe der Jahre ein Händchen dafür entwickelt, das wäre also kein Problem. Bing erklärt, Frühstück und Abendessen nähmen sie meistens gemeinsam ein, da sie alle knapp bei Kasse seien und so wenig wie möglich auszugeben versuchten. Dass sie ihre Mittel zusammenlegen, hat ihnen bisher schon gut geholfen, und jetzt mit Miles als neuem Mitbewohner werden die Kosten pro Nase noch weiter sinken.“ (S. 131) 
Miles nimmt nach Jahren, in denen er kein Wort von sich hören ließ, wieder Kontakt zu seinen Eltern auf. Morris Heller unterhält einen einst renommierten Kleinverlag, der nun aber kurz vor dem Bankrott steht – ebenso wie seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Mary-Lee Swann. Die familiäre Wiedervereinigung verläuft schwierig. Während Vater und Sohn die unglücklichen Schicksale berühmter Baseball-Spieler Revue passieren lassen, ist es nur eine Frage der Zeit, die das Haus in Sunset Park von ihren Besetzern geräumt werden muss.
Es ist alles andere als ein hoffnungsvolles Bild, das Auster in seinem Roman zeichnet. Im Mittelpunkt seines episodenhaft an den einzelnen Figuren aufgehängten Dramas stehen Personen, die abgesehen von der Generation, die durch Miles Hellers Eltern personifiziert werden, nie Fuß gefasst haben in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Durch die Wirtschaftskrise hat die Mittelschicht nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Zukunft verloren. Die vier Bewohner von Sunset Park haben kaum Aussicht auf einen gut bezahlten Job und müssen sich auf die elementarsten Bedürfnisse beschränken.  
Auster wechselt häufig die Erzählperspektive, lässt nicht nur die vier jungen Erwachsenen zu Wort kommen, die eine aus der Not geborene Wohngemeinschaft bilden, sondern auch Morris Heller, der vor den Trümmern seines mühselig aufgebauten Verlags und seiner Ehe steht. Immer wieder wird den Figuren ein Spiegel vorgehalten, sei es durch „Der große Gatsby“, durch den Film „Die besten Jahre unseres Lebens“, den Alice in ihrer Doktorarbeit thematisiert, oder die traurigen Schicksale berühmter Sportler, über die sich Miles und Morris meistens unterhalten.
„Sunset Park“ präsentiert ein glänzend geschriebenes und tiefsinnig beobachtbares Psychogramm einer verlorenen Generation, die ohne Heimat und Hoffnung erscheint und nicht die Möglichkeiten besitzt, ihre Träume und Leidenschaften auszuleben. Dass der Roman ohne Happy End auskommen muss, ist da nur konsequent.

Stewart O’Nan – „Die Chance“

Donnerstag, 24. Juli 2014

(Rowohlt, 224 S., HC)
Die letzten Tage ihrer Ehe wollen Art und Marion Fowler so verbringen, wie sie sie begonnen haben, als sie vor fast dreißig Jahren ihre Flitterwochen in Niagara Falls verbrachten. Während sie ihrer Tochter Emma diesen Trip als zweite Hochzeitsreise verkaufen, treten die Noch-Eheleute die Reise mit unterschiedlichen Erwartungen an. Art hofft fernab der alltäglichen Routine eine wiederbelebende Rückkehr zu den guten Zeiten und so auf eine neue Chance für ihre Ehe, Marion will das Ganze nur mit Würde überstehen.
Allerdings stehen sie nach dem Verlust ihrer Jobs kurz vor der Privatinsolvenz und wollen mit ihren letzten Barreserven im Casino versuchen zu retten, was zu retten ist, nachdem sie über ein Jahr vergeblich versucht haben, ihr Haus zu verkaufen. Außerdem wurde ihre Ehe durch Affären von beiden Seiten belastet. Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen gönnen sie sich zu dem günstigen Preis von 249 Dollar inklusive Busfahrt, Mahlzeiten und einen Gutschein über 50 Euro für einen der Spieltische und für einen Aufpreis von 75 Dollar pro Nacht eine der Hochzeitssuiten im Obergeschoss mit Blick auf den Wasserfall. Beide sind bemüht, es dem anderen irgendwie recht zu machen und etwas zu erleben. Dazu gehört nicht nur ein Konzert der Rockband Heart, bei dem sich die beiden mit allerlei Rauschmitteln versorgen, sondern natürlich auch der allabendliche Besuch im Casino, wo Art und Marion mit der Martingale-Methode hoffen, beim Roulette ihre Schulden tilgen zu können.
„Seiner Gewissheit, die sich anscheinend nur auf Annahmen stützte, traute sie nicht. Er konnte voll Zuversicht behaupten, dass es statistisch gesehen unwahrscheinlich war, fünfmal hintereinander zu verlieren, aber was wusste er schon über das Glücksspiel? Ehepaare sollten sich theoretisch bis zum Tod lieben und ehren, doch auch das klappte nicht immer. Flugzeuge stürzten ab, Banken gingen pleite, ganze Länder zerfielen.“ (S. 210). 
Stewart O’Nan hat sich all seinen Werken als großer amerikanischer Erzähler erwiesen, der ein feines Gespür für die Befindlichkeiten seiner sympathischen Mittelschichtsfiguren besitzt. In seinem neuen Werk begleitet er ein nicht mehr ganz so frisches Ehepaar auf eine schwierige Reise. Unschlüssig, wie sie mit ihren Schulden umgehen, wie sie ihren Kindern die bevorstehende Trennung und den Verlust des Hauses, in dem sie aufgewachsen sind, erklären sollen, haben Art und Marion jeweils ihre eigenen Methoden, mit der Situation umzugehen und dabei immer wieder in vertraute Verhaltensmuster zurückfallen, die dem Partner aber nicht wirklich mehr etwas ausmachen. O’Nans Kunstfertigkeit besteht darin, diese von so unglückseligen Voraussetzungen geprägte Reise mit ebenso viel Ernsthaftigkeit wie Humor zu erzählen, was sich bereits in den Kapitelüberschriften niederschlägt, die mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitserwartungen bezeichnet sind (z.B. Wahrscheinlichkeit, dass ein Ehepaar seinen 25. Hochzeitstag erreicht: 1:6). Dieses Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten lässt sich immer wieder auf sein Ehepaar runterbrechen, aber eben so, dass sie entgegen der prognostizierten schlechten Quote meist einen guten Schnitt machen. Das macht Hoffnung auf ihre Beziehung, und wie Art und Marion aufeinander Rücksicht nehmen und sich dabei immer wieder Gutes tun, beschreibt O’Nan mit einer herzerwärmenden Leichtigkeit, die großen Lesespaß garantiert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Die Chance"

Ryan David Jahn – „Die zweite Haut“

Sonntag, 20. Juli 2014

(Heyne, 319 S., Tb.)
Der 34-jährige Büroangestellte Simon Johnson fristet ein ziemlich ödes Dasein in Los Angeles. Er weiß so wenig mit seinem Leben anzufangen, dass er sonntags sogar lieber ins Lohnabrechnungsbüro fahren würde, um nicht überlegen zu müssen, wie er seine Zeit verbringen kann. Doch eines Tages dringt ein Einbrecher in seine Wohnung ein, in der es nichts zu holen gibt außer seiner Plattensammlung, und trachtet Simon sogar nach dem Leben. Nach einem heftigen Kampf ringt Simon den Fremden nieder und schlägt so lange mit einer Taschenlampe auf den Eindringling ein, bis dieser tot zusammenbricht.
Als er endlich dazu kommt, den Toten genauer zu betrachten, erschrickt Simon, dass er seinem Ebenbild ins Gesicht blickt. Zunächst lagert er die Leiche mit Eis in der Badewanne und versucht, den Umständen auf den Grund zu gehen. Die Papiere weisen den Toten als Jeremy Shackleford aus, und nach einigen Überlegungen beschließt Simon, nicht nur Jeremys Identität anzunehmen, sondern auch sein Leben zu leben. Wie sich nämlich herausstellt, lebte der Tote mit einer schönen Künstlerin namens Samantha in einer komfortablen Wohnung zusammen und arbeitete als Mathematikdozent an einer Kunstschule. Doch die Übernahme des anderen Lebens verläuft nicht ohne Zwischenfälle. Offensichtlich unterhielt Jeremy an der Schule eine Affäre mit der 18-jährigen Studentin Kate Wilhelm und besuchte mit Dr. Zurasky denselben Psychiater wie er selbst. Und schließlich wird Jeremy/Simon von einem Privatdetektiv beschattet. Je mehr Simon zu ergründen versucht, warum Jeremy ihn umbringen wollte, desto mehr gerät er in ein Netz aus Täuschungen, seltsamen Erinnerungen und unerklärlichen Déjà vus, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen.
„Simon Johnson hatte ein ruhiges Leben geführt – aber als Jeremy Shackleford in sein Apartment eingebrochen war, hatte sich alles verändert. Simon hatte ihn versehentlich getötet, aber dennoch hatte es ihn verändert, oder? Die Kälte, mit der er reagierte, entsprach der Kälte, die sein ganzes Leben prägte – aber jetzt war dieses heiße Verlangen nach mehr entbrannt und glühte in ihm wie heiße Kohlen. Und er war zu einem Monster geworden – er war Jeremy Shackleford geworden, oder? Oder er wurde langsam zu Jeremy Shackleford – der Verwandlungsprozess hatte eingesetzt. All diese Dinge, die so tief unter der Oberfläche seines Lebens verborgen gelegen hatten, dass sie größtenteils nur formlose Schatten waren – all diese tentakelbewehrten Kreaturen schossen hervor, all diese Bestien aus seinem Innenleben brachen sich Bahn an die Oberfläche, und sie waren hässlich und schrecklich.“ (S. 286) 
Bereits mit seinen ersten beiden bei Heyne Hardcore veröffentlichten Romanen „Ein Akt der Gewalt“ und „Der Cop“ erwies sich der amerikanische Drehbuch- und Romanautor Ryan David Jahn als Meister des psychologischen Thrillers, der tief in die Abgründe der Seele seiner Figuren zu blicken versteht.
Sein in den USA bereits 2010 unter dem Titel „Low Life“ veröffentlichtes Werk „Die zweite Haut“ erweist sich zunächst als klassischer Krimi, in dem ein Einbruchsopfer zu ergründen versucht, warum eine Art Doppelgänger nach seinem Leben trachten wollte. Doch seit diesem Überfall streut Jahn immer wieder geschickt Hinweise ein, die dem Geschehen eine mysteriöse Note verleihen. In der zweiten Hälfte des Romans weiß nicht mal mehr der Leser, ob Simon/Jeremy an einer starken Paranoia leidet oder ob die geschilderten Ereignisse tatsächlich übernatürlichen Ursprungs sind.
All dies beschreibt Jahn in einer kühlen wie pointierten Sprache, die die Spannung bis zur Zielgeraden aufrechterhält.
Leseprobe Ryan David Jahn - "Die zweite Haut"

Benjamin Lebert – „Im Winter dein Herz“

Sonntag, 13. Juli 2014

(Hoffmann und Campe, 160 S., HC)
In der therapeutischen Einrichtung Waldesruh gehört der Winterschlaf vom 02. Januar bis zum 5. März ebenso zum Programm wie in allen Teilen der Republik. Schließlich verringert der Winterschlaf den Energie- und Rohstoffverbrauch, belastet die Umwelt weniger, reduziert die Probleme der Überbevölkerung, da man während des Winterschlafs zwar sterben, aber nicht vögeln kann. Doch Robert, Kudowski und Annina nehmen an der Schlafmedikation nicht teil und machen sich mit einem schwarzen Suzuki Samurai, der Ritchie Blackmore genannt wird, auf den unbestimmten Weg in den Süden.
Der Frauenheld Robert witzelt damit herum, im regen Kontakt mit diversen Hollywood-Schönheiten zu stehen, während zu den Höhepunkten in Kudowskis Leben der Besuch der Polizeischule zählt. Eine Winter-App auf Kudowskis iPhone führt die Crew zu noch geöffneten Raststätten und Tankstellen, während der Fahrt erinnern sich die Reisenden an „Momente der Geborgenheit“. Robert empfindet solche Momente immer dann, wenn er sich am Meer oder an einem anderen Gewässer befindet, Annina erinnert sich gern daran, wie ihr Onkel sie mit ins Bergwerk genommen hat, wo er nach dem Rechten schaute und die Umkleideräume säuberte. Indem sie sich Geschichten aus ihrem Leben erzählen, kommen sich die drei so unterschiedlichen Unbekannten allmählich näher.
„Sie blickten auf die Fahrbahn, die, von ihren Füßen ausgehend, abfallend und aufsteigend und sich weich schlängelnd dem Horizont entgegeneilte. Nicht weit entfernt sahen sie den schwarzen Fleck, der Ritchie Blackmore war. Plötzlich kam es Robert so vor, als strichen weiche, schneeige Finger über sein Herz – ihn überkam eine große Freude. Und er empfand den anderen beiden gegenüber Dankbarkeit. Dafür, dass sie gemeinsam diese Reise angetreten hatten. Er hätte Annina in diesem Moment gern für einen Moment lang in einer Geste der Dankbarkeit sacht die Hand auf die Schulter gelegt. Und dasselbe sogar bei Kudowski getan.“ (S. 42f.) 
In einem Ambiente, das einen leichten Science-Fiction-Touch verströmt, lässt der junge Hamburger Autor Benjamin Lebert („Crazy“, „Flug der Pelikane“) drei gesellschaftliche Außenseiter gemeinsam einen unvergesslichen Road-Trip erleben. Dabei folgt Lebert weniger dem konventionellen Road-Movie-Szenario, sondern lässt seinen drei Figuren die Fahrt dazu nutzen, durch Erinnerungen ihr Leben zu reflektieren und die besonderen Momente darin herauszukristallisieren.
Dadurch leidet zwar der Erzählfluss in dieser ohnehin sehr kurzen Geschichte, aber dafür werden die jeweiligen Befindlichkeiten der drei Außenseiter umso deutlicher herausgearbeitet. Indem sie sich einander anvertrauen, werden sie schließlich zu Freunden, die durch die winterliche Reise auf wundersame Weise verwandelt werden. Lebert gelingt es, diese Transformation mit oft sehr poetischen Worten zu beschreiben und so den Leser auf magische Weise in dieses außergewöhnliche Szenario einzubinden.
Lesen Sie im Buch: Benjamin Lebert - Im Winter dein Herz

Toby Barlow – „Baba Jaga“

Sonntag, 6. Juli 2014

(Atlantik, 543 S., HC)
Der liebenswürdige Amerikaner Will Van Wyck arbeitet seit Jahren für eine Pariser Werbefirma, die in den 50er Jahren als Briefkastenfirma für die CIA fungiert. In seinen monatlichen Berichten fasst er für seinen Vorgesetzten Brandon Erkenntnisse über die Firmen zusammen, die der 31-Jährige ausspioniert, harte Fakten, die Rohstoffpreise, geschätzte Produktionszyklen und Einblicke in die Expansion eines Mischkonzerns dokumentieren. Doch als bei einem Auftrag die gesammelten Informationen in die falschen Hände gelangen, scheint Wills Karriere nicht nur in der Werbebranche den Bach hinunterzugehen.
Ablenkung verschafft ihm die hübsche Zoja, die sich zusammen mit der russischen Hexe Elga seit Jahrhunderten darauf spezialisiert hat, wohlhabende Männer für sich einzunehmen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nachdem sie ihren letzten Liebhaber etwas ungeschickt ins Jenseits geschickt und damit den Zorn ihrer Herrin auf sich gezogen hat, verwandelt sie den engagierten Polizisten Charles Vidot in einen Floh, als er den beiden Hexen auf die Schliche zu kommen schien, und taucht unter. Zoja, die seit Jahrhunderten nicht um einen Tag gealtert ist, verliebt sich in Will, vertraut aber zunächst auf die bewährten Zauber, um ihn an sich zu binden. Derweil versucht Vidot, als Floh über die Runden zu kommen.
„Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er spürte die leise Berührung des Winds an seinem Körper und hörte das ferne Wiehern eines Pferdes. Als er zu sich kam, stellte er zu seinem Schrecken fest, dass sein winziger Körper im Begriff war, von Wills Kopf zu fallen, da die Haarsträhne, an der er nur locker hing, jetzt wild im Fahrtwind flatterte, der durch ein offenes Autofenster drang. Vidot zog mit aller Kraft und schaffte es, das Tau aus braunem Haar hinaufzuklettern und die Sicherheit der Kopfhaut zu erreichen. Als er sich wieder gesammelt hatte, registrierte er zu seiner Verärgerung, dass er noch immer in die Enge dieses Flohkörpers gefangen war, doch seine kurze Rückkehr ins Menschsein hatte seine Hoffnungen erheblich bestärkt, da er nun wusste, dass er im Wesentlichen, der Seele und dem Geist nach, nach wie vor ein Mann war. Alles Übrige war nur ein Taschenspielertrick.“ (S. 437) 
Da Will auf so leidenschaftliche und romantische Weise mit Zoja verbunden ist, hofft Vidot, dass der gegen ihn erwirkte Zauber wieder rückgängig gemacht wird und er in die Arme seiner Frau Adele zurückkehren kann, die sich derweil anderweitig vergnügt.
Überhaupt geht es in „Baba Jaga“ sehr turbulent zu. CIA und Hexenzauberei, romantische Liebe und purer Sex, Werbestrategien und verdeckte Polizeiermittlungen, Verwandlungen und Verwünschungen – all dies vermengt der in Detroit und New York lebende Toby Barlow mit großer Fabulierkunst zu einer fantasievollen, Magie-geschwängerten Tour de Force.
Lesen Sie im Buch: Tony Barlow - Baba Jaga

David Guterson – „Zwischen Menschen“

Montag, 9. Juni 2014

(Hoffmann und Campe, 208 S., HC)
Bereits in seinem gleich zum internationalen Bestseller avancierten und erfolgreich verfilmten Romandebüt „Schnee, der auf Zedern fällt“ hat der in Seattle lebende Schriftsteller David Guterson seine Fähigkeit demonstriert, die Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen auszuloten. Diese Stärke kommt auch in seinem neuen Erzählungsband „Zwischen Menschen“ zum Tragen, in dem Guterson sechs bereist in verschiedenen Zeitungen erschienene und vier bislang unveröffentlichte Geschichten zusammenfasst, in denen es jeweils um ganz konkrete menschliche Schicksale und ihre Beziehungen zu ihrer menschlichen Umwelt geht.
So macht sich in der Eröffnungsgeschichte „Mieterin“ ein Wohnungsbesitzer Gedanken über die neue Mieterin, Lydia Williams mit Namen und wegen ihrer Referenzen und des herausragenden Bonitätsratings erste Wahl des Maklers. Für den Vermieter ist Lydia Williams eine „geheimnisvolle Nichtexistenz, bislang ungreifbar, weil er sie noch nie gesehen hatte, aber Garantin, so hoffte er, beständiger Mieteinnahmen“. Er beginnt, diese Nichtexistenz mit Vorstellungen zu füllen, doch das fällt ihm so schwer, dass er sich dazu entschließt, per Email Kontakt zu ihr aufzunehmen und sie schließlich unter dem Vorwand, ein Ventil überprüfen zu wollen, in ihrer Wohnung zu besuchen. Das Zusammentreffen desillusioniert den Mann, schließlich stammen er und sie aus unterschiedlichen Generationen und Kulturen.
Diese Unterschiede zwischen den Menschen prägen auch die folgenden Geschichten. In „Paradise“ treffen sich zwei Menschen, die sich über Match.com kennengelernt haben, eine Soziologin, die an der Seattle University über soziale Netzwerke forscht, und ein Handelsrechtler, der auf Wertpapierbetrug spezialisiert ist. Doch nach einigen Dates wird sie immer noch von Erinnerungen an ihren Exfreund Clifton heimgesucht, der auf tragische Weise ums Leben kam.
In „Still“ bietet sich eine junge Frau namens Vivian Lee dem alternden Lou Calhoun als Hundesitterin an und übernimmt auch bald einige Besorgungen für ihn, bis er in ein Hospiz muss, während „Foto“ die Geschichte des Ehepaars Hutchinson erzählt, das ihren Sohn an Bord der „Fearless“ verloren hat und nun Besuch vom Kapitän des Schiffes bekommt, der den Hutchinsons die näheren Umstände des Unglücks erzählt.
Schließlich spielt „Krasawize“ in Berlin und handelt von einem alten Mann, der ein Dreivierteljahrhundert nach seiner Geburt als jüdisches Kind mit seinem Sohn nach Berlin zurückkehrt und sich dort von der hübschen Erika Wolf die Sehenswürdigkeiten zeigen lässt.
David Guterson begleitet in seinen zehn Geschichten seine meist älteren Protagonisten, die bereits einiges erlebt, oft schon persönlich mit dem Tod zu tun gehabt und ihre ganz eigene Sicht auf die Welt haben, in ganz konkreten Situationen, in denen Erfahrungen, Vorurteile und Missverständnisse die geschilderten Ereignisse prägen und selten ein versöhnliches Ende nehmen. Guterson schlägt dabei einen lakonischen, oft melancholischen Ton an, der im Gegensatz zu der distanzierten Sachlichkeit steht, mit dem der Autor seinen Figuren über die Schulter blickt. Für Guterson-Fans und Freunde der gepflegten amerikanischen Short Story ist „Zwischen Menschen“ ein Muss!
Leseprobe David Guterson – „Zwischen Menschen“

John Niven – „Straight White Male“

Samstag, 31. Mai 2014

(Heyne, 384 S., Pb.)
Der gefeierte irische Roman- und Drehbuchautor Kennedy Marr bekommt immer wieder Schwierigkeiten, weil der in Hollywood zwischen den Reichen und Schönen lebende Mittvierziger seinen Schwanz nicht in der Hose lassen kann. Das hat ihn bereits zwei Ehen gekostet und ihm nun ein paar Therapiesitzungen bei Dr. Brendle eingebrockt, weil er sich im Powerhouse mit dem Freund seinem gerade auserkorenen Opfer prügeln musste. Auch sonst sieht es bei dem erfolgsverwöhnten Schwerenöter nicht besonders rosig aus, weil er mehr Geld ausgibt, als durch seine Drehbücher und Überarbeitungen hereinkommt.
Als die Bundessteuerbehörde auf die Zahlung von 1,4 Millionen Dollar pocht, hecken Kennedys Agenten einen Plan aus, der nicht nur auf die Reduzierung seiner immensen Ausgaben abzielt, sondern auch die Erledigung etlicher Aufträge vorsieht, mit denen Kennedy arg im Verzug ist. Da kommt die Nachricht, dass Kennedy in London für den F. W. Bingham Award nominiert ist, wie ein Segen. Allerdings erhält er die steuerfreien 500.000 Pfund nur, wenn er ein Semester lang einen Kurs in „Kreatives Schreiben“ unterrichtet, was der Universität von Deeping wiederum eine bessere Reputation verschaffen soll. Allerdings unterrichtet dort auch Kennedys Ex-Frau Millie, die dort mit der gemeinsamen Tochter Robin lebt. Doch schon auf dem Flug nach England verwickelt sich Kennedy in eine schlagzeilenträchtige Schlägerei und jagt an seiner neuen Wirkungsstätte weiterhin jedem Rock nach, strapaziert über Gebühr seine Leber und legt sich mit der Crew an, die gerade Teile des Films in England dreht, zu dem Kennedy das Drehbuch verfasst hat. Gerade von Millie wird er auf seinen unsteten Lebenswandel angesprochen, der ihn von seiner ganzen Familie entfremdet hat.
„Auf dem Papier, dachte er zum zigsten Mal, sollte doch eigentlich alles gut sein. Eigentlich müsste doch alles prima für ihn laufen. Viel Geld, ein interessanter, glamouröser Job und haufenweise begehrenswerte Frauen, die sich zu ihm hingezogen fühlten. Und dennoch schien er in einer sehr überzeugenden Reproduktion der Hölle gelandet zu sein. Offenbar hatte er ein ausgeprägtes Interesse daran, ja, er befand sich auf einer regelrecht fanatischen Mission, sein Leben so schwierig wie irgend möglich zu gestalten. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass man zu Sex auch Nein sagen kann? Kennedy dachte ernsthaft über diese Frage nach. Hatte er tatsächlich jemals einen Fick abgelehnt? Irgendwann musste er das doch sicher mal getan haben? O ja, damals … obwohl … eine Chance verstreichen zu lassen, weil sich dadurch eine bessere ergab, zählte vermutlich nicht.“ (S. 274f.) 
Als gelegentlicher Drehbuchautor (u.a. zur Verfilmung seines eigenen Bestsellers „Kill Your Friends“) hat der britische Autor John Niven sicher eine mehr als ungefähre Vorstellung davon, wie es im Filmbusiness läuft. In seinem neuen Roman „Straight White Male“ lässt Niven seinen Protagonisten alle Höhen und Tiefen des Starruhms durchleben.
Kennedy Marr ist mit wenigen Bestsellern und Drehbüchern ein schwerreicher Mann geworden, der nicht nur sein Geld für teure Klamotten, exklusives Essen und Partys herausschleudert, sondern auch Verachtung für fast jeden empfindet, der meint, seine Drehbücher bedürfen einer Überarbeitung. Wie Kennedy sich durch die aufgeblasene Hollywood-Szene flucht, säuft und bumst, macht einfach höllisch Spaß. Er teilt mächtig aus, muss aber wenig einstecken. Erst als sein ruinöser finanzieller Zustand einen längeren Aufenthalt in seiner alten Heimat erfordert, muss sich der gefeierte Autor den Dämonen seiner Vergangenheit stellen und sich mit seiner Familie aussöhnen, die ganz alltägliche Probleme zu bewältigen hat.
Obwohl „Straight White Male“ vor Testosteron nur so übersprüht und ungemein witzig geschrieben ist, machen sich vor allem im letzten Drittel auch nachdenkliche und tiefsinnige Töne breit, die den Roman auf ein neues Level heben. Am Ende macht Nivens Anti-Held eine bemerkenswerte Wandlung durch, die keinen Leser unberührt lassen dürfte.
Leseprobe John Niven "Straight White Male"

Jack Ketchum – „Lebendig“

Montag, 26. Mai 2014

(Heyne, 224 S., Tb.)
Auf dem Weg zur einzigen noch auf der West Side von New York übrig gebliebenen Abtreibungsklinik wird die schwangere Sara von den Abtreibungsgegnern Stephen und Kath direkt vor der Klinik entführt, während ihr Geliebter Greg noch einen Parkplatz sucht. Als Sara aufwacht, befindet sie sich in einer sargähnlichen Kiste, doch das bedeutet erst den Anfang ihres Martyriums.
Wie Stephen und Kath ihr mitteilen, gehören sie der einflussreichen „Organisation“ an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, todgeweihte Kinder davor zu retten, von gottlosen Müttern abgetrieben zu werden. Das kinderlose Paar droht Sara damit, dass die Organisation ihre gesamt Familie zu Schaden kommen lässt, sollte sie einen Fluchtversuch unternehmen. Vor allem Stephen scheint daran Gefallen zu finden, die Gefangene nicht nur auszupeitschen, sondern sich immer neue Arten einfallen zu lassen, Sara zu quälen. Neben den üblichen sexuellen Demütigungen erfindet er immer neue Techniken und Instrumente, ihr unvorstellbare Qualen zuzufügen.
„Sie würde hier alt werden. Das Baby dagegen wuchs allmählich heran. Ihr süßes kleines Mädchen. Das sie hatte umbringen wollen. Nein, verdammt noch mal, das war seine Masche. Eine Abtreibung war der Beweis dafür, dass sie, Sara Foster, Herrin über ihren Körper war. Mit ihrem freien Willen eine Entscheidung über ihr Schicksal treffen konnte. Dieser allumfassende, aufgezwungene Kontrollverlust dagegen, der so weit reichte, dass sie nicht mal mehr pinkeln konnte, ohne sich selbst dabei zu beschmutzen, und nur mit seiner Erlaubnis essen oder trinken durfte – das kam einem Mord schon viel näher. Man konnte eine Persönlichkeit, eine Identität ebenso töten wie einen menschlichen Körper.“ (S. 117f.) 
Mit gerade mal 180 Seiten stellt die ursprünglich 1998 veröffentlichte Geschichte „Right to Life“ eine der kürzesten Werke aus dem Schaffen des amerikanischen Autors Dallas Mayr alias Jack Ketchum dar, weshalb der Heyne Verlag in der deutschen Erstausgabe als Bonus noch die beiden Kurzgeschichten „Tapferes Mädchen“ und „Rückkehr“ (beide von 2002) und ein Werkverzeichnis der bislang bei Heyne erschienenen Romane des kompromisslosen Horror-Schriftstellers angehängt hat.
Während die beiden Kurzgeschichten längst nicht Ketchums eigentliche Stärken ausspielen, nämlich die packend-raffinierte Beschreibung von Extremsituationen, in denen seine ProtagonistInnen geraten, schildert „Lebendig“ zunächst ein recht konventionelles Entführungs- und Folter-Szenario mit Ketchum-typischer Drastik, bevor es psychologisch interessant wird, und zwar nicht wie erwartet auf der Opfer-Täter-Ebene, sondern vor allem in der Beziehung des Täterpaars zueinander. Natürlich beschreibt Ketchum das Foltern in einer expliziten Deutlichkeit, die Horror-Fans anspricht, aber faszinierend ist „Lebendig“ vor allem durch die psychologische Dimension, die sich zwischen den Beteiligten entwickelt.
Leseprobe Jack Ketchum "Lebendig"

David Guterson – „Der Andere“

Freitag, 23. Mai 2014

(Hoffmann und Campe, 352 S., HC)
Der 16-jährige Neil Countryman aus Seattle besucht 1972 die Roosevelt Highschool im Norden der Stadt und hat sich in der Nische der 800-Meter-Läufer eingerichtet, wo man weder schnell sein noch die Ausdauer eines Langstreckenläufers besitzen muss. Bei einem Wettkampf gegen die Eliteschule Lakeside lernt er John William Barry kennen und freundet sich mit ihm an. Obwohl sie aus verschiedenen Welten stammen, entdecken sie schnell Gemeinsamkeiten. Sie fischen Münzen aus dem Brunnenam Pacific Science Center, rauchen Dope und wandern in die Berge, wobei sie über Literatur und Philosophie diskutieren.
Aus diesen oft mehrtägigen Exkursionen wird bald mehr, zumindest für John. Während Neil als junger Erwachsener eine Karriere als Englischlehrer verfolgt und eine Familie gründet, wendet sich John von der Welt ab und zieht ins Tal des South Fork Hoh, wo er sich eine Höhle einrichtet und wie ein Eremit zu leben beginnt. Neil Countryman besucht ihn regelmäßig, versorgt seinen Freund mit Konserven und Toilettenpapier.
„In meiner Erinnerung sehe ich John William in seinem Gartenstuhl sitzen, barfuß, mit Bart, die Haare im Gesicht und vorsichtig neues Feuerholz nachlegend. Und ich erinnere mich, dass wir unsere Joints in eine Haarnadel klemmten, die ein früherer Bewohner dieser modrigen Bruchbude im Teppichflor verloren und die John William gefunden und aufbewahrt hatte. Ein College-Student, der aussteigt und barfuß in einem Wohnmobil lebt, ein vom Schicksal Begünstigter, der die Einfachheit sucht.“ (S. 154 f.) 
David Guterson, der gleich mit seinem erfolgreich verfilmten Debütroman „Schnee, der auf Zedern fällt“ international berühmt wurde, schildert in seinem neuen Roman die außergewöhnliche Freundschaft zwischen zwei ganz unterschiedlichen jungen Männern, die nicht nur aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stammen, sondern auch ihre eigenen Lebensentwürfe verfolgen, die recht wenig gemein haben. Aber wie Guterson seinen Ich-Erzähler Neil einmal sagen lässt: „In einer Freundschaft ändert man weniger eigenständig die Bedingungen, als dass man dabei zusieht, wie die Bedingungen sich ändern.“
„Der Andere“ liest sich deshalb so faszinierend, weil die Freundschaft unter diesen starken Veränderungen, die die Männer durchleben, so unerschütterlich bleibt und bis zum Schluss immer neue Facetten der Persönlichkeiten hervorbringt. Vor allem der lange Monolog von Johns Vater zum Ende hin bringt noch einmal richtig Farbe in das zurückliegende Leben des letztlich berühmten „Einsiedlers von Hoh“. Dazu gibt es etliche literarische Exkurse und Einblicke in die Lehren der Gnosis, selbst ein kriminalistisches Element fehlt nicht, als es um die Frage geht, ob Neil Countryman den Tod seines Blutsbruders mit zu verantworten hat.

J. R. Moehringer – „Knapp am Herz vorbei“

Sonntag, 4. Mai 2014

(S. Fischer, 444 S., HC)
Nach siebzehn Jahren im Gefängnis kommt der berühmte Bankräuber Willie Sutton an Weihnachten 1969 aus dem Gefängnis frei. Vor den Gefängnistoren tauschen Dutzende von Journalisten Fakten und Geschichten aus der vier Jahrzehnte umfassenden Karriere des Volkshelden aus, der bei seinen Überfällen nie einen Schuss abgab und seine Verbrechen mit der Leidenschaft eines Künstlers ausführte. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen und spielte Katz und Maus mit Polizisten und FBI-Agenten. Sutton war für seine elegante Kleidung, seine Leidenschaft für gute Bücher und sein schelmisches Lächeln bekannt.
Ungeklärt blieb nur die Frage, ob der für seine Gewaltlosigkeit bekannte Willie the Actor an dem brutalen Mord an Arnold Schuster beteiligt gewesen ist, nachdem sich der meistgesuchte Mann Amerikas und der vierundzwanzigjährige Küstenwachenveteran drei Wochen zuvor in der U-Bahn begegnet waren. Bevor Sutton seine Freiheit so richtig genießen kann, hat er allerdings eine Verpflichtung zu erledigen. Mit dem Flugzeug reist er von Attica nach New York, wo einen Tag lang einen Journalisten und einen Fotografen exklusiv an entscheidende Wegpunkte seines Lebens führt. Schreiber und Knipser sind natürlich vor allem an Suttons möglicher Beteiligung an dem Schuster-Mord interessiert, doch Sutton hat seine eigene Karte mit Punkten skizziert, die es vorher zu besuchen gilt. In der Gold Street in Brooklyn beginnend, wo Sutton am 30. Juni 1901 zur Welt gekommen ist, begleiten die beiden Zeitungsleute Sutton zur Schule, wo er seine beiden Freunde Happy Johnston und Edward Buster Wilson kennenlernte, mit denen er 1919 bzw. 1923 verhaftet worden ist, zu Banken und Geschäften, die er ausgeraubt hat, und zur Promenade auf Coney Island, wo er schließlich seiner großen Liebe Bess begegnete.
„Willie betrachtet Bess. Ihre Augen – Teiche aus Blau und Gold. Er spürt, wie sich die Erde zum Mond neigt. Er beugt sich vor, küsst sie sanft auf die Lippen. Seine Haut kitzelt, sein Blut fängt Feuer. In dieser Sekunde, das weiß er, in diesem unvorhergesehenen Geschenk von einem Augenblick wird seine Zukunft neu geschrieben. Das hier war nicht vorgesehen. Aber es geschieht. Ist wirklich.“ (S. 104) 
Wie schon in seinem gefeierten Debütroman „Tender Bar“ hat Pulitzer-Preisträger J. R. Moehringer auch in seinem zweiten Roman eine wahre Begebenheit als Ausgangspunkt für eine packende Geschichte genommen, deren Lücken er fantasievoll mit Leben gefüllt hat. Während Willie the Actor den beiden namenlosen Zeitungsfritzen seine Lebensgeschichte erzählt, wird die Erzählung immer wieder von Willies Erinnerungen an die rekapitulierte Zeit durchbrochen und ergänzt, so dass Seite für Seite das Portrait eines faszinierenden Mannes entsteht, dessen Dasein letztlich ganz auf die unerfüllte Liebe zu Bess ausgerichtet war.
Suttons Erzählungen wirken dabei so lebendig, dass weder Schreiber noch der Leser an der Wahrheit dessen zweifeln, was Sutton zum Besten gibt. Erst zum Ende hin, als es um den ungeklärten Mord an Arnold Schuster geht, fängt diese Gewissheit zu bröckeln an. Doch ungeachtet dessen, was an dieser farbenfrohen Geschichte wahr oder erfunden sein mag, gefällt „Knapp am Herz vorbei“ vor allem durch die sympathische Hauptfigur, der man leicht abnimmt, dass sie eine Art moderner Robin Hood gewesen ist, vor allem aber ein verzweifelt Liebender, der stets ein großes Faible für die große Literatur hegte.  
Moehringers „Knapp am Herz vorbei“ erweist sich als ein eindringlich geschriebenes Biopic mit toller Beobachtung für die damalige Zeit und feinem Gespür für die sympathischen Figuren.
Leseprobe J. R. Moehringer - „Knapp am Herz vorbei“

Tess Gerritsen - (Rizzoli & Isles: 9) „Grabesstille“

Freitag, 18. April 2014

(Limes, 446 S., HC)
Bei einer Stadtführung durch Bostons Chinatown, in der Billy Foo seinem jungen Publikum schaurig-schöne Gruselgeschichten erzählt, finden die Kinder im Rinnstein eine abgeschlagene Hand. Die Mordkommission unter Leitung von Detective Jane Rizzoli entdeckt in der Nähe nicht nur eine Heckler-&-Koch-Automatikpistole mit Schalldämpfer, sondern auf dem Dach eines Nachbarhauses auch die dazugehörige Leiche einer Frau. Ein am Tatort liegender Autoschlüssel führt zu einem Navigationsgerät, in dem genau zwei Adressen gespeichert sind – die eine führt zu einer Kampfsportschule in Chinatown unter der Führung einer gewissen Iris Fang, die zweite zum pensionierten Polizisten Lou Ingersoll.
Wie die weiteren Ermittlungen ergeben, hat Ingersoll vor fast zwanzig Jahren in einem legendären Amoklauf ermittelt, bei dem der Koch Wu Weimin eines Restaurants mehrere Gäste und dann sich selbst erschoss. Eines der Opfer war der Ehemann von Iris Fang. Der Fall wurde zwar schnell zu den Akten gelegt, doch ungeklärt blieb das Verschwinden von zwei Töchtern der Opfer. Als Jane den Fall mit ihrem Partner Frost und der Unterstützung von Gerichtsmedizinerin Maura Isles wieder aufrollt, tauchen aber neue Spuren am damaligen Tatort auf sowie die Spur zu weiteren verschwundenen Mädchen. Offensichtlich haben sich die Dinge längst nicht so zugtragen, wie der damalige Polizeibericht festgehalten hatte.
„Jane dachte an die Waffe, die in Wu Weimins Hand gefunden worden war, eine Glock mit Gewindelauf. Der Mörder hatte einen Schalldämpfer benutzt, um das Geräusch der ersten acht Schüsse zu unterdrücken. Erst nachdem seine Opfer alle tot waren, schraubte er den Schalldämpfer ab, legte die Waffe in Wu Weimins leblose Hand und feuerte die letzte Kugel ab, um sicherzustellen, dass an der Haut des Toten Schmauchspuren gefunden wurden. Ein perfektes Verbrechen, dachte Jane. Bis auf die Tatsache, dass es eine Zeugin gab.“ (S. 371) 
Ermittlerin Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles sind ein eingespieltes Team. „Grabesstille“ ist bereits der neunte Fall, an dem die beiden Freundinnen zusammen arbeiten, allerdings kreuzen sich ihre Wege hier selten. Das liegt vor allem daran, dass Maura zu Beginn bei einer Gerichtsverhandlung mit ihrer Aussage dafür sorgt, dass ein Cop, der einen gewalttätigen Gefangenen getötet hatte, ins Gefängnis muss, und deshalb beim Boston PD keine guten Karten mehr hat. Allerdings bringt Maura nach ihrer Durchsicht der Ermittlungsakten zum „Red Phoenix“-Massaker vor zwanzig Jahren Jane und ihre Kollegen dazu, den Tatort noch einmal zu untersuchen. Tess Gerritsen hat in „Grabesstille“ erstmals die Mythen und Märchen aufgegriffen, die ihr einst von ihrer chinesischen Großmutter erzählt wurden. Das bringt auf jeden Fall ein fantastisches Element in die ohnehin spannende Handlung mit ein, in der wieder viele Spuren zu verfolgen sind, aber nur wenige offensichtliche Verdächtige auszumachen sind. Die Ermittlungen laufen so in verschiedene Richtungen, dass nur wenig Raum bleibt, um die privaten Angelegenheiten der Hauptfiguren zu thematisieren. Janes Mann, FBI-Ermittler Gabriel Dean, taucht nur einmal kurz unangemeldet in der Gerichtsmedizin auf, während Maura für ein paar Tage Besuch von Julian „Rat“ Perkins bekommt, einem Teenager, der allzu lange in den Wäldern von Wyoming herumstreifen musste und Maura das Leben gerettet hatte. Abgesehen von diesen kurzen Exkursen in das Privatleben von Rizzoli und Isles bietet „Grabesstille“ gewohnt spannende Krimi-Lektüre, die durch den Einfluss chinesischer Mythen durchaus an Farbigkeit gewinnt.