Daniel Speck – „Yoga Town“

Sonntag, 5. November 2023

(S. Fischer, 480 S., HC) 
Dass Daniel Speck sowohl Germanistik als auch Filmgeschichte studierte, schlägt sich nicht nur in seiner Werksbiografie nieder, die zunächst Drehbücher für Produktionen wie „Meine verrückte türkische Hochzeit“, „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“, „Zimtstern und Halbmond“ und „Fischer fischt Frau“ und dann Romane wie „Bella Germania“ und „Jaffa Road“ aufweist, sondern auch in seiner sehr bildhaften, lebendigen Sprache, mit denen seine Romane wie Filme im Kopf seiner Leser inszeniert werden. Das trifft insbesondere für seinen neuen Roman „Yoga Town“ zu, die eine komplizierte Familiengeschichte auf zwei Zeitebenen erzählt und die dabei auch noch die Hintergründe zur Entstehung des letzten Beatles-Albums mit einfließen lässt. 
Berlin im Jahr 2019. Als die Yoga-Lehrerin Lucy von ihrem aufgeregten Vater Lou erfährt, dass ihre von ihrem Vater längst trennt lebende, ihm aber noch freundschaftlich verbundene Mutter Corinna Faerber, verschwunden sei, führt sie die Spurensuche über Corinnas Therapeutin nach Indien. Dorthin unternahmen im Jahr 1968 Lou, seine Freundin Marie und sein jüngerer Bruder Marc eine abenteuerliche Reise, um – ebenso wie die Beatles – ihren peace of mind zu finden. Statt Marie, die Indien blieb, kehrte Corinna, in die sich Lou schon auf dem Weg dorthin in der Türkei verliebt hatte, mit nach Deutschland zurück, doch was genau in Rishikesh geschah, wo sich Hippies aus aller Welt und Prominente wie die Beatles, Donovan und Mia Farrow im Ashram von Guru Maharishi erleuchten lassen wollten, weiß Lucy bis heute nicht. 
Die Suche nach Corinna wird für Lucy, die nach dem Beatles-Song „Lucy In The Sky With Diamonds“ benannt worden und als Yoga-Lehrerin noch nie in Indien gewesen ist, zu einer Reise zu ihren Wurzeln, zu sich selbst. Schließlich versucht sie zu begreifen, warum sie so überstürzt die Beziehung zu ihrem Freund Adnan und seinen beiden bezaubernden Kindern beenden musste, warum Lou sich über die Zeit in Indien stets bedeckt gehalten hat. 
„Wovor lief ich weg? Ich hatte es doch gut. Wovor war meine Mutter weggelaufen? Und was musste Lou verheimlichen? Es war, als gäbe es ein schwarzes Loch in der Mitte unserer Familie, ein implodierter Stern, und wer ihm zu nahekam, würde von seiner Schwerkraft verschluckt werden. Alle kämpften dagegen an, jeder auf seine Weise, und so entfernten wir uns voneinander.“ 
Daniel Speck, der bereits in seinen früheren Romanen für eine Brücke zwischen verschiedenen Kulturen zu bauen versuchte und als Jahrgang 1968 zu jung ist, selbst die Flower-Power-Ära miterlebt zu haben, beginnt seinen Roman als familiäres Drama. Schon nach wenigen Absätzen wird deutlich, dass die Beziehungen zwischen Lou, Corinna und ihrer Tochter Lucy von bislang gut verborgenen Geheimnissen geprägt sind. Die gemeinsame Reise von Vater und Tochter nach Indien nutzt Lucy vor allem dazu, ihrem Vater die wahre Geschichte ihrer Herkunft zu entlocken. 
Der Autor entwirrt die komplexen Beziehungen zwischen Lou, Marc, Marie und Corinna geschickt nach und nach und baut immer wieder dramatische Höhepunkte ein, die den Lesefluss vorantreiben. Dafür sorgen auch die Sprünge zwischen den beiden Erzählsträngen im Jahr 1968 und 2019 sowie die natürlich wirkende Einflechtung von zwei weiteren thematischen Schwerpunkten, die das Familiendrama bedeutungsschwer unterfüttern. 
Auf der einen Seite gelingt es Speck, der vor elf Jahren selbst Rishikesh besucht hat, die Atmosphäre der Spiritualität einzufangen, die den Ort damals geprägt haben muss. Auf der anderen Seite wird der Aufenthalt der Beatles in dem berühmten Ashram besonders ausgeschmückt, wobei deutlich wird, unter welchen Einflüssen die 48 Songs entstanden sind, die das Liverpooler Quartett dort geschrieben hat und von denen nur ein Teil Eingang auf das berühmte „White Album“ der Band fand. 
Wie Speck die sehr persönliche Familiengeschichte in den größeren Zusammenhang der Yoga-Spiritualität und den Entstehungsprozess des letzten Beatles-Albums stellt, macht „Yoga Town“ zu einem sehr kurzweiligen Lesevergnügen, das durch eine gleichnamige Playlist auch den passenden Soundtrack mitliefert. Bei so vielen gewichtigen Themen kommen einige Figuren in ihrer Charakterisierung leider etwas kurz, doch davon abgesehen bietet „Yoga Town“ letztlich eine erquickliche Erklärung dafür, warum einige Reisende sind, andere aber nur Touristen. 

Jo Nesbø – „Das Nachthaus“

Mittwoch, 1. November 2023

(Ullstein, 288 S., HC) 
Mit seiner 1997 gestarteten Reihe um den alkoholkranken Hauptkommissar Harry Hole hat sich der norwegische Schriftsteller Jo Nesbø schnell in die Herzen der Freunde skandinavischer Krimis geschrieben. „Headhunter“ stellte 2008 Nesbøs erster Versuch dar, neben seiner erfolgreichen Krimireihe, aus der der Roman „Schneemann“ im Jahr 2017 sogar verfilmt worden ist, auch andere Geschichten zu erzählen. Eine Sonderstellung nimmt dabei zum Beispiel der Roman „Macbeth“ ein, der im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projekts entstanden ist und Nesbø die Möglichkeit bot, sich des ebenso kurzen wie blutigen Dramas „Macbeth“ anzunehmen, das den Aufstieg des Heerführers Macbeth zum schottischen König schildert. Aber auch seine letzten eigenständigen Romane „Ihr Königreich“ und „Eifersucht“ sind hier zu nennen. 
Mit „Das Nachthaus“ betritt Nesbø einmal mehr neues Terrain. 
Nachdem seine Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen sind, wächst der 14-jährige Richard Elauved bei seiner Tante Jenny und seinem Onkel Frank in der Kleinstadt Ballantyne auf, wo sich der Junge schwertut, Freunde zu finden. Einzig der stotternde Tom mag mit dem unbeliebten Zugezogenen seine Freizeit verbringen. Als Richard seinen einzigen Freund zu einem Telefonstreich anstiftet, sucht er aus dem Telefonbuch einen besonders seltsamen Namen heraus – Imu Jonasson – und lässt Tom dort anrufen und ausrichten, dass der Teufel persönlich am Telefon sei. Doch der Streich geht nach hinten los: Mit einem reißenden, nassen Schmatzen wird erst Toms Ohr von dem Telefonhörer aufgesogen, dann verschwindet Toms ganzer Körper in der Telefonzelle. Natürlich kauft niemand Richards Geschichte ab. 
Polizeichef McClelland vermutet eher, dass Tom beim Spielen in den Fluss gestürzt ist, doch bei der Suchaktion findet man nur Toms Luke-Skywalker-Figur. Dass der Name Jonasson bei der Überprüfung von Richards Geschichte nicht mehr im Telefonbuch steht, macht diese nicht glaubwürdiger. Als sich ein weiterer Schulkamerad in Richards Nähe in ein Insekt verwandelt und verschwindet, findet Richard einzig in Karen eine Verbündete, die ihn nicht für verrückt oder einen Lügner hält, sondern mit ihm in der Bibliothek versucht, den merkwürdigen Ereignissen in Ballantyne auf den Grund zu gehen. 
Dabei stellt sich heraus, dass Imu Jonasson im sogenannten „Nachthaus“ gelebt hat, einer herrschaftlichen Villa im Spiegelwald, und wegen seines tyrannischen Verhaltens in die Jugendbesserungsanstalt Lief eingeliefert worden ist. Mit der macht dann auch Richard Bekanntschaft, nachdem er auch FBI-Agent Dale gegenüber partout nicht von seinen unglaubwürdigen Geschichten abweichen will… 
Bereits nach wenigen Seiten glaubt man sich nicht in einem Roman von Jo Nesbø, sondern von Stephen King. Allerdings hat King es in seinen Coming-of-Age-Romanen wie „Es“ stets verstanden, sein Publikum erst mit dem normal wirkenden Kleinstadtleben vertraut zu machen, damit das Unheimliche auf einem glaubwürdigen Boden gedeihen konnte. Von dieser Raffinesse ist bei „Das Nachthaus“ nichts zu spüren. Während Nesbøs Harry-Hole-Romane durch gelungene Personen- und Milieubeschreibungen punkten, ist dem Autor in seinem neuen Werk offenbar nur an billigen Effekten gelegen. Nesbø gelingt es einfach nicht, seine Figuren, nicht mal seinen Ich-Erzähler, glaubwürdig zu charakterisieren. Die Handlung wirkt hastig wie aus trashigen Horrorfilm-Elementen zusammengeschustert. Wenn mit dem zweiten und dritten Teil des Romans die vorherigen Teile in einem neuen Licht präsentiert werden und Edgar Allan Poes berühmte Zeile „A dream within a dream“ auftaucht, ist die Geschichte schon nicht mehr zu retten. So lobenswert Nesbøs Bemühen auch ist, sich einmal in anderen Genres auszuprobieren, ging sein Versuch, mit „Das Nachthaus“ klassischen Spukhaus-Horror mit Psycho-Thriller-Elementen zu verknüpfen, fürchterlich daneben. 

Tamar Halpern – „California Girl“

Dienstag, 31. Oktober 2023

(Diogenes, 304 S., HC) 
Die in Los Angeles lebende Tamar Halpern hat ihren akademischen Abschluss an der University of Southern California's School of Cinematic Arts gemacht und seit 2001 bislang hier weithin unbekannte Filme wie „Shelf Life“, „Your Name Here“, „Jeremy Fink and the Meaning of Life“ und „Llyn Foulkes One Man Band“ inszeniert. Nun legt sie mit „California Girl“ ihr literarisches Debüt vor, das sich ähnlich wie Vendela Vidas „Die Gezeiten gehören uns“ mit den Erfahrungen eines pubertierenden Mädchens im Kalifornien der 1980er Jahren auseinandersetzt. 
Anfang der 1980er Jahre pendelt die vierzehnjährige Timey zwischen ihrem in Berkeley lebenden Vater, der als Physikprofessor an der Universität lehrt, und ihrer in Los Angeles lebenden Hippie-Mutter, die dort gerade ihr Kunststudium beendet hat, hin und her und lernt so zwei ganz unterschiedliche Welten kennen. Während sie im San Fernando Valley die beiden Zwillinge B und N als beste Freundinnen hat, die ihr den California Lifestyle nahebringen, helfen ihr in San Francisco die Joints über die tristen Zeiten in ihrem Leben hinweg. 
Timey ist es gewohnt, sich ständig an neue Umgebungen anpassen zu müssen, denn mit ihren Eltern, die eine offene Beziehung zu leben versuchten und daran scheiterten, zog sie jedes Jahr um, musste sich immer wieder als Außenseiterin mit anderen Außenseiterinnen anfreunden. Mittlerweile ist Timeys Mutter zum dritten Mal verheiratet, ihr Dad hat seine neue Freundin Minnie im Schauspielkurs kennengelernt und mit seinen merkwürdigen Regeln immer neue Konflikte verursacht. Im prädigitalen Zeitalter verabredet man sich noch per Telefon und vereinbart geheime Codes, um sicherzustellen, auch den einzigen Telefonanschluss im Haus zu sichern, wenn der Anruf einer Freundin erwartet wird. 
Es werden verschiedene Moden und Drogen ausprobiert, das Desegregation-Busing, mit dem die Milieus an den Schulen vermischt werden sollen, entwickelt sich zu einem Flop. Timey lernt Bands wie D.O.A., R.E.O. Speedwagon und Journey kennen, hält aber Led Zeppelin und Pink Floyd für die größten Bands der Welt. 
„Heute Abend ist die Musik laut und wütend und besitzergreifend. Da ist keine Schönheit, kein langes Gitarrensolo, das dir klarmacht, wie viel in der Welt noch darauf wartet, die das Herz zu brechen. Ich sehe zu, wie Jeni ihre rote Lockentolle über die Waschbäraugen schüttelt. Dabei wird mir klar, dass sie und ich nicht dieselbe Person sind, und das tut mir weh.“ (S. 133) 
Timey macht die üblichen Teenager-Erfahrungen, wird beim Ladendiebstahl erwischt, schwänzt den Theaterkurs, um Gras zu rauchen, und lernt auf nicht ganz freiwillige Weise, was es mit dem großen Ding namens Sex auf sich hat… 
Tamar Halpern erzählt in ihrem Romandebüt zwar die Coming-of-Age-Geschichte eines Teenager-Mädchens, das durch die Scheidung ihrer Eltern die unterschiedlichen Lebenskulturen im San Francisco Valley und Los Angeles aus nächster Nähe kennenlernt, aber wirklich Kontur gewinnt weder die 14-jährige Icherzählerin noch die vielen Menschen, denen sie in der kurzen Zeit sowohl hier als auch dort begegnet. Durch den episodenhaften, fragmentarischen Charakter kommt man zwar mit einer Vielzahl von Phänomenen der 1980er Jahre in Verbindung, doch das lässt eher eigene Erinnerungen aufploppen, sofern man in jener Zeit seine Teenagerjahre verbracht hat, als eine Nähe zu den Figuren aufzubauen. Die bleiben leider bis zur Karikatur nur skizzenhaft. Dafür überzeugt Halpern mit einem flüssigen Schreibstil, der sowohl humorvolle als auch ernste Töne miteinander zu verbinden vermag. 
Das Interessanteste an Tamar Halperns Romandebüt ist vielleicht nicht die Erzählung selbst, sondern die immerhin fünfzig Seiten umfassenden Fußnoten, die „wegen ihrer Bedeutsamkeit in der gleichen Größe wie der Text gesetzt“ sind. Hier gibt die Autorin versierte Exkurse zur Valley-Architektur, Fotografie, Teenager-Telefonanrufe, Föhnwellen und Kartonwein zum Besten, was den zeitgeschichtlichen Rahmen, in dem „California Girl“ angesiedelt ist, noch mehr Profil gewinnen lässt.  

Lina Nordquist – „Mein Herz ist eine Krähe“

Samstag, 28. Oktober 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Als hätte die 1977 im schwedischen Norrala geborene Lina Nordquist als außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und Politikerin nicht schon genug zu tun, legte sie im Jahr 2021 mit dem nun auch in deutscher Übersetzung erhältlichen Buch „Mein Herz ist eine Krähe“ ihr Romandebüt vor, das in ihrer Heimat gleich als Buch des Jahres ausgezeichnet worden ist. Erzählt wird die Geschichte zweier durch eine im Wald gelegene Kate und Familie verbundene Frauen, die schwer mit ihrem Los zu kämpfen haben. 
Im Jahr 1897 sieht sich Unni gezwungen, mit ihrem Sohn Roar ihre norwegische Heimatstadt Trondheim zu verlassen, nachdem der Pfarrer, der sie zuvor missbraucht hat, sie als Kindsmörderin anklagt und in die Irrenanstalt abtransportieren lassen will. Mit den zwei gestohlenen Goldringen der Prälatur Trondheim und ihrem Geliebten Armod gelingt ihr die Flucht über die Grenze. Nach der entbehrungsreichen Reise über die Grenze gelangen sie in das schwedische Hälsingland, wo sie von Bauer Nilsson eine Waldhütte pachten können. „Frieden“ nennen sie ihr neues Zuhause, doch die ersten Jahre sind von einem mehr als harten Überlebenskampf geprägt. 
Die Nahrung, die sie im Wald finden und selbst anbauen, reicht ebenso wenig, den ewigen Hunger zu stillen wie die Früchte, die Armods Arbeit einbringt. Schließlich muss er erst die Pachtraten bei Bauer Nilsson abarbeiten, ehe er für seine Familie sorgen kann. Der allgegenwärtige Hunger belastet auch die Beziehung zwischen Unni und Armod, doch am Ende hält ihre Liebe sie zusammen – bis Armod bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt und Unni sich und die mittlerweile zwei Kinder allein durchbringen muss. Das nutzt Bauer Nilsson gnadenlos aus, sucht Unni zu jedem beliebigen Zeitpunkt heim, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, nie verliert sie ihren Mut. 
„Der Schmerz sprach in unzähligen Zungen. Und dennoch gingen mir die alltäglichsten Dinge durch den Kopf, dass meine Blase drückte oder dass etwas an meiner Schulter scheuerte. Vielleicht konzentriert sich der Körper auf Belanglosigkeiten, wenn seine Bewohnerin nur noch daliegen und aufgeben will. Aber dann versetzte es mir einen Stich, als ich dich neben mir atmen hörte, du warst wach, obwohl wir hätten schlafen sollen, und da wusste ich, ich war noch am Leben. Die Glut in mir erlosch nicht.“ (S. 335) 
1973 sitzen sich die dreiundfünfzigjährige Kåra und ihre Schwiegermutter Bricken gegenüber, um die Beerdigung von Brickens Mann Roar zu planen. Auch Kåra hat eine Geschichte von Entbehrungen zu erzählen, war ihre Ehe mit Brickens und Roars Sohn Dag kaum von Erfüllung geprägt. 
Der Tod dient als Aufhänger von Lina Nordquists in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Romandebüt. Er zieht sich ebenso wie der Hunger, der Schmerz und die Gewalt wie ein roter Faden durch „Mein Herz ist eine Krähe“, verbindet die Ich-Erzählungen zweier Frauen, die nur mit Mühe zu einem in Ansätzen selbstbestimmten Leben gelangen. 
Vor allem Unni wächst dem Leser schnell ans Herz. Ihr Leben wirkt wie eine Tour de Force, die die Autorin mit ungebändigter Sprachgewalt ihrer Leserschaft bildreich vor Augen führt. Wie Unni, die über fundierte Heilkräuter-Kenntnisse (samt ihrer giftigen Verwandten) verfügt, erst der Tortur durch den heimischen Pfarrer, dann der Wanderung durch die Wälder bis nach Hälsingland und schließlich durch die von Hunger und Not geprägten Winter in der gepachteten Waldkate zu entkommen versucht, ist erschütternd eindringlich beschrieben und nichts für schwache Nerven. 
Kåras Nöte sind von anderer Qualität, muss sie sich doch in einem Konstrukt von Lügen bewegen, um das fragile Zusammenleben mit Bricken und Roar auf der einen Seite und mit ihrem Mann Dag auf der anderen Seite nicht zu gefährden. 
Mit ihrer poetischen Sprache fesselt Nordquist ihr Publikum allerdings von Beginn an, wobei die beiden Frauencharaktere so eindringlich charakterisiert werden, dass man ihren bewegenden Schicksalen bis zum nicht ganz hoffnungslosen Ende unbedingt folgen möchte. Dieses sprachlich außergewöhnliche Debüt sollte mühelos auch das deutsche Publikum begeistern!  

Vendela Vida – „Die Gezeiten gehören uns“

Mittwoch, 25. Oktober 2023

(Diogenes, 288 S., Tb.) 
Die US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Vendela Vida, die mit dem bekannten Schriftsteller Dave Eggers verheiratet ist und mit ihrer Familie in der San Francisco Bay Area lebt, beschäftigt sich seit ihrem im Jahr 2000 erschienenen Debüt „Girls on the Verge: Debutante Dips, Drive-Bys, and Other Initiations“ vor allem um die emotionalen Achterbahnfahrten, die Frauen auf dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung erleben, so auch in ihrem vielleicht bekanntesten Roman „Liebende“
Nachdem die gebundene Ausgabe von Vidas aktuellen Roman „Die Gezeiten gehören uns“ im vergangenen Jahr im Hanser Verlag erschienen war, ist die Taschenbuchausgabe nun bei Diogenes erhältlich. 
Die vierzehnjährige Eulabee lebt Mitte der 1980er Jahre mit ihren Freundinnen Julia, Faith und Maria Fabiola in Sea Cliff, einer wohlhabenden Gegend im kalifornischen San Francisco, wo der Blick auf das Meer und die Golden Gate Bridge nicht verstellt ist und besucht mit ihnen die Spragg School for Girls. Eulabees Vater Joseph unterhält eine Kunst- und Antiquitätengalerie in der Gegend, ihre aus Schweden stammende Mutter Svea arbeitet als Krankenschwester. 
Die unbeschwerte Mädchen-Freundschaft erfährt allerdings eine harte Zäsur, als die Mädchen eines Morgens von einem Mann in einem weißen Auto angehalten und nach der Uhrzeit gefragt werden. Während Maria Fabiola anschließend gegenüber der Polizei behauptet, der Mann habe sich dabei angefasst, will Eulabee nichts davon bemerkt haben und wird daraufhin zur Aussätzigen. Schließlich wird Maria Fabiola vermisst und zu einem echten Medienereignis. Während das verschwundene Mädchen täglich in den Nachrichten erwähnt wird, verliebt sich Eulabee in den coolen Keith…
 „Ich spiele mit dem Gedanken, ihm von meiner Theorie zu erzählen, dass sie gar nicht entführt wurde, sondern ihr Verschwinden selbst inszeniert hat, beschließe aber, dass es gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ich habe nicht genug Beweise; streng genommen gar keine. Außerdem habe ich es satt, dass Maria Fabiola das einzige Gesprächsthema ist. Und das schon seit Monaten. Selbst wenn Leute über andere Themen reden, reden sie eigentlich über sie.“ (S. 131)
In ihrem ebenso kurzen wie eindringlich geschriebenen Roman gelingt es Vendela Vida über ihre Ich-Erzählerin Eulabee, die komplexe Gefühlswelt von Teenager-Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden zu beschreiben. Darin werden vor allem die Mechanismen aufgezeigt, mit denen die Mädchen um die Aufmerksamkeit und Anerkennung nicht nur ihrer Geschlechtsgenossinnen ringen, sondern auch mit ihren aufkeimenden weiblichen Reizen die jungen Männer zu fesseln vermögen und dabei natürlich auch wieder Eifersüchteleien und Missgunst hervorrufen. 
So kommt es, dass sich die Mädchen einiges einfallen lassen, um ihre Stellung unter ihresgleichen zu erhöhen, wobei die Wahrheit mehr als nur etwas gedehnt wird. 
„Die Gezeiten gehören uns“ ist ein wunderbar einfühlsamer, ebenso humorvoller wie erschütternder und vor allem authentisch wirkender Roman über die Herausforderungen pubertierender Mädchen, ihren Platz in einer Welt zu finden, in der der schöne Schein mehr bedeutet als ein moralisch integres Wesen. Dabei entwickelt die Geschichte einen magischen Sog, dem man sich bis zum Sprung in die Gegenwart nicht entziehen kann.  

Håkan Nesser – „Ein Fremder klopft an deine Tür“

Dienstag, 17. Oktober 2023

(btb, 368 S., HC) 
Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren hat der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser seit 1993 maßgeblich zur Popularität skandinavischer Krimis vor allem auch im deutschsprachigen Raum beigetragen, doch hat sich Nesser stets bemüht, die Grenzen des Krimi-Genres auszuloten und sich auf literarische Krimis mit philosophischen Zügen zu verlegen. Dazu trugen nicht nur die Romane um Inspektor Barbarotti bei, sondern auch unzählige eigenständige Romane wie zuletzt „Der Fall Kallmann“ und „Der Halbmörder“. Mit seinem neuen Buch bewegt sich Nesser zumindest regional in Van Veeterens Gefilden, nämlich in Maardam, wo nun sein Nachfolger Kommissar Jung seinen Dienst verrichtet. „Ein Fremder klopft an deine Tür“ stellt eine Sammlung von drei unabhängigen Geschichten dar, in denen Jung allerdings nur jeweils eine winzig kleine Nebenrolle verkörpert. 
In „Bewunderung“ verspürt Anna Kowalski ein gewisses Kribbeln, als sie am Valentinstag genau zwischen ihrer eigenen Wohnungstür und der ihrer Nachbarin Wilma Verhoven einen Briefumschlag entdeckt, der nicht beschriftet, sondern nur mit einem gezeichneten Herzen versehen worden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Brief eigentlich eher an die zehn Jahre jüngere, sehr attraktive und. entsprechend begehrte Wilma gerichtet ist, doch nicht zuletzt der Neid lässt Anna den Brief an sich nehmen und öffnen lässt. Der darin enthaltene Schlüssel führt Anna zu einem Schließfach am Bahnhof, dann zu einem begehrten Logenplatz in der Oper, wo der heimliche Bewunderer allerdings nicht auftaucht. Für Anna stellt diese geheimnisvolle Schnitzeljagd eine willkommene Abwechslung zu der zehnjährigen Ehe mit dem Kartonfabrikanten Herbert dar, doch mit der Entdeckung einer Leiche wird aus dem amourösen Spiel auf einmal bitterer Ernst… 
„Buße“ erzählt die Geschichte eines 65-jährigen Mannes, der vor zehn Jahren in das ländliche Lembork gezogen ist, vor fünf Jahren die beiden Islandpferde eines verstorbenen Bauern übernommen und es sich zur Gewohnheit gemacht hat, zweimal die Woche mit dem Bus nach Lindenberg zu fahren, wo er sich in das Café gegenüber der Kirche setzt und zu seinem Kaffee ein Käsebrot verzehrt. Das ist eine willkommene Abwechslung zu der Arbeit an der Übersetzung eines 1300 Seiten umfassendes Werk eines deutschen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert darstellt, mit der der Mann normalerweise seine Zeit verbringt. Immer wieder muss er aber auch an das Mädchen in der dünnen Lederjacke denken, das ebenfalls regelmäßig in dem Bus sitzt und offensichtlich zum Gymnasium in Lindenberg geht. Doch dann macht er eine beunruhigende Beobachtung und folgt dem Mädchen… 
„Ihm ist klar, dass er zurückkehren wird, und wenn an diesem vorerst noch konturlosen Platz etwas erforscht werden muss, wird er Zeit haben, es zu tun. Aber jetzt, während er dort sitzt, sind ihre tiefen Atemzüge, wie sie sich wappnete, ihr Widerwille, die schmale Straße in Moerkerlands Wald hinaufzugehen, wichtig. Das Bild ist auf eine Weise fordernd, mit der er nicht richtig umzugehen weiß. Noch nicht, aber es eilt auch nicht. Wie gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, wird er wissen, was seine nächsten Schritte sein werden.“ (S. 165) 
In der Titelgeschichte erinnert sich die fünfundvierzigjährige Judith Miller an die Ereignisse, die vor fast achtzehn Jahren ihren Anfang genommen haben, als sie einem fremden, verwahrlost aussehenden Mann während eines Unwetters die Tür ihrer Waldhütte öffnete und ihm das Bett überließ, damit er sich einmal richtig ausschlafen konnte. Wie sich nach dieser ungewöhnlichen Nacht herausstellen sollte, hat Judiths nächtlicher Gast zusammen mit zwei weiteren Männern bei einem Einbruch Goldbarren im Wert von einer Million Euro erbeutet. Vor einem halben Jahr hat Judith nun einen Brief mit einer Karte und Erklärungen bekommen, die ihr und ihrer Tochter Nora ein unbeschwertes Leben ermöglichen sollten. Doch auf den verborgenen Schatz hat es noch jemand abgesehen… 
Auch wenn es in jeder dieser drei Geschichten um Verbrechen geht, handelt es sich weniger um klassische Whodunit-Plots, auch nicht um die kriminalistische Auflösung der Fälle, sondern vor allem um die Schilderung einzelner Schicksale, wie sie in Verbindung mit den nachfolgenden Verbrechen gekommen sind. Die Frage nach der Täter-, Mittäterschaft oder des Opfers spielt dabei ebenfalls eine nachgeordnete Rolle. 
Nesser schildert in seiner gewohnt leicht verständlichen, bildreichen und immer wieder auch humorvollen Sprache ausführlich die jeweiligen Lebensumstände der männlichen wie weiblichen Protagonisten und widmet deren Alltag und Handlungen ebenso viel Aufmerksamkeit wie den vielfältigen Gedankengängen, wobei Nessers Sinn fürs Philosophische immer wieder durchscheint. Fans klassischer Krimiliteratur werden wenig erbaut sein von den Plots, in denen das Zufallsprinzip gerade in den nur kurz skizzierten Auflösungen arg überstrapaziert wird. Das hat Nesser früher weitaus besser gelöst. 

James Patterson – (Women’s Murder Club: 19) „Das 19. Weihnachtsfest“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Blanvalet, 382 S., Pb.) 
Nachdem sich James Patterson mit der 1993 gestarteten Reihe um den in Washington lebenden Polizeipsychologen Alex Cross zu einem internationalen Bestseller-Autoren gemausert hatte, veröffentlichte er 2001 nicht nur den bereits siebten Band um Alex Cross, sondern mit „1st To Die“ („Der 1. Mord“) auch den Auftakt einer neuer Reihe, die in San Francisco angesiedelt ist und in der Sergeant Lindsay Boxer mit ihren weiblichen Verbündeten den Kampf gegen das Verbrechen aufnimmt. 
Zunächst war noch Andrew Gross Pattersons Co-Autor, seit dem vierten Band weiß der ehemalige Leiter einer Werbeabteilung die ansonsten unbekannte Maxine Paetro an seiner Seite. Allerdings kommt dieses Arrangement nur Pattersons ohnehin üppig gefülltem Portemonnaie zugute, während die Qualität der Women’s-Murder-Club-Reihe seit Jahren darunter leidet. Da macht „Das 19. Weihnachtsfest“ leider keine Ausnahme. 
Vier Tage vor dem Weihnachtsfest unternimmt Sergeant Lindsay Boxer mit ihrem Mann Joe, ihrer dreieinhalbjährigen gemeinsamen Tochter Julie und ihrer in die Jahre gekommenen Border-Collie-Hündin Martha einen fröhlichen Spaziergang durch die bunt geschmückten Straßen von San Francisco. Ihre Freundin, die Staatsanwältin Yuki Castellano, freut sich mit ihrem Mann Brady, der neben seiner Funktion als Lieutenant der Mordkommission momentan auch noch das Amt des Polizeichefs bekleidet, auf einen gemütlichen Abend im Schlafzimmer. Dieses Vergnügen bleibt der investigativen Journalistin Cindy Thomas und ihrem Lebensgefährtin Rich Conklin verwehrt, hat sie doch ein wichtiges Interview vor sich. Die Pathologin Claire Washburn ist mit ihrem Mann Edmund auf dem Weg nach San Diego, wo sie in den Winterferien ein Kompaktseminar für den Masterstudiengang in Kriminalmedizin abhalten soll. 
Doch die fröhliche Weihnachtsstimmung wird empfindlich getrübt, als Boxer und ihr Partner Conklin während ihrer Mittagspause am 21. Dezember einen Ladendieb erwischen und von ihm im Verhör auf einen spektakulären Raub hingewiesen werden, der von einem mysteriösen Mann namens Loman geplant worden ist. In Folge der Ermittlungen stoßen Boxer und ihre Kollegen allerdings auf verschiedene Orte, wo der Raub stattfinden soll. Neben dem de Young Museum stehen auch eine Internet-Firma, ein Attentat auf den Bürgermeister Caputo und der Flughafen von San Francisco auf der möglichen Liste, was immer mehr polizeiliche und militärische Kräfte der Stadt auf den Plan ruft. Doch was hat dieser Loman wirklich vor? 
Wenn Patterson und Paetro zu Beginn von „Das 19. Weihnachtsfest“ kurz abstecken, wie die einzelnen Mitglieder des Clubs der Ermittlerinnen ihre Vorweihnachtstage verbringen, kommt kurz Hoffnung auf, dass sich der Plot um etwas mehr dreht als nur um einen gewöhnlichen Kriminalfall, doch dagegen spricht schon der knapp bemessene Raum von fast hundert, jeweils ca. dreiseitigen Kapiteln, die schnell von Lindsay Boxer und ihrem Partner Rich Conklin in Beschlag genommen werden, wenn sie auf eine Schnitzeljagd nach irreführenden Hinweisen zu einem spektakulären Raubüberfall gehen, der allerdings nur skizzenhaft thematisiert wird. 
Patterson und seine Co-Autorin setzen allein auf eine forcierte Handlung, bei dessen Inszenierung die Figuren nur schemenhaft umrissen werden und zu denen die Leserschaft keine Beziehung aufbauen kann. Leider ist nicht mal der Loman-Raub ein besonders interessanter Fall, so dass an der Story letztlich nur ungewöhnlich erscheint, dass die anfangs so glücklich beschriebenen Paare über die Feiertage wegen des immensen Arbeitspensums einige Krisen zu bewältigen haben. Es ist allerdings bezeichnend, dass die Chance zu einer psychologisch tieferen Charakterisierung fahrlässig vertan wird. 
Das trifft auch auf die am Rande erwähnten Nebenschauplätze wie Cindys Reportage über die Weihnachtsbräuche von Einwanderern zu, mit der die Autoren die Möglichkeit gehabt hätten, etwas mehr über die soziale Struktur in San Francisco in den Plot einfließen zu lassen. „Das 19. Weihnachtsfest“ erweist als alles andere als ein festliches Vergnügen, da die Protagonistinnen kaum Gelegenheit bekommen, Profil zu gewinnen. Stattdessen wird ein unnötig aufgebauschter Kriminalfall in den Fokus gestellt, dessen Auflösung ebenfalls bar jeder Überraschung ist.  

Stephen King – „Holly“

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.  

Robert Bloch – „Das Regime der Psychos“

Dienstag, 26. September 2023

(Heyne, 128 S., Tb.) 
Zwar ist Robert Bloch (1917-1994) wegen seiner berühmten Romanvorlage zu Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ (1960) vor allem als Autor fantastischen und psychologischen Horrors bekannt, doch hat der Autor, der schon als Jugendlicher Kontakt zu H.P. Lovecraft und seinem Zirkel gepflegt hatte, im Laufe seiner langen Schriftsteller-Karriere auch etliche Science-Fiction-Geschichten geschrieben (hier ist die Sammlung „Die besten SF-Stories von Robert Bloch“ besonders zu empfehlen). 
1971 erschien mit „Sneak Preview“ sogar ein Science-Fiction-Roman aus seiner Feder, der drei Jahre später als „Das Regime der Psychos“ von Heyne im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurde. 
Eigentlich würde Graham, der als junger Regisseur in der Abteilung Weltraumopern dafür zuständig ist, die gewalttätigen Fantasien des Publikums auf andere Welten und schleimige, insektenäugige Ungeheuer umzulenken, gerne einen Dokumentarfilm drehen, doch mit seinem Ansinnen, Gewalt zwischen Menschen zu zeigen, wird er von seinem Produzenten Zank zu einer Auszeit mit der schönen Wanda verdonnert. Es gibt Schlimmeres. Schließlich verliebt sich Graham in Wanda, die ihn allerdings gleich an den Psycho-Chef Sigmond übergibt. 
In der nahen Zukunft haben Kriege, atomare Explosionen und Naturkatastrophen die Erde verwüstet. Nun leben die verbliebenen Menschen unter Kuppeln in ausgesuchten Städten und werden nicht von Politikern regiert, sondern von Psychologen, die bestens mit der Natur des Menschen vertraut sind und deshalb genau wissen, was sie brauchen, um friedlich miteinander auszukommen. Dazu gehört auch, dass jeder Mensch im Alter von fünfzig Jahren zwangspensioniert wird und als Sozialpensionär in den Süden verfrachtet wird, um den Rest des Lebens genießen zu können. Krankheit, Armut und Krieg scheinen besiegt, politische und religiöse Querelen ausgemerzt. 
Auf der anderen Seite haben die dreißig Millionen Menschen auf der Erde Zugang zu Kleidung, Ernährung, Wohnung, medizinischer und psychiatrischer Unterstützung. Damit auch Graham wieder in dieses System eingegliedert werden kann, soll er einer Gehirnwäsche unterzogen werden, doch dann bekommt er unverhofft die Gelegenheit, sich einer gut organisierten Gruppe anzuschließen, die wieder die alte Gesellschaftsform zurückbringen will. 
„Unter den Kuppeln betrachteten die Menschen sich nicht als Schachfiguren der Natur; wenn sie einander umarmten, geschah es nur zur Triebbefriedigung. Vielleicht war es wichtig, dass allen wieder eine Gelegenheit wie diese geboten wurde – unter einem dunklen und weiten Himmel zu stehen und sich im Bewusstsein der eigenen Unwichtigkeit und auf der Suche nach Kraft wie auch zu flüchtiger Erfüllung an einen anderen Menschen zu klammern.“ (S. 97) 
Robert Bloch ist mit „Das Regime der Psychos“ Anfang der 1970er Jahre ein interessanter Science-Fiction-Roman gelungen, der in vielerlei Hinsicht nach wie vor drängende Probleme wie Überbevölkerung, Zerstörung der Natur, Hungersnöte und soziale Ungleichheit thematisiert und als vermeintlichen Ausweg aus der Krise eine nivellierte, kontrollierte und dezimierte Gesellschaft vorstellt, die nicht zuletzt durch manipulative Filmproduktionen auf Kurs gehalten wird. 
Auch nach fünfzig Jahren bietet dieser Roman viel Stoff zum Nachdenken an, konzentriert sich aber auch mehr auf das übergeordnete Thema als auf seine Figuren, und das Ende fällt für Blochs Verhältnisse ungewöhnlich konventionell aus. Aber als Impulsgeber zur Reflexion über die Möglichkeiten und Gefahren einer allzu konditionierten Gesellschaft ist der Roman noch immer sehr lesenswert. 
 

Andrea De Carlo – „Techniken der Verführung“

Dienstag, 19. September 2023

(Diogenes, 424 S., HC) 
Ähnlich wie sein französischer Kollege Philippe Djian weiß auch der aus Mailand stammende Andrea De Carlo, die Schwierigkeiten des künstlerischen Schaffensprozesses zu beschreiben und diesen geschickt mit den Wirren des Künstlerlebens zu verknüpfen. Ein besonders prominentes Beispiel stellt De Carlos - im Original 1991 veröffentlichter - Roman „Techniken der Verführung“ dar. 
Der Mailänder Journalist Roberto Bata hat es satt, als Redakteur mit einem Praktikantenvertrag bei Prospettiva zu arbeiten und sich vom Chefredakteur Tevigati auf übelste Weise herumkommandieren zu lassen. Entsprechend widerwillig nimmt er den Auftrag an, zu einem Theaterstück nach einem Text von Marco Polidori, „Der Traumaktivator – Konzertantes Schauspiel in zwei Akten“, zu besuchen, um die Schauspielerin Maria Blini zu interviewen. Dass er dafür das geplante Abendessen mit seiner Freundin Caterina absagen muss, ist der ohnehin angeschlagenen Beziehung nicht gerade förderlich. Viel lieber würde sich Roberto um die Fertigstellung seines ersten Romans kümmern, doch da er Caterina, die ihren Vertretungsdienst als Augenärztin absolvierte, finanziell unterstützen muss, ist er weiterhin gezwungen, öde Interviews zu führen. 
Doch dann ist er von der Schauspielerin, die er für dreißig Zeilen interviewen soll, ganz hingerissen und begleitet sie zu einem Empfang, wo er nicht nur die Gelegenheit für das geplante Interview findet, sondern auch den berühmten Schriftsteller Marco Polidori kennenlernt. Roberto lässt Polidori sein Manuskript zukommen; der zeigt sich offen begeistert davon und öffnet dem angehenden Schriftsteller einige Türen: Polidori drängt Marco dazu, sich ganz auf seinen Roman zu konzentrieren, und verschafft ihm einen Job bei dem Magazin 360° in Rom, das vom Ministerium für Fremdenverkehr und Veranstaltungswesen finanziert wird. Hier hat Marco genügend Raum und Zeit, um sich ganz auf die Fertigstellung seines Romans zu konzentrieren, doch dann begegnet er zufällig Maria wieder und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihr, die allerdings komplizierter verläuft als erhofft. Und schließlich gibt es für Marco noch die Beziehung zu Caterina zu klären… 
„Mir war, als hätte ich jahrelang vor einem verschlossenen Garten voller unterschiedlicher Farben und Empfindungen und Möglichkeiten gestanden, bis Polidori mir, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, das Tor geöffnet hatte. Ich wollte nur möglichst schnell dorthin zurückkehren: in die reiche, noch unbekannte Vegetation eindringen, der duftenden Spur Maria Blinis folgen.“ (S. 159) 
Andrea De Carlo nutzt die interessante Ausgangssituation, dass ein junger, talentierter Autor von einer bereits fest im Literaturbetrieb verankerten Kulturinstitution protegiert wird, vor allem dazu, die vorhersehbaren Abhängigkeiten nicht nur im kulturellen Leben in Italien zu sezieren, sondern auch die Korruption in der Politik und die Verlogenheiten in persönlichen Beziehungen. 
Polidoris Monologe sind wunderbar ätzend wie präzise, wenn sie die Gesetze der Literaturszene demaskieren, die unverfrorene Gier der Politiker offenbaren. 
Dass der rasante Aufstieg von Roberto nicht ohne Folgen bleibt, enthüllt De Carlo auf ebenso genüssliche, aber leider auch sehr vorhersehbare Weise. Doch von dem plakativen Finale abgesehen, erweist sich der Autor als versierter Erzähler mit sprachgewaltigen Beschreibungen der offenbar erbärmlichen Zustände im italienischen Kulturbetrieb, teilt er doch durch Polidori immer wieder bissige Kommentare dazu aus. Die Liebe und das Geflecht unterschiedlichster Beziehungen kommen auch nicht zu kurz.  
„Techniken der Verführung“ erweist sich als kurzweiliger Ausflug in die letztlich verlogene, abgekartete, von Eigennutz und Abhängigkeit geprägte Welt von Politikern und Kulturschaffenden, unter der letztlich auch die persönlichen Beziehungen zu leiden haben. 

 

Robert R. McCammon – „Höllenritt“

Montag, 18. September 2023

(Knaur, 398 S., Tb.) 
Obwohl der US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon bereits 1978 seinen Debütroman „Baal“ veröffentlicht hat und in der Folge neben Stephen King, Dean Koontz, James Herbert und Peter Straub zu einem der bedeutendsten Autoren des Horror-Genres avancierte, brauchte es zehn Jahre, bis auch das deutsche Publikum in den Genuss seiner Werke kam, als Knaur 1988 begann, seine Romane hierzulande zu veröffentlichen. „Höllenritt“ erschien 1980 in McCammons Heimat unter dem Titel „Bethany’s Sin“ und bedient sich wie McCammons erfolgreiches Romandebüt vor allem mythologischer Elemente, diesmal rund um die griechische Göttin Artemis. 
Nachdem der Vietnam-Veteran Evan Reid seinen Redakteurs-Job in LaGrange verloren hat, zieht er mit seiner Frau Kay und ihrer gemeinsamen Tochter Laurie im Juni 1980 in das beschauliche 800-Seelen Dorf Bethany’s Sin, wo ihm die Immobilienmaklerin Marcia Giles ein traumhaft schönes Haus in der McClain Terrace zu einem mehr als annehmbaren vermittelte. 
Während Kay nach den Sommerferien eine Stelle als Mathematiklehrerin am nahegelegenen George Ross Junior College antritt, will sich Evan auf seine Schriftstellerkarriere konzentrieren. Doch wie in der Vergangenheit wird Evan auch hier von prophetischen Alpträumen heimgesucht, die ihn ebenso beunruhigen wie seine Frau, die am liebsten nichts mehr über sie hören möchte. Bethany’s Sin wirkt jedoch nur auf den ersten Blick so idyllisch. Tatsächlich bemerkt auch der Wanderarbeiter Neely Ames, der vom Bürgermeister für alle möglichen Arbeiten eingestellt wird, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Er mäht Rasen rund um ein verlassen wirkendes Haus und findet auf dem nahegelegenen Schuttplatz die Reste von menschlichen Zähnen. 
Als er nachts von dämonisch wirkenden Frauen auf Pferden angegriffen wird, erzählt er nach ein paar Bieren auch dem Schriftsteller davon, der sich gerade bemüht, etwas von der Geschichte des Dorfes zu erfahren. Als er die ebenso schöne wie geheimnisvolle und aristokratische wirkende Dr. Drago und ihre Historische Gesellschaft kennenlernt, kommt er dem Geheimnis von Bethany’s Sin gefährlich nahe… 
„Diese Augen brannten in seinem Gehirn; auch wenn er seine schloss, sah er sie noch deutlich; feurige Halbkugeln irgendwo hinter seiner Stirn. Jetzt, nach diesem zweiten Traum, wusste er es. Und fürchtete das grässliche Wissen. Etwas in diesem friedlichen Ort Bethany’s Sin jagte ihn. Es kam immer näher.“ (S. 141) 
Nachdem Robert R. McCammon mit „Baal“ einen alten kanaanitischen Gott der Sexualität und des Opfers in den Mittelpunkt seines apokalyptischen Debütromans gestellt hatte, ist es in „Höllenritt“ Artemis, die griechische Göttin der Jagd, der Jungfräulichkeit, des Waldes, der Geburt und des Mondes sowie die Hüterin der Frauen und Kinder, die den Rahmen für eine abenteuerliche Geschichte in einem nur auf den ersten Blick ruhigen und hübschen Dorf bildet und durch die Archäologin Dr. Kathryn Drago nach einer Ausgrabung in der Türkei wiederbelebt worden ist. 
McCammon bleibt in seiner Geschichte vor allem nah an der Reid-Familie, wobei die Ehe durch Evans unheimliche Träume bereits in der Vergangenheit arg gelitten hat. Die Traumata, die Evan durch seine Teilnahme am Vietnam-Krieg erlitten hat, werfen auch einen Schatten über den Neuanfang seiner Familie in Bethany’s Sin, und McCammon nimmt sich viel Zeit, die Auswirkungen von Evans besonderen Träumen auf den Neuanfang zu schildern. Auch die Beschreibung der feinsinnigen Empfindungen in dem neuen Umfeld gelingt dem Autor sehr gut. 
Nachdem er seine Leserschaft aber so geschickt in den Lauf der Geschichte eingebettet hat, braucht es allerdings schon ein enormes Maß an Gutgläubigkeit, um die Ereignisse bei den Ausgrabungen, die Dr. Drago in der Türkei durchgeführt hat, auf die unheimlichen Vorkommnisse in Bethany’s Sin übertragen zu können. 
Anfang der 1980er Jahre, als Stephen King schon so wegweisende Romane wie „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und „The Stand – Das letzte Gefecht“ veröffentlicht hatte, traf „Höllenritt“ sicher noch den Nerv der Zeit. Heute gefällt vor allem nach wie vor McCammons sprachliche Finesse, während die Originalität der Geschichte bereist Staub angesetzt hat und noch wie eine Fingerübung für spätere Arbeiten wirkt. 

 

Michael Connelly – (Renée Ballard: 4, Harry Bosch: 23) „Dunkle Stunden“

Dienstag, 12. September 2023

(Kampa, 432 S., HC) 
Wenn man wie Michael Connelly in dreißig Jahren einen Protagonisten mit über 20 Romanen zu einer Kultfigur der Kriminalliteratur am Leben erhalten und dabei auf eine über mehrere Staffeln erfolgreiche Fernsehserie mitinitiiert hat, ist es mit Sicherheit nicht leicht, die Romanreihe auf einem qualitativ konstant hohen Niveau zu halten. Also hat der ehemalige Polizeireporter für die Los Angeles Times über die Jahre seine Aufmerksamkeit auch anderen Figuren gewidmet wie Boschs Halbbruder Mickey Haller oder dem Reporter Jack McEvoy. Connellys letzte literarische Erfindung ist die Figur des weiblichen Detective Renée Ballard, die vor einigen Jahren zur Nachtschicht beim LAPD strafversetzt worden ist, wo sich Ballard aber sehr wohl fühlt. Nach ihrem Einstieg mit „Late Show“ ermittelt sie seit dem zweiten Fall „Night Team“ allerdings mit dem mittlerweile pensionierten Detective Harry Bosch zusammen, der auch im mittlerweile vierten Abenteuer die prominenteste Nebenrolle einnimmt. 
Silvester in Los Angeles. Für die Cops bedeutet der Jahreswechsel, dass alle Polizisten zum Dienst in Uniform in Zwölf-Stunden-Schichten verdonnert sind. Um sich vor dem unvermeidlichen Bleihagel zu schützen, hat sich Renée Ballard mit ihrer Kollegin Lisa Moore, die eigentlich in der Tagschicht in der Einheit Sexualdelikte der Hollywood Division eingesetzt wird, mit dem Wagen unter der Cahuenga-Überführung verkrochen. Dabei hoffen sie, Hinweise auf die sogenannten „Midnight Men“ zu bekommen, ein männliches Paar von Sexualstraftätern, das in den vergangenen fünf Wochen jeweils gegen Mitternacht zwei Frauen vergewaltigt hat. 
Als Ballard und Moore nach einer Schießerei zu einem Tatort gerufen werden, finden sie Javier Raffa, den Inhaber einer Autowerkstatt, mit einer tödlichen Kopfwunde vor. Bei der ersten Untersuchung der Leiche stellt Ballard schnell fest, dass der Täter das mitternächtliche Geballere ausgenutzt hat, um Raffa aus nächster Nähe zu erschießen. Während sich Moore an dem Wochenende mit ihrem Freund vergnügt, ermittelt Ballard auf eigene Faust weiter und findet heraus, dass Raffa sich mit 25.000 Dollar aus der berüchtigten Las-Palmas-Bande freigekauft hatte. 
Die zur Tat passende Hülse einer Remington .22 führt zu einem fast zehn Jahre alten Raubüberfall, in dem Harry Bosch der leitende Ermittler gewesen war. Gemeinsam mit dem pensionierten Detective entdeckt Ballard außer der Waffe noch eine weitere Verbindung zwischen den beiden Morden, die bis ins Revier des LAPD reicht, was Ballard vor eine schwierige Entscheidung stellt. 
Aber auch die Jagd nach den Midnight Men entwickelt sich zu einem heiklen Balanceakt, da die Polizei die Medien nicht informiert, um die Täter nicht abzuschrecken, dass sie ihren Modus Operandi ändern. Ballard bringt sich durch ihre eigenmächtige Handlungsweise so sehr in die Bredouille, dass sie ihren Job zu verlieren droht. Doch mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen, hat sie ohnehin schon gespielt… 
Michael Connellys vierter Ballard- und sogar schon 23. Bosch-Band spielt vor dem Hintergrund der Pandemie, die nicht nur mit Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen verbunden gewesen ist, sondern auch zu einem Aufweichen der Arbeitsmoral bei den Cops im LAPD geführt hat. Für diese bedauernswerte Entwicklung steht Ballards Silvesterdienst-Partnerin Lisa Moore, die kein schlechtes Gewissen verspürt, Ballard das Wochenende allein Dienst schieben zu lassen und es sich selbst mit ihrem Freund gutgehen zu lassen. 
„Dunkle Stunden“ fesselt mit zwei unterschiedlichen Fällen, bei denen der Polizeiapparat keine gute Figur macht und Ballard sogar aus dem Spiel zu nehmen droht. Ebenso wie ihr Mentor Harry Bosch ist ihre Einstellung aber nicht korrumpiert, so dass sie sich nicht um die Konsequenzen ihres Handelns schert, wenn es doch der richtigen Sache dient. Connelly erweist sich einmal mehr als kundiger Kenner der Polizeiarbeit. Akribisch beschreibt er die einzelnen Schritte der Ermittlungsarbeit, die allerdings so viel Raum einnimmt, dass die persönlichen Elemente etwas arg kurz kommen und dem Roman eine sehr akademische, sachliche Note verleihen. Dazu sind auch die Spannungs- und Überraschungsmomente sehr moderat ausgefallen. „Dunkle Stunden“ ist zwar kein echtes Highlight in Connellys umfangreicher Werksbiografie, aber doch ein durchweg überzeugender Krimi, der keine Langeweile aufkommen lässt. 

Robert R. McCammon – „Baal“

Samstag, 9. September 2023

(Knaur, 346 S., Tb.) 
Der 1952 in Birmingham, Alabama, geborene Robert R. McCammon gesellte sich in den ausgehenden 1970er Jahren zu der Elite bereits etablierter Horrorautoren wie Stephen King und Dean Koontz hinzu, als er im Alter von 25 Jahren seinen Debütroman „Baal“ veröffentlichte, mit dem der Autor seine Variante des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse thematisierte. 
Als sich die zwanzigjährige Kellnerin Mary Kate Raines nach dem Ende ihrer Schicht auf den Weg zur Bushaltestelle macht, wird sie in einer dunklen Gasse von einem Mann angegriffen und brutal vergewaltigt. Als sie im Krankenhaus untersucht wird, stellt der behandelnde Arzt merkwürdige Verbrennungsmale an ihrem Körper fest, die die Form von Handabdrücken aufweisen, und zwar nicht nur im Unterleib und auf Armen und Schenkeln, sondern auch auf jedem Lid ist ein Fingerabdruck hinterlassen worden. Mary Kate bringt das Kind gegen den Willen ihres Mannes Joe zur Welt, doch stellt sie bald fest, dass ihr Sohn Jeffrey etwas aus der Art geschlagen ist. 
Nachdem Joe unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist, wächst Jeffrey in einem Knabeninternat auf, wo er sich allerdings weigert, auf seinen Namen zu hören, und stattdessen mit Baal angesprochen zu werden fordert. Bald schon versammelt der Junge seine Altersgenossen um sich und beunruhigt mit seinem Verhalten sowohl die Schwestern als auch Pater Dunn. Schließlich brennt das Waisenhaus nieder… 
Jahre später reist Dr. Donald Naughton, Professor der Theologie an der Universität von Boston City, im Rahmen seiner Recherchen über Messiaskulte nach Kuwait, wo ein Mann namens Baal ganze Menschenmassen aus aller Welt mobilisiert hat, ihm zu folgen und sich in wilder Raserei während der Versammlung zu paaren. Als Dr. James Virga, Naughton Vorgesetzter an der Universität, nichts mehr von Naughton hört und schließlich von dessen Frau Judith einen verstörenden Brief ihres Mannes vorgelegt bekommt, reist er selbst nach Kuwait, um seinen Freund ausfindig zu machen, doch was er dort entdeckt, übersteigt jede Vorstellungskraft. 
Virga lernt einen geheimnisvollen Mann namens Michael kennen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Baal bis ans Ende der Welt zu jagen und unschädlich zu machen. Dr. Virga schließt sich dem Mann an und folgt ihm bis nach Grönland, wo Baal nach einem Zwischenfall im Nahen Osten mit einigen seiner Anhänger geflüchtet sein soll… 
„Wo ist Gott? fragte er sich. Ist die Menschheit so hoffnungslos verloren, dass Gott diesen Augenblick ohne einen einzigen barmherzigen Atemzug geschehen lässt? Ist Baal so mächtig geworden, dass selbst Er mit Entsetzen geschlagen ist? Der Gedanke machte ihn frösteln. Ihm schien, als wäre der gewaltige Mechanismus, der die letzten Augenblicke der Menschheit einläutete, in Bewegung gesetzt worden; er tickte die Sekunden fort wie eine gigantische Pendeluhr.“ (S. 238) 
McCammon bezeichnet seinen 1978 veröffentlichten Debütroman in dem 1988 geschriebenen Nachwort als „Zorniger junger Mann“-Roman, als ersten Versuch, aus der Tretmühle eines öden Jobs herauszukommen und seine Brötchen als Schriftsteller zu verdienen. Besonders originell wirkt der Plot dabei nicht. Die kurz abgehandelten Stationen von Baals Lebenslauf von seiner Zeugung über das Aufwachsen bei der überforderten Mutter und in katholischen Internaten bis zu seinen erfolgreichen Methoden, massenhaft Jünger zu rekrutieren, bewegen sich in vertrauten Regionen, die William Peter Blattys „Der Exorzist“ (1971) und dessen erfolgreiche Verfilmung durch William Friedkin sowie Filme wie „Das Omen“ (1976) und „Rosemaries Baby“ (1968) vorgezeichnet haben, um damit eine neue Welle des Horrorkinos loszutreten. 
Das Finale im eisigen Grönland erinnert zudem an Mary Shelleys „Frankenstein“. McCammons „Baal“ zeichnet sich eher durch die exotischen Schauplätze in Kuwait und Grönland aus, die der Autor eindrücklich vor den Augen des Lesers mit Leben erfüllt, und die gut gezeichneten Charaktere, während der Plot doch recht skizzenhaft ausgefallen ist und mehr Tiefe hätte vertragen können. Für einen Debütroman besticht „Baal“ zudem durch eine bildreiche Sprache, die in späteren Werken des Autors noch geschliffener zum Ausdruck kommt. 

 

Mick Herron – (Jackson Lamb: 6) „Joe Country“

Dienstag, 5. September 2023

(Diogenes, 480 S., Pb.) 
Zwar hat Mick Herron, der in Oxford englische Literatur studiert hat und dann als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift gearbeitet hat, bereits ab 2003 vier Romane um die Oxforder Privatdetektivin Zoë Boehm veröffentlicht, doch erst mit der 2010 begonnenen Reihe um Jackson Lamb und seine beim MI5 in Ungnade gefallenen „Slow Horses“ erreichte der englische Schriftsteller auch ein internationales Publikum. 2018 fing der Diogenes Verlag an, die Reihe auch der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen. Mit „Joe Country“ ist bereits der sechste Roman der Slough-House-Reihe erschienen, die seit 2022 mit Gary Oldman in der Hauptrolle als Fernsehserie bei Apple TV+ ausgestrahlt wird. 
Slough House, die abrissreife, verschimmelte Bruchbude, in der der unter Flatulenz und Abneigung gegen jegliche Höflichkeitsformen leidende Jackson Lamb seine liebevoll und sarkastisch als „Slow Horses“ bezeichnete Agenten führt, bekommt Zuwachs. Lech Wicinski wurde mit Kinderpornographie auf seinem dienstlichen Laptop erwischt und muss bis zur Aufklärung der Sachlage Dienst in Slough House schieben. Dort versucht Louisa Guy noch immer, über den Tod ihres Kollegen und Liebhabers Min Harper hinwegzukommen, als sie einen Anruf von Harpers Frau Clare erhält, die ihren Sohn Lucas vermisst und um Louisas Mithilfe bei der Suche bittet. 
Während River Cartwright seinen Großvater „O.B.“ (Old Bastard) beerdigen muss und dabei mal wieder Kontakt zu seiner egomanischen Mutter bekommt, versammelt sich auf dem Friedhof eine Reihe illustrer Gäste, darunter die neue MI5-Chefin Diana Taverner. Die Zeremonie wird allerdings empfindlich gestört, als unerwartet Rivers Vater, der in Ungnade gefallene Ex-CIA-Agent Frank Harkness, auftaucht und River zu einer ungewohnten Verfolgungsjagd animiert. 
Wie sich herausstellt, ist Harkness mit einem Team von drei Söldnern eingereist Während Louisa mit Hilfe der attraktiven Ex-Polizistin und Ex-Agentin Emma Flyte und ihrem Kollegen Roddy Ho Lucas‘ Handy in Wales ausfindig macht, wo der junge Mann mal als Kellner ausgeholfen hat, erfährt die Alkoholikerin Catherine Standish von ihrem Chef Jackson Lamb, wie und vor allem warum dieser seinen Vorgänger Charles Partner ausgeschaltet hat. 
Im verschneiten Wales spitzen sich die Ereignisse zu, als Louisa und Emma unfreiwillige Bekanntschaft mit Rivers Vater und seiner Crew machen. Die Sache entwickelt sich zu einem brisanten Politikum, bei dem nicht nur der Name eines Royals geschützt werden muss, sondern auch die Beziehung zwischen Lamb und Taverner einmal mehr auf dem Prüfstein steht… 
„Di Taverner hatte der Beerdigung beigewohnt und würde von Lamb genauso wenig vermuten, dass er Harkness‘ Anwesenheit ignorierte, wie sie damit rechnete, dass er sich in die Luft erhob oder die Zähne putzte. Aber das war nicht anders zu erwarten; ein Großteil des Lebens in Slough House wurde durch das ständige Tauziehen zwischen den beiden bestimmt. River hatte mal vorgeschlagen, sie sollten sich ein Zimmer nehmen – am besten schalldicht, abgeriegelt und mit einem Krokodil drin.“ (S. 152) 
Mick Herron hat mit der „Slough House“-Reihe fraglos die amüsanteste Variante des modernen Spionage-Romanes hoffähig gemacht. Während die von Herrons Landsmann Ian Fleming in den 1950er Jahren initiierte Reihe um den MI6-Agenten James Bond immerhin mit einigen pointierten Sprüchen aufwarten konnte, fiel die ebenfalls erfolgreich verfilmten „Jason Bourne“-Romane von Robert Ludlum recht humorlos aus. Da wirken Mick Herrons Plots weitaus erfrischender, die Figuren skurriler, der Humor derber. 
„Joe Country“ wartet nicht nur mit einem spannenden Fall für die lahmen Gäule auf, sondern beleuchtet auch die Beziehungen in Slough House etwas näher. Dabei kommt die Beziehung von River Cartwright zu seiner bislang durch Abwesenheit glänzende Mutter allerdings etwas kurz, wohingegen Jackson Lamb und Catherine Standish ihr Verhältnis ebenso neu definieren wie Di Taverner ihre Stellung beim MI5 durch einen geschickten Schachzug zu zementieren versucht. Die Action spielt sich dagegen in Wales mit allerlei Beteiligten verschiedener Lager ab und sorgt für die spannenden Momente in „Joe Country“. Vergnüglicher lassen sich Spionage-Romane wohl kaum lesen. Mit „Slough House“ und „Bad Actors“ hat Herron bereits zwei weitere Jackson-Lamb-Romane veröffentlicht, so dass wir uns auch hierzulande darauf freuen dürfen, die ungewöhnlichen Abenteuer von Lamb, Cartwright, Taverner & Co. weiter zu verfolgen.


 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 7) „Playback“

Donnerstag, 31. August 2023

(Diogenes, 236 S., HC) 
Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, für einen Hungerlohn ihre Geschichten in zehn Cents teuren Pulp-Zeitschriften zu veröffentlichen, hat es Raymond Chandler (1888-1959) geschafft, ab 1939 auch Romane zu veröffentlichen und mit seiner Figur des moralischen Privatdetektives Philip Marlowe eine Gallionsfigur des von ihm stark mitgeprägten Genres des Hardboiled-Krimis zu schaffen. 1958, fünf Jahre nach „Der lange Abschied“, erschien mit „Playback“ der siebte und letzte Marlowe-Roman. Der einzige nicht verfilmte Marlowe-Roman erschien nun in einer Neuübersetzung von Ulrich Blumenbach und mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
Philip Marlowe soll im Auftrag des Rechtsanwalts Clyde Umney aus L.A., der wiederum für eine einflussreiche Kanzlei in Washington tätig ist, in einem Zug eine junge Frau identifizieren, ihr unauffällig folgen, bis sie sich irgendwo ein Zimmer genommen hat, und dann Bericht erstatten. Angesichts der spärlichen Informationen, die ihm von Umneys Sekretärin Miss Vermilyea übermittelt werden, ist Marlowe fast abgeneigt, den Auftrag nicht anzunehmen, doch sowohl die Sekretärin als auch die zu beschattende Person sehen attraktiv genug aus, um sein Interesse zu wecken. Es handelt sich um die 1,62m große, rothaarige und nicht mal dreißigjährige Eleanor King, der Marlowe bis in ein Hotel nach Esmeralda folgt, wo sie unter dem Namen Betty Mayfield eingecheckt hat. 
Marlowe bekommt jedoch nicht nur das Gefühl, dass ihm wesentliche Informationen vorenthalten worden sind, sondern bekommt es auch noch mit zwei undurchsichtigen Typen zu tun: Larry Mitchell drängt sich Betty Mayfield auf so sichtlich unangenehme Weise auf, dass sie kurzerhand Reißaus nimmt. Und dann scheint Marlowes Berufskollege Ross Goble aus Kansas City ebenfalls auf die junge Frau angesetzt worden zu sein. Marlowe kann die Mayfield zwar in Del Mar ausfindig machen, hat es aber nach seiner Rückkehr nach Esmeralda mit einem weiteren Problem zu tun. Auf dem Balkon der jungen Frau liegt der verhasste Mitchell, mit Mayfields Pistole erschossen. Mayfield macht Marlowe schöne Augen und ein verheißungsvolles Angebot, wenn er sich um die Leiche kümmert. 
Dann findet Marlowe einen weiteren Mann tot vor…
„Ich musste zur Polizei und den Erhängten melden. Nur hatte ich keine Ahnung, was ich ihnen sagen sollte. Warum war ich zu seinem Haus gegangen? Weil er, wenn er die Wahrheit gesagt hatte, Mitchells Aufbruch am Morgen mitbekommen hatte. Und warum hatte das eine Bedeutung? Weil ich hinter Mitchell her war. Ich wollte ein vertrauliches Gespräch mit ihm führen. Worüber? Und von da an hatte ich nur noch Antworten, die zu Betty Mayfield führten…“ (S. 169) 
„Playback“, Raymond Chandlers letzter Philip-Marlowe-Roman, hatte eine schwierige Geburt hinter sich, musste der Autor doch mitten im Schreibprozess den Tod seiner über alles geliebten Frau Cissy verarbeiten, u.a. in einem teuren Privatsanatorium. Dass „Playback“ letztlich nicht ganz die Intensität und komplexe Spannungsdramaturgie aufweist wie beispielsweise „Der tiefe Schlaf“ und „Der lange Abschied“, kann daher kaum überraschen. Aber auch wenn „Playback“ weniger Tote und weniger Spannung aufweist, hat der Roman seine starken Momente, fährt einige interessante Figuren auf, zu denen neben der obligatorischen, unberechenbaren Femme fatale auch der sympathische Polizeicaptain Alessandro und der charismatische Henry Clarendon IV. zählen, und unterhält immer wieder mit einigen knisternd erotischen Momenten, pointierten Dialogen und treffenden Milieubeschreibungen. 
Das macht zwar noch kein Meisterwerk aus, stellt aber einen würdigen Abgang für eine Ikone unter den Privatdetektiven dar. 

 

Dennis Lehane – „Sekunden der Gnade“

Sonntag, 27. August 2023

(Diogenes, 400 S., HC) 
Dennis Lehane weiß, wie man filmreife Geschichten schreibt. Sein 2001 veröffentlichter Roman „Mystic River“ wurde von Clint Eastwood verfilmt, „Shutter Island“ von Martin Scorsese, „Gone Baby Gone“ und „Live by Night“ von Ben Affleck. Dazu schrieb der in Boston geborene und lebende Schriftsteller die Drehbücher zu einigen Folgen von „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“. Mit seinem neuen Roman lässt Lehane eigene Kindheitserinnerungen aufleben, nämlich die Unruhen, die sich im Zuge kontroverser Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung im Jahr 1974 ereigneten. 
Obwohl die 42-jährige Krankenhaushelferin Mary Pat Fennessy Extraschichten in dem Lager der Schuhfabrik eingelegt hat, in dem sie ihrem Zweitjob nachgeht, reicht es nicht, um die Gasrechnung zu bezahlen. Doch mehr Sorgen bereitet ihr der Umstand, dass ihre 17-jährige Tochter Jules eines Nachts nicht nach Hause zurückgekommen ist. Nachdem sie bereits ihren Sohn nach seiner Rückkehr aus Vietnam durch eine Überdosis Drogen verloren hat, ist Jules noch alles, was der Alleinerziehenden im Leben geblieben ist. Mary Pat grast ihre Nachbarschaft in Commonwealth ab, verfolgt nebenbei die geplanten Protestaktionen gegen die richterliche Anordnung, dass im kommenden Schuljahr Kinder aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel gebracht werden sollen. Das betrifft vor allem die beiden Schulen mit der größten afroamerikanischen (Roxbury High School) und mit der größten weißen Schülerschaft (South Boston High School). 
Die Proteste werden von dem Tod des 20-jährigen schwarzen Jungen Augustus Williamson überschattet, dessen Wagen in dem falschen Viertel liegengeblieben war, worauf er in der Columbia Station von einer U-Bahn erfasst worden ist. Als Mary Pat Jules‘ Freunde über den Verbleib ihrer Tochter ausfragt, bekommt sie nur ausweichende Antworten, bis sie erfährt, dass Jules ein Verhältnis mit dem verheirateten Gangster Frank „Tombstone“ Toomey hatte, was ihr offensichtlich am Ende das Leben kostete. 
Nachdem Mary Pat nichts mehr zu verlieren hat, macht sie Jagd auf die Mörder ihrer Tochter und schreckt vor nichts zurück. Selbst der ihr wohlgesinnte Cop Bobby Coyne vermag den Rachefeldzug der verzweifelten Mutter nicht stoppen, zweifelt auch er an der Gerechtigkeit in der Welt. 
„Vier schwarze Jugendliche, die einen weißen vor einen Zug treiben, müssten mit Lebenslänglich rechnen. Bekannten sie sich schuldig, würden bestenfalls zwanzig Jahre strenger Haft daraus. Aber den Kids, die Auggie Williamson vor den Zug gehetzt hatten, drohten nicht mehr als fünf Jahre. Höchstens. Und manchmal schlaucht es, an diese Diskrepanz zu denken.“ (S. 155) 
Dennis Lehane hat im Alter von neun Jahren miterlebt, wie sein Vater auf der Heimfahrt nach Dorchester in South Boston eine falsche Abzweigung genommen und auf Southies Hauptgeschäftsstraße in eine Protestaktion gegen die Einführung von Schultransporten zur Aufhebung der Rassentrennung gekommen war. Dieser Moment erfüllte den jungen Lehane mit so viel Angst, dass er nun passend zum 60. Jahrestag der berühmten „I Have a Dream“-Rede von Bürgerrechtler Martin Luther King einen bewegenden Kriminalroman über den leider nach wie vor nicht aus der Welt geschafften Rassismus und seinen Folgen geschrieben hat. 
Vor dem Hintergrund der sehr plastisch beschriebenen Protestaktion inszeniert der Autor einen filmreifen Plot, bei dem zwar die Morde an einem jungen Schwarzen und einer noch jüngeren Weißen im Mittelpunkt stehen, doch Lehane nutzt dieses Szenario geschickt, um die Ressentiments sowohl der Weißen als auch der Schwarzen gegeneinander zu thematisieren, ohne selbst explizit Stellung zu beziehen. „Sekunden der Gnade“ erzählt von den Folgen einer fehlgeleiteten Erziehung, bei der die „Anderen“ aus Gewohnheit diffamiert werden. Er erzählt von Hass, Gewalt, Drogen- und Waffengeschäften. 
Mit Mary Pat hat er eine komplexe Protagonistin erschaffen, die selbst von Kindheit an mit Gewalt konfrontiert gewesen ist und mittlerweile selbst hart zuzuschlagen versteht. Sie kann sich selbst nicht von rassistischen Ressentiments freisprechen und ist voller ambivalenter Gefühle wie Hass und Mitgefühl, was die Figur so interessant macht. 
Im nachfolgenden Interview sagt Lehane: „Ich fühle mich vom Bösen in den guten Menschen und vom Guten in den schlechten Menschen angezogen, weil die wenigsten von uns etwas anderes sind als ein kompliziertes Sammelsurium von Motiven und Begierden.“ 
Diese Vielschichtigkeit macht auch „Sekunden der Gnade“ aus, der sich als fesselndes Kriminaldrama ebenso gut liest wie als profunde Milieu- und Gesellschaftsstudie mit nach wie vor erschreckend aktuellem Bezug.