(Diogenes, 464 S., HC)
In den 1980er und 1990er Jahren avancierte Andrea De Carlo mit (zumindest in seiner italienischen Heimat) preisgekrönten Romanen wie seinem Debüt „Creamtrain“ und den Folgewerken „Vögel in Käfigen und Volieren“, „Macno“, „Yucatan“ und „Zwei von zwei“ zum absoluten Kultautor. An diese Erfolge kann der aus Mailand stammende ehemalige Fotograf, Rockmusiker und Regieassistent von Federico Fellini zwar längst nicht mehr anknüpfen, doch für kurzweilige Unterhaltungsliteratur ist De Carlo noch immer gut, wie sein neuer Roman „Das Traumtheater“ zeigt.
Veronica Del Muciaro ist nicht nur eine populäre Journalistin, die mit ihren Live-Reportagen für die Sendung „Tutto qui!“ für hohe Einschaltquoten sorgt, sondern präsentiert ihren Followern in den sozialen Medien mit unzähligen Selfies auch nahezu jeden Aspekt ihres Alltags. Dieser Tick wird ihr allerdings fast zum Verhängnis, als sie im ältesten Café von Suverso beim Fotografieren fast an einer Brioche erstickt. Während die meisten Gäste den Überlebenskampf der Fernsehfrau eher neugierig als besorgt verfolgen, packt ein Unbekannter beherzt zu und lässt das festgesetzte Stück Brioche im hohen Bogen aus ihrem Mund fliegen.
Die Reporterin fällt zunächst in das verhasste Stottern aus ihrer Kindheit zurück, sammelt sich aber schnell und beginnt, das Gespräch mit ihrem Retter zu filmen. Offensichtlich ist der Mann namens Guiscardo Guidarini ein Archäologe, der seine jüngste Entdeckung in der hiesigen Provinz gemacht haben will. Diese Nachricht verbreitet sich in Windeseile über die Grenzen der Kleinstadt Cosmarate hinaus und entfacht einen mit allen Bandagen ausgetragenen Machtkampf zwischen Massimo Bozzolao, dem der Wende® angehörende Bürgermeister von Cosmarate, Annalisa Sarmani, der zuständigen Stadträtin für Kultur und Tourismus der Gemeinde Suverso, und den übergeordneten Parteivorsitzenden, die das von Guidarini freigelegte antike Theater für ihre Zwecke ausschlachten wollen.
Aber auch Veronica Del Muciaro hat alle Hände voll zu tun, den Schwung, den sie durch die Erstberichterstattung mitgenommen hat, für die weitere Story-Entwicklung auszubauen. Je mehr Personen des öffentlichen Lebens auf der Bildfläche in Cosmarate auftreten, desto größer wird das Spektakel und die Hemmungslosigkeit, mit der sich die einzelnen Parteien bekämpfen.
„… wie sollte sie bloß mit diesem merkwürdigen Marchese und Archäologen umgehen? Sollte sie sich mit ihm verbünden oder ihn lieber entmachten? Aber der machte nun wahrlich nicht den Eindruck, als ließe er sich das ohne Weiteres gefallen, und die Tatsache, dass er das Theater aus eigener Kraft in nur drei Jahren ausgegraben hatte, sagte ja wohl alles über seine Entschlossenheit. Aber wieso hatte er alles geheim gehalten, was waren wohl seine wahren Gründe? Extreme Ungeduld? Mangelndes Vertrauen in die zuständigen Behörden? Oder vielleicht beides und wer weiß was noch?“ (S. 147)
In seinem neuen Roman kommt kaum einer ungeschoren davon. Vor dem Hintergrund einer vermeintlich sagenhaften historischen Entdeckung nutzt De Carlo die Profilierungssucht der Protagonisten gnadenlos aus, um die für Italien berühmt-berüchtigte Trägheit, Oberflächlichkeit und Korruption der Lächerlichkeit preiszugeben. Das fängt mit der geschwätzigen, sensationssüchtigen, geltungssüchtigen, aber auch unerschrockenen Reporterin Veronica Del Muciaro und ihrer zuständigen Studio-Chefin in Rom an und setzt sich in einem munteren Reigen fort, bei dem sich immer prominentere Politiker in den Vordergrund drängen, um das Theater als Aushängeschild für ihre öffentlichkeitswirksame Agenda zu vereinnahmen. Allein der Marchese bleibt bei dem wilden Treiben recht ruhig, sorgt durch seine auch körperliche Nähe zu Suversos Stadträtin Sarmani für eine leicht romantische Note in dem Plot. Die beiden stellen letztlich auch die einzigen Sympathieträger in „Das Traumtheater“ dar, wohingegen beim eskalierenden politischen Gemetzel zum Finale hin De Carlo genüsslich die Schwächen in der politischen und medialen Landschaft in Italien freilegt.
Die interessante Ausgangslage, die lebendige Sprache und die zwar an sich klischeehaft wirkenden, letztlich durchaus vielschichtig angelegten Figuren machen „Das Traumtheater“ zu einem durchweg humorvollen Lesevergnügen.