Jonathan Franzen – „Die Korrekturen“

Sonntag, 29. März 2020

(Rowohlt, 782 S., HC)
Der 39-jährige Chip Lambert holt seine Eltern vom LaGuardia Airport in New York City ab, damit sie mit Nordic Pleasurelines eine weitere Kreuzfahrt antreten können, vielleicht die letzte in ihrem Leben, denn Chips Vater Alfred leidet zunehmend unter Parkinson. Dabei sitzen sie noch immer dem Missverständnis auf, dass Chip beim Wall Street Journal arbeitet. Stattdessen liefert Chip, der vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte an einem College in Connecticut wegen eines Vergehens verloren hatte, in das eine seiner Studentinnen involviert gewesen war, nicht honorierte Beiträge für das Magazin Warren Street Journal: Monatsschrift der Transgressiven Künste ab. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einen Teilzeitjob als Korrektor bei einer Anwaltskanzlei, während sein gerade fertiggestelltes – von vor Phallusängsten und Brüsten triefendes - Drehbuch keinen Abnehmer findet. So bleibt ihm nur seine Wohnung in Manhattan und seine hübsche – leider verheirateten - Freundin Julia. Die hat natürlich von seiner Sexsucht bald genug und sucht das Weite. Interessanterweise erhält Chip ausgerechnet von Julias Mann, den litauischen Diplomaten Gitanas, das Angebot, ihn nach Litauen zu begleiten und bei seinem neuen Projekt zu unterstützen, bei dem es um die Gewinnung internationaler Investoren für die – natürlich betrügerische - „Parteigesellschaft Freier Markt“ geht.
Doch auch seine Geschwister haben ihre Probleme. Gary war erfolgreicher Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank, leidet aber unter Depressionen und dem Gefühl, dass sich seine Frau Caroline und seine drei Kinder gegen ihn verschworen haben. Denise scheint es mit ihren 32 Jahren zunächst gut getroffen zu haben, macht als Spitzenköchin Karriere, doch die Ehe mit dem fast doppelt so alten Emile Berger hält nicht. Denise lässt sich von Brian Callahan engagieren, in den Räumen eines alten Kohlekraftwerks ein eigenes Restaurant zu leiten. Doch als sie sowohl mit Brian als auch seiner Frau Robin eine Affäre beginnt und beide davon erfahren, löst sich ihre Karriere in Luft auf. Von all diesen Problemen bekommen Alfred und Enid Lambert auf ihrem Kreuzfahrtschiff nichts mit. Enid ist nur noch von dem innigen Wunsch getrieben, ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest in St. Jude zu feiern …
„Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.“ (S. 665) 
Jonathan Franzen legte 2002 mit „Die Korrekturen“ seinen dritten Roman vor. Seine ersten beiden Werke „The Twenty-Seventh City“ (1988) und „Strong Motion“ (1992) wurden erst nach dem internationalen Erfolg seines dritten Romans in Deutschland veröffentlicht und untermauerten die erzählerische Qualität des 1959 in Western Springs, Illinois, geborenen und nun in New York lebenden Autors. In „Die Korrekturen“ entwirft er ein Familienportrait, das als Querschnitt der amerikanischen Mittelschicht gelesen werden kann. Während Alfred auf eine erfolgreiche Karriere als Bahningenieur zurückblickt, aber seiner Frau nach zwei Jahre zu früh in Pension gegangen ist, kam seiner Frau die Erziehung der Kinder zu, auf die sie keinen Einfluss mehr ausüben, da sie im ganzen Land verstreut ihren eigenen Lebensentwürfen folgen.
Franzen gibt sich viel Mühe, die einzelnen Biografien minutiös und überzeugend auszugestalten. Dabei bildet Chip das unstete Leben im Kreativ-Bereich ab, wirkt durch seine sexuelle Promiskuität, vor allem aber auch durch sein Engagement in Litauen wie eine Karikatur. Weitaus glaubwürdiger ist der Erzählstrang um den Banker Gary ausgefallen, der nicht wie sein Vater allein für das Aufkommen des Familienunterhalts zuständig ist und sich damit gewisse Rechte bei der Ausgestaltung des familiären Lebens herausnehmen könnte, sondern mit Caroline eine selbstbewusste, finanziell unabhängige Frau an seiner Seite hat, die souverän ihre eigenen Interessen zu vertreten versteht und für den größten Widerstand bei den Weihnachtsplänen ihrer Schwiegermutter sorgt.
Denise wiederum reibt sich zunächst im Beruf auf, trifft aber unglückliche Entscheidungen im Bereich ihrer persönlichen Beziehungen, was nicht ohne Folge auf ihre Karriere bleibt. Sie erweist sich allerdings am Ende als die gute Tochter, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Gary am meisten darum sorgt, wie es mit ihren Eltern weitergeht. All diese Einzelschicksale verwebt Franzen zu einem großen Familienroman, der einerseits den Wechsel im Umgang mit Traditionen von einer Generation zur nächsten nachvollzieht, zum anderen aber auch die Probleme zunehmend individualisierter Lebensentwürfe in einer post-modernen Welt aufzeigt.
Franzen bezieht dabei die Probleme der „New Economy“ ebenso mit ein wie die Schwierigkeit, bei der grenzenlos erscheinenden Auswahl an geschlechtlichen und gesellschaftlichen Rollen seinen eigenen Weg zu finden, ohne die eigenen Eltern mit ihren festen Moralvorstellungen zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Dabei bedient sich der Autor einer wunderbar fließenden, bildgewaltigen Sprache, die viel Humor und Sympathie für die Figuren erkennen lässt.

Francis Fukuyama – „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“

Samstag, 28. März 2020

(Atlantik, 238 S., Pb.)
Der 1952 geborene Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat 1992 mit seinem Bestseller „Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?“ darauf hingewiesen, dass weder Nationalismus noch Religion als Kräfte der Weltpolitik verschwinden würden. Die Tatsache, dass ein Vierteljahrhundert später ausgerechnet die wegweisenden Demokratien der USA und Großbritanniens mit der Wahl Donald Trumps einerseits und dem Beschluss, die Europäische Union zu verlassen andererseits, beängstigender Ausdruck nationalistischer Tendenzen geworden sind, haben den in Stanford lehrenden Professor dazu bewogen, mit seinem schmalen Band „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ eine neue Bestandsaufnahme der Weltpolitik vorzunehmen.
Nachdem die Anzahl repräsentativer Demokratien zwischen den frühen 1970er und 2005 von ungefähr 35 auf über 110 angestiegen war, was mit einem Anwachsen wirtschaftlichen Austauschs (Globalisierung), der Vervierfachung weltweit produzierter Güter und erbrachter Dienstleistungen sowie der Verringerung des Anteils der unter extremer Armut leidenden Menschen um 17 Prozent einherging, ist die Tendenz mittlerweile rückläufig. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang die 2008 vom US-amerikanischen Subprime-Markt verursachte Große Rezession und die Euro-Krise nach der drohenden Staatspleite Griechenlands. Russland und China nutzten diese Ereignisse, um eindeutig undemokratische Wege zu mehr Reichtum und Selbstbewusstsein einzuschlagen, 2011 sorgte der Arabische Frühling zwar zunächst für eine Zerschlagung von Diktaturen im Nahen Osten, konnte aber die Hoffnungen auf demokratische Prozesse nicht erfüllen, so dass sich Libyen, der Jemen, Irak und Syrien in Bürgerkriegen zerfleischten.
Als gemeinsamen Nenner für diese an sich ganz unterschiedlichen Ereignisse sieht Fukuyama das Problem der sogenannten „Identitätspolitik“. Überall auf der Welt würden sich Menschen nicht mehr damit abfinden, respektlos behandelt zu werden. Sowohl die Schwulenbewegung, die Frauenbewegung als auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die jüngste #MeToo-Debatte haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich Menschen wegen ihrer Rasse, ihrer Religionszugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminiert fühlen, und zwar über politische und kulturelle Grenzen hinweg. So verstand es Osama bin Laden beispielsweise, seinen Zorn über die Kränkung der Muslime in der ganzen Welt in seiner Al-Qaida-Bewegung so zu mobilisieren, dass sie mit Gewalt für einen Islamischen Staat eintraten.
In den USA waren es vor allem die ländlichen Wähler, die sich von den städtischen Oberschichten beider Küsten ignoriert fühlten und dankbar Trumps Wahlkampfslogan „Make American Great Again“ aufnahmen. Die Demokratien in aller Welt haben es bislang nicht verstanden, dem individuellen Wunsch nach Würde und Respekt befriedigend zu entsprechen. Schließlich hat schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel darauf aufmerksam gemacht, dass der Kampf um Anerkennung die höchste Antriebskraft der Menschheitsgeschichte sei.
„Viele zeitgenössische liberale Demokratien stehen vor einer immensen Herausforderung. Sie haben einen raschen wirtschaftlichen Wandel durchgemacht und sind infolge der Globalisierung weitaus vielfältiger geworden. Dadurch ist das Verlangen nach Anerkennung bei Gruppen geweckt worden, die früher für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar waren. Solche Wünsche bewirken einen subjektiv empfundenen Statusverlust bei den von ihnen verdrängten Gruppierungen und lösen eine Politik des Unmuts und der Gegenreaktion aus.“ (S. 194) 
Für Fukuyama besteht die Herausforderung darin, das drängende Problem der steigenden Anzahl von Immigranten dadurch zu lösen, dass die Immigranten in die nationale Bekenntnisidentität eines Landes einbezogen werden, denn nur so können sie eine gewinnbringende Vielfalt in die Gesellschaft tragen, während schlecht integrierte Einwanderer eine Belastung für den Staat und sogar eine Gefahr für die Sicherheit wären. Fukuyama führt seine klugen Überlegungen knapp und anschaulich aus, bemüht griechische Philosophen, frühneuzeitliche Denker wie Hobbes, Locke und Rousseau bis zu Soziologen und Politikwissenschaftler wie Samuel P. Huntington, um die Entwicklung des Identitätsbegriffs und den damit zusammenhängenden Problemen in immer komplexeren Gesellschaften zu beschreiben, wobei er überzeugend darlegt, warum gerade die linken Parteien an den aktuellen Herausforderungen scheitern.
Es sind zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse, die der renommierte Politikwissenschaftler hier auftischt, aber in der Beobachtung und Analyse der gegenwärtigen globalen Krisen bietet „Identität“ einen kompakten Überblick.
Leseprobe Francis Fukuyama - "Identität"

Håkan Nesser – „Der Choreograph“

Mittwoch, 25. März 2020

(btb, 256 S., HC)
„Ich bin kein Schriftsteller, kein Mensch, der schreibt. Ich kann es nicht prinzipiell leugnen, dass mir der Prozess an sich gefällt, Buchstaben, Worte, einen Sinn zu formen, auf weißem Papier; aber nach vielen Stunden mit Stift und Notizbuch bin ich meistens nicht besonders interessiert an dem Ergebnis“, bekennt der Ich-Erzähler, den wir später nur durch einen Brief seiner Geliebten als David identifizieren können, gleich zu Beginn seiner ungewöhnlichen Erzählung. Sie beginnt in einem Eisenbahnabteil, einer unbekannten Landschaft mit einer unbekannten Frau, die der Reisende auf Deutsch angesprochen hat.
Er beobachtet aus den Augenwinkeln, wie sich ein Soldat dieser Frau nähert, doch das erotisch anmutende Intermezzo fällt in sich zusammen, als sich der Erzähler mit einem Schlucken bemerkbar macht. So ähnlich verhält es sich mit der schicksalhaften Bekanntschaft, die der Mann am Ziel seiner Reise macht. In K. begegnet der Mann, der vor zehn Jahren seine zweijährige Ehe scheiden ließ, in einem Geschäft der „schönsten Frau der Welt“. Er spricht die Frau namens Maria in dem roten Kleid mit den schwarzen Applikationen an, sie verabreden sich für den Nachmittag und lieben sich auf eine Weise, die in dem Erzähler das Verlangen nach Mehr weckt.
Doch Maria verschwindet immer wieder spurlos, bekennt, dass sie mit ihm nicht zusammen sein könne, kommt aber auch nicht von ihm los. Was folgt, ist eine kuriose Odyssee, eine Suche, in die schließlich auch Davids Kollegen von der Universität einbezogen werden, als er zusammen mit ihnen einen Ausflug in die Berge unternimmt. Doch ein romantisches Happy End ist dieser Beziehung natürlich nicht vergönnt …
„Wie konnten wir diese lange Zeit über zusammen sein, ohne Fragen zu stellen? Wie sonderbar erscheint das doch im Nachhinein. Einem anderen Menschen so nah zu sein und trotzdem nicht zu wissen, wer er eigentlich ist.
Doch etwas sagte mir, dass es genau so sein sollte.“ (S. 111) 
Der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser ist durch seine charismatischen Kommissare bekannt geworden, vor allem mit der Reihe um Van Veeteren, die 1993 mit „Das grobmaschige Netz“ begann, später auch mit Gunnar Barbarotti, der 2006 in „Mensch ohne Hund“ seinen Einstand feierte. Doch bereits 1988 veröffentlichte Nesser mit „Koreografen“ seinen ersten Roman, der nun – längst überfällig – als limitierte Sonderausgabe anlässlich des 70. Geburtstags des Autors erschienen ist. Literarisch ist „Der Choreograph“ schwer einzuordnen. Das hängt vor allem mit der eigenwilligen Struktur der Erzählung zusammen. Was für den Ich-Erzähler als leidenschaftliche Romanze in einer fremden Stadt beginnt, entwickelt sich nur kurz zu einem Krimi-Plot, wenn die Suche nach Maria thematisiert wird und die Begegnung mit ihrem Mann einen dramatischen Höhepunkt zu versprechen scheint. Doch Nesser untergräbt die Erwartungshaltung des Publikums immer wieder geschickt. Indem Nesser die Geschichte in die Hände seines Erzählers legt, sind die Leser den Launen und der tiefer liegenden psychischen Befindlichkeiten ausgeliefert, also auch den unvermuteten Wechseln von Zeit, Ort und betroffenen Personen.
Es lässt sich gut nachvollziehen, dass „Der Choreograph“ erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, denn für einen gänzlich unbekannten Autor wäre es schwer gewesen, mit so einem Stück die Lesermassen zu gewinnen. Dafür verschließt sich der Plot einer nachvollziehbaren Struktur, und nicht wenige Handlungsstränge verlaufen einfach im Nichts, bis auch das Ende viele Leser unbefriedigt zurücklassen wird. Auf der anderen Seite präsentiert „Der Choreograph“ bereits die schriftstellerischen Stärken des schwedischen Bestsellerautors, nämlich das immens ausgeprägte Einfühlungsvermögen in seine Figuren. Die bruchstückhaften Erzählungen, Erinnerungen und Phantasien, die der Ich-Erzähler lose aneinanderreiht, packen den Leser auf einer emotionalen Ebene und lassen ihn dann auch nicht mehr los, so dass es am Ende nicht viel ausmacht, dass eine konventionelle Auflösung der geschilderten Ereignisse ausbleibt.
Das mag nicht für alle Leser zutreffen. Abgerundet wird das Buch übrigens von einem sehr informativen Vorwort von Eugen G. Brahms und einem Nachwort von Paula Polanski, von der das zusammen mit Håkan Nesser veröffentlichte „Strafe“ ebenfalls bei btb erhältlich ist.
Leseprobe Hakan Nesser - "Der Choreograph"

Irvine Welsh – „Die Hosen der Toten“

Sonntag, 22. März 2020

(Heyne Hardcore, 474 S., HC)
1993 zeichnete der schottische Autor Irvine Welsh mit „Trainspotting“ das gelungene Portrait einer jungen Generation, für die es in der von Arbeitslosigkeit und Mietskasernen geprägten Post-Thatcher-Ära keinen Platz mehr in der Gesellschaft gab und die deshalb im Drogen- und Alkoholrausch versank. Mittlerweile, wir schreiben das Jahr 2015, sind die aus dem Edinburgher Stadtteil Leith stammenden Freunde Simon David „Sick Boy“ Williamson, Danny „Spud“ Murphy, Mark Renton und Francis James Begbie erwachsen geworden, doch nicht allen ergeht es so gut wie Mark, der als erfolgreicher DJ-Manager durch die Welt jettet, um seinen Klienten vor allem Drogen und Prostituierte zu beschaffen.
Als er auf einem Flug nach Los Angeles aber unerwartet seinem Erzfeind Franco/Frank/Francis Begbie begegnet, geht ihm ordentlich die Flatter, denn wie seine anderen ehemaligen Kumpel hat Renton auch Begbie damals um ein kleines Vermögen betrogen. Doch Begbie, der sich mittlerweile einen Namen als Künstler machen konnte und nun mit seiner Frau Melanie in Kalifornien, hegt überhaupt keine Rachegedanken.
Den anderen beiden Leith-Jungs ist es nicht so gut ergangen. Spud hat Rentons Rückzahlung der 15.000 Pfund gleich wieder in Drogen investiert und ist im illegalen Organhandel tätig. Dumm nur, dass sein Hund Toto die Niere anknabbert, die er nach Berlin transportieren soll. Dafür wird er selbst übel bluten müssen. Und Simon betreibt mit Colleagues einen exklusiven Escort-Service und wird Zeuge, wie sein sexsüchtiger Schwager Euan McCorkindale Ehebruch begeht, als das Video von seinem Seitensprung der ganzen Familie vorgeführt wird. Doch das ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von schicksalhaften Begegnungen in ihrer alten Heimat Edinburgh, wo sich ein vertrauter Strudel aus Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungeschützten, wilden Sex-Eskapaden und brutaler Gewalt entlädt und alte Ressentiments wieder aufbrechen lässt …
„Überall wimmelt es von alten Bekannten, wie zum Beispiel ,Trimmrad‘, die wir so genannt haben, weil sich jeder auf ihr abstrampelte, sie sich dabei aber kein Stück bewegte. Kaum erkennt sie mich, setzt sie diesen gleichzeitig nuttigen und unsicheren Gesichtsausdruck auf, den sie schon in den Leith-Academy-Tagen zur Schau gestellt hat. An ihrer Lippe klebt ne Zigarette. Ihr abwesender Blick und der durchgescheuerte Schulterriemen ihrer Handtasche lassen vermuten, dass Letztere am Ende des Tages nicht mehr in ihrem Besitz sein wird.“ (S. 305) 
Irvine Welsh hat es mit seiner „Trainspotting“-Reihe, zu der die Fortsetzung „Porno“ und das Prequel „Skagboys“ zählen, wie sein schottischer Kollege John Niven mit seiner trashigen Sprache und den humorvollen Szenarien voller abgefuckter Typen zum Kult-Autor gebracht.
Mit „Die Hosen der Toten“ bringt er die Reihe zu einem würdigen Abschluss, wobei es vor allem interessant zu verfolgen ist, was aus den damals so unterschiedlich veranlagten Versagern, die sich nur um Sex, Drugs und ebenso berauschende Tanzmusik kümmerten, nach über zwanzig Jahren so geworden ist. Dabei lässt Welsh seine rein männlichen Protagonisten abwechselnd die Erzählperspektive einnehmen, ohne ihnen allerdings eine eigene Stimme zu verleihen. Je mehr die einzelnen Handlungsstränge voranschreiten, um so mehr entsteht der Eindruck, als seien die Leith-Jungs, aus denen Begbie schließlich noch Büsten gießt, die für viel Geld den Besitzer wechseln, in ihrer Entwicklung nicht weiter vorangeschritten.
Zwar spielt die Musik nicht mehr so eine prägende Rolle in ihrem Leben, Sex und Drogen aber schon. Tatsächlich präsentiert sich Welsh in den Szenen, die von den merkwürdigsten – natürlich männlichen - Sex-Erlebnissen und -Phantasien handeln, am erfindungsreichsten, auch in sprachlicher Hinsicht. Stephan Glietsch hat hier großartige Arbeit bei der Übersetzung geleistet. Allerdings dürfte „Die Hosen der Toten“ mit seiner frauenfeindlichen Tonart tatsächlich nur ein männliches Publikum begeistern. Die Geschichte wirkt dabei seltsam zusammengestückelt, episodenhaft, die Figuren wenig konturiert, da sie nur von primitivsten Begierden getrieben werden.
Wer an den bisherigen „Trainspotting“-Büchern Gefallen fand, wird auch „Die Hoten der Toten“ unterhaltsam finden, doch ein ganz großes Finale stellt dieser Roman nicht dar. Dafür scheint Welsh zu sehr an oberflächlich zündenden Gags als an der Entwicklung seiner Figuren und der Beschreibung – selten vorkommender – familiärer Konzepte gelegen zu sein.
Leseprobe Irvine Welsh - "Die Hosen der Toten"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 4) „Lupus“

Sonntag, 15. März 2020

(dtv, 608 S., Pb.)
Nachdem der ehemalige, mit dem Tapferkeitsorden ausgezeichnete Elite-Soldat Niels Oxen zusammen dem ehemaligen PET-Geheimdienstchef Axel Mossman, dessen Neffen Christian Sonne und dessen Mitarbeiterin Margarethe Franck dabei half, den mächtigen Geheimbund Danehof zu zerschlagen, will sich Oxen zunächst um eine Annäherung zu seinem 14-jährigen Sohn Magnus kümmern, doch die gemeinsamen Besuche im Kopenhagener Zoo an den Wochenenden tragen nicht wirklich dazu bei. Auch seine regelmäßigen Termine bei einer Psychologin im Veteranenzentrum der Armee schaffen keine Abhilfe gegen Oxens Unwillen, Veranstaltungen mit größerem Menschenaufkommen zu besuchen, und andere Folgen seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Eines Tages kommt Mossman zu Besuch, der jetzt einer eigenen Kommission vorsitzt und bei der Durchforstung der Danehof-Archive auf weiteres Unheil gestoßen ist, das sich zwar erst als undeutlicher Schatten abzeichnet, aber der anglizistisch veranlagte Mossman würde seinen „black knight in shining armour“ gern nach Jütland schicken, um auf einem abgelegenen Bauernhof einige Voruntersuchungen anzustellen.
Er macht Oxen den Ausflug nach Harrildholm mit der Aussicht schmackhaft, dass er auf dem Weg dahin auch das Haus in Brande besuchen könnte, wo er einst bei der Fischzucht gearbeitet hatte, um mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit abschließen zu können. Trotz seiner Absicht, nicht mehr für Mossman arbeiten zu wollen, ist Oxen nicht abgeneigt, nach dem vermissten Poul Hansen in der Harrilder Heide zu suchen, zumal in der Gegend nach zweihundert Jahren wieder Wölfe gesichtet worden sind, die Oxen schon immer fasziniert haben. Sein Sohn, der er mitgenommen hat, wird bei der ersten Besichtigung des Hofes Zeuge, wie sein Vater einen Einbrecher ausschaltet, und wenig später überschlagen sich die Ereignisse, bei denen Mossman und Oxen einer Organisation namens Lupus auf die Spur kommen, die die Justiz immer dann selbst in die Hand nimmt, wenn die staatliche Rechtsprechung zu versagen scheint. Und die Hinweise führen auch zwölf Jahre zurück, als Margarethe Franck nach einem Banküberfall den vermeintlichen Fahrer des Fluchtwagens erschoss und dabei ihr Bein verlor …
„Dort draußen waren Schatten. Schatten, die Risiken eingingen. Lupus-Schatten, die bis in Mossmans Anfangsjahre zurückreichten, vage Spuren eines feuchtfröhlichen Sommerabends unter Polizisten, auf einem Gartenfest in Roskilde … Und Jahre später auf einer Geburtstagsfeier im Søpavillon. Schatten, deren Existenz nur durch einen kleinen Fetzen Papier in den Hinterlassenschaften eines ehemaligen PET-Chefs angedeutet wurde, auf dem ein Millionenbetrag notiert worden war.“ (S. 298) 
Jens Henrik Jensen hat viele Jahre lang als Journalist in seiner dänischen Heimat gearbeitet und 1997 seinen Debütroman „Wienerringen“ veröffentlicht, bevor er sich seit 2015 ganz auf das Schreiben von Büchern verlegte. Mit seiner zwischen 2012 und 2016 erschienenen Trilogie um den hochdekorierten Ex-Jäger-Soldaten Niels Oxen hat Jensen schließlich auch international die Bestseller-Listen gestürmt und verständlicherweise weiterhin Lust gehabt, die Geschichte um seinen interessanten Protagonisten weiterzuerzählen.
Auch wenn der mächtige Danehof durch das beherzte Zusammenwirken von Mossman, Franck, Oxen und Sonne demaskiert und zerstört werden konnte, sind die staatsfeindlichen Kräfte in Dänemark natürlich nicht ausgemerzt. Der „Lupus“-Fall vereint nicht nur die Faszination für die in die Harrilder Heide zurückgekehrten Wölfe mit der nach dem Canis Lupus benannten Organisation, sondern versucht zumindest ansatzweise die persönliche Entwicklung des traumatisierten Ex-Elitesoldaten zu charakterisieren. Allerdings belässt es Jensen hier bei unbefriedigenden Ansätzen und konzentriert sich schnell auf die zunehmend komplexer werdenden Ereignisse auf dem verlassenen, aber von Kameras überwachten Hof in Mitteljütland. Hier erweist sich einmal mehr die Stärke des Autors. Während seine Figuren zwar an sich interessant sind, aber kaum tiefergehend charakterisiert werden, versteht er es meisterhaft, verschiedene zunächst unabhängig voneinander beobachtete Ereignisse nach und nach miteinander zu vernetzen. Mossman bleibt dabei so undurchsichtig wie eh und je, wobei seine ständig eingeworfenen Anglizismen auch schon nerven. Am meisten gewinnt noch Margarethe Franck an Profil, wenn die Ereignisse rekapituliert werden, unter denen sie ihr Bein verlor.
Spannung generiert „Lupus“ aber vor allem aus den wieder bis in die höchsten Polizeidienststellen reichenden Verwicklungen, die in professionell ausgeführten Selbstjustiz-Aktionen münden. Jens Henrik Jensen versteht es dabei, gesellschaftspolitisch relevante Themen fundiert aufzuarbeiten – wobei ihm sein journalistischer Hintergrund sicherlich förderlich ist – und diese in packende Thriller-Unterhaltung zu verpacken. An der Konturierung und Entwicklung seiner Figuren sollte Jensen aber noch arbeiten.
Leseprobe Jens Henrik Jensen "Lupus"

John Grisham – „Die Wächter“

Sonntag, 8. März 2020

(Heyne, 448 S., HC)
Cullen Post arbeitet für die gemeinnützige Organisation Guardian Ministries, die vor zwölf Jahren von Vicky Gourley gegründet wurde und es sich zur Aufgabe gemacht hat, unrechtmäßig (oft zum Tode) verurteilte Menschen zu rehabilitieren. Der 38-jährige Duke Russell ist derzeit einer von Posts fünf Mandaten. Er soll vor elf Jahren Emily Broone vergewaltigt und ermordet haben und wurde dafür vor fünf Jahren zum Tode verurteilt. Der ermittelnde Staatsanwalt Chad Falwright hat Posts Meinung nach damals schlampige Ermittlungen geführt und den damals zweiundzwanzigjährigen Mark Carter, der das Opfer als Letzter lebend gesehen hat, gar nicht als Verdächtigen eingestuft, während Post ihn für den Täter hält. Er muss es nur noch beweisen.
Damals wurden Bissspuren und Schamhaare von Pseudo-Sachverständigen zu erdrückenden Beweisen hochstilisiert, obwohl keine DNA-Analysen der Schamhaare durchgeführt wurden. Nachdem das Todesurteil für Russell aufgeschoben worden ist, widmen sich Post und sein schwarzer Kollege Frankie Tatum einem Fall, der bereits seit drei Jahren auf dem Schreibtisch von Guardian Ministries liegt: Quincy Jones wurde wegen Mordes an dem 37-jährigen Anwalt Keith Russo zum Tode verurteilt und wartet seit 22 Jahren im Gefängnis auf die Vollstreckung des Urteils.
Jones war damals Russos Mandant in Seabrook, aber unzufrieden mit dem Ergebnis, wie er die ihm anvertraute Scheidungsangelegenheit geregelt hatte. Verschiedene offensichtlich falsche Aussagen, von einem Gefängnisspitzel ebenso wie von Quincys Ex-Frau Diana, besiegelten das Urteil. Vor allem wurde dem Angeklagten eine Taschenlampe zum Verhängnis, die im Kofferraum von Quincys Wagen gefunden wurde, die ein Sachverständiger als Tatwaffe deklarierte, obwohl er das Objekt nie gesehen, sondern seine Blutspurenanalyse nur aufgrund von Farbfotos durchgeführt hatte. Doch als sich Post und seine Kollegen näher mit dem Fall befassen, stoßen sie auf ein undurchdringliches Geflecht aus Korruption und Intrigen.
Obwohl Guardian Ministries in erster Linie darum bemüht ist, bei ihren ausgesuchten Fällen die für unschuldig gehaltenen Mandanten wieder in Freiheit zu sehen, liegt Post in diesem Fall auch viel daran, den wahren Täter zur Verantwortung zu ziehen. Seiner Meinung nach steckt der korrupter Sheriff Pfitzner hinter dem Verbrechen, weil er verhindern wollte, dass Russo, der sein Geld vor allem als Anwalt für die Drogenmafia machte und schließlich vom FBI als Informant umgedreht wurde, sein Wissen um Pfitzners Beteiligung an dem Komplott kundtun konnte. Doch nicht zuletzt die in den Fokus der Ermittlungen gerückte Mafia versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt …
„Sie wollen sich uns nicht offen in den Weg stellen, uns Angst einjagen, uns einschüchtern, zumindest jetzt noch nicht, weil das ihre Existenz bestätigen würde und sie wahrscheinlich ein weiteres Verbrechen begehen müssten, was sie gern vermeiden würden. Ein Feuer, eine Bombe oder eine Kugel könnten hohe Wellen schlagen und Spuren hinterlassen.
Quincy aus dem Weg zu räumen ist die einfachste Methode, die Ermittlungen zu torpedieren.“ (S. 274) 
John Grisham, der selbst jahrelang als Anwalt praktiziert hat, lässt sich für seine Romane immer wieder von realen Fällen inspirieren, so auch für „Die Wächter“. Wie der US-amerikanische Bestseller-Autor in seiner Anmerkung am Ende erwähnt, hat er den Fall des immer noch inhaftierten Joe Bryan, der vor dreißig Jahren zu Unrecht verurteilt worden war, seine Frau ermordet zu haben, und dafür noch immer in einem texanischen Gefängnis einsitzt. Grisham macht überhaupt keinen Hehl daraus, was er von der amerikanischen Justiz hält, die sich viel zu sehr auf Möchtegern-Sachverständige verlässt, die für ansehnliche Honorare alles aussagen, was die Ankläger hören wollen. Die Schwarz-Weiß-Malerei wirkt bei John Grisham gerade bei „Die Wächter“ etwas sehr dick aufgetragen, aber da er die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Cullen Post schreibt, der aus eigener Erfahrung gelernt hat, wie fehlerhaft das Justiz-System in den USA funktioniert, fällt dieses Manko im Verlauf der Geschichte immer weniger ins Gewicht.
Dafür entwickelt der Plot – wenn auch auf sehr vorhersehbaren Bahnen – einen unwiderstehlichen Sog, der seine Spannung vor allem durch die Suche nach neuen Beweisen generiert, die Posts Mandanten endgültig entlasten. „Die Wächter“ zählt zwar nicht zu den stärksten Werken von John Grisham, macht aber – wieder einmal - thematisch auf eine erschreckende Ungerechtigkeit im US-amerikanischen Justizsystem aufmerksam.
Leseprobe John Grisham - "Die Wachter"

Hari Kunzru – „Götter ohne Menschen“

Dienstag, 3. März 2020

(Liebeskind, 414 S., HC)
Im Jahre 1947 ließ sich der ehemalige Flugzeugingenieur Schmidt in der kalifornischen Mojave-Wüste an einem Ort in der Nähe der drei Felssäulen der Pinnacles nieder, weil er dort mit Wünschelrute und Bodenmessgerät ein Kraftfeld entdeckt hat, eine natürliche Antenne, mit der er Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen könnte. Er pachtete das gewünschte Gelände für zwanzig Jahre, kaufte sich einen gebrauchten Airstream-Trailer, entdeckte schließlich eine alte Goldgräberhöhle in den Felsen, legte eine Landepiste für Flugzeuge an und eröffnete ein kleines Café, in dem er Kaffee und Spiegeleier servierte, um nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern vor allem seine Botschaft von Liebe und Brüderlichkeit zwischen allen Wesen im Universum zu verbreiten. Tatsächlich entdeckte er eines Abends ein helles Licht über dem Horizont, beobachtete die Landung eines Fahrzeugs und begrüßte zwei menschliche Gestalten in weißen Gewändern.
Elf Jahre später versuchte er die Botschaft des Weltfriedens durch den dort errichteten Ashtar Galactic Command an möglichst viele Menschen zu verbreiten. Bereits 1778 war dort dem Missionar Fray Francisco Hermenegildo Tomás Garcés ein Engel erschienen. Nun machen sich Jaz und Lisa Matharu mit ihrem autistischen Sohn Raj auf dem Weg in diese Wüste, wo sie hoffen, dem stressigen Alltag in New York zu entkommen und ihre Ehe zu kitten hoffen. Dass Jaz als Trader an der Wall Street für den Familienunterhalt aufkam und Lisa sich allein um die Erziehung ihres problematischen Sohnes kümmern musste, hat der Beziehung ebenso wenig gutgetan wie Jaz‘ familiärer Hintergrund. Obwohl er in Baltimore und nicht in Indien aufgewachsen ist, hängen ihm seine Eltern nach wie vor mit den Traditionen und Vorstellungen ihrer Heimat in den Ohren. Doch der Ausflug zu den Felsen endet in einem Fiasko. Nach einem lauten Knall ist Raj plötzlich spurlos verschwunden.
Die Suche nach Raj nimmt die Polizei und die Aufmerksamkeit der Medien voll in Anspruch. Je mehr Zeit vergeht, ohne dass der Junge wieder auftaucht, umso öfter tauchen im Internet Vermutungen auf, dass Jaz und Lisa für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich sind …
„Bald würde von Raj nichts mehr übrig sein als ein paar blanke Zettel an den Pinnwänden des Nationalparks. Wenn der letzte Journalist ihn vergessen hatte, würden Lisa und er ebenfalls verschwinden, ausgelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis.“ (S. 351)
Seit seinem Debütroman „The Impressionist“, der 2002 in deutscher Übersetzung als „Die Wandlungen des Pran Nath“ erschien, zählt der britische Journalist („The Guardian“, „Daily Telegraph“, „Wired“) und Romanautor Hari Kunzru zu den interessanteren Stimmen der Gegenwartsliteratur und wurde 2003 sogar von der Literaturzeitschrift „Granta“ unter die zwanzig besten jungen britischen Romanautoren gewählt. Nach seinem Einstand bei Liebeskind mit „White Tears“ legt der Sohn einer Engländerin und eines Inders mit „Götter ohne Menschen“ einen Roman vor, der zwar auf unterschiedlichen Zeitebenen angelegt ist, im Grunde genommen aber über ein 230 Jahre auf einen Ort fokussiert ist, nämlich den Pinnacles-Nationalpark in Kalifornien.
Hier kommt es über all die Jahrzehnte zu ganz unterschiedlichen Ereignissen, die aber allesamt einen mystischen Kontext besitzen. Dem jeweiligen Zeitgeist angemessen kommt es hier zunächst zu göttlichen Erscheinungen, Begegnungen mit Außerirdischen und zu einer sektenähnlichen Verbindung, die ihre eigene Art findet, ihre Botschaft der Liebe und des Weltfriedens zu verbreiten. Anno 2008 ist von diesen Motiven wenig übriggeblieben. Das bekommen Kunzrus Protagonisten Jaz und Lisa besonders deutlich zu spüren, als ihr Sohn unter mysteriösen Umständen verschwindet. An ihrem Schicksal zeigt der Autor wunderschön auf, wie ein solch dramatisches Ereignis nicht mehr mit guten oder bösen Mächten in Verbindung gebracht wird, sondern einfach nur noch als Medienereignis zelebriert wird. Die Rolle wie auch immer gearteter göttlicher Wesen und Mächte haben längst die Foren, Blogs und Tweets im Internet übernommen, wo blitzschnell Meinungen gebildet, verbreitet und letztlich für bare Münze gehalten werden, was letztlich den Erfolg von Donald Trumps Regierungskonzept erklärt.
Doch Kunzru zeigt nicht nur den modernen Umgang mit unerklärlichen Ereignissen auf, sondern skizziert in den weitaus kürzeren Episoden, die sich seit 1778 bis in die jüngere Vergangenheit erstrecken, wie sich das Verhältnis des Menschen zu Gott entwickelt hat, wie sich im Zuge dessen die Strukturen von Selbstbetrachtung, Identität, Meinung, Glaube und Macht verschoben haben. Allerdings enthält sich Kunzru dabei einer Wertung, sondern beschränkt sich darauf, die Zeichen der jeweiligen Zeit in episodenhaften Geschichten zu thematisieren. Dabei gewinnen einzig Jaz und Lisa etwas an Persönlichkeits-Struktur mit Identifikations-Potential.
„Götter ohne Menschen“ überzeugt aber ohnehin weniger durch die Hauptgeschichte um das Schicksal einer Familie, die an dem Verschwinden des Kindes zu zerbrechen droht, sondern als akzentuierte Gegenüberstellung der Entwicklungsgeschichte menschlichen Glaubens.
Leseprobe Hari Kunzru - "Götter ohne Menschen"

Alexander Kluy – „Clint Eastwood“

Freitag, 28. Februar 2020

(Reclam, 102 S., Tb.)
Der US-amerikanische Schauspieler, Produzent und Regisseur Clint Eastwood hat in Hollywood deutliche Spuren hinterlassen. Er ist nicht nur als ausgesprochen vielseitiger, produktiver und sehr strukturierter Filmemacher bekannt, der als letzter Regisseur bedeutender Western in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren auch noch im 21. Jahrhundert arbeitet, wie der Autor auf den ersten Seiten seiner Abhandlung über den mittlerweile 89-Jährigen schreibt, sondern längst auch der erfolgreichste Schauspieler-Regisseur-Produzent der Filmgeschichte.
Wenn sich Eastwood selbst beschreibt, bezeichnet er sich einfach als „storyteller“. Es sind Dramen über das Altern und den sich damit verändernden Blick auf die Welt, über Menschen und ihre Beziehungen zueinander, über Tod und Gewalt. Ebenso weist Kluy zu Anfang schon auf die effiziente Arbeitsweise des Filmemachers hin, der schon 1967 mit Malpaso seine eigene Produktionsfirma gründete und seine Werke in 35 bis 39 Tagen abdreht, was auch darauf zurückzuführen ist, dass er über die vielen Jahrzehnte mit einer ausgewählten Crew zusammenarbeitet.
Kluy, der u.a. für „Der Standard“, „Buchkultur“ und „Psychologie Heute“ schreibt, rekapituliert Eastwoods Karriereanfänge, die über kuriose Nebenrollen bis zur Hauptrolle in der Western-Serie „Rawhide“ (Tausend Meilen Staub) führte, bevor er in Sergio Leones berühmt gewordenen Italo-Western „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) zum international gefragten Filmstar avancierte. Es folgte der Beginn der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Regisseur Don Siegel (u.a. „Coogan’s großer Bluff“, „Dirty Harry“, „Flucht von Alcatraz“) und mit dem Erfolg auch die Möglichkeit, sich seine Projekte aussuchen zu können. Dabei bewies er zwar nicht immer ein glückliches Händchen (siehe u.a. „Firefox“, „City Heat“, „Rookie – Der Anfänger“), doch zog Eastwood stets die richtigen Schlüsse aus seinen Fehlgriffen und avancierte spätestens mit seinem ersten Oscar-prämierten Spätwestern „Erbarmungslos“ (1992) zu einem anerkannten Meister seines Fachs, wie nachfolgende Werke wie „Die Brücken am Fluss“, „Perfect World“, „Mystic River“ und „Million Dollar Baby“ bestätigen sollten.
„Mainstream zu sein und dabei hochgradig manipulativ, indem er seine Star-Persona demontierte, kaum zu zerstören und gebrochen, fragmentiert und verletzlich, diese eigentlich unüberbrückbaren Gegensätze vermochte Eastwood zu überwinden. Er brachte den Traum auf die Leinwand, dass der Einzelne sich über moraljuristische Bedenken und eine behäbige, politisch manipulierbare Bürokratie erheben und nach seinem eigenen Leitgesetz agieren kann.“ (S. 99) 
Alexander Kluy gibt auf 100 Seiten eine wirklich gelungene Einführung in das Leben und Wirken von Clint Eastwood, wobei er sich glücklicherweise nicht nur auf die Aufzählung interessanter Fakten beschränkt, sondern auch auf die Rezeption und Interpretation einiger Schlüsselwerke des noch immer nicht müden Filmemachers eingeht. Neben einigen wenig bekannten Fotos runden auch einige Infografiken beispielsweise zu den rasant gestiegenen Produktionsbudgets von „Für ein paar Dollar“ (200.000 US-Dollar) bis zu „Space Cowboys“ (65 Millionen US-Dollar), zu der Entwicklung von Eastwoods Honoraren und zu den von Clint Eastwood in seinen Filmen verwendeten Waffen das Büchlein ab, in dem auch Eastwoods politischen Ambitionen und familiären Verhältnisse skizziert werden. Einige – meist englischsprachige – Lektüretipps zum Weiterlesen runden dieses feine Bändchen ab.

Helmut Reinalter – „Geheimbünde“

(Reclam, 100 S., Tb.)
Die Tatsache, dass mit einem „Geheimnis“ Kenntnisse beschrieben werden, die nur von einem beschränkten Kreis von Wissenden geteilt und vor der Allgemeinheit verborgen werden, hat immer wieder zu der Annahme (durch die von diesen Kenntnissen Ausgeschlossenen) geführt, dass die Geschicke der Welt von konspirativen Kräften, von mächtigen Geheimbünden gelenkt werden. Nicht zuletzt die ebenso erfolgreich verfilmten Bestseller von Dan Brown („Illuminati“, „Sakrileg“) haben diesen Verschwörungstheorien neue Nahrung verliehen.
Helmut Reinalter, ehemals Professor für Geschichte der Neuzeit und Politische Philosophie an der Universität Innsbruck und nun Leiter eines privaten Forschungsinstituts für Ideengeschichte, beteiligt sich nicht an solchen Spekulationen, sondern gibt in dem schmalen Band der 100-Seiten-Reihe von Reclam einen kurzen Überblick über Geschichte, Verbreitung und Struktur von Geheimbünden.
Dazu unterscheidet er in seinem Vorwort zwischen Geheimnis, Geheimwissen und Geheimgesellschaft, wobei Geheimbünde nach äußerlichen und inhaltlichen Kriterien ebenso unterschieden werden wie in ihrer gesellschaftlichen Zuordnung und Einbindung. Nach einer kurzen Klärung der Begriffe „Okkultismus“ und „Verschwörungstheorien“ handelt der Autor verschiedene Geheimbünde nach ihrer territorialen Zugehörigkeit ab, angefangen bei berühmten europäischen Geheimbünden wie die Rosenkreuzer, Freimaurer, Illuminaten über nicht so vertraute Gruppierungen wie die Deutsche Union, die italienische Carboneria bis zu sozialistischen Geheimgesellschaften und Studentenverbindungen. Die Mafia, mithin als Synonym für „organisierte Kriminalität“ verwendet, nutzte die Geldwäsche, um sich international von der klassischen zur modernen Mafia weiterzuentwickeln und verschiedene Organisationen wie die Camorra, Cosa Nostra, ´Ndrangheta und Sacra Corona Unita herauszubilden.
Im letzten Fünftel des schmalen Bandes werden schließlich kurz afrikanische, asiatische und islamische Geheimbünde vorgestellt, bevor die Abhandlung mit einem Abriss über den Ku-Klux-Klan ausklingt.
„Den Geheimbünden wird von ihren Gegnern nicht nur Machtmissbrauch unterstellt, sondern gern auch das Ziel, die Weltregierung bzw. Weltherrschaft anzustreben. Der erwähnte Vorwurf des Machtmissbrauchs wird manchmal mit dem Geheimwissen und der Geheimhaltung begründet. Auch die exklusive Mitgliedschaft spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dass Geheimbünde den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflusst hätten, ist aber mit Sicherheit im Bereich der Legendenbildung anzusiedeln.“ (S. 98) 
Wer sich einen ersten Überblick über die Geschichte und Struktur von Geheimbünden verschaffen möchte, ist mit dem sehr nüchtern geschriebenen 100-Seiten-Bändchen von Helmut Reinalter gut bedient. Zwar sind die Abhandlungen zu den einzelnen Geheimorganisationen wirklich sehr kurz ausgefallen, wobei aber beispielsweise der Hermetic Order of the Golden Dawn oder der Ordo Templi Orientis gar keine Erwähnung finden, aber schließlich gibt es genügend weiterführende Literatur (so gibt es in der 100-Seiten-Reihe auch einen eigenen Band zur „Mafia“) zu den einzelnen Themen, von denen der Autor abschließend auch einige auflistet.

Anna Burns – „Milchmann“

Samstag, 22. Februar 2020

(Tropen, 456 S., HC)
Sie nennt sich selbst „Vielleicht-Freundin“, weil sich die Identität der 18-jährigen Protagonistin vor allem aus der unverbindlichen Quasi-Beziehung mit „Vielleicht-Freund“ herauskristallisiert. Vielleicht deshalb, weil sie sich aus verschiedenen Gründen definitiv nicht vorstellen kann, mit „Vielleicht-Freund“ zusammenzuleben. Aber dann ist da noch das Gerede über den ominösen, immerhin schon einundvierzigjährigen „Milchmann“, seit Schwager Eins womöglich das Gerücht in die Welt gesetzt hat, dass sie eine Affäre mit dem Mann unterhalte. Dabei hat sie den Annäherungsversuchen von „Milchmann“ nie nachgegeben, ist nie in sein Auto gestiegen, wenn er neben ihr hielt, während sie im Gehen in „Ivanhoe“ las.
Ma hat dagegen ganz konkrete Vorstellungen über den idealen Mann für ihre Tochter, die noch drei jüngere Schwestern hat sowie einen im Bürgerkrieg gefallenen Bruder und einen, der vor dem Bürgerkrieg geflohen ist. Die an sich unkomplizierte Beziehung mit „Vielleicht-Freund“, das gelegentliche Joggen mit Schwager Drei, das Besuchen eines Französisch-Kurses im Stadtzentrum sowie das Lesen im Gehen bieten „Vielleicht-Freundin“ ausgesuchte Fluchtmöglichkeiten aus der brutalen Realität, in der die paramilitärischen „Verweigerer“ auf die Soldaten des „Landes jenseits der See“ treffen. Dass sich „Vielleicht-Freundin“ mit einem „Verweigerer“, „Milchmann“, einlässt, macht sie verdächtig, und schon bemerkt sie beim Joggen mit Schwager Drei stets das Klicken von Kameras aus den Büschen heraus.
Aber sie zieht durch diese Gerüchte auch „Verweigerer“-Groupies an, Mädchen, die mit gutgemeinten Ratschlägen ihre Freundschaft zu erringen bemüht sind. Aber die erschreckende Realität lässt „Vielleicht-Freundin“ ihre eigene Geschichte schreiben …
„In einem Bezirk, der von Verdächtigungen, Mutmaßungen und Vagheit lebte, wo alles spiegelverkehrt war, war es außerdem unmöglich, eine Geschichte zu erzählen oder sie eben nicht zu erzählen und einfach den Mund zu halten, nichts konnte hier gesagt oder nicht gesagt werden, das nicht hinterher als einzig wahre Wahrheit verbreitet wurde.“ 
Die 1962 in Belfast geborene Anna Burns hat bereits in ihrem 2001 veröffentlichten Debütroman „No Bones“ ihre Erfahrungen mit dem nordirischen Bürgerkrieg verarbeitet. Nun wird ihr u.a. 2018 mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichneter Roman „Milkman“ auch hierzulande veröffentlicht. Es bedarf einer gewissen Eingewöhnung in den fraglos wortgewaltigen, sprachgewandten Stil der Nordirin, die ihre Geschichte seltsam unverortet in Zeit und Raum als endlosen Monolog durch die namenlose Protagonistin erzählen lässt. Dennoch braucht es nur wenige Seiten, bis auch der letzte Leser begreift, dass Burns hier eine sehr persönliche Sichtweise auf den besagten Bürgerkrieg offenbart.
Es ist keine leichte Lektüre, die die Preisträgerin mit „Milchmann“ offeriert. Schließlich bietet der durchgängige Monolog so gut wie keine Handlung, dafür aber eine für ein 18-jähriges Mädchen sehr reife, vielschichtige Reflexion über die beängstigenden Ereignisse um sie herum. In einer bedrohlichen Atmosphäre, in der die Angst immer neue paranoide Züge annimmt, sieht sich die Ich-Erzählerin gezwungen, ihren eigenen Weg zu gehen, auch entgegen der gutgemeinten Ratschläge ihrer Mutter und der bösartigen Gerüchte über ihre nicht existierende Beziehung zum „Milchmann“. Indem sie sich einer konventionellen Dramaturgie verweigert und „Milchmann“ als Tagebuch-ähnliche Selbstreflexion anlegt, untergräbt sie nicht nur die Lesegewohnheiten ihres Publikums, sondern fordert auch dessen anhaltende Aufmerksamkeit heraus. Dass „Milchmann“ gerade zum „Brexit“ auch in Deutschland veröffentlicht wird, mag kein Zufall sein, lenkt der außergewöhnliche Roman den Blick über die Grenzen zementierter Meinungen hinaus und wartet bei aller Ernsthaftigkeit mit erfrischend schwarzem Humor auf.
Leseprobe Anna Burns - "Milchmann"

Wallace Stroby – (Sara Cross: 1) „Zum Greifen nah“

Dienstag, 18. Februar 2020

(Pendragon, 358 S.,Pb.)
Als die Streifenpolizistin Sara Cross in einer Nacht Mitte Oktober zu einem Tatort gerufen wird, stößt sie auf niemand Geringeren als ihren Kollegen und Ex-Freund Billy Flynn vor einem Honda aus New Jersey. Für den jungen, viel zu gut für diese Gegend gekleideten Schwarzen am Boden kommt jede Hilfe zu spät. Wie Billy ihr glaubhaft versichert, hat er den Fahrer des Wagens wegen seiner merkwürdigen Fahrweise zum Stehen und Aussteigen aufgefordert, doch als der Unbekannte den Kofferraum öffnen sollte, schien er mit dem nun am Boden liegenden Taurus-Revolver das Feuer auf Billy eröffnen zu wollen, worauf der Cop den Mann mit drei Schüssen in die Brust und in die Seite niederstreckte.
Im Kofferraum des Wagens entdeckt Sara eine Nylontasche voller Waffen. Für Sheriff Hammond, den stellvertretenden und für interne Ermittlungen zuständigen Sheriff Elwood und Boone vom Büro des Staatsanwalts in La Belle scheint die Sache ebenso klar zu sein, dass es sich um „unvermeidliche Schüsse“ handelte, doch Sara hat so ihre Zweifel, die nicht nur dadurch verstärkt werden, dass die Lebensgefährtin des getöteten Derek Willis auftaucht, um sich eine eigene Meinung von den Ereignissen zu bilden, sondern auch durch Billys Verhalten, der auf einmal wieder die Nähe von Sara sucht, die ihn vor zwei Jahre in die Wüste schickte, weil er sich mit einer anderen Frau herumgetrieben hatte. Dass an der ganzen Sache etwas faul ist, wird Sara spätestens dann klar, als üble Typen in der Kleinstadt auftauchen, die offensichtlich eine Menge Geld vermissen …
„Ob Elwood und der Sheriff wohl auch über die Taurus ins Grübeln gekommen waren? Und falls nicht: Machte es überhaupt noch Sinn, ihre Aufmerksamkeit auf diese Ungereimtheit zu lenken? Der Fall war angeschlossen, Billy juristisch entlastet. Wäre es nicht etwas seltsam, wenn gerade sie den Fall wieder aufrollen würde?“ (S. 183) 
Der ehemalige Polizeireporter Wallace Stroby hat bereits mit der Auftragsdiebin Crissa Stone eine faszinierende Frauenfigur geschaffen, die immerhin in vier Fällen die Krimi-Leserschaft fesseln durfte. Mit der taffen Kleinstadt-Polizistin Sara Cross sorgt der Bielefelder Pendragon-Verlag nun für adäquaten Nachschub und veröffentlicht den bereits 2009 erschienen ersten Band der Reihe um Kleinstadtpolizistin Sara Cross, „Gone ´Til November“, als deutsche Erstausgabe. Der temporeiche Krimi beginnt gleich mit dem Besuch des Tatorts, auf den in rascher Folge noch einige weitere folgen werden. Erst nach und nach werden die Figuren eingeführt. Sara Cross wird als alleinerziehende Mutter eingeführt, deren sechsjähriger Sohn Danny gerade eine Erstbehandlung wegen Leukämie zu verkraften hat. Billy erweist sich dagegen als charakterschwacher Ex-Freund, dem zwar noch spürbar viel an Sara liegt, aber jetzt mit einer echten Schlampe liiert ist und der ganz offensichtlich Dreck am Stecken hat.
Die Spannung wird aber vor allem durch das Eintreffen des darmkrebskranken Morgan erzeugt, der im Auftrag des Drogenhändlers Mikey das Geld wiederbeschaffen soll, dass nach Dereks Tod spurlos verschwunden zu sein scheint. Zur Sicherheit schickt Mikey auch noch die beiden Brüder Dante und DeWayne hinterher. Wirklich überraschende Wendungen hat „Zum Greifen nah“ nicht zu bieten. Tatsächlich spult Stroby den Plot absolut schnörkellos zu seinem voraussagbaren Ende ab. Die Dialoge zwischen Sara und Billy, in denen immer wieder Billys Fehler und Entschuldigen thematisiert werden, nerven auf Dauer etwas, auch wird in den Szenen zwischen Sara und ihrem Sohn längst nicht das Potential der emotional aufgeladenen Beziehung erschöpft. Wer sich an den recht oberflächlich gezeichneten Figuren aber nicht stört und einfach unkomplizierte und straff inszenierte Krimi-Action konsumieren möchte, ist mit „Zum Greifen nah“ gut bedient.

Dirk Kurbjuweit – „Haarmann“

Montag, 17. Februar 2020

(Penguin, 318 S., HC)
Zwischen dem 12. Februar 1923 und Ende Oktober sind in Hannover zehn Jungs zwischen 13 und 18 Jahren spurlos verschwunden. Als Robert Lahnstein aus Bochum zur Unterstützung bei den Ermittlungen in Hannover eintrifft, entdeckt er keine Zusammenhänge zwischen den Jungen. Also hofft er insgeheim auf den nächsten Fall, auf eine Leiche oder eine andere Spur. Auch die politische Atmosphäre ist angespannt. Die Wunden des Ersten Weltkriegs sind noch nicht verheilt, die Weimarer Republik noch nicht etabliert, aufständische Kräfte nicht unter Kontrolle. Es herrschen Hunger und Armut. Ein Putschversuch in München schlägt fehl. Während Herman Göring flüchten konnte, sitzt Adolf Hitler in Untersuchungshaft.
Neben den Nationalsozialisten gefährden auch die Monarchisten und Kommunisten die Stabilität der jungen Demokratie. Dann melden Jakob Hannappel und seine Frau ihren fünfzehnjährigen Adolf als vermisst. Bei Lahnstein verhärtet sich allmählich der Verdacht, dass der Täter aus dem Schwulen-Milieu kommt, und seine Zimmerwirtin bringt ihn auf die Spur von Haarmann, der auf Jungs steht und die bei ihm verschwinden, wie der Zigarrenhändler Klobes bestätigen kann, der gegenüber wohnt. Doch die Polizei ist diesen Hinweisen bislang nicht ernsthaft nachgegangen und bedient sich auch gewalttätiger Praktiken in den Verhören, um bei den Ermittlungen endlich voranzukommen. Lahnstein ist das alles zuwider.
Natürlich ist auch er frustriert über den ausbleibenden Fortschritt bei der Suche nach dem Täter, freundet sich aber mit der Mutter eines Jungen an, dessen Tabakladen er immer wieder aussucht, nachdem Lahnstein einen aufdringlichen Kunden in die Flucht schlagen konnte. Vot allem setzt sich der Kommissar mit Fritz Haarmann auseinander, findet endlich seine untergetauchte Akte und erfährt von dessen ersten Strafverfahren wegen unzüchtigen Verhaltens. Später stellt ein Stadtarzt bei Haarmann „unheilbaren Schwachsinn“ fest. Lahnstein bestellt Haarmann immer wieder zum Verhör ein, doch bestreitet er stets die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe. Schließlich bittet Lahnstein einen seinen alten Kollegen Georg, Haarmann zu beschatten, da er den Kollegen in Hannover um den zwielichtigen Müller nicht trauen kann.
„Ich dachte erst, ich müsse einen Täter suchen, der im Krieg war, dem die Maßstäbe verrutscht sind, für den der Tod eine Alltäglichkeit ist, auch der Tod in Massen. Im Krieg ging einem doch zwangsläufig das Gefühl dafür verloren, dass es ein Recht auf Leben gibt, dass jedes Leben wertvoll ist.
Das stimmt, sagt Georg, aber man kann sich dieses Gefühl zurückerobern, wie man an uns und den meisten anderen Kameraden sieht. Wir haben das Töten beendet.“ (S. 204) 
Der „Zeit“- und „Spiegel“-Reporter Dirk Kurbjuweit hat sich seit seinem Debüt als Schriftsteller mit „Die Einsamkeit der Krokodile“ (1995) konstant als vielseitiger und gefeierter Autor etabliert, der mit seinem wahren Kriminalroman „Haarmann“ in die faszinierende Welt der 1920er Jahre taucht, die nicht zuletzt durch Tom Tykwers grandiose Fernsehserie „Babylon Berlin“ in aller Munde ist. Kurbjuweit nimmt den spektakulärsten Serienmord der deutschen Kriminalgeschichte als Aufhänger für einen packendes Krimi-Drama, das vor allem von Verunsicherung, Ohnmacht und Gewalt geprägt ist. Dabei portraitiert der Autor seinen leitenden Kommissar Lahnstein als ehemaligen Flieger, der in Yorkshire in Kriegsgefangenschaft geraten ist und während seiner Abordnung nach Hannover sich nicht nur an die Erlebnisse in England zurückdenkt, sondern auch an seine Lissy und ihr gemeinsames Kind August. Doch diese Erinnerungen verblassen immer mehr angesichts der schrecklichen Ereignisse in Hannover, wo sich Lahnstein nicht nur mit der eigenen Unfähigkeit konfrontiert sieht, die Serie von verschwundenen Jungen zu beenden und den dafür verantwortlichen Täter aufzuhalten, sondern auch mit einem korrupten Polizeiapparat, der angesichts der unruhigen politischen Verhältnisse meint, in einem rechtslosen Raum nach eigenem Gutdünken agieren zu können.
Ebenso faszinierend wie die Jagd nach dem Täter ist aber auch Haarmanns Psychogramm ausgefallen. Indem Kurbjuweit immer wieder auch Haarmann selbst zu Wort kommen lässt und so seine Perspektive verständlich macht, verschwindet zunehmend der Eindruck, dass Haarmann schwachsinnig sei. Stattdessen wird deutlich, wie abhängig er von seinem Geschäftspartner Hans Grans war, von dem er doch nur geliebt werden wollte, und wie rasend er bei den Zusammenkünften mit den Jungen wurde, dass er ihnen in den Hals biss, bis sie tot waren. Kurbjuweit schildert in „Haarmann“ nicht nur einen faszinierenden Kriminalfall, sondern fesselt dabei durch eindringliche Charakterstudien und akzentuierte Beschreibungen der gesellschaftspolitischen Atmosphäre in der jungen Weimarer Republik.
Leseprobe Dirk Kurbjuweit - "Haarmann"

Ben Smith – „Dahinter das offene Meer“

(Liebeskind, 254 S., HC)
Ein namenloser Junge und ein ebenso namenloser alter Mann warten im Auftrag einer ungenannten Firma in einer unbestimmten Zeit einen grenzenlos erscheinenden Windpark in der Nordsee. Das Meer macht alles anonym. Die Arbeit wird allerdings meist nur provisorisch verrichtet. Alle paar Monate bringt ein Versorgungsschiff Proviant und Ersatzteile, doch mit den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Ersatzteilen konnten nur kleinere Reparaturen erledigt werden, so dass der Windpark meist nur mit einer Leistung von unter sechzig Prozent läuft. Ein automatisches Instandhaltungssystem unterrichtet die beiden Mechaniker, welches Windrad welches Problem hat und was es zur Reparatur benötigt, doch über die Jahre hat das System an Zuverlässigkeit eingebüßt.
Tag für Tag machen sich der Junge und der alte Mann auf den Weg zu den reparaturbedürftigen Windrädern, ohne viele Worte miteinander zu wechseln. Meist geht es nur um die Sehnsucht nach richtigem Essen, weil sie das ewige Allerlei aus den Dosen nicht mehr ertragen. Abwechslung bringt nur der Müll, den die Strömungen antreiben. Möbel, brüchige Gehäuse elektrischer Geräte, verblichene Kleidung, einmal sogar ein ganzes, aus seiner Verankerung gerissenes Haus finden sich hier neben den üblichen Plastiktütenschwärmen.
Doch eines Tages entdeckt der Junge ein verschollenes zweites Wartungsboot, mit dem offensichtlich sein Vater, dessen Platz im Windpark er nach seinem Verschwinden eingenommen hatte, zur offenen See hinaus fahren wollte. Die Erinnerungen des Jungen an ihn sind sehr verschwommen. Nur der Schiffsführer des Versorgungsschiffes vermittelt ihm einige Eindrücke, die den Jungen neugierig machen. Da der alte Mann aber Schweigen über das Schicksal seines Vaters bewahrt, macht sich der Junge während seiner Wartungsmissionen heimlich auf die Suche nach seinem Vater, doch der alte Mann scheint ihm schnell auf die Schliche gekommen zu sein …
„Erst, als der alte Mann zurück zur Plattform kam, begriff der Junge, was da vorging. Das Boot folgte exakt der Route, die er, der Junge, genommen hatte, als er von den Windrädern zurückgekommen war, einschließlich des Abstechers, den er dabei gemacht hatte.
Der Junge lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte auf den Bildschirm. Jetzt folgte der alte Mann ihm.“ (S. 121) 
Der britische Literaturwissenschaftler Ben Smith lehrt an der Universität Plymouth Kreatives Schreiben, wobei das Thema Klimawandel einen besonderen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet. Für seinen ersten Roman hat er sich folglich auf vertrautes Terrain begeben und ein mehr als tristes Bild einer Welt gezeichnet, aus der er allerdings nur einen verschwindend kleinen Teil präsentiert. Der Mikrokosmos eines maroden Windparks in der Nordsee ohne Aussicht auf die Vergnügungen einer hedonistischen und verschwenderischen Gesellschaft bildet die Bühne für ein Kammerspiel mit sehr überschaubarem Ensemble und ebenso minimal inszenierten Plot. Smith nimmt sich viel Zeit, die bescheidenen Lebensumstände der beiden Mechaniker zu beschreiben, den frustrierenden Arbeitsalltag, die wenig schmackhafte Nahrungsaufnahme und die kaum greifbaren Freizeitbeschäftigungen. Es wird nicht mal viel gesprochen, was es dem Leser schwer macht, sich in die anonymen Figuren hineinzufühlen. Auf den gut 250 Seiten passiert eigentlich nicht viel. Die Suche des Jungen nach seinem Vater bedeutet den einzigen Ausbruch aus dem ewig gleichen Alltag, bringt die Geschichte aber nicht wirklich voran und bewirkt noch weniger eine Entwicklung der Figuren.
Das Versteckspiel zwischen dem Jungen und dem alten Mann ist weder spannend inszeniert, noch verändert es den Blick des Lesers auf die postapokalyptische Welt, die Smith hier beschreibt. Die Reduzierung auf das Wesentliche in dieser dystopischen Geschichte übt fraglos einen gewissen Reiz aus, wobei die klare Sprache auch eine düstere atmosphärische Dichte kreiert, doch mich persönlich hat „Dahinter das offene Meer“ einfach nur gelangweilt.

Takis Würger – „Der Club“

Sonntag, 16. Februar 2020

(Kein & Aber, 238 S., Tb.)
Hans Stichler wurde im südlichen Niedersachsen als Sohn einer lungenkrebskranken Mutter und eines Mannes geboren, der seinen Job als Architekt aufgab, um sich um seine Familie zu kümmern und seinem Sohn später für das Boxen zu begeistern, damit er sich gegen vermeintlich Stärkere zur Wehr setzen könne. Mit fünfzehn Jahren boxte Hans in einem Club und wurde von seinem Vater zu einem Turnier nach Brandenburg gefahren, doch der Wagen kam bei eisglatter Straße ins Schlittern und der Vater wurde anschließend von einem LKW erfasst und getötet. Nachdem auch seine Mutter verstorben war, seine in England lebende Tante Alex sich seiner aber nicht annehmen wollte, wurde Hans in einem jesuitischen Internat untergebracht, wo er im Weinkeller mit Pater Gerald weiterboxen konnte.
Doch dann meldet sich seine Tante Alex und lädt ihn nach Cambridge ein, wo er nicht nur ein Stipendium vermittelt bekommt, sondern für seine Tante auch ein Verbrechen aufklären soll. Er soll in den elitären Pitt Club eingeschleust werden, wobei ihm die hübsche Charlotte und vor allem ihr Vater behilflich sind, doch Hans beschleicht dabei zunehmend das Gefühl, dass er selbst etwas Unrechtes tun muss, um sich das Vertrauen seiner neuen Freunde zu verdienen, die er anschließend verraten müsste …
„Ich feierte in dem Club, in dem meine Freundin missbraucht worden war, und sprach zu vertraut mit einer anderen Frau. Ich trank und tanzte mit Männern, die es getan haben konnten.
An manchen Abenden in diesem Club hatte ich mich gefühlt, als löste sich mein Ich langsam auf und irgendwann bliebe nur noch Hans Stichler übrig. Aber an diesem Abend wusste ich genau, wer ich war und wer ich nicht sein wollte.“ (S. 179) 
An sich ist das Thema von moralisch fragwürdigen Handlungen in elitären Studentenverbindungen nicht neu, und Takis Würger, mit dem Deutschen Reporterpreis und dem CNN Journalist ausgezeichneter „Der Spiegel“-Reporter, vermag diesbezüglich in seinem Debütroman „Der Club“ auch wenig Neues dazu beitragen. Dafür liest sich die knackig kurze Geschichte, in der Würger seine eigenen Erfahrungen, die er während seines Studiums der Ideengeschichte in Cambridge sammelte, wo er auch als Schwergewicht im Amateurclub boxte, einfließen lässt, sehr kurzweilig, weil er seine Figuren so lebendig portraitiert.
Zwar steht dabei vor allem der eröffnende Ich-Erzähler Hans Stichler im Vordergrund, doch seine Tante Alex und später auch Charlotte, ihr Vater Angus und die Pitt-Club-Mitglieder Josh und Billy bekommen ebenso immer mal Gelegenheit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Würger vermeidet es dabei, die Figuren in Schubladen zu stecken. Es geht ihm vor allem um die moralischen Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lügen, Vertrauen und Verrat.
Dabei befindet sich Hans in einem größer werdenden Dilemma, denn sobald er erfährt, dass seine Freundin Charlotte als Opfer aus den Handlungen der Club-Mitglieder hervorgegangen ist, muss sich Hans entscheiden, ob er sich für sie als Racheengel einspannen lässt und dafür seine neu gewonnenen Freunde verrät. Auch wenn Würger tiefer gehende Charakterisierungen vermissen lässt, versteht er es, durch seine klare Sprache und die akzentuiert vorangetriebene Handlung zu fesseln, wobei Humor und Romantik den Krimi-Plot stimmig auflockern. So beschreibt der Autor nicht nur in kurzen, aber eindringlichen Zügen, wie sein junger Protagonist aus der deutschen Provinz Karriere in einem elitären Club einer Elite-Universität macht, sondern koppelt diese Entwicklungsgeschichte mit einer zarten Romanze und den abgehobenen Allmachtsphantasien reicher Schnösel, die glauben, aufgrund ihrer Herkunft alles tun zu können, wonach ihnen gerade so ist – ohne Rücksicht auf die Gefühle und das Leben anderer Menschen.

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 3) „Das falsche Urteil“

Donnerstag, 13. Februar 2020

(Weltbild, 310 S., HC)
Am 24. August 1993 wird Leopold Verhaven nach 24 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen der beiden Morden an zwei Frauen gesessen hatte. Doch das Glück der Freiheit währt nur kurz. Noch am Entlassungstag wird er selbst ermordet, seine verstümmelte Leiche – ohne Kopf, Hände und Füße – in einem Teppich eingewickelt erst acht Monate später bei einem Ausflug mit vierzehn Kindergarten-Kindern in einem Graben entdeckt. Unter der Leitung von Polizeichef Hiller die Kommissare Münster, Rooth, deBries und Reinhart sowie die Hauptkriminalassistenten Jung und Moreno die Ermittlungen aufnehmen, unterzieht sich ihr Kollege Van Veeteren einer Darmkrebs-Operation.
Da eine Identifizierung des ungefähr sechzigjährigen Toten unmöglich ist, werden zunächst passende Fälle von Vermissten überprüft, doch erst ein Hinweis aus der Bevölkerung, die durch die Medien zur Mithilfe gebeten wurde, gelangen die Ermittler auf die Fährte von Verhaven, der 1962 erst Beatrice Holden und 1981 Marlene Nitsch ermordet haben soll und der Erste in Schweden war, der ohne Geständnis wegen Mordes verurteilt worden war – beide Male durch Richter Heidelbluum. Für den frisch operierten Van Veeteren und seine aktiven Kollegen stellt sich sofort die Frage nach dem Motiv. Fand Verhavens Mörder, dass der Verurteilte noch nicht genug bestraft worden sei?
Oder war Verhaven tatsächlich unschuldig, und der wahre Täter beabsichtigte mit dem Mord an Verhaven, dass dieser nichts mehr ausplaudern könnte, das auf den wirklichen Mörder hingewiesen hätte? Van Veeteren und seine Leute beschließen, die für die Verurteilung maßgeblichen Zeugen noch einmal zu befragen. Dabei erfahren sie nicht nur, dass Verhaven bereits in der Schule ein eigenbrödlerischer Sonderling war, der aber als Mittelstreckenläufer sämtliche Rekorde brach, bis er des Dopings überführt wurde und nach seinem abrupten Karriereende zurückgezogen in einem Dorf eine Hühnerzucht betrieb. Mit seiner Lebensgefährtin Beatrice Holden stritt er sich oft. Deshalb wird Verhaven, als sie nackt in einem Wald tot aufgefunden wird, in einem Indizienprozess erstmals zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Ähnlich liegt der nächste Fall nach Verhavens Entlassung, als er erneut wegen des Mordes an einer Frau aus seinem Umfeld ohne stichhaltige Beweise verurteilt wird. Obwohl Van Veeteren nach seiner Operation noch vom Dienst freigestellt ist, lässt ihn die Suche nach dem wahren Mörder keine Ruhe, da er zunehmend das Gefühl bekommt, dass Verhaven tatsächlich fälschlicherweise vierundzwanzig Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hat …
„Was zum Teufel, mache ich eigentlich hier, dachte er plötzlich. Was bilde ich mir eigentlich ein, was das helfen soll, dass ich hier herumschnüffele … und selbst, wenn mir das endlich eine Vorstellung davon gibt, wer Verhaven wirklich war, dann bringt mich das doch wohl keinen Zentimeter näher an die Antwort heran?
An die Antwort auf die Frage, wer ihn ermordet hat, nämlich.“ (S. 224) 
In dem dritten Krimi nach „Das grobmaschige Netz“ und „Das vierte Opfer“ um den schon etwas ausgebrannten schwedischen Kriminalkommissar Van Veeteren übernehmen dessen Kollegen die Laufarbeit, während der für seinen guten Instinkt berüchtigte Kommissar sich von seiner Operation erholen muss. Natürlich hält ihn das nicht davor zurück, selbst auf eigene Faust mit einer vorgetäuschten Identität Erkundigungen bei den Zeugen für Verhavens Verurteilung einzuholen. Nesser beschreibt dabei sehr gekonnt, wie sich die Vorurteile in einem Dorf gegen einen Mann verdichten, der schon immer aus der Reihe gefallen ist und ja durch seine Doping-Affäre hinlänglich bewiesen habe, dass er ein Betrüger sei – warum dann nicht auch ein Mörder? Natürlich erweist sich Van Veeterens Instinkt wieder als goldrichtig. Doch so wirklich nah kommt man dem Kommissar und den vielen Figuren dabei nicht. Durch die wechselnden Zeit- und Perspektivwechsel erzeugt der Autor eher ein Gefühl für die Atmosphäre der Vorverurteilung des mutmaßlichen Täters durch die Dorfgemeinschaft als handlungsintensive Spannung.
Leseprobe Hakan Nesser - "Das falsche Urteil"

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 2) „Hunde von Riga“

Sonntag, 2. Februar 2020

(Zsolnay, 334 S., HC)
Im Februar 1991 erhält das Polizeipräsidium von Ystad einen anonymen Hinweis, dass vor der schonischen Ostseeküste ein Rettungsboot mit zwei toten Männern an Land treiben würde, das wenig später tatsächlich von einer Frau beim Hundespaziergang bei Mossby Strand entdeckt wird. Da es sich bei den jeweils mit einem Schuss ins Herz getöteten, zuvor brutal gefolterten um Letten handelt, bittet die schwedische Polizei die lettischen Behörden um Mithilfe. Ein hinzugezogener Kapitän identifiziert das nicht gekennzeichnete Rettungsboot als ein Produkt jugoslawischer Herkunft, dessen Typ er auf einmal auf einem russischen Fischerboot gesehen habe. Der mit den Ermittlungen betraute Kommissar Kurt Wallander erfährt bei dem Treffen mit einem anonymen Zeugen, dass das Boot offensichtlich schon längere Zeit auf dem Wasser getrieben sei und aus dem Baltikum stamme. Wallanders Team bekommt nicht nur Unterstützung von zwei Kollegen aus Stockholm, sondern vom Außenministerium auch Birgitta Törn zur Beobachtung entsandt.
Über Moskau wird schließlich die lettische Polizei informiert, die mit Major Karlis Liepa einen hohen Ermittlungsbeamten aus Riga nach Ystad schickt. Doch als das Rettungsboot aus dem Keller des Präsidiums gestohlen wird, gibt es für Liepa nichts weiter zu tun. Kurz nach seiner Rückkehr nach Riga wird Liepa jedoch ermordet und Wallander von der Polizei dort eingeladen, an der Aufklärung des Mordes mitzuwirken.
Liepas Vorgesetzten, die beiden Polizei-Obersten Murniers und Putnis, scheinen den Fall schnell aufgeklärt zu haben, können sie doch einen geständigen Mann vorweisen. Doch nicht nur Wallanders Instinkt sagt ihm, dass an der Sache etwas faul sein muss, auch Liepas Witwe Baiba ist überzeugt, dass ihr Mann einer gewaltigen Verschwörung auf die Spur gekommen sein muss, in die die restaurative Sowjetpolitik, die russische Mafia und die korrupte Polizei involviert ist. Wallander wird wieder nach Schweden zurückgeschickt, verspricht Baiba, in die er sich mittlerweile verliebt zu haben glaubt, dass er mit einer gefälschten Identität zurückkommen wird, um das irgendwo versteckte Testament ihres Mannes aufzuspüren. Dazu nehmen sie die Hilfe der lettischen Untergrundbewegung in Anspruch, doch kann jede Vorsicht nicht verhindern, dass Wallanders Begegnung mit Baiba nicht unbemerkt bleibt. Wallander ist überzeugt, dass entweder Murniers oder Putnis für Major Liepas Ermordung verantwortlich gewesen sein muss …
„Ich suche nach dem Wächter, und das muss Baiba Liepa erfahren. Irgendwo verbirgt sich ein Geheimnis, das nicht verloren gehen darf. So geschickt versteckt, dass es nur von ihr gefunden und gedeutet werden kann. Denn ihr hat er vertraut, sie war in einer Welt, in der alle anderen gefallene Engel waren, der Schutzengel des Majors.“ (S. 218) 
Mit dem 1992 veröffentlichten zweiten Band um den nun 43-jährigen schwedischen Kleinstadt-Kommissar Kurt Wallander hat der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell die schwierige Loslösung der baltischen Sowjetrepubliken Anfang der 1990er Jahre zum Parkett für seine außergewöhnliche Story gemacht. Durch das Antreiben der zwei lettischen Leichen an der schonischen Küste wird Wallander direkt in den Kampf um die politische Vorherrschaft in Lettland hineingezogen, wo die korrupten Bewahrer des sozialistischen Systems auf die demokratisch orientierten Erneuerer treffen. Mankell gelingt es einmal mehr, seinen Protagonisten auf sympathische Weise zu charakterisieren, wozu die seltenen Treffen mit seinem Vater zählen, der es seinem Sohn nie verziehen hat, Polizist geworden zu sein, die ebenso seltenen Telefonate mit seiner Tochter Linda, die längst ihr eigenes Leben lebt, aber auch die Frage, ob er seinen Beruf nicht an den Nagel hängen und stattdessen beim Sicherheitsdienst einer großen Reifenfirma anheuern sollte. Mankell zeichnet Wallander als Menschen aus Fleisch und Blut, als einfühlsamen Polizisten, der sich in eine jüngere Frau aus einem ihm gänzlich fremden Land verliebt, weil sie ihn braucht, um das Testament ihres ermordeten Mannes zu finden und damit die von ihm aufgedeckte Verschwörung zu entlarven.
„Hunde von Riga“ besticht in der atmosphärisch stimmigen, wenn auch bedrückenden Beschreibung der schwierigen gesellschaftspolitischen Übergangssituation in Lettland, in der es schwierig zu entscheiden war, wer zu dem restriktive und wer zu dem fortschrittlichen Lager zählt – was oft den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte. In dieses düstere Szenario hat Mankell einen packenden Krimi-Plot gepackt, der den Leser bis zum Epilog zu fesseln versteht.

Peter Straub – „Mister X“

Sonntag, 26. Januar 2020

(Heyne, 608 S., HC)
Ned Dunstan, dessen Mutter bei seiner Geburt gerade mal achtzehn Jahre alt war und der seit seinem fünften Lebensjahr immer zwischen seiner Heimatstadt Edgerton und einer Reihe von Pflegeeltern hin- und herpendelte, macht sich auf eine Vorahnung hin per Anhalter auf den Weg nach Edgerton, um seine im Sterben liegende Mutter zu besuchen. Valerie „Star“ Dunstan hatte ein wechselhaftes Leben mit verschiedenen Liebhabern und einer Leidenschaft für die Kunst hinter sich und zuletzt bei zwei älteren Brüdern direkt über dem von ihnen betriebenen Club gewohnt, in dem sie an den Wochenenden zwei Sets mit dem Trio des Hauses sang. Aber über ihre Familiengeschichte hat sie ihrem Sohn gegenüber nie etwas verlauten lassen.
Ned hatte schon früh in seinem Leben das Gefühl, dass ihm etwas fehle, dass er nicht vollständig sei, was sich gerade in den alljährlichen Anfällen zu seinem Geburtstag manifestiert, die mit grauenvollen Halluzinationen einhergehen, bei denen er grässliche Morde aus der Perspektive des Täters miterleben muss, den er mangels besseren Wissens „Mister X“ nennt. Seine Tante Nettie verrät ihm, dass die Familie Dunstan schon immer mit der Gabe des Zweiten Gesichts gesegnet gewesen sei. Die letzte Etappe seiner Reise von New York nach Edgerton verbringt Ned an der Seite der attraktiven Staatsanwältin Ashleigh Ashton, die Beweise für die kriminellen Machenschaften von Stewart Hatch sammeln soll, der in Edgerton als Strippenzieher bekannt ist.
Am Sterbebett seiner Mutter erfährt Ned, dass er offenbar einen Zwillingsbruder habe, der nach der Geburt von der Hebamme Hazel Jansky entführt und illegal an Adoptiveltern verkauft worden sei. Und noch einen Namen gibt sie ihrem Sohn auf den Weg: Edward Rinehart. Bei seinen Nachforschungen verliebt sich Ned ausgerechnet in Laurie, die Frau von Stewart Hatch, und stößt auf immer neue Namen, die merkwürdigerweise auch in den Werken von H.P. Lovecraft auftauchen. Ned begibt sich in die verruchteren Viertel von Edgerton und macht endlich die Bekanntschaft mit seinem Bruder Robert, mit dem ihn eine außergewöhnliche Fähigkeit verbindet …
„War ich tatsächlich ins Jahr 1935 gereist, um Howard Dunstan aufzusuchen?
So verrückt konnte ich doch nicht sein. Allerdings hatte ich auch nicht den Eindruck, eine Halluzination gehabt zu haben. Die Dunstans waren keine durchschnittliche amerikanische Familie, obgleich wir uns bezüglich unserer Funktionsstörungen mit den besten Familien des Landes messen konnten.“ (S. 328) 
Peter Straub hatte zu Beginn seiner Karriere mit Bestsellern wie „Geisterstunde“ und „Schattenland“ bewiesen, dass er neben Stephen King, Clive Barker, Ramsey Campbell und Dean R. Koontz zu den besten Horror-Autoren seiner Generation zählt, doch mit späteren Werken konnte er an die frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen. Der 1999 in den USA und ein Jahr später auch hierzulande veröffentlichte Roman „Mister X“ macht auch deutlich, warum Straub sich aus der ersten Liga seiner Zunft verabschiedet hat. Die an sich interessante Geschichte eines jungen Mannes, der kurz vor seinem 35. Geburtstag nicht nur seine Mutter nach einem Schlaganfall verliert, sondern ganz neue Einblicke in die eigene Familiengeschichte erhält und dabei mit übernatürlichen Fähigkeiten konfrontiert wird, fängt äußerst interessant an. Doch kaum hat der Ich-Erzähler Ned Dunstan die Vorstellungskraft des Lesers angeregt und sich als vielschichtige Persönlichkeit vorgestellt, gerät der Erzählfluss auch schon ins Wanken. Denn der Wechsel der Perspektive zu den schwer nachvollziehbaren Taten und Gedanken des mysteriösen Mister X geht nicht nur mit einem anderen Ausdrucksstil einher, sondern knüpft auch Verbindungen zu Lovecrafts berühmten Cthulhu-Mythos und dessen Alten Göttern, ohne dass bis zum Ende des weitschweifigen Romans wirklich sinnvoll dargelegt wird, was die Faszination von Mister X für Lovecrafts Schaffen mit dem Schicksal der Dunstans zu tun hat.
Die unterschiedlichen Namen hinter ein- und derselben Person, die Sprünge zwischen den Erzählperspektiven und in der Zeit – zu denen Ned auch noch selbst fähig ist, in dem er „Zeit frisst“ – sowie die komplexen Verbindungen zwischen den Familien Hatch und Dunstan verwirren bei den unzähligen beteiligten Figuren nur mehr, als dass sie die verworrenen Handlungsstränge zusammenführen.