Henning Mankell – (Kurt Wallander: 4) „Der Mann, der lächelte“

Montag, 11. Mai 2020

(Zsolnay, 382 S., HC)
Seit Kommissar Kurt Wallander in Notwehr einen Menschen erschossen hat, ist er nicht mehr er selbst. Während seiner mittlerweile über ein Jahr andauernden Berufsunfähigkeit hat er seine Ohnmacht zu kurieren versucht, indem er Reisen auf die Karibischen Inseln und nach Thailand gebucht hat, doch ist er dabei stets vollkommen dem Alkohol verfallen. Erst der Aufenthalt in einer kleinen Pension in Skagen, in der er vor vielen Jahren, kurz nach der Geburt seiner Tochter Linda einige Wochen mit seiner Frau Mona verbracht hatte, bringt ihn etwas zur Ruhe. Doch gerade in dem Moment, als er beschließt, den Polizeidienst endgültig zu beenden, bekommt er Besuch von dem Anwalt Sten Torstensson, der Wallander damals bei der Scheidung von Mona vertrat. Torstensson erzählt von dem Tod seines Vaters, mit dem er zusammen die Kanzlei führte. Laut Polizeibericht soll er im Dunkeln zu schnell gefahren und von der Landstraße abgekommen sein, doch Torstensson ist überzeugt, dass sein übervorsichtiger Vater sich nie und nimmer zu Tode fahren würde. Allerdings sei er in der Zeit vor seinem Tod ungewöhnlich aufgewühlt gewesen.
Torstenssons Wunsch, die näheren Umstände des Todes seines Vaters zu betrachten, will Wallander allerdings nicht nachkommen. Sein Entschluss, seine Karriere bei der Polizei zu beenden, steht fest. Doch gerade an dem Tag, als Wallander sein Abschiedsgesuch einreichen will, erfährt er, dass Sten Torstensson in seiner Kanzlei ermordet aufgefunden wurde. Dieser Vorfall ändert alles. Auf einmal ist sich Wallander ebenso sicher, dass er die Todesfälle der beiden Anwälte aufklären und wieder seinen Dienst aufnehmen muss, wie er zuvor seinen Abschied nehmen wollte.
Zusammen mit seiner neuen, sehr aufgeweckten Kollegin Ann-Britt Höglund nimmt Wallander vor allem dem international tätigen Geschäftsmann Alfred Harderberg unter die Lupe. Gustav Torstensson war nämlich auf dem Weg von Harderbergs schwedischen Zentrale Schloss Farnholm nach Hause, als er tödlich verunglückte. Allerdings gestaltet es sich schwierig, hinter die Machenschaften des gut gebräunten und stets lächelnden Wirtschaftsbosses zu kommen, der zwar als Kunstmäzene und Wohltäter bekannt ist, allerdings auch in Verbindung mit Organhandel gebracht wird.
Bei seinen Bemühungen, hinter die Geheimnisse von Harderbergs Machenschaften zu kommen, wird Wallander an seinen Vater erinnert, der seine Bilder mit den immergleichen Landschaften mit oder ohne Auerhahn oft an gut situierte Männer in Seidenanzügen verkauft hatte.
„Immer gab es jemanden, der offen oder unausgesprochen von oben diktierte, was der unter ihm Stehende zu tun hatte. Er erinnerte sich, in seiner Kindheit Arbeiter gesehen zu haben, die mit der Mütze in der Hand stehenblieben, wenn jemand, der über ihr Leben bestimmte, vorbeiging. Er dachte daran, wie sein Vater vor den Seidenrittern gedienert hatte.
Auch ich halte eine Mütze in der Hand, dachte Wallander. Ich merke es nur manchmal nicht.“ (S. 234) 
Der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell (1948-2015) hat mit dem in der schwedischen Kleinstadt Ystad wirkenden Kriminalkommissar Kurt Wallander eine zutiefst menschliche Figur kreiert, die mit einem außergewöhnlichen kriminalistischen Spürsinn und Eigensinn ebenso ausgestattet ist wie mit deutlichen sozialen Defiziten.
Wallanders vierter Fall „Der Mann, der lächelte“ nimmt seinen Ausgang am absoluten Tiefpunkt in Wallanders Leben. Schließlich kann er sich nach der Tötung eines Menschen nicht mehr vorstellen, seinen Beruf auszuüben, und ertränkt seine Schuldgefühle in alkoholischen Exzessen. Die Rückkehr in den Polizeidienst vollzieht Wallander aber dann überraschend zügig und ohne großes Aufhebens. Was folgt, ist kein typischer Whodunit-Plot, denn dass der schwerreiche Geschäftsmann Harderbergs irgendwie hinter den Morden an den beiden Anwälten steckt, wird früh deutlich. So fokussiert sich Mankell in „Der Mann, der lächelte“ eher darauf, wie sich in Schweden die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert haben, wie skrupellos die Mächtigen ihren Reichtum zu vermehren versuchen. Während die Spannung eher konventionell aufgebaut wird und ohne Überraschungen auskommt, überzeugt der Roman eher als Gesellschaftsstudie, wobei aber auch die Zusammenarbeit zwischen dem legendären Wallander und seiner jungen Kollegin besonders gelungen beschrieben wird.
Leseprobe Henning Mankell - "Der Mann, der lachelte"

Stephen King – „Love“

Freitag, 8. Mai 2020

(Heyne, 734 S., HC)
Lisey Landon hat ihr Leben lang im Schatten ihres berühmten Mannes Scott gelebt, der als Schriftsteller nicht nur außerordentlich erfolgreich war, sondern u.a. auch mit dem renommierten Pulitzerpreis und dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Lisey hat in all den Jahren ihrer Ehe nur ein Interview für eine bekannte Frauenzeitschrift gegeben, in der Artikelserie „Ja, ich bin mit ihm verheiratet!“. Doch seit Scott vor zwei Jahren gestorben ist, brütet Lisey darüber, was sie mit dem Nachlass ihres Mannes machen soll, wobei Kritiker bereits Vergleiche mit Yoko Ono herangezogen haben, um Liseys Umgang mit dem literarischen Erbe ihres Mannes zu beschreiben. Sie hat ihren Mann aber lange genug gekannt, um zu wissen, dass er eine Spur mit Hinweise für sie ausgelegt hat, und Lisey kommt nicht drumherum, die von Scott sogenannte „Bool-Jagd“ endlich in Angriff zu nehmen.
Vor allem Professor Woodbody von der Anglistikfakultät der University of Pittsburgh, Scotts Alma Mater, erweist sich als besonders hartnäckig in seinem Interesse an dem verstorbenen Bestseller-Autor. Sein Seminar „Scott Landon und der amerikanische Mythos“ war immer gut besucht und er hatte dieses Jahr vier Doktoranden, die über Liseys Mann promovierten. Als sich Lisey endlich an den Stapeln an Zeitschriften, Jahresberichten, Fakultätsbulletins und Universitätsjournalen macht, wird sie immer wieder von den verschiedensten Erinnerungen heimgesucht, liebevollen wie unheimlichen.
Ihre Erinnerungen wie die Spur der Hinweise, die Scott für sie hinterlassen hat, führen Lisey schließlich in ein von Dämonen bevölkertes Reich, aus dem es ein Mann namens Zack McCool in diese Welt geschafft hat, Lisey in Angst und Schrecken zu versetzen, denn in seinem Bemühen, Scotts Nachlass in die Finger zu bekommen, kennt er kein Erbarmen. Lisey setzt alles daran, ihre geliebte, leider immer wieder in katatonische Zustände fallende Schwester Amanda aus der psychiatrischen Anstalt Greenlawn zu holen und zusammen diese fremde und doch so vertraute Welt aufzusuchen, die Scott so passend als Pool bezeichnet hat.
„Dies ist der Pool, zu dem wir alle hinuntergehen, um zu trinken, zu schwimmen und ein wenig vom Ufer aus zu angeln; es ist auch der Pool, auf den einige Unerschrockene mit ihren zerbrechlichen Holzbooten hinausfahren, um Jagd auf die Großen zu machen. Es ist der Pool des Lebens, der Quell jeglicher Inspiration, und sie vermutet, dass verschiedene Menschen ihn verschieden sehen, aber allen Versionen sind zwei Dinge gemeinsam: Er liegt stets ungefähr eine Meile weit im Märchenwald und ist stets traurig. Weil dieser Ort nicht nur von Fantasie geprägt wird.“ (S. 494) 
Der unermüdlich produktive Stephen King hat in seinen Werken immer wieder über das außergewöhnliche Schicksal von Schriftstellern geschrieben, am eindrucksvollsten sicher in den vom übersinnlichen Horror geprägten „Shining“ und „Stark – The Dark Half“, aber auch in dem sehr realistisch anmutenden „Sie“. Mit „Lisey’s Story“ – so der Originaltitel von Stephen Kings 2006 veröffentlichten Roman – hat der aus Maine stammende Autor eines seiner persönlichsten Werke abgeliefert, das nicht umsonst seiner Frau Tabitha gewidmet ist.
Es lassen sich viele Parallelen zwischen der Geschichte von Stephen und Tabitha „Tabby“ King auf der einen Seite und Scott und Lisey Landon auf der anderen entdecken, die offensichtlichste ist der Umstand der vielen Schwestern, die sowohl Tabitha King als auch Lisey Landon aufzuweisen haben. Und so handelt ein Großteil des Romans auch von dem „Schwesternding“ vor allem zwischen Lisey und Amanda. Doch der Fokus liegt auf der innigen wie schwierigen Beziehung zwischen Scott Landon und seiner Frau.
Landon hat seiner Frau von Beginn an klar gemacht, dass es ihnen in finanzieller Hinsicht sehr gut gehen werde, in emotionaler allerdings wären sie wohl eher bettelarm. Lisey weiß, dass ihr Mann das Opfer eines unberechenbaren, alleinerziehenden Vaters gewesen ist, der Scotts Bruder Paul getötet hat, um die „Bösmülligkeit“ aus ihm zu vertreiben, und Scotts Vater selbst Opfer des ihn umfangenden Wahnsinns geworden war.
Anschaulich, mit vielen wunderbaren Vergleichen versehen, beschreibt King den außergewöhnlichen Schaffensprozess eines Autors, die ungewöhnlichen Reisen in den Mythen- und Sprachenpool, und souverän gelingt es King, die jeweiligen Übergänge zwischen den Welten zu illustrieren.
„Love“ ist fraglos ein ungewöhnlicher Roman, selbst für Kings Maßstäbe. Dass seine Romane oft eine sehr lange Anlaufzeit benötigen, ist weithin bekannt, aber in „Love“ fällt auch der Hang zur Weitschweifigkeit in einem an sich kaum erwähnenswerten Plot auf, was viele von Kings „Deep Space Cowboys“ – wie Landon in dem Roman seine Stammleser nennt – verstören dürfte.
Dafür sind die besonderen Beziehungen, die zwischen Geschwistern und Eheleuten herrschen, wunderbar einfühlsam und einfallsreich beschrieben.
Leseprobe Stephen King - "Love"

Gerhard Henschel – „SoKo Heidefieber“

Dienstag, 5. Mai 2020

(Hoffmann und Campe, 284 S., Pb.)
Kurz nach seiner Lesung aus seinem dritten Regionalkrimi „Heidefieber“ in der Bad Bevenser Buchhandlung Patz wird der Schriftsteller Armin Breddeloh ermordet im nahegelegenen Nixengrund aufgefunden. Der zuständige Pathologe stellt fest, dass das Opfer nicht nur zu Tode stranguliert wurde, sondern seine am Tatort aufgefundenen Augen entfernt und durch Glasaugen ersetzt worden sind. Mit dem Fall werden Hauptkommissar Gerold Gerold und Oberkommissarin Ute Schubert aus Uelzen beauftragt, die schnell herausfinden, dass Breddoloh wie eines der Opfer in seinem Roman „Heidefieber“ zu Tode gekommen ist. Ins Visier der Ermittler gerät zunächst einer von Breddelohs direkten Konkurrenten, Waldemar König aus Schneverdingen. Doch der Fall Breddeloh stellt nur den Anfang einer ganzen Reihe von Morden an populären Regionalkrimi-Autoren in ganz Deutschland dar, die auf die gleiche Weise getötet werden wie die in ihren Büchern beschriebenen Opfer.
Kriminalhauptkommissar Henning Riesenbusch vom Bundeskriminalamt beruft in Wiesbaden die SoKo Heidefieber ein, doch von dem Täter fehlt bislang jede Spur. Einige aufgeregte Kollegen der aufsehenerregend ermordeten Krimiautoren bitten um Personenschutz, andere flüchten ins vermeintlich sichere Ausland. Während Frank Schulz in Griechenland Opfer einer Verschwörung wird und sich nach einem Aufenthalt im Gefängnis mühsam über Albanien und Montenegro erst zu Fuß, dann in dem Wohnmobil wohlwollender deutscher Touristen zurück nach Deutschland durchkämpfen muss, kommen Gerold und Schubert zwar kaum mit der Aufklärung der Mordserie voran, dafür aber sich einander näher. Um dem Täter auf die Spur zu kommen, vertiefen sich die Kommissare in die Werke weiterer potentieller Opfer.
„Wie geht’s wohl weiter? Fragte Ute sich vor dem Umblättern und tippte auf ‚schlug den Mantelkragen hoch‘. Doch sie täuschte sich:
schloß die Mantelknöpfe, um den gut sichtbaren Samenerguß auf seiner Hose den Blicken zu entziehen. Den Blicken der zukünftigen Opfer. Wen würde er sich morgen vornehmen? Vielleicht die Alte mit dem Wickeldutt? Oder die junge Grazie mit den Gazellenbeinen? O mi, o mei, dachte Ute. Sie legte das Buch weg, seifte sich ein und vertrieb den sündhaften Gedanken, daß der Mann, den sie jagten, in gewisser Hinsicht etwas Sinnvolles tue.“ (S. 207) 
Der in Hannover geborene und im Hamburger Umland lebende Gerhard Henschel hat seine satirischen Sinne in Magazinen wie „Kowalski“, „Titanic“ und „konkret“ geschärft und es durch seine mehrbändige Chronik seines Alter Egos Martin Schlosser auch als Schriftsteller zu großer Popularität gebracht. Dass er aber auch noch andere als seine eigenen Geschichten zu erzählen hat, versucht er mit seinem ebenfalls stark satirischen „Überregionalkrimi“ zu demonstrieren, der zwar in dem Kurort Bad Bevensen und Umgebung seinen Anfang nimmt, aber seinen Plot zügig über ganz Deutschland und seine Grenzen hinaus entwickelt.
Im Gegensatz zu seinen fast schon episch angelegten Martin-Schlosser-Romanen zieht Henschel in „SoKo Heidefieber“ die Zügel straff an. Tempo und Wortwitz bewegen sich stets auf so hohem Niveau, dass die Aufklärung der an Einfallsreichtum kaum zu überbietenden Mordserie zur Nebensache wird. Henschel macht sich einen bildgewaltigen Spaß daraus, die hiesige Regionalkrimi-Szene, die Allüren der Autoren und das literarische Niveau des Nischengenres durch den Kakao zu ziehen. Die spektakulär und übertrieben in Szene gesetzte Mordserie betrachten nicht wenige Spötter als „angewandte Literaturkritik“. Bei den durchaus amüsanten Kapriolen, die der Autor bei seinem Road Trip durch die regionalen Besonderheiten (samt ihrer manchmal schwer zu verstehenden Dialekte) der Republik schlägt, bleiben die Figuren allerdings sehr blass. Allein die sympathischen, auch amourös miteinander verbandelten Kommissare und der aus Griechenland sich mühsam in die Heimat zurückkämpfende Frank Schulz gewinnen in dem turbulent inszenierten Krimispaß etwas an Profil, die Nebenfiguren verkommen zu Karikaturen ihrer Profession und tragen wenig zum Unterhaltungswert des Romans bei.
Wer also einen konventionellen Regionalkrimi erwartet, wird mit „SoKo Heidefieber“ nicht glücklich werden, da der Krimi-Plot nur als Alibi für die satirische Betrachtung der Regionalkrimiszene dient. Aber auch auf Martin-Schlosser-Fans dürfte der Klamauk bei aller sprachlicher Finesse etwas zu übertrieben wirken.

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 4) „Gone Baby Gone“

Samstag, 2. Mai 2020

(Diogenes, 572 S., Pb.)
Lionel und Beatrice McCready suchen das in Boston lebende und wirkende Liebes- und Detektivpaar Patrick Kenzie und Angelo Gennaro auf, um sie für die Suche nach der vierjährigen Amanda zu engagieren, die vor drei Tagen aus dem Haus von Lionels drogensüchtiger Schwester Helene entführt worden ist, während die Mutter des Kindes mit ihrer Freundin Dottie in eine Bar ging. Seitdem hat Helene einen Lügendetektortest erfolgreich bestanden, der Vater verfügt als Soldat in Deutschland über ein Alibi, von den Entführern fehlt nach wie vor jede Spur.
Obwohl das Ermittler-Duo kaum Chancen sieht, mehr zu erreichen als die unzähligen Cops, die sich auf die Suche nach Amanda gemacht haben, nehmen sie den Fall an und schließen sich zunächst mit Lieutenant Jack Doyle kurz, der in Boston die Einheit Crimes Against Children (CAC) auf die Beine gestellt hat. Zusammen mit den Detective Sergeant Nick „Poole“ Raftopoulos und Detective Remy Broussard suchen sie zunächst den dreimal verurteilten und untergetauchten Kinderschänder Leon Trett und seine Frau Roberta, doch die nützlichste Spur führt zum inhaftierten Drogenhändler Cheese Olamon, für den Helene immer wieder mal eine Kurierfahrt unternimmt.
Vor kurzem hat Cheese eine Lieferung an eine Gruppe von Bikern losgeschickt, doch sind bei der Razzia nur die Drogen, nicht aber das Geld sichergestellt worden. Nun wollen die Entführer die zweihunderttausend Dollar aus dem Drogendeal in den schwer zugänglichen Steinbrüchen gegen Amanda eintauschen. Doch die Operation, bei der das FBI außen vor bleibt, geht fürchterlich schief, Amanda bleibt verschwunden. Mittlerweile steht auch ihrer Mutter der Schmerz über ihr eigenes Verhalten ins Gesicht geschrieben.
„Sie war nicht dumm, sie war betäubt – die Welt im Ganzen, die Gefahr, der ihr Kind ausgesetzt war, die Glasscherben, die sich in ihr Fleisch, in ihre Sehnen und Arterien bohrten -, nichts davon drang zu ihr durch.
Doch der Schmerz bahnte sich einen Weg. Endlich. Sie sah mich an, ihre Augen wurden heller, die Pupillen weiteten sich, und der Schmerz stand in ihnen. Eine entsetzliche Erkenntnis, eine Kernschmelze an Hellsichtigkeit, die dort zu sehen war, und damit einhergehend das Bewusstsein, was ihre Gleichgültigkeit für ihre Tochter bedeutete.“ (S. 340) 
Zwar stellt Helene weiterhin keine große Hilfe bei den Ermittlungen dar, doch dafür wird Patrick Kenzie bei einem Saufgelage mit Broussard schlagartig klar, wer wirklich hinter der Entführung der kleinen Amanda steckt. Für die beiden Privatermittler wird die Suche nach den Entführern schließlch auch zu einer ganz persönlichen Belastungsprobe …
Auch wenn Dennis Lehane vor allem durch seinen Roman „Spur der Wölfe“ berühmt geworden ist, den Clint Eastwood 2003 unter dem Titel „Mystic River“ verfilmt hat, erregte bereits seine 1994 initiierte, bislang sechs Romane umfassende Reihe um die Privatdetektive Patrick Kenzie und Angela Gennaro Aufmerksamkeit, als der damalige US-Präsident Bill Clinton beim Aussteigen aus der Air Force One den fünften Roman der Reihe, „Prayers For Rain“, in der Hand hielt.
Mit „Gone Baby Gone“ legte Lehane 1998 den wohl verstörendsten Titel der Reihe vor, denn wie sein späterer Bestseller „Mystic River“ reizt er das Thema Kindesentführung und -missbrauch bis zum schmerzlichen Exzess aus. Die beunruhigende Tatsache, dass in den USA tagtäglich 2300 Kinder vermisst gemeldet werden, bricht Lehane auf eine sehr persönliche Geschichte herunter, die deshalb zu tief berührt, weil die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit immer wieder verschwimmen. Dabei wird die Mutter der entführten Amanda als egoistisches, selbstmitleidiges Miststück charakterisiert, die völlig ungeeignet erscheint, ein Kind aufzuziehen.
Dagegen sind Gut und Böse in den Reihen der Gangster und Cops nicht so einfach auszumachen. „Gone Baby Gone“ präsentiert sich sowohl in stimmungsvoller als auch psychologischer Hinsicht als vielschichtiges Psycho-Thriller-Drama, in dem sich humorvolle, erotische, brutale und deprimierende Töne im Minutentakt abwechseln und der Plot dabei mit überraschenden Wendungen bis zum denkwürdigen und diskussionsanregenden Schluss aufwartet.
Hollywood-Schauspieler Ben Affleck feierte 2007 mit der Verfilmung von „Gone Baby Gone“ sein erfolgreiches Regiedebüt.
Leseprobe Dennis Lehane - "Gone Baby Gone"

Michael Connelly – (Renée Ballard: 1) „Late Show“

Dienstag, 28. April 2020

(Kampa, 432 S., HC)
Seit Detective Renée Ballard ihren Vorgesetzten Lieutenant Robert Olivas erfolglos wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte und von der Robbery-Homicide in die als „Late Show“ bezeichnete Nachtschicht der Hollywood Division versetzt worden ist, versieht sie mit ihrem Partner John Jenkins vor allem Streifendienst. Sie wurden an jeden Tatort gerufen, an denen ein Detective erforderlich war, nahmen erste Protokolle auf, schrieben die entsprechenden Berichte und übergaben diese am Morgen an die jeweils zuständigen Einheiten. Ballard, die im Alter von vierzehn Jahren tatenlos am Strand mitansehen musste, wie ihr surfbegeisterter Vater im Meer ertrank, wuchs größtenteils bei ihrer Großmutter auf und verbringt ihre Freizeit am liebsten mit ihrer am Strand zugelaufenen Hündin Lola und Stand Up Paddling am Venice Beach. Zu gern würde sie auch mal einen Fall zu Ende bearbeiten.
Die Gelegenheit ergibt sich, als Ballard sich noch Hollywood Presbyterian Medical Center befindet, wo sie das Opfer einer schweren Körperverletzung, die Transvestitin Ramona Ramone vernehmen sollen. Auch das einzig überlebende Opfer einer Schießerei in dem Club „Dancers“ wird ins Hollywood Pres gefahren, wo es allerdings seinen schweren Verletzungen erliegt. Während Jenkins zunächst zum Tatort und dann nach Hause fährt, um sich um seine krebskranke Frau zu kümmern, nimmt Ballard die persönlichen Gegenstände der getöteten Kellnerin Cynthia „Cindy“ Haddels an sich und untersucht am Tatort ihr persönliches Schließfach. Offensichtlich verfolgte die junge Frau eine Schauspielkarriere und verdiente sich durch kleine Drogendeals etwas zum Lebensunterhalt dazu.
Um den Fall kümmert sich vor allem ihr ehemaliger Partner Ken Chastain, der Ballard bei ihrer Anzeige damals nicht den Rücken stärkte und den sie deshalb nach wie vor nicht gut zu sprechen ist. Am Tatort beobachtet sie, wie Chastain ein kleines Beweisstück unterschlägt, wenig später wird Chastain in der Garage seines Hauses geradezu hingerichtet. Als sich die Hinweise verdichten, dass ein Cop bei der Schießerei im „Dancers“ beteiligt war, muss Ballard extrem vorsichtig agieren, zumal Lieutenant Olivas zu verhindern versucht, dass sie sich zu intensiv mit dem Fall beschäftigt. Aber auch ihre Ermittlungen im Fall der schweren Körperverletzung begibt sich Ballard in Gefahr, als sie ihrem Verdächtigen Thomas Trent zu dicht auf die Pelle rückt.
„Für sie war Trent keineswegs mehr nur eine Person von Interesse. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er der Gesuchte war, und es gab nichts, was über eine solche plötzliche Einsicht ging. Etwas Größeres gab es für einen Detective nicht. Das hatte nichts mit Beweisen oder juristischen Verfahrensweisen oder einem hinreichenden Verdacht zu tun. Es war nichts Geringeres als die felsenfeste Überzeugung, dass man es einfach wusste, und es gab nichts in Ballards Leben, was es mit diesem Gefühl aufnehmen konnte.“ (S. 127) 
Michael Connelly hat mit seinen erfolgreichen Reihen um den ebenfalls in Los Angeles wirkenden Detective Hieronymus „Harry“ Bosch und seinem als Strafverteidiger tätigen Halbbruder Mickey Haller bereits so renommierte Preise wie den Edgar Allan Poe Award, den Deutschen Krimipreis, den Anthony Award und den Maltese Falcon Award abgeräumt. Als ehemaliger Polizeireporter für die Los Angeles Times versteht es Connelly souverän, vor allem den Alltag polizeilicher Ermittlungen so zu beschreiben, dass es genügend tiefe Einblicke gewährt, ohne mit überflüssigen Details zu langweilen. Mit Renée Ballard stellt er nun seine erste weibliche Protagonistin vor, die er als Opfer sexueller Nötigung gleich in der #MeToo-Debatte verortet, die 2017, als „Late Show“ im Original veröffentlicht wurde, mit dem Fall von Harvey Weinstein erst in Gang gekommen war.
Connelly rückt dieses Thema nicht zu sehr in den Vordergrund, aber Ballards exponierte Stellung als „Verräterin“ erklärt das nach wie vor schwierige Verhältnis zwischen ihr und ihren ehemaligen Kollegen/Vorgesetzten. Trotz dieser Vorkommnisse präsentiert sich Ballard als taffe, selbstbewusste und ambitionierte Ermittlerin, die sich mitfühlend um Verbrechensopfer kümmert und hartnäckig daran arbeitet, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Connelly hat mit Renée Ballard eine charismatische Protagonistin erschaffen, die in den beiden nachfolgenden Roman – die hoffentlich bald auch in deutscher Sprache veröffentlicht werden – mit Harry Bosch zusammenarbeitet, und einen Plot konstruiert, der gleich drei unterschiedlich gewichtete Fälle miteinander verknüpft, so dass „Late Show“ einen abwechslungsreichen Krimi darstellt, der auf die Fortsetzungen neugierig macht.

Jon Savage – „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von Joy Division“

Sonntag, 26. April 2020

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)
Die 1976 von Peter Hook, Bernard Sumner und Terry Mason gegründete und dann von Sänger Ian Curtis vervollständigte Band Joy Division nahm bis zu Ian Curtis‘ tragischen Selbstmord am 18. Mai 1980 zwar nur zwei Alben auf, doch avancierte sie nicht zuletzt durch die energiegeladenen Konzerte zum Aushängeschild eines Genres, das die Attitüde und Wildheit des Punk Rock zu den melodischeren Gefilden des Dark Wave und Gothic Rock überführte. Bekanntermaßen führten Bernard Sumner, der Ian Curtis als Sänger ersetzte, Bassist Peter Hook, Drummer Stephen Morris und Keyboarder Gillian Gilbert als New Order erfolgreich das Erbe von Joy Division fort, doch war die Geschichte von Joy Division seither immer wieder Thema für ausführliche Artikel, ganze Bücher und sogar Filme.
So sind nicht nur die Songtexte und Notizen von Ian Curtis („So This Is Permanence. Joy Division Lyrics and Notebooks“) und Erinnerungen seiner Frau Deborah Curtis („Touching From a Distance – Ian Curtis & Joy Division“), sondern auch verschiedene Bücher der Band-Mitglieder und -Involvierten Peter Hook („Unknown Pleasures: Inside Joy Division“), Paul Morley (Joy Division: Piece by Piece“) und Bernard Sumner („Chapter and Verse: New Order, Joy Division and Me“) veröffentlicht worden. Der bekannte britische Publizist Jon Savage, der bereits Bücher über The Kinks, die Sex Pistols und den Punk Rock geschrieben hat und zuletzt „Teenage: The Creation of Youth Culture“ (2007) veröffentlichte, wählte für sein neues Buch über Joy Division einen besonders interessanten Ansatz und lässt in „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ vor allem Zeitzeugen die Geschichte von Joy Division in chronologisch strukturierten Zitaten erzählen.
Als Grundlage dienten dem Autor vor allem die Interviews, die Grant Gee und er selbst für den 2016 entstandenen Dokumentarfilm „Joy Division“ führten, ergänzt durch Gespräche, die u.a. für einen Artikel im „Mojo“ (1994) und zu Savages Buch „England’s Dreaming“ aufgenommen wurden. Dabei beschreiben die Protagonisten und Zeitzeugen zunächst das besondere Lebensgefühl im Manchester Mitte der 1970er Jahre, wo der soziale Wohnungsbau seinen Anfang nahm, wo dank der Hafenanlagen unterschiedlichste Einflüsse und Stile die Stadt überschwemmten und die Manchester Free Trade Hall zu einem Epizentrum der psychogeografischen Energie wurde, in dem Gewerkschaftsveranstaltungen ebenso abgehalten wurden wie Konzerte von Louis Armstrong, Bob Dylan und die Sex Pistols stattfanden. Das Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich prägte die zunehmend von Zerfall geprägte Industrielandschaft, die Sehnsucht nach dem Schönen hinter all der Hässlichkeit. Diese postindustrielle Atmosphäre voller leerstehender Lagerhallen- und Fabrikruinen, in denen sich neue Slums bildeten, war der ideale Nährboden für eine bunt schillernde Club-Szene in den 1960er Jahren, als sich Terry Mason, Bernard Sumner und Peter Hook kennenlernten und sich alles Mögliche an Konzerten ansahen, AC/DC, Dr. Feelgood, Iggy Pop, David Bowie und schließlich die Sex Pistols.
In den nachfolgend aneinandergereihten sehr persönlicher Erinnerungen wird anschaulich geschildert, wie Joy Division ihre ersten Songs einspielten, Martin Hannett als Produzenten gewannen und schließlich mit Tony Wilson zusammentrafen, der eine eigene Musiksendung bei Granada TV hatte und schließlich mit Pete Saville das legendäre Factory Label gründete, auf dem Joy Division zunächst die beiden Songs „Digital“ und „Glass“ auf der Doppel-EP „A Factory Sample“ veröffentlichten, dann die beiden Alben „Unknown Pleasures“ (1979) und „Closer“ (1980).
Je mehr Live-Auftritte Joy Division allerdings absolvierten, je mehr Ian Curtis hin- und hergerissen war zwischen seiner Frau Deborah, mit der er ein gemeinsames Kind hatte, und der gut situierten und gebildeten Belgierin Annik Honoré, desto stärker machten sich seine epileptischen Anfälle und die durch die starken Medikamente verursachten Stimmungsschwankungen bemerkbar. Bei all diesen Schilderungen wird deutlich, wie unsicher und unreif die damals noch Anfang Zwanzigjährigen mit der Situation umgegangen sind, wie sehr sie sich auf Ians Beteuerungen verließen, dass alles gut sei. Jon Savage gelingt es, in der abwechslungsreichen wie intimen Zusammenstellung der Eindrücke und Erinnerungen ein sehr authentisch wirkendes Portrait der Zeit und der besonderen Umstände zu zeichnen, in der Joy Division gewirkt haben. Die „No City Fun“-Autorin Liz Naylor fasst schließlich zusammen:
Joy Division kamen aus einer bestimmten Zeit und von einem bestimmten Ort, und sobald man sie dort herausnimmt, verändert sich ihre Bedeutung. Als hätten sie kollektiv die damalige Aura von Manchester transportiert. Sie waren so, wie Manchester war. Folglich wurde diese Aura auch Ian als Einzelperson zugeschrieben, aber ich denke, das ist ein Missverständnis. Als Band waren sie sehr viel wichtiger denn als Individuen oder als seine Vision, weil ich nämlich nicht glaube, dass es seine Vision war. Ich glaube, es war die Atmosphäre von Manchester.“ (S. 202) 
Angereichert mit einigen schönen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Plakaten, Logos und Fotos bietet „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ einen faszinierenden Einblick in das Entstehen und Wirken einer ungewöhnlichen wie einflussreichen Band, die aus dem Geist des Post-Punk in intellektueller Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung darstellte und musikalisch gerade von deutschen Acts wie Kraftwerk, Neu! und Can zu ihrem einzigartigen Sound inspiriert wurde. Die Vielfalt der eingefangenen Stimmen machen das Portrait von Joy Division ebenso persönlich wie vielschichtig.
Leseprobe Jon Savage - "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 8) „Kein Engel so rein“

Mittwoch, 15. April 2020

(Heyne, 416 S., HC)
Harry Bosch hat in der Neujahrschicht beim Morddezernat der Polizei von Los Angeles bereits zwei Selbstmorde aufnehmen müssen, bekommt er einen Anruf von Mankiewicz, dem diensthabenden Sergeanten in der Hollywood Division des LAPD. Offenbar hat der Hund eines pensionierten Arztes in Laurel Canyon, Dr. Paul Guyot, den Oberarmknochen eines Kindes ausgebuddelt. Bei weiteren Ausgrabungen an der Fundstelle auf dem dicht bewaldeten Hang werden nicht nur weitere Knochen, sondern auch ein Rucksack und einige Kleiderstücke gefunden. Die Obduktion ergibt nicht nur, dass der Todeszeitpunkt des Jungen grob geschätzt Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre angesiedelt werden muss, sondern dass der Junge Opfer massiver Misshandlungen gewesen war, wie die unzähligen Frakturen auch am Schädel beweisen.
Die erste Spur führt zu dem Filmrequisiteur Nicholas Trent, der 1966 bereits wegen der sexuellen Belästigung eines kleinen Jungen verurteilt worden ist. Durch eine undichte Stelle beim LAPD sickert dessen Identität jedoch zu den Medien durch, worauf sich der Verdächtige erhängt. Während Boschs Vorgesetzte Lieutenant Billets und Deputy Chief Irvin Irving darauf drängen, den Fall schnell zu den Akten zu legen, sagt Boschs Bauchgefühl, dass die Sache längst nicht abgeschlossen ist. Als sich Sheila Delacroix bei der Polizei meldet und das Opfer schließlich anhand ihrer Aussage mit den gefundenen Beweisen als ihr Bruder Arthur identifizieren lässt, gerät Sam Delacroix, der Vater des Jungen, ins Visier der Ermittlungen. Bosch ist von dem Fall, der ihn immer wieder an seine eigene Kindheit als Pflegekind erinnert, und seinen Begleiterscheinungen so frustriert, dass er an der Sinnhaftigkeit seines Jobs zu zweifeln beginnt …
„Er hatte immer gewusst, dass er ohne seinen Job und seine Dienstmarke und seine Aufgabe verloren wäre. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er mit all dem genauso verloren sein konnte. Er konnte sogar wegen all dem verloren sein. Genau das, was er am meisten zu brauchen glaubte, war das, was ihn mit dem Leichentuch der Sinnlosigkeit umhüllte.“ (S. 414) 
Es ist ein erschütternder Fall, den Hieronymus „Harry“ Bosch in seinem achten Fall auf den Tisch bekommt. Dabei hat er nicht nur mit dem Umstand zu kämpfen, dass der Junge bereits vor gut einem Vierteljahrhundert ermordet wurde und die Beweislage mit dem Auffinden möglicher Zeugen sehr dünn ist, sondern auch mit einem Leck bei der Polizei, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Ermittlungsergebnisse an die Medien weiterleitet, und den strukturellen Problemen in seiner Einheit, wo auch andere, aktuelle Morde auf ihre Bearbeitung warten.
Im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen mit Kollegen und Vorgesetzten stößt Bosch diesmal aber niemandem wirklich heftig vor den Kopf. Zwar haben sowohl seine Vorgesetzten Billets und Irving bestimmte Vorstellungen über die Art der Ermittlungen und den Umgang mit den Medien, und auch von seinem Partner Jerry Edgar muss sich Bosch immer wieder die Rüge gefallen lassen, dass er nicht in seine Vorgehensweise eingeweiht wird, doch bis auf wenige Stolperfallen kann Bosch diesmal recht frei seinen Weg verfolgen.
Kritisch beäugt wird eher sein Verhältnis zu der ehemaligen Anwältin und Weltreisenden Julia Brasher, die als Streifenpolizistin gerade erst angefangen hat und somit im Dienstgrad unter Bosch steht. Besonders überzeugend ist die Ausgestaltung der Affäre zwischen Bosch und Brasher allerdings nicht gelungen, vor allem das merkwürdige Ende ihrer Beziehung wirkt nicht gelungen. Auch sonst hält sich Connelly nicht lange genug mit seinen Figuren auf, um ihnen ein charismatisches Profil zu verleihen. Das Thema Päderastie und die Bestrafung der Täter, der Umgang der Medien mit heiklen Informationen und auch das oft bedauernswerte Schicksal vieler Pflegekinder werden nur kurz angerissen, aber nie tiefergehend abgehandelt.
So stellt „Kein Engel so rein“ einen unterhaltsamen Krimi mit stringent konstruierten Plot dar, der aber kaum eine nachhaltige Wirkung hinterlässt.
Leseprobe Michael Connelly - "Kein Engel so rein"

Don Winslow – „Broken“

Sonntag, 12. April 2020

(HarperCollins, 512 S., HC)
Während der Nachtschicht in der Polizeinotrufzentrale von New Orleans bekommt Eva McNabb mehr als genug von den Schicksalen gebrochener Menschen mit, die von Raubüberfällen, Schießereien, Ehestreitigkeiten und Prügeleien betroffen sind. Ihr Mann Big John bekam davon als Cop ebenso viel mit wie nun ihre beiden Söhne Jimmy und Danny. Als Ermittler beim Drogendezernat der Sonderermittlunsgeinheit will er im Hafen ein Frachtschiff hochnehmen, das eine riesige Lieferung Meth für Oscar Diaz in die Stadt bringen soll, ohne die Kollegen von der Hafenpolize, der DEA oder ein SWAT-Team hinzuzuziehen. Zwar gerät er mit seinen Kollegen Angelo, Wilmer und Harold unter Beschuss, doch Jimmys Jungs bekommen die Sache in den Griff, schmeißen einen von Diaz‘ Männern ins Wasser, mit schönen Grüßen an seinen Boss von Jimmy McNabb. Diaz ist natürlich stinksauer, schließlich war dieser Deal für ihn die Gelegenheit, in der Topliga mitzuspielen und seine Fracht bis hinauf nach St. Louis und Chicago zu bringen. Natürlich nimmt Diaz die Sache sehr persönlich, lässt Jimmys Bruder zu Tode foltern und verbreitet das dazugehörige Video. Jimmy sieht rot, macht sich mit seinen Männern auf die Suche nach den vier Handlangern, die an Dannys Ermordung beteiligt waren, und schließlich nach Diaz selbst, der sich in seinem Penthouse in Algiers Point versteckt. Hier kommt es zum tödlichen Showdown, wobei das Police Department längst über das Vorgehen informiert ist und sich entscheiden muss, wie es sich in dieser Sache verhalten soll …
Jimmy McNabb stellt in der Titelgeschichte von Don Winslows Band von sechs Erzählungen einen der gebrochenen Männer dar, mit denen ihre Mutter in der Notrufzentrale ständig mehr oder weniger direkt zu tun hat. „Broken“ sind auch viele der Figuren in den nachfolgenden Geschichten, die teilweise alte Bekannte aus dem mittlerweile vielschichtigen Figurenensemble präsentiert, das der US-amerikanische Bestseller-Autor vor allem mit seiner legendären Kartell-Trilogie („Tage der Toten“, „Das Kartell“, „Jahre des Jägers“), der Reihe um den jungen Privat Neal Carey, die Dawn Patrol oder dem von Oliver Stone verfilmten Abenteuer „Zeit des Zorns“ des jungen Drogendealer-Trios Ben, Cho und O(phelia) geschaffen hat.
In der Steve McQueen gewidmeten Geschichte „Crime 101“ dreht sich alles um das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Profi-Dieb Davis, der sein Vorgehen auf den Highway 101 genannten Pacific Coast Highway beschränkt und dabei strikt den Regeln des Verbrecher-1x1 folgt, und Lieutenant Ronald „Lou“ Lubesnick. Der Cop wird von seinen Kollegen für seine Annahme belächelt, dass es bei den Raubüberfällen in den vergangenen Jahren um San Diego herum um einen Einzeltäter handelt. Interessanterweise kommt Lou dem vorsichtig agierenden Gauner erst dann auf die Spur, als er seine Frau beim Fremdgehen erwischt und sich daraufhin übergangsweise eine Wohnung mit Strandblick mietet.
Lubesnick spielt auch eine Nebenrolle in „The San Diego Zoo“, wo er die Abteilung leitet, in die der einfache Streifenpolizist Chris Shea versetzt werden möchte. Doch als ein bewaffneter Schimpanse betäubt wird und Chris bei der Aktion vom Baum fällt, wird er zum Gespött seiner Kollegen. Wenn er aber herausfindet, wie der Schimpanse überhaupt an die Waffe gekommen ist, würden seine Chancen auf eine Versetzung wieder steigen …
In „Sunset“ begegnen wir der Dawn Patrol wieder, als der Kopfgeldjäger Boone Daniels dem Kautionsagenten Duke Kasmajian die flüchtige Surf-Legende Terry Maddux ausfindig machen soll, der leider voll auf Droge gekommen ist und immer wieder in den Knast wandern musste. Nun hat Terry die Kaution verfallen lassen, ist nicht zur Verhandlung erschienen. Wenn der Duke, Boone und seine Surfer-Kollegen von der Dawn Patrol Terry nicht vor den Cops finden, kann sich Duke von dreihundert Riesen verabschieden, was er sich bei der bevorstehenden Gesetzesänderung zu Kautionsgeschäften nicht erlauben kann. Doch Terry erweist sich als sturer Bock und hat immer noch Freunde, die ihm Unterschlupf gewähren.
In „Paradise“ wollen sich Ben, Chon und O auf Hawaii nicht nur eine schöne Zeit machen, sondern ihren Handel mit Marihuana intensivieren. Dass sie mit dem ortsansässigen Tim Karsen Geschäfte machen, ist für die Firma so lange kein Problem, sobald Tim sich der Firma angeschlossen hat oder aus dem Geschäft aussteigt, aber die drei Neuankömmlinge mischen die Drogenszene auf Hawaii ordentlich auf …
In „The Last Ride“ nimmt Dale Strickland, Beamter bei der Border Patrol, alle Risiken auf sich, um ein Mädchen aus dem Auffanglager für illegale Einwanderer über die Grenze zurück zu ihrer Mutter nach Mexiko zu bringen. Es ist nicht nur schön, einige der lebendigsten Charaktere, die Don Winslow über all die Jahre geschaffen hat, in „Broken“ wiederzutreffen und etwas mehr über ihre Geschichten und Abenteuer zu erfahren.
Winslow erweist sich hier einfach auch als ein begnadeter Erzähler, der in der komprimierten Form der Kurzgeschichte packend zu unterhalten versteht. Er braucht keine lange Einleitung, um sein Publikum in die Plots einzuführen. Mit wenigen Sätzen sind Figuren, die örtlichen Gegebenheiten, die Stimmung und die Aufgabe umrissen, denen sich die Protagonisten gegenübersehen. Dabei bedient sich der Autor einer schnörkellosen Sprache, würzt seine Geschichten mit ebenso viel Humor wie blutiger Gewalt, was aber nicht darüber hinwegtäuscht, dass Winslow einfach glaubwürdige Figuren und wendungsreiche Plots zu entwickeln versteht, wobei er ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen auf das tägliche Leben der Menschen auswirkt, die mit den Entscheidungen der politischen Elite tagtäglich zu leben haben. Besonders nachdrücklich gelingt Winslow das in seiner letzten Geschichte „The Last Ride“, die unverblümt Donald Trumps Direktive hinterfragt, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko zu errichten, was offensichtlich viele Einwandererfamilien zerreißt.

Andrea De Carlo – „Uto“

Freitag, 10. April 2020

(Diogenes, 438 S., HC)
Als ihr Mann Antonio bei einem durch ihn verursachten Gasunglück in seinem Büro ums Leben gekommen ist und dabei auch noch einen Priester und ein pensioniertes Lehrerehepaar mit in den Tod riss, wendet sich Lidia verzweifelt an ihre in den USA lebende deutsche Freundin Marianne, da sie sich vor allem Sorgen um ihren neunzehnjährigen Sohn Uto macht, der völlig ungerührt mit dem Tod seines Vaters umzugehen scheint. Marianne, die mit ihrem italienischen Mann Vittorio Foletti, ihrer Tochter Nina und ihrem Stiefsohn Guiseppe in der in Connecticut abgeschiedenen gelegenen Kommune Peaceville lebt, lädt Uto für ein paar Monate zu sich nach Hause ein.
Uto macht sich im Dezember tatsächlich auf den Weg, doch kommt sich der begabte Pianist mit Punkfrisur, Sonnenbrille und schwarzen Rockerklamotten schon bei seiner Ankunft wie in einem falschen Film vor. Er redet nicht viel, nimmt seine Umgebung aber sehr aufmerksam in sich auf. Vittorio betont sogleich, dass es sich bei Peaceville nicht um eine spirituelle Kolonie handelt, sondern um eine spirituelle Siedlung mit einem Zentrum, zu dem jeder gehen kann, wann er will. Ihr spiritueller Führer ist ein alter Hindu, der Swami genannt wird und sich bald nach Utos Ankunft auch zum Abendessen bei den Folettis ankündigt. Uto kann dem allseits vorgeführten Friede-Freude-Eierkuchen-Gehabe allerdings wenig abgewinnen. Stattdessen sorgt er schnell für Unruhe in der vermeintlich so harmonischen Gemeinschaft, lässt die pubertierende Nina endlich ihre Magersucht überwinden, den jungen Guiseppe-Jeff mit harter Rockmusik rebellieren und den erfolgreichen Maler Vittorio in jeder Hinsicht über die Stränge schlagen. Doch Uto selbst kommt sich immer verlorener vor …
„Ich schaute umher und suchte nach einem Punkt, an den ich mich halten konnte, der nichts mit meinen Gedanken zu tun hatte, damit sie von mir abließen und sich in irgend etwas anderes verbissen; ich war von kalter, flüssiger und so konzentrierter Verzweiflung erfüllt, wie es mir nur selten im Leben passiert war. Mir war, als würde ich mich im nächsten Moment auflösen, jede Distanz zur Außenwelt verlieren; ich hatte solche Angst, dass ich hätte schreien können, wenn das nicht schon eine zu positive Geste gewesen wäre.“ (S. 181) 
Mit seinem 1995 veröffentlichten Roman „Uto“ (alternativ auch „Guru“) nimmt der Mailander Erfolgsautor Andrea De Carlo („creamtrain“, „Zwei von zwei“, „Techniken der Verführung“) die Esoterik- und New-Age-Szene genüsslich aufs Korn, entlarvt die „Tue Gutes, und dir wird Gutes getan“-Attitüde selbsternannter Erlösungsfiguren als recht eigentlich verlogenes Getue, das den wahren Charakter eines Menschen nur zu verbergen hilft.
Uto wirkt dabei wie das jüngere Alter ego des Autors. Uto wird zunächst ausführlich als ein hochintelligenter, künstlerisch hochbegabter, analytisch beobachtender und denkender junger Mann vorgestellt, der wenige Worte verliert, sich aber sprachlich äußerst versiert auszudrücken versteht. Mit seiner unnahbaren, aber auch verletzlich wirkenden Art fasziniert er zunächst die beiden Frauen in seiner Gastgeber-Gemeinschaft, während Vittorio den jungen Mann eher eifersüchtig als Konkurrent nicht nur in seinen künstlerischen Ambitionen (obwohl er im Gegensatz zu Uto seine Landschaftsbilder für viel Geld zu verkaufen versteht), die Uto einfach so in den Schoß zu fallen scheinen, sondern auch in der Beziehung zu Frauen.
So versiert und ausschweifend De Carlo allerdings die psychischen Mechanismen in dieser spirituell geprägten Gemeinschaft seziert, so vorhersehbar entwickelt sich leider auch der wenig originelle Plot, wenn Uto nach und nach auf den Grund der einzelnen Charaktere stößt und deren gar nicht so altruistischen und (gemein)wohlwollenden Wurzeln freilegt. So liegt die Stärke in „Uto“ eher in De Carlos sprachlicher Virtuosität und der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Folettis wirken dagegen allesamt sehr flach und klischeehaft gezeichnet, so dass das Publikum nie den Eindruck bekommt, dass hier eine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Uto und den einzelnen Mitgliedern der Foletti-Familie stattfindet. So wird „Uto“ allenfalls eine Leserschaft ansprechen, die ihre Einstellung gegen sektenähnliche Bewegungen auch in literarischer Hinsicht untermauern möchte.

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 3) „Die weiße Löwin“

Mittwoch, 8. April 2020

(Zsolnay, 560 S., HC)
Die Immobilienmaklerin Louise Åkerblom will am Freitagnachmittag noch das abgelegene Haus einer Witwe an der Abzweigung zwischen Krageholm und Vollsjö aufsuchen, bevor sie den Heimweg nach Ystad zu ihrem Mann und den beiden Kindern antritt, als ihr unterwegs bewusst wird, dass sie sich verfahren hat. Als sie sich auf einem anderen Hof nach dem Weg erkundigen will, wird sie mit einem Schuss in die Stirn getötet. Der vierundvierzigjährige Kriminalkommissar Kurt Wallander, der gerade gar nicht damit klarkommt, dass sein fast achtzigjähriger Vater seine gut dreißig Jahre jüngere Haushaltshilfe Gertrud heiraten will, übernimmt die Ermittlungen, als Louises Mann Robert am nachfolgenden Montag eine Vermisstenanzeige aufnimmt.
Die streng religiöse Methodistenfamilie scheint überhaupt keine Probleme gehabt zu haben, so dass Wallander und seinen Kollegen kein Motiv für die brutale Tat einfallen will. Als der Wagen der Toten in einem See und ihre Leiche zufällig auf dem Boden eines Brunnens entdeckt wird, führt der ebenfalls am Tatort gefundene Finger eines Schwarzen in eine ungewohnte Ermittlungsrichtung. Denn auf einmal explodiert ein Nachbarhaus. In den völlig zerstörten Mauern finden sich die Überreste einer russischen Funkanlage und einer ungewöhnlichen Pistole. Währenddessen laufen im April 1992 in Südafrika die Vorbereitungen eines Attentats auf den Präsidentschaftskandidaten Nelson Mandela auf Hochtouren. Der Bure Jan Kleyn, der dem südafrikanischen Geheimdienst angehört, hat mit einigen Verbündeten ein Komplott inszeniert, für das der südafrikanische Auftragskiller Victor Mabasha in Schweden durch den ehemaligen KGB-Agenten Konovalenko mit entsprechender Ausrüstung und Training versorgt werden soll.
Als Mabasha allerdings die unwürdige Behandlung durch seinen russischen Ausbilder nicht mehr erträgt und nicht verstehen kann, wie er die unschuldige Frau erschießen konnte, will er mit der Sache trotz der stattlichen Belohnung nichts mehr zu tun haben. Konovalenko schneidet dem Südafrikaner im Kampf einen Finger ab und verwischt durch einen Sprengsatz alle Spuren. Während er seinem Auftraggeber vorgaukelt, Mabasha getötet zu haben, schickt Kleyn mit Sikosi Tsiki den nächsten Auftragskiller nach Schweden. Als Südafrikas amtierender Präsident de Klerk von dem geplanten Attentat und seinen Hintermännern erfährt, setzt er seinen Verbündeten Scheepers mit der Aufklärung der Hintergründe zu dem Plan ein, doch die Zeit verrinnt …
„Scheepers sah durch die Scheibe und fragte sich, was mit seinem Leben geschehen würde, ob der große Plan, den de Klerk und Mandela formuliert hatten und der den Rückzug der Weißen bedeutete, gelingen konnte. Oder würde er zum Chaos führen, zu unkontrollierter Gewalt, zu einem schrecklichen Bürgerkrieg, in dem sich Positionen und Allianzen ständig änderten und schließlich nicht mehr kalkulierbar wären? Die Apokalypse, dachte er.“ (S. 488) 
Henning Mankell, der während der 68er Bewegung an Protesten gegen den Vietnamkrieg, Portugals Kolonialkrieg in Afrika und gegen das Apartheidregime in Südafrika teilgenommen hatte, schrieb mit (dem erst 2017 hierzulande veröffentlichten) „Der Sandmaler“ bereits 1974 den ersten seiner vielen Afrika-Romane und fühlte sich Zeit seines Lebens besonders innig mit diesem Kontinent verbunden. In seinem dritten Roman um den charismatischen Kriminalkommissar Kurt Wallander aus der schwedischen Kleinstadt Ystad verbindet er erstmals auf komplexe Weise einen Mordfall in seinem Zuständigkeitsbereich mit den aufrührerischen Ereignissen in Südafrika auf dem Höhepunkt der Apartheid. Immer wieder wechselt Mankell zwischen den Zeiten und Orten, nimmt sich vor allem viel Zeit, die kritischen Zustände in Südafrika zu beschreiben. Dabei lässt er in seinem Prolog die Ereignisse Revue passieren, die 1918 in Johannesburg zur Gründung des Afrikaner Broederbond geführt haben, mit dem das rassistische Apartheid-Regime seine Rechtfertigung fand. Eindringlich schildert er die Erniedrigung, unter der die Schwarzen in Südafrika leiden, ebenso wie die rassistischen Überzeugungen der Buren, die ihre Macht mit allen Mitteln zu bewahren versuchen, eben auch mit einem Geheimdienst innerhalb des Geheimdienstes.
Mankell beschreibt die ständige Angst vor Überwachung durch eigene wie durch fremde Leute. In dieser Atmosphäre der Angst, der Unsicherheit und des Hasses entwickelt sich ein Mordkomplett von komplexer Vielschichtigkeit, deren Bahnen bis nach Schweden führen. Hier hat Wallander nicht nur mit den für ihn unverständlichen Heiratsabsichten seines alten Herrn, sondern auch mit der Sorge um seine Tochter Linda und der nicht wirklich klar definierten Fernbeziehung zu der in Riga lebenden Baiba Liepa zu tun und wird schließlich mehr mit dem Mordkomplott in Südafrika verwickelt, als ihm lieb sein könnte.
Henning Mankell erweist sich in seinem dritten Wallander-Roman nicht nur als Verfechter der Aufhebung der Rassendiskriminierung in Südafrika, sondern webt aus diesem brodelnden gesellschaftspolitischen Kessel an Gewalt, Unterdrückung und Hass einen durchweg packenden Krimi-Plot, der bei den Vorgängen in Schweden etwas zu übertrieben actionlastig ausgefallen ist, was das Tempo erhöht, aber die Glaubwürdigkeit mindert.

Uwe Kopf – „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“

Mittwoch, 1. April 2020

(Atlantik, 316 S., Tb.)
Am 24. Mai 1998 hat sich der 40-jährige Tom nach Art der Greise aufgehängt, nachdem er sich noch beim Pizzadienst neben der Pizza noch drei Dosen Warsteiner-Bier (das er eigentlich überhaupt nicht mag) bestellt und die Wäsche mit Sunil – wie seine Mutter – gewaschen hatte. Außerdem las er noch James Ellroys „Stiller Schrecken“ zu Ende – übrigens das erste, das er in seinem Leben je ausgelesen hat, ganz anders als sein älterer Bruder Sören, der als Kulturjournalist davon überzeugt ist, dass Bücher sogar Leben retten können. Auch sonst trennen die beiden vaterlos aufgewachsenen Brüder Welten. Während Sören nicht nur einen coolen Beruf hat, sondern auch massenweise Frauen ins Bett bekommt, schlägt sich Tom mit Aushilfsjobs bei der Post durch, konsumiert in seiner Wohnung im Arbeiter-Viertel Hamburg-Berne vorwiegend Horrorfilme und wird wegen seines Aussehens, das wegen der langen Haare an Jesus erinnert, für schwul gehalten.
Was alles schief gelaufen ist in seinem Leben, resümiert der meist aus der Ich-Perspektive erzählende Tom auf den folgenden 300 Seiten. Am Ende werden die Wünsche und das Erreichte auf einem Zettel gegenübergestellt: „Da kommt nix mehr“, heißt es da nur nüchtern. Die Polizei beschreibt dieses Vorgehen als „Bilanzselbstmord“. Dabei gibt es durchaus vielversprechende Ansätze in Toms Leben. Sören vermittelt seinem Bruder zunächst Leserbrief-Aufträge, dann darf er – weil der Redaktion seine Leserbriefe zu Joschka Fischer und der Klappstulle so gut gefielen - sogar Bruce Springsteens neues Album „The Ghost of Tom Joad“ rezensieren. Doch nach einem tollen Eröffnungssatz geht Tom, glühender Anhänger von Rory Gallagher, die Puste aus, und Musikchef René schreibt letztlich die Kritik. Bei den Frauen läuft es auch nicht rund. Mit seiner Verlobten hat er während der zwölf Jahre andauernden Beziehung eigentlich keinen Sex, doch dann geschieht ein Wunder, als die attraktive Ärztin Eva aus Aachen in sein Leben tritt und sich in Tom verliebt. Allerdings will sie mit ihrem ebenfalls noch in der Aachener Nachbarschaft lebenden Ex-Freund John befreundet bleiben, was Tom schier in den Wahnsinn treibt. Sören hält ihn für einen „Liebeskasper“, Eva schlägt ihm sogar eine Eifersuchtstherapie vor. Doch ebenso wie ihm Beruf bricht ihm auch in dieser Hinsicht die Angst zu versagen buchstäblich das Genick …
„Ich bin 40 Jahre alt, nach Eva kommt nichts mehr. Bis ich Eva kennenlernte, dachte ich ja auch, da war nie was, da kommt nichts. Mit Eva hatte ich doch eine ganz neue Welt. Jemand wie ich kann so eine Welt doch gar nicht erwarten. So eine Chance kriege ich nie wieder.“ (S. 305) 
Nachdem Uwe Kopf von 1990 bis 1996 als Textchef bei Tempo tätig gewesen war und für Magazine wie Faces, den Rolling Stone und Theo geschrieben hatte, verstarb er im Januar 2017 kurz nach der Diagnose an einer Krebserkrankung, konnte aber noch die über Jahre gestreckte Arbeit an seinem ersten – und leider auch einzigen – Roman noch beenden, bevor er beim Tempo-Imprint des Hoffmann und Campe Verlags posthum veröffentlicht wurde.
Zwar finden sich viele autobiografische Verweise in „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ wie die Kindheit in Kaiserslautern und die Tatsache, dass sein eigener Bruder Tom hieß und sich selbst umbrachte, aber das spielt für den Unterhaltungswert des Romans überhaupt keine Rolle. Auf ebenso mitfühlende, aber nicht mitleiderregende wie humorvolle Art beschreibt Kopf das Scheitern seines Protagonisten an seinen Lebenserwartungen. Die sind nicht allzu hoch gesteckt - Eva, Respekt, Sinn, Ruhe -, aber am Ende seines vierzigjährigen Lebens scheint davon einfach nichts erreicht worden zu sein. Toms Lebens- und Leidensgeschichte ist überraschenderweise aber überhaupt nicht kitschig melodramatisch, sondern trifft einfach immer den richtigen Ton.
Seine Milieubeschreibungen treffen einfach den Nagel auf den Kopf. Als der Autor beispielsweise Uli Rehberg und seinen legendären Plattenladen „Unterm Durchschnitt“ beschreibt, konnte ich nur lächelnd zustimmend nicken. Aber auch die immer wieder souverän eingeflochtenen Beschreibungen des Zeitgeistes – Vader Abrahams „Lied der Schlümpfe“; der Fall der Mauer in dem Augenblick, als Tom seinen Bruder mit Toms Freundin im Bett erwischt, der Deutsche Herbst mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer, Sean Connerys Besuch in einem italienischen Restaurant anlässlich der Premiere von „Family Business“ und die vielen popkulturellen Verweise auf Musikalben, Filme und Bücher – machen „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ zu einem flüssig und mit lakonischem Humor geschriebenen, schnörkellosen wie tiefgründigen Lesegenuss. Dazu trägt auch die Erklärung bei, wie die Pet Shop Boys zu ihrem Namen gekommen sind …

Jonathan Franzen – „Die Korrekturen“

Sonntag, 29. März 2020

(Rowohlt, 782 S., HC)
Der 39-jährige Chip Lambert holt seine Eltern vom LaGuardia Airport in New York City ab, damit sie mit Nordic Pleasurelines eine weitere Kreuzfahrt antreten können, vielleicht die letzte in ihrem Leben, denn Chips Vater Alfred leidet zunehmend unter Parkinson. Dabei sitzen sie noch immer dem Missverständnis auf, dass Chip beim Wall Street Journal arbeitet. Stattdessen liefert Chip, der vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte an einem College in Connecticut wegen eines Vergehens verloren hatte, in das eine seiner Studentinnen involviert gewesen war, nicht honorierte Beiträge für das Magazin Warren Street Journal: Monatsschrift der Transgressiven Künste ab. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einen Teilzeitjob als Korrektor bei einer Anwaltskanzlei, während sein gerade fertiggestelltes – von vor Phallusängsten und Brüsten triefendes - Drehbuch keinen Abnehmer findet. So bleibt ihm nur seine Wohnung in Manhattan und seine hübsche – leider verheirateten - Freundin Julia. Die hat natürlich von seiner Sexsucht bald genug und sucht das Weite. Interessanterweise erhält Chip ausgerechnet von Julias Mann, den litauischen Diplomaten Gitanas, das Angebot, ihn nach Litauen zu begleiten und bei seinem neuen Projekt zu unterstützen, bei dem es um die Gewinnung internationaler Investoren für die – natürlich betrügerische - „Parteigesellschaft Freier Markt“ geht.
Doch auch seine Geschwister haben ihre Probleme. Gary war erfolgreicher Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank, leidet aber unter Depressionen und dem Gefühl, dass sich seine Frau Caroline und seine drei Kinder gegen ihn verschworen haben. Denise scheint es mit ihren 32 Jahren zunächst gut getroffen zu haben, macht als Spitzenköchin Karriere, doch die Ehe mit dem fast doppelt so alten Emile Berger hält nicht. Denise lässt sich von Brian Callahan engagieren, in den Räumen eines alten Kohlekraftwerks ein eigenes Restaurant zu leiten. Doch als sie sowohl mit Brian als auch seiner Frau Robin eine Affäre beginnt und beide davon erfahren, löst sich ihre Karriere in Luft auf. Von all diesen Problemen bekommen Alfred und Enid Lambert auf ihrem Kreuzfahrtschiff nichts mit. Enid ist nur noch von dem innigen Wunsch getrieben, ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest in St. Jude zu feiern …
„Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.“ (S. 665) 
Jonathan Franzen legte 2002 mit „Die Korrekturen“ seinen dritten Roman vor. Seine ersten beiden Werke „The Twenty-Seventh City“ (1988) und „Strong Motion“ (1992) wurden erst nach dem internationalen Erfolg seines dritten Romans in Deutschland veröffentlicht und untermauerten die erzählerische Qualität des 1959 in Western Springs, Illinois, geborenen und nun in New York lebenden Autors. In „Die Korrekturen“ entwirft er ein Familienportrait, das als Querschnitt der amerikanischen Mittelschicht gelesen werden kann. Während Alfred auf eine erfolgreiche Karriere als Bahningenieur zurückblickt, aber seiner Frau nach zwei Jahre zu früh in Pension gegangen ist, kam seiner Frau die Erziehung der Kinder zu, auf die sie keinen Einfluss mehr ausüben, da sie im ganzen Land verstreut ihren eigenen Lebensentwürfen folgen.
Franzen gibt sich viel Mühe, die einzelnen Biografien minutiös und überzeugend auszugestalten. Dabei bildet Chip das unstete Leben im Kreativ-Bereich ab, wirkt durch seine sexuelle Promiskuität, vor allem aber auch durch sein Engagement in Litauen wie eine Karikatur. Weitaus glaubwürdiger ist der Erzählstrang um den Banker Gary ausgefallen, der nicht wie sein Vater allein für das Aufkommen des Familienunterhalts zuständig ist und sich damit gewisse Rechte bei der Ausgestaltung des familiären Lebens herausnehmen könnte, sondern mit Caroline eine selbstbewusste, finanziell unabhängige Frau an seiner Seite hat, die souverän ihre eigenen Interessen zu vertreten versteht und für den größten Widerstand bei den Weihnachtsplänen ihrer Schwiegermutter sorgt.
Denise wiederum reibt sich zunächst im Beruf auf, trifft aber unglückliche Entscheidungen im Bereich ihrer persönlichen Beziehungen, was nicht ohne Folge auf ihre Karriere bleibt. Sie erweist sich allerdings am Ende als die gute Tochter, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Gary am meisten darum sorgt, wie es mit ihren Eltern weitergeht. All diese Einzelschicksale verwebt Franzen zu einem großen Familienroman, der einerseits den Wechsel im Umgang mit Traditionen von einer Generation zur nächsten nachvollzieht, zum anderen aber auch die Probleme zunehmend individualisierter Lebensentwürfe in einer post-modernen Welt aufzeigt.
Franzen bezieht dabei die Probleme der „New Economy“ ebenso mit ein wie die Schwierigkeit, bei der grenzenlos erscheinenden Auswahl an geschlechtlichen und gesellschaftlichen Rollen seinen eigenen Weg zu finden, ohne die eigenen Eltern mit ihren festen Moralvorstellungen zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Dabei bedient sich der Autor einer wunderbar fließenden, bildgewaltigen Sprache, die viel Humor und Sympathie für die Figuren erkennen lässt.

Francis Fukuyama – „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“

Samstag, 28. März 2020

(Atlantik, 238 S., Pb.)
Der 1952 geborene Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat 1992 mit seinem Bestseller „Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?“ darauf hingewiesen, dass weder Nationalismus noch Religion als Kräfte der Weltpolitik verschwinden würden. Die Tatsache, dass ein Vierteljahrhundert später ausgerechnet die wegweisenden Demokratien der USA und Großbritanniens mit der Wahl Donald Trumps einerseits und dem Beschluss, die Europäische Union zu verlassen andererseits, beängstigender Ausdruck nationalistischer Tendenzen geworden sind, haben den in Stanford lehrenden Professor dazu bewogen, mit seinem schmalen Band „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ eine neue Bestandsaufnahme der Weltpolitik vorzunehmen.
Nachdem die Anzahl repräsentativer Demokratien zwischen den frühen 1970er und 2005 von ungefähr 35 auf über 110 angestiegen war, was mit einem Anwachsen wirtschaftlichen Austauschs (Globalisierung), der Vervierfachung weltweit produzierter Güter und erbrachter Dienstleistungen sowie der Verringerung des Anteils der unter extremer Armut leidenden Menschen um 17 Prozent einherging, ist die Tendenz mittlerweile rückläufig. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang die 2008 vom US-amerikanischen Subprime-Markt verursachte Große Rezession und die Euro-Krise nach der drohenden Staatspleite Griechenlands. Russland und China nutzten diese Ereignisse, um eindeutig undemokratische Wege zu mehr Reichtum und Selbstbewusstsein einzuschlagen, 2011 sorgte der Arabische Frühling zwar zunächst für eine Zerschlagung von Diktaturen im Nahen Osten, konnte aber die Hoffnungen auf demokratische Prozesse nicht erfüllen, so dass sich Libyen, der Jemen, Irak und Syrien in Bürgerkriegen zerfleischten.
Als gemeinsamen Nenner für diese an sich ganz unterschiedlichen Ereignisse sieht Fukuyama das Problem der sogenannten „Identitätspolitik“. Überall auf der Welt würden sich Menschen nicht mehr damit abfinden, respektlos behandelt zu werden. Sowohl die Schwulenbewegung, die Frauenbewegung als auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die jüngste #MeToo-Debatte haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich Menschen wegen ihrer Rasse, ihrer Religionszugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminiert fühlen, und zwar über politische und kulturelle Grenzen hinweg. So verstand es Osama bin Laden beispielsweise, seinen Zorn über die Kränkung der Muslime in der ganzen Welt in seiner Al-Qaida-Bewegung so zu mobilisieren, dass sie mit Gewalt für einen Islamischen Staat eintraten.
In den USA waren es vor allem die ländlichen Wähler, die sich von den städtischen Oberschichten beider Küsten ignoriert fühlten und dankbar Trumps Wahlkampfslogan „Make American Great Again“ aufnahmen. Die Demokratien in aller Welt haben es bislang nicht verstanden, dem individuellen Wunsch nach Würde und Respekt befriedigend zu entsprechen. Schließlich hat schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel darauf aufmerksam gemacht, dass der Kampf um Anerkennung die höchste Antriebskraft der Menschheitsgeschichte sei.
„Viele zeitgenössische liberale Demokratien stehen vor einer immensen Herausforderung. Sie haben einen raschen wirtschaftlichen Wandel durchgemacht und sind infolge der Globalisierung weitaus vielfältiger geworden. Dadurch ist das Verlangen nach Anerkennung bei Gruppen geweckt worden, die früher für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar waren. Solche Wünsche bewirken einen subjektiv empfundenen Statusverlust bei den von ihnen verdrängten Gruppierungen und lösen eine Politik des Unmuts und der Gegenreaktion aus.“ (S. 194) 
Für Fukuyama besteht die Herausforderung darin, das drängende Problem der steigenden Anzahl von Immigranten dadurch zu lösen, dass die Immigranten in die nationale Bekenntnisidentität eines Landes einbezogen werden, denn nur so können sie eine gewinnbringende Vielfalt in die Gesellschaft tragen, während schlecht integrierte Einwanderer eine Belastung für den Staat und sogar eine Gefahr für die Sicherheit wären. Fukuyama führt seine klugen Überlegungen knapp und anschaulich aus, bemüht griechische Philosophen, frühneuzeitliche Denker wie Hobbes, Locke und Rousseau bis zu Soziologen und Politikwissenschaftler wie Samuel P. Huntington, um die Entwicklung des Identitätsbegriffs und den damit zusammenhängenden Problemen in immer komplexeren Gesellschaften zu beschreiben, wobei er überzeugend darlegt, warum gerade die linken Parteien an den aktuellen Herausforderungen scheitern.
Es sind zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse, die der renommierte Politikwissenschaftler hier auftischt, aber in der Beobachtung und Analyse der gegenwärtigen globalen Krisen bietet „Identität“ einen kompakten Überblick.
Leseprobe Francis Fukuyama - "Identität"

Håkan Nesser – „Der Choreograph“

Mittwoch, 25. März 2020

(btb, 256 S., HC)
„Ich bin kein Schriftsteller, kein Mensch, der schreibt. Ich kann es nicht prinzipiell leugnen, dass mir der Prozess an sich gefällt, Buchstaben, Worte, einen Sinn zu formen, auf weißem Papier; aber nach vielen Stunden mit Stift und Notizbuch bin ich meistens nicht besonders interessiert an dem Ergebnis“, bekennt der Ich-Erzähler, den wir später nur durch einen Brief seiner Geliebten als David identifizieren können, gleich zu Beginn seiner ungewöhnlichen Erzählung. Sie beginnt in einem Eisenbahnabteil, einer unbekannten Landschaft mit einer unbekannten Frau, die der Reisende auf Deutsch angesprochen hat.
Er beobachtet aus den Augenwinkeln, wie sich ein Soldat dieser Frau nähert, doch das erotisch anmutende Intermezzo fällt in sich zusammen, als sich der Erzähler mit einem Schlucken bemerkbar macht. So ähnlich verhält es sich mit der schicksalhaften Bekanntschaft, die der Mann am Ziel seiner Reise macht. In K. begegnet der Mann, der vor zehn Jahren seine zweijährige Ehe scheiden ließ, in einem Geschäft der „schönsten Frau der Welt“. Er spricht die Frau namens Maria in dem roten Kleid mit den schwarzen Applikationen an, sie verabreden sich für den Nachmittag und lieben sich auf eine Weise, die in dem Erzähler das Verlangen nach Mehr weckt.
Doch Maria verschwindet immer wieder spurlos, bekennt, dass sie mit ihm nicht zusammen sein könne, kommt aber auch nicht von ihm los. Was folgt, ist eine kuriose Odyssee, eine Suche, in die schließlich auch Davids Kollegen von der Universität einbezogen werden, als er zusammen mit ihnen einen Ausflug in die Berge unternimmt. Doch ein romantisches Happy End ist dieser Beziehung natürlich nicht vergönnt …
„Wie konnten wir diese lange Zeit über zusammen sein, ohne Fragen zu stellen? Wie sonderbar erscheint das doch im Nachhinein. Einem anderen Menschen so nah zu sein und trotzdem nicht zu wissen, wer er eigentlich ist.
Doch etwas sagte mir, dass es genau so sein sollte.“ (S. 111) 
Der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser ist durch seine charismatischen Kommissare bekannt geworden, vor allem mit der Reihe um Van Veeteren, die 1993 mit „Das grobmaschige Netz“ begann, später auch mit Gunnar Barbarotti, der 2006 in „Mensch ohne Hund“ seinen Einstand feierte. Doch bereits 1988 veröffentlichte Nesser mit „Koreografen“ seinen ersten Roman, der nun – längst überfällig – als limitierte Sonderausgabe anlässlich des 70. Geburtstags des Autors erschienen ist. Literarisch ist „Der Choreograph“ schwer einzuordnen. Das hängt vor allem mit der eigenwilligen Struktur der Erzählung zusammen. Was für den Ich-Erzähler als leidenschaftliche Romanze in einer fremden Stadt beginnt, entwickelt sich nur kurz zu einem Krimi-Plot, wenn die Suche nach Maria thematisiert wird und die Begegnung mit ihrem Mann einen dramatischen Höhepunkt zu versprechen scheint. Doch Nesser untergräbt die Erwartungshaltung des Publikums immer wieder geschickt. Indem Nesser die Geschichte in die Hände seines Erzählers legt, sind die Leser den Launen und der tiefer liegenden psychischen Befindlichkeiten ausgeliefert, also auch den unvermuteten Wechseln von Zeit, Ort und betroffenen Personen.
Es lässt sich gut nachvollziehen, dass „Der Choreograph“ erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, denn für einen gänzlich unbekannten Autor wäre es schwer gewesen, mit so einem Stück die Lesermassen zu gewinnen. Dafür verschließt sich der Plot einer nachvollziehbaren Struktur, und nicht wenige Handlungsstränge verlaufen einfach im Nichts, bis auch das Ende viele Leser unbefriedigt zurücklassen wird. Auf der anderen Seite präsentiert „Der Choreograph“ bereits die schriftstellerischen Stärken des schwedischen Bestsellerautors, nämlich das immens ausgeprägte Einfühlungsvermögen in seine Figuren. Die bruchstückhaften Erzählungen, Erinnerungen und Phantasien, die der Ich-Erzähler lose aneinanderreiht, packen den Leser auf einer emotionalen Ebene und lassen ihn dann auch nicht mehr los, so dass es am Ende nicht viel ausmacht, dass eine konventionelle Auflösung der geschilderten Ereignisse ausbleibt.
Das mag nicht für alle Leser zutreffen. Abgerundet wird das Buch übrigens von einem sehr informativen Vorwort von Eugen G. Brahms und einem Nachwort von Paula Polanski, von der das zusammen mit Håkan Nesser veröffentlichte „Strafe“ ebenfalls bei btb erhältlich ist.
Leseprobe Hakan Nesser - "Der Choreograph"

Irvine Welsh – „Die Hosen der Toten“

Sonntag, 22. März 2020

(Heyne Hardcore, 474 S., HC)
1993 zeichnete der schottische Autor Irvine Welsh mit „Trainspotting“ das gelungene Portrait einer jungen Generation, für die es in der von Arbeitslosigkeit und Mietskasernen geprägten Post-Thatcher-Ära keinen Platz mehr in der Gesellschaft gab und die deshalb im Drogen- und Alkoholrausch versank. Mittlerweile, wir schreiben das Jahr 2015, sind die aus dem Edinburgher Stadtteil Leith stammenden Freunde Simon David „Sick Boy“ Williamson, Danny „Spud“ Murphy, Mark Renton und Francis James Begbie erwachsen geworden, doch nicht allen ergeht es so gut wie Mark, der als erfolgreicher DJ-Manager durch die Welt jettet, um seinen Klienten vor allem Drogen und Prostituierte zu beschaffen.
Als er auf einem Flug nach Los Angeles aber unerwartet seinem Erzfeind Franco/Frank/Francis Begbie begegnet, geht ihm ordentlich die Flatter, denn wie seine anderen ehemaligen Kumpel hat Renton auch Begbie damals um ein kleines Vermögen betrogen. Doch Begbie, der sich mittlerweile einen Namen als Künstler machen konnte und nun mit seiner Frau Melanie in Kalifornien, hegt überhaupt keine Rachegedanken.
Den anderen beiden Leith-Jungs ist es nicht so gut ergangen. Spud hat Rentons Rückzahlung der 15.000 Pfund gleich wieder in Drogen investiert und ist im illegalen Organhandel tätig. Dumm nur, dass sein Hund Toto die Niere anknabbert, die er nach Berlin transportieren soll. Dafür wird er selbst übel bluten müssen. Und Simon betreibt mit Colleagues einen exklusiven Escort-Service und wird Zeuge, wie sein sexsüchtiger Schwager Euan McCorkindale Ehebruch begeht, als das Video von seinem Seitensprung der ganzen Familie vorgeführt wird. Doch das ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von schicksalhaften Begegnungen in ihrer alten Heimat Edinburgh, wo sich ein vertrauter Strudel aus Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungeschützten, wilden Sex-Eskapaden und brutaler Gewalt entlädt und alte Ressentiments wieder aufbrechen lässt …
„Überall wimmelt es von alten Bekannten, wie zum Beispiel ,Trimmrad‘, die wir so genannt haben, weil sich jeder auf ihr abstrampelte, sie sich dabei aber kein Stück bewegte. Kaum erkennt sie mich, setzt sie diesen gleichzeitig nuttigen und unsicheren Gesichtsausdruck auf, den sie schon in den Leith-Academy-Tagen zur Schau gestellt hat. An ihrer Lippe klebt ne Zigarette. Ihr abwesender Blick und der durchgescheuerte Schulterriemen ihrer Handtasche lassen vermuten, dass Letztere am Ende des Tages nicht mehr in ihrem Besitz sein wird.“ (S. 305) 
Irvine Welsh hat es mit seiner „Trainspotting“-Reihe, zu der die Fortsetzung „Porno“ und das Prequel „Skagboys“ zählen, wie sein schottischer Kollege John Niven mit seiner trashigen Sprache und den humorvollen Szenarien voller abgefuckter Typen zum Kult-Autor gebracht.
Mit „Die Hosen der Toten“ bringt er die Reihe zu einem würdigen Abschluss, wobei es vor allem interessant zu verfolgen ist, was aus den damals so unterschiedlich veranlagten Versagern, die sich nur um Sex, Drugs und ebenso berauschende Tanzmusik kümmerten, nach über zwanzig Jahren so geworden ist. Dabei lässt Welsh seine rein männlichen Protagonisten abwechselnd die Erzählperspektive einnehmen, ohne ihnen allerdings eine eigene Stimme zu verleihen. Je mehr die einzelnen Handlungsstränge voranschreiten, um so mehr entsteht der Eindruck, als seien die Leith-Jungs, aus denen Begbie schließlich noch Büsten gießt, die für viel Geld den Besitzer wechseln, in ihrer Entwicklung nicht weiter vorangeschritten.
Zwar spielt die Musik nicht mehr so eine prägende Rolle in ihrem Leben, Sex und Drogen aber schon. Tatsächlich präsentiert sich Welsh in den Szenen, die von den merkwürdigsten – natürlich männlichen - Sex-Erlebnissen und -Phantasien handeln, am erfindungsreichsten, auch in sprachlicher Hinsicht. Stephan Glietsch hat hier großartige Arbeit bei der Übersetzung geleistet. Allerdings dürfte „Die Hosen der Toten“ mit seiner frauenfeindlichen Tonart tatsächlich nur ein männliches Publikum begeistern. Die Geschichte wirkt dabei seltsam zusammengestückelt, episodenhaft, die Figuren wenig konturiert, da sie nur von primitivsten Begierden getrieben werden.
Wer an den bisherigen „Trainspotting“-Büchern Gefallen fand, wird auch „Die Hoten der Toten“ unterhaltsam finden, doch ein ganz großes Finale stellt dieser Roman nicht dar. Dafür scheint Welsh zu sehr an oberflächlich zündenden Gags als an der Entwicklung seiner Figuren und der Beschreibung – selten vorkommender – familiärer Konzepte gelegen zu sein.
Leseprobe Irvine Welsh - "Die Hosen der Toten"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 4) „Lupus“

Sonntag, 15. März 2020

(dtv, 608 S., Pb.)
Nachdem der ehemalige, mit dem Tapferkeitsorden ausgezeichnete Elite-Soldat Niels Oxen zusammen dem ehemaligen PET-Geheimdienstchef Axel Mossman, dessen Neffen Christian Sonne und dessen Mitarbeiterin Margarethe Franck dabei half, den mächtigen Geheimbund Danehof zu zerschlagen, will sich Oxen zunächst um eine Annäherung zu seinem 14-jährigen Sohn Magnus kümmern, doch die gemeinsamen Besuche im Kopenhagener Zoo an den Wochenenden tragen nicht wirklich dazu bei. Auch seine regelmäßigen Termine bei einer Psychologin im Veteranenzentrum der Armee schaffen keine Abhilfe gegen Oxens Unwillen, Veranstaltungen mit größerem Menschenaufkommen zu besuchen, und andere Folgen seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Eines Tages kommt Mossman zu Besuch, der jetzt einer eigenen Kommission vorsitzt und bei der Durchforstung der Danehof-Archive auf weiteres Unheil gestoßen ist, das sich zwar erst als undeutlicher Schatten abzeichnet, aber der anglizistisch veranlagte Mossman würde seinen „black knight in shining armour“ gern nach Jütland schicken, um auf einem abgelegenen Bauernhof einige Voruntersuchungen anzustellen.
Er macht Oxen den Ausflug nach Harrildholm mit der Aussicht schmackhaft, dass er auf dem Weg dahin auch das Haus in Brande besuchen könnte, wo er einst bei der Fischzucht gearbeitet hatte, um mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit abschließen zu können. Trotz seiner Absicht, nicht mehr für Mossman arbeiten zu wollen, ist Oxen nicht abgeneigt, nach dem vermissten Poul Hansen in der Harrilder Heide zu suchen, zumal in der Gegend nach zweihundert Jahren wieder Wölfe gesichtet worden sind, die Oxen schon immer fasziniert haben. Sein Sohn, der er mitgenommen hat, wird bei der ersten Besichtigung des Hofes Zeuge, wie sein Vater einen Einbrecher ausschaltet, und wenig später überschlagen sich die Ereignisse, bei denen Mossman und Oxen einer Organisation namens Lupus auf die Spur kommen, die die Justiz immer dann selbst in die Hand nimmt, wenn die staatliche Rechtsprechung zu versagen scheint. Und die Hinweise führen auch zwölf Jahre zurück, als Margarethe Franck nach einem Banküberfall den vermeintlichen Fahrer des Fluchtwagens erschoss und dabei ihr Bein verlor …
„Dort draußen waren Schatten. Schatten, die Risiken eingingen. Lupus-Schatten, die bis in Mossmans Anfangsjahre zurückreichten, vage Spuren eines feuchtfröhlichen Sommerabends unter Polizisten, auf einem Gartenfest in Roskilde … Und Jahre später auf einer Geburtstagsfeier im Søpavillon. Schatten, deren Existenz nur durch einen kleinen Fetzen Papier in den Hinterlassenschaften eines ehemaligen PET-Chefs angedeutet wurde, auf dem ein Millionenbetrag notiert worden war.“ (S. 298) 
Jens Henrik Jensen hat viele Jahre lang als Journalist in seiner dänischen Heimat gearbeitet und 1997 seinen Debütroman „Wienerringen“ veröffentlicht, bevor er sich seit 2015 ganz auf das Schreiben von Büchern verlegte. Mit seiner zwischen 2012 und 2016 erschienenen Trilogie um den hochdekorierten Ex-Jäger-Soldaten Niels Oxen hat Jensen schließlich auch international die Bestseller-Listen gestürmt und verständlicherweise weiterhin Lust gehabt, die Geschichte um seinen interessanten Protagonisten weiterzuerzählen.
Auch wenn der mächtige Danehof durch das beherzte Zusammenwirken von Mossman, Franck, Oxen und Sonne demaskiert und zerstört werden konnte, sind die staatsfeindlichen Kräfte in Dänemark natürlich nicht ausgemerzt. Der „Lupus“-Fall vereint nicht nur die Faszination für die in die Harrilder Heide zurückgekehrten Wölfe mit der nach dem Canis Lupus benannten Organisation, sondern versucht zumindest ansatzweise die persönliche Entwicklung des traumatisierten Ex-Elitesoldaten zu charakterisieren. Allerdings belässt es Jensen hier bei unbefriedigenden Ansätzen und konzentriert sich schnell auf die zunehmend komplexer werdenden Ereignisse auf dem verlassenen, aber von Kameras überwachten Hof in Mitteljütland. Hier erweist sich einmal mehr die Stärke des Autors. Während seine Figuren zwar an sich interessant sind, aber kaum tiefergehend charakterisiert werden, versteht er es meisterhaft, verschiedene zunächst unabhängig voneinander beobachtete Ereignisse nach und nach miteinander zu vernetzen. Mossman bleibt dabei so undurchsichtig wie eh und je, wobei seine ständig eingeworfenen Anglizismen auch schon nerven. Am meisten gewinnt noch Margarethe Franck an Profil, wenn die Ereignisse rekapituliert werden, unter denen sie ihr Bein verlor.
Spannung generiert „Lupus“ aber vor allem aus den wieder bis in die höchsten Polizeidienststellen reichenden Verwicklungen, die in professionell ausgeführten Selbstjustiz-Aktionen münden. Jens Henrik Jensen versteht es dabei, gesellschaftspolitisch relevante Themen fundiert aufzuarbeiten – wobei ihm sein journalistischer Hintergrund sicherlich förderlich ist – und diese in packende Thriller-Unterhaltung zu verpacken. An der Konturierung und Entwicklung seiner Figuren sollte Jensen aber noch arbeiten.
Leseprobe Jens Henrik Jensen "Lupus"