Benedict Wells – „Hard Land“

Freitag, 26. Februar 2021

(Diogenes, 346 S., HC) 
Eigentlich haben seine Eltern geplant, den 15-jährigen Sam über den Sommer im Jahr 1985 zu Tante Eileen und seinen beiden verhassten Cousins nach Kansas zu schicken, doch um diesem Schicksal zu entgehen, nimmt der Teenager in seiner kleinen Heimatstadt Grady, Missouri, lieber einen Job in dem alten Kino „Metropolis“ an, das Ende des Jahres schließen soll. Zwar hat der zurückhaltende Sam bei seinen älteren Kollegen Cameron, Hightower und Kirstie zunächst einen schweren Stand, aber da sie gerade ihren Abschluss gemacht haben, werden sie im Herbst ohnehin aus Grady wegziehen. 
Die Stadt ist eigentlich nur für zwei Dinge bekannt: für die ominösen 49 Geheimnisse, die Gradys Besucher zu entdecken animiert werden, und den 1893 veröffentlichten Gedicht-Zyklus „Hard Land“, der für jede Junior-Klasse zum Pflichtprogramm bei „Inspector“ Mr. Parker gehört, der die Schüler den Jahresaufsatz über die „Geschichte des Jungen, der den See überquerte und als Mann wiederkam“ schreiben ließ. Hartnäckige Gerüchte besagen, dass es in all den Jahren bisher nur eine Eins für den Aufsatz gegeben habe. 
Während Sam allmählich beginnt, zu Cameron und Hightower eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen und sich in Kirstie zu verlieben, fühlt er sich in familiärer Hinsicht nach wie vor allein gelassen. Am meisten bedrückt ihn die Krebserkrankung seiner Mutter, die einen kleinen Buchladen führt, aber durch die Therapie immer wieder sehr geschwächt ist. Sein Vater ist arbeitslos und wirkt meist sehr verschlossen, seine Schwester Jean war vor Jahren schon nach Los Angeles gezogen, um für eine Fernsehserie Drehbücher zu schreiben. Sam liebt es, mit seinen neuen Freunden über Filme und Musik zu philosophieren und mit ihnen abzuhängen, und er kann kaum seinen 16. Geburtstag abwarten, weil er dann endlich in Larrys Bar gehen darf. Doch dann hat Sam in diesem so verheißungsvoll begonnenen Sommer eine Katastrophe nach der anderen zu überstehen … 
„Jeder hatte seine Geschichte, aber es ging weiter, es kam trotzdem wieder der Sommer, und ich betrachtete die Kinder, die diskutierend auf ihren Tretrollern an mir vorbeifuhren, die alte Frau, die ihren Hund spazieren führte, und das Spinnennetz an der Bushaltestelle, das sich sanft im Wind auf und ab bewegte … Auf einmal vermischten sich all meine Erinnerungen und Gedanken zu einem einzigen Gefühl, zu einem: Es ist okay, zumindest für diesen Moment.“ (S. 317) 
Für seinen neuen Roman ließ sich der 1984 geborene Benedict Wells durch Filme inspirieren, die zur Zeit seiner Geburt großen Erfolg hatten, vor allem die Coming-of-Age-Filme von John Hughes („Das darf man nur als Erwachsener“, „The Breakfast Club“, „Pretty in Pink“, „Ist sie nicht wunderbar?“). In diesem leichten Ton, den Drehbuchautor/Regisseur/Produzent Hughes in seinen Filmen angeschlagen hat, erzählt Wells auch die Geschichte eines bemerkenswerten Sommers, den sein 15-jähriger Protagonist erlebt hat und in dem er von einem Jungen zum Mann wurde. Dazu gehört vor allem die erste große Liebe und das Fachsimpeln mit Freunden über Filme und Musik, aber auch das Verarbeiten des Verlusts von geliebten Menschen.  
Wells schreibt über eine Zeit, in der das gesellschaftliche Leben in einer US-amerikanischen Kleinstadt vor einem fundamentalen Wandel steht. Die Fabriken, die einst für Arbeit und Wohlstand gesorgt haben, sind längst geschlossen, die Menschen weggezogen oder arbeitslos, Kinos und Kneipen stehen vor dem Aus. Zwar bemüht Wells typische Filme wie George Lucas‘ „American Graffiti“ und Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“, webt vertraute Acts wie Billy Idol, INXS, Simple Minds und a-ha in den Plot (die er zu einer Playlist für den „Hard Land“-Soundtrack auch auf den vertrauten Musik-Streaming-Diensten zur Verfügung stellt), aber wirken diese filmischen wie musikalischen Zitate eher wie Dekoration, um der Ära, in der die Geschichte spielt, ein passendes Ambiente zu verleihen. 
Als weitaus wirkungsvoller erweisen sich die Elemente, die der Autor eigenständig in die Geschichte einfließen lässt, nämlich die „49 Geheimnisse“ (die zufälligerweise auch in der Anzahl der Kapitel widergespiegelt werden) und der an Allegorien reiche Gedicht-Zyklus, der „Hard Land“ seinen Namen verdankt. In der wiederkehrenden Auseinandersetzung sowohl mit den allmählich entschlüsselten „Geheimnissen“ als auch mit dem Gedicht-Zyklus entwickelt sich der besondere Ton der Geschichte, die an sich wenig spektakulär ist, schließlich hat jeder Jugendliche mehr oder weniger schwierige Erfahrungen mit der ersten großen Liebe, Enttäuschungen und Verlusten zu machen, deren Bewältigung zum Erwachsenwerden dazugehören. 
„Hard Land“ präsentiert sich so als absolut typische Coming-of-Age-Geschichte ohne große Überraschungen, aber mit ein paar schönen Einfällen wie die Prüfungen, die Kirstie Sam zu seinem Geburtstag aufgibt.  
Wells‘ neuer Roman ist nicht der ganz große Wurf geworden, wie der Autor nach seinen vorangegangenen Werken wie „Fast genial“ und „Vom Ende der Einsamkeit“ hoffen ließ, aber es ist wenigstens eine ebenso vergnügliche, manchmal verzaubernde wie nachdenkliche Geschichte über das Erwachsenwerden.  

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 7) „Mittsommermord“

Montag, 22. Februar 2021

(Zsolnay, 603 S., HC) 
Am 22. Juni 1996 feiern drei junge Freunde an einem geheimen Ort im Naturreservat ihr ganz privates Mittsommerfest, wobei sie sich in die Zeit des Rokokopoeten Bellman hineinversetzen, sich entsprechend verkleiden und verschiedene Aufnahmen von „Fredmans Episteln“ hören. Allerdings kehren Astrid Hillström, Martin Boge und Lena Norman nicht nach Hause zurück. Stattdessen scheinen sich die drei jungen Leute unbemerkt auf eine spontane Europareise begeben zu haben, doch Eva Hillström glaubt nicht, dass die Postkarten aus Hamburg, Paris und Wien nicht von ihrer Tochter geschrieben worden seien. Als sie ihren Verdacht im Polizeipräsidium von Ystad zu Protokoll gibt, ist Kriminalkommissar Kurt Wallander gerade damit beschäftigt, das Haus seines vor zwei Jahren verstorbenen Vaters zu verkaufen und sich um seinen gerade diagnostizierten Diabetes zu kümmern. 
Als sein Kollege Svedberg erschossen in seiner Wohnung aufgefunden wird, wird bald ein Zusammenhang mit den drei Jugendlichen deutlich, die kurz darauf tot im Naturreservat bei Ystad gefunden werden. Offenbar hat Svedberg während seines Urlaubs auf eigene Faust das Verschwinden der Jugendlichen untersucht und wurde wahrscheinlich vom selben Täter erschossen wie die verkleideten Jugendlichen. Wallander muss während der Ermittlungen feststellen, dass er Svedberg nicht gut kannte, während der getötete Kollege Wallander offenbar als seinen besten Freund bezeichnet hatte. 
Das Motiv des Täters bleibt unklar. Weder Svedbergs nächsten Verwandten, seine Schwester Ylva Brink und sein Cousin Sture Björklund, noch der pensionierte Bankdirektor Bror Sundelius, mit dem Svedberg zusammen die Sterne betrachtete, bringen die Ermittlungen wesentlich voran. Zu denken gibt Wallander, dass Svedberg eine Frau namens Louise getroffen haben soll, die allerdings spurlos verschwunden bzw. unbekannt zu sein scheint. 
„Wallander war ratlos. Doch im Grunde genommen war er noch nicht wieder imstande zu denken. Das Geschehene lähmte ihn. Wer konnte drei Jugendliche töten, die sich verkleidet hatten, um zusammen Mittsommer zu feiern? Es war die grauenhafte Tat eines Wahnsinnigen. Und im Umfeld dieser Wahnsinnstat, entweder an ihrem Rand oder in der Nähe ihres Zentrums, hatte sich ein weiterer Mensch befunden, der jetzt ebenfalls tot war. 
Svedberg. Was hatte er damit zu tun? Auf welche Weise war er in die Sache verwickelt?“ (S. 193) 
Als dann noch ein Mädchen ermordet wird, das die drei getöteten Jugendlichen beim Mittsommerfest eigentlich begleiten sollte, wegen einer Magenverstimmung aber zuhause bleiben musste, dann noch ein frisch vermähltes Hochzeitspaar und ihr Fotograf am Strand erschossen werden, bekommen Wallander & Co. zunehmend das Gefühl, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, der das Glück anderer Leute schwer ertragen kann … 
Mit seinem siebten Band um den charismatischen, wenn auch übergewichtigen Kommissar Kurt Wallander hat der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell seinen bis dahin vielleicht besten Thriller abgeliefert. Das liegt vor allem an dem raffiniert konstruierten Plot, bei dem zwar schnell deutlich wird, dass der Mord an den drei Jugendlichen zum Mittsommerfest und die Ermordung von Wallanders Kollegen Svedberg irgendwie zusammenhängen, aber die Verbindung lässt sich lange Zeit nur erahnen und kristallisiert sich nur sukzessive durch einzelne Puzzlestücke heraus. 
Mankell nutzt die grausamen Taten einmal mehr dazu, seinen Protagonisten über die Verrohung der schwedischen Gesellschaft und die Budgetkürzungen bei der Polizei lamentieren zu lassen, doch die betrüblichen Umstände lassen Wallander letztlich doch wacker weiter seinen Dienst tun, um deutlich Flagge zu zeigen im Kampf gegen das Verbrechen. Privates bleibt im immerhin 600-seitigen Thriller weitgehend außen vor, im Mittelpunkt steht hier vor allem Wallanders Kampf gegen den Diabetes. Während Mankell ausführlich die schwierige Ermittlungsarbeit von Wallander und seiner Mannschaft beschreibt, rückt er gelegentlich auch die Perspektive des Täters in die Handlung ein, doch sind die polizeilichen Aktivitäten weit packender inszeniert und machen „Mittsommermord“ zu einem echten Pageturner.  

Wieland Schwanebeck – „James Bond. 100 Seiten“

Samstag, 20. Februar 2021

(Reclam, 102 S., Tb.) 
Seit Ian Fleming (1908-1964) nach seiner Karriere als Journalist und Wertpapierhändler 1953 damit begann, Romane und Kurzgeschichten um den britischen Geheimagenten James Bond zu verfassen, ist Bond seit dem ersten 007-Kino-Abenteuer „James Bond jagt Dr. No“ (1962) zu einem internationalen Markenzeichen avanciert, das vor allem die Sicht, wie ein echter Kerl zu sein hat, bis heute prägt. 
Bevor der 25. Bond-Film „Keine Zeit zu sterben“ verspätet in diesem Jahr in die Kinos kommt, ist der anglistische Kultur- und Literaturwissenschaftler Wieland Schwanebeck in dem bereits bewährten 100-Seiten-Format der entsprechenden Reclam-Reihe dem Phänomen „James Bond“ auf ebenso unterhaltsame wie tiefgründige Weise auf den Grund gegangen. 
Darin wird eingangs das Phänomen untersucht, wie James Bond als eine Art Übermensch jeden Versuch der Schurken, ihn ins Jenseits zu befördern, auf ebenso coole wie stilvolle Weise zu parieren vermag und dabei so ikonische Szenen prägt, als er beispielsweise in „Der Spion, der mich liebte“ (1977) auf Skiern mit einem Fallschirm einen Abhang hinunterrast und seinen verblüfften Verfolgern beim Sprung in den vermeintlich tödlichen Abgrund den Union Jack auf dem Fallschirm präsentiert. Natürlich gibt es viele weitere Themen in der über 60-jährigen Erfolgsgeschichte von James Bond, über die sich vortrefflich referieren lässt. 
Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, dass die Physik der Filme unwissenschaftlich sei, die oft exotischen Kulissen eigentlich zu schön sind, um wahr zu sein, und Bond immer genau die Gadgets von Q zur Verfügung gestellt werden, die er für seine Mission definitiv brauchen wird – ohne auch nur eines unbenutzt zurückgeben zu müssen. Der Autor umreißt kurz Flemings Werdegang und Persönlichkeit, dann den Beginn der Roman-Adaptionen für Film und Fernsehen, den weltweiten Siegeszug der Produktionen von Harry Saltzman und Albert R. Broccoli, die wichtige Mischung aus Vertrautem und Innovation und das bewährte Baukastenprinzip der Bond-Filme, bei denen stets Fragen nach den Schurken, der Hilfsmittel und Verkehrsmittel im Fokus stehen. 
Schwanebeck markiert die Bedeutungen, die die einzelnen Bond-Darsteller im 007-Universum einnehmen, erwähnt aber auch die Geschichten, die jenseits bewährter Konzepte erzählt werden: 
Diamantenfieber, in dem es James Bond mit schwulen Killern zu tun bekommt und sich durch eine Vielzahl enger, morastiger Löcher quetschen muss, ist eine Geschichte von Homophobie und männlichem Selbstzweifel; Goldfinger handelt von der Kluft zwischen reiner Schaulust und dem Wunsch anzufassen und mitzumachen; und Skyfall lässt sich auch ohne Diplom in Psychoanalyse als eine Geschichte über gestörte Eltern-Kind-Beziehungen lesen und über die Unmöglichkeit, nach Hause zurückzukehren.“ (S. 32) 
Schwanebeck weist natürlich auch auf den Zusammenhang zwischen dem britischen hegemonialen Anspruch, die Welt zu retten, und James Bonds auffallend üppigen sexuellen Appetit hin, womit sowohl Fleming als auch die Filmemacher auf den Bedeutungsverlust des britischen Empires reagiert haben. Das Verhältnis zwischen Bond, den Superschurken und vor allem zu den Bond-Girls nimmt ebenso ein eigenes Kapitel ein wie die offensichtliche Notwendigkeit, im Titel eines Bond-Films auf Tod, Sterben und die Endlichkeit des Daseins hinzuweisen. 
Verschiedene Übersichten, vereinzelte Schwarz-Weiß-Illustrationen und Literaturtipps runden das kleine, aber höchst aufschlussreiche Bändchen ab, das sich auch für Fans lohnt, die bereits alles über ihren Lieblings-Superhelden zu wissen glauben.  

Stephen King – „Brennen muss Salem“

Samstag, 13. Februar 2021

(Zsolnay, 480 S., HC) 

Der erfolgreiche Schriftsteller Ben Mears kehrt nach 25 Jahren wieder in seine Heimatstadt Jerusalem’s Lot, eine Kleinstadt östlich von Cumberland und zwanzig Meilen nördlich von Portland, zurück, die 1970 bei einer Volkzählung 1319 Einwohner zählte und oft nur kurz Salem’s Lot oder sogar nur The Lot genannt wird. Mears, der seine Frau Miranda bei einem Motorradunfall verloren hatte, ist vor allem von dem Marsten-Haus fasziniert. Seit der ehemalige Besitzer Hubert Marsten dort erst seine Frau und dann sich selbst ermordete, gilt es als Spukhaus, das Mears im Rahmen einer Mutprobe betreten hatte, wobei er glaubte, Hubert Marsten lebend am Strick baumelnd gesehen zu haben. 
Als Mears nun das Marsten-Haus mieten will, um sich seinen Ängsten zu stellen und seine Erfahrungen mit dem Haus in seinem neuen Roman zu verarbeiten, muss er überrascht feststellen, dass das seit Jahren leerstehende und heruntergekommene Haus bereits verkauft ist – an die beiden Antiquitätenhändler Kurt Barlow und Richard Straker, die in der Stadt ein Geschäft eröffnen wollen. Also mietet sich der Schriftsteller in der Pension von Eva Miller ein und lernt bald die hübsche Susan Norton kennen, die im Park seinen zweiten Roman „Lufttanz“ in der Hand hält. 
Obwohl Susan eigentlich noch mit Floyd Tibbets liiert ist, beginnt sie eine Affäre mit dem Schriftsteller, der aber nicht viel Zeit bekommt, sich dem Mädchen gebührend zu widmen, denn schon bald wird Salem’s Lot von einer Reihe erschreckender Ereignisse heimgesucht. Erst wird ein Hund aufgespießt am Friedhofszaun aufgefunden, dann verschwindet der Junge Ralphie Glick, nachdem er mit seinem Bruder Danny ihren Freund Mark Petrie besuchen wollte. Danny kommt zwar nach Hause, kann sich aber an nichts erinnern und wird wenig später ins Krankenhaus eingeliefert, wo er an Blutarmut stirbt. Als der Totengräber mit Bisswunden am Hals aufgefunden wird, sehen sich Ben Mears, der Englischlehrer Matt Burke, der Priester Callahan und Doc Cody in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Salem’s Lot wurde von Vampiren heimgesucht, die getötet werden müssen, bevor sie die Stadt ausgerottet haben … 
„Und dann war es Nacht, und die Stadt war verschwunden, aber das Feuer loderte immer noch in der Finsternis, durchlief faszinierende, kaleidoskopartige Formen, bis es ein Gesicht aus Blut zu zeichnen schien – ein Gesicht mit einer Adlernase, tiefliegenden, glühenden Augen, vollen und sinnlichen Lippen, die zum Teil von einem dichten Schnurrbart verborgen wurden, und Haaren, die wie bei einem Musiker nach hinten gekämmt waren.“ (S. 418) 
Obwohl „Brennen muss Salem“ nach „Carrie“ der zweite, 1975 veröffentlichte Roman von Stephen King gewesen ist, muss er eigentlich als sein Debüt betrachtet werden, wurde der Vampir-Roman doch vor „Carrie“ fertiggestellt und basiert auf den Ereignissen im 19. Jahrhundert, die King in seiner Kurzgeschichte „Briefe aus Jerusalem“ (veröffentlicht in der Stephen-King-Kurzgeschichten-Sammlung „Nachtschicht“) thematisiert hatte. Dabei sind vor allem die Bezüge zu Bram Stokers klassischem Vampir-Drama „Dracula“ unübersehbar. King erweist sich bereits in diesem frühen Werk als Meister des subtilen Horrors, der sich fast unbemerkt in den Alltag ganz gewöhnlicher Menschen schleicht. 
Der Autor nimmt sich nahezu 100 Seiten Zeit, um die Ankunft des Schriftstellers in Jerusalem’s Lot und die Stadt mit ihren Einrichtungen und Bewohnern zu beschreiben, so dass sich der Leser leicht mit den sorgfältig beschriebenen Figuren identifizieren kann. Die kurze Liebschaft zwischen Ben Mears und Susan Norton ähnelt sehr der zwischen Jonathan Harker und seiner Verlobten Lucy Westenra. Beide Frauen müssen von ihren Geliebten gepfählt werden, um dem Dasein als untote Vampire zu entgehen. Und auch die beiden Vampire Richard Straker und Kurt Barlow verweisen namentlich bzw. dem Aussehen nach auf die Hauptfiguren in Bram Stokers Roman, nur dass King das Geschehen von Transsylvanien nach Maine und ins 20. Jahrhundert verlegt hat. Neben der spannenden Geschichte, die später u.a. von Tobe Hooper 1979 mit James Mason in der Hauptrolle verfilmt worden ist, überzeugen vor allem die fein gezeichneten Figuren und die gekonnte Dramaturgie des Untergangs einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt durch Vampire.  

Michael Connelly – (Harry Bosch: 11) „Vergessene Stimmen“

Freitag, 5. Februar 2021

(Heyne, 478 S., HC) 
Nachdem Detective Hieronymus „Harry“ Bosch vor drei Jahren frustriert den Dienst beim Los Angeles Police Department quittiert hatte, bekommt er erstmal seit seiner Abschlussfeier an der Polizeiakademie im Jahr 1972 einen Zwei-Sechser, einen dringenden Anruf aus dem Büro des Polizeichefs im Parker Center. Seine ehemalige Partnerin Kizmin „Kiz“ Rider hatte sich dafür eingesetzt, Bosch wieder zu reaktivieren und mit ihm zusammen in der neu gegründeten Abteilung Offen-Ungelöst ungeklärte Kapitalverbrechen wieder aufzurollen. 
Ihr erster gemeinsamer Fall führt sie ins Jahr 1988 zurück, als die 16-jährige Rebecca Lost in der Nähe ihres Elternhauses tot aufgefunden wurde, die neben ihr liegende Pistole sollte offensichtlich auf einen Selbstmord verweisen, von dem die damals ermittelnden Detectives Garcia und Green auch zunächst ausgegangen waren. Durch die neu entwickelte Methode der DNS-Analyse konnte mittlerweile ein Hautfetzen am Verschlussstück der Waffe dem Kleinkriminellen Roland Mackey zugeordnet werden, dem allerdings bislang keine Gewaltverbrechen angelastet werden konnten. 
Obwohl Bosch Mackey nicht für den Täter hält und auch keine Verbindung zwischen ihm und dem Opfer herstellen kann, hängt er sich mit seiner Partnerin in den Fall rein, lässt Mackey observieren und findet einen Zusammenhang zum rassistischen Milieu. Doch nicht nur das: Offensichtlich war Boschs Erzfeind, der damalige Polizeichef Irvin Irving, darin verwickelt, die Ermittlungen von Green und Garcia in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dass Bosch Irving gleich an seinem ersten Diensttag in der Cafeteria über den Weg läuft, hält er nicht für einen Zufall. Rider und Bosch machen sich an die mühsame Arbeit, die damals ermittelnden Beamten, Rebeccas durch den Todesfall geschiedenen Eltern, alte Freundinnen und Freunde sowie Lehrer zu befragen, doch ergeben sich keine weiteren Erkenntnisse, die Mackey als Täter entlarven, zumal er über ein Alibi für die Tatnacht verfügt. 
Durch eine Titelstory über die neuen Ermittlungen zu Rebeccas Ermordung in der Zeitung, in der zwar der DNS-Beweis, aber nicht Mackeys Namen erwähnt wird, erhoffen sich die Detectives, dass der Täter aufgescheucht wird, doch dann nehmen die Dinge einen ganz unerwarteten Lauf, wobei Bosch wieder auf Irving stößt … 
„Die Public Disorder Unit. Eine dubiose Downtown-Einheit, die Daten und Geheiminformationen über Verschwörungen sammelte, aber wenig Fälle vor Gericht brachte. 1988 müsste die PDU dem damaligen Commander Irvin Irving unterstanden haben. Inzwischen gab es die Einheit nicht mehr. Als Irving zum Deputy Chief befördert wurde, löste er die PDU sofort auf, wobei viele bei der Polizei glaubten, das habe in erster Linie dem Zweck gedient, ihre Machenschaften zu vertuschen und sich von ihnen zu distanzieren.“ (S. 186) 
Harry Bosch ist wieder da, wo er hingehört, um an vorderster Front beim LAPD Mordfälle aufzuklären. Nachdem er sich einige Jahre als Privatermittler (in „Letzte Warnung“ und „Die Rückkehr des Poeten“) durchgeschlagen und sich auch um private Belange wie der schwierigen Beziehung zu seiner Ex-Frau Eleanor Wish kümmern konnte, rollt er nun mit seiner ehemaligen Partnerin Kiz Rider ungelöste Mordfälle auf, wobei der vermeintlich leichte erste Fall kaum überraschend dazu führt, dass sich Bosch und sein früherer Chef Irving wieder in die Quere kommen. 
Michael Connelly beweist mit „Vergessene Stimmen“, dem mittlerweile elften Fall von Harry Bosch, einmal mehr, warum er zu den absolut besten Autoren im Genre des Kriminal-Thrillers zählt. Souverän gelingt es dem ehemaligen Polizeireporter, die Ermittlungen seines charismatischen Protagonisten sehr kleinschrittig und detailliert zu beschreiben, ohne den Leser zu langweilen. 
Stattdessen fühlt sich der Leser als direkter Beobachter der Ermittlungen, die sukzessive eine feine Spannung aufbauen. Boschs Privatleben steht diesmal nahezu vollständig außen vor. Außer der kurzen Erwähnung, dass seine Ex-Frau einen Job in Hongkong angenommen und ihre gemeinsame sechsjährige Tochter mitgenommen hat, und ein One-Night-Stand mit einer früheren Kollegin gibt es an dieser Front nichts zu vermelden. Stattdessen bringt Connelly sehr schön zum Ausdruck, wie Bosch für den neuen Fall brennt, wie der Cop aus Leidenschaft die titelgebenden „vergessenen Stimmen“ der Toten nicht verstummen lassen und für Gerechtigkeit und Aufklärung sorgen will. 
Dass der Fall am Rand auch die rassistische Thematik aufgreift, verleiht der Story noch einen gesellschaftskritischen Touch. Und das Finale weist ein Tempo und Wendungen auf, die die zähe Ermittlungsarbeit endlich belohnt und die Leserschaft gespannt auf die nächsten Bosch-Fälle warten lässt.


Jo Nesbø – (Harry Hole: 2) „Kakerlaken“

Sonntag, 31. Januar 2021

(Ullstein, 410 S., Tb.) 
Als Atle Molne, der norwegische Botschafter in Thailand, mit einem Messer im Rücken auf dem Bett eines eher zwielichtigen Etablissements in Bangkok aufgefunden wird, soll Bjarne Møller, Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen in Oslo, auf Anweisung der Polizeipräsidentin einen seiner besten Männer zur Begleitung der Untersuchung nach Bangkok entsenden. Wie Møller durch den Staatssekretär Askildsen und Verwaltungschef Torhus vom Auswärtigen Amt erfährt, hatte Molne nicht die nötigen Qualifikationen für den Job, dafür aber die wohlwollende Unterstützung des Ministerpräsidenten, der natürlich wenig erbaut wäre, sollte öffentlich werden, dass der verheiratete Molne in einem Bordell zu Tode gekommen ist. 
Auf der Suche nach einem geeigneten Beamten, der bereits viel Erfahrung mit internationaler Polizeiarbeit hat und auf gewisse Erfolge zurückblicken kann, kommt Møller auf Vorschlag der Polizeipräsidentin schließlich auf den 35-jährigen Kommissar Harry Hole, der vor einem Jahr in Australien wertvolle Dienste geleistet hatte. Hole ist wenig begeistert von diesem Auftrag. Seit der Vergewaltigung seiner Schwester Søs hängt Hole an der Flasche, doch das reicht offenbar nicht, um den Job zu verweigern. In Bangkok arbeitet Hole mit der glatzköpfigen Amerikanerin Liz Crumley, Hauptkommissarin beim Morddezernat, zusammen. 
Bei der Besichtigung des Tatorts und des vor dem Motel parkenden Autos des Botschafters entdecken sie Wettscheine, Ampullen für flüssiges Ecstasy und einen verschlossenen Koffer, in dem die Beamten später Fotos finden, die den Botschafter als Pädophilen entlarvten. Bei den weiteren Ermittlungen stößt Hole auf den Banker Jens Brakke und den schwerreichen Bauunternehmer Ove Klipra, der Molnes Geldsorgen gelindert haben könnte. Brakke, der eine Affäre mit der schwerkranken Frau des Botschafters unterhält, kommt in Untersuchungshaft, doch ist Hole alles andere als von dessen Schuld überzeugt. Für die norwegischen Behörden ist der Fall abgeschlossen, Hole soll wieder zurück in die Heimat beordert werden. Doch Hole will die Sache zu einem befriedigenden Ende bringen und begibt sich bei seinen weiteren Nachforschungen in Lebensgefahr … 
„Waren ihm all die Zeitungsartikel und das Schulterklopfen, das er nach seiner Rückkehr aus Australien eingeheimst hatte, wirklich so egal, wie er geglaubt hatte? War die Idee, alles und jeden zu missachten, um sich möglichst bald wieder der Søs-Sache zu widmen, bloß ein Vorwand? Weil es ihm so verflucht wichtig geworden war, Erfolg zu haben?“ (S. 196) 
Nachdem der Norweger Jo Nesbø mit „Der Fledermausmann“ ein beachtliches Debüt und den Startschuss für die bis heute erfolgreiche Reihe um Polizeikommissar Harry Hole abgeliefert hatte, lässt er seinen charismatischen Protagonisten in „Kakerlaken“ diesmal im Land des Lächelns ermitteln. Während seine Vorgesetzten davon ausgehen, dass Hole wenig Wirbel um die Ermordung des norwegischen Botschafters machen und den Fall schnell abhaken würde, erweist sich der norwegische Kommissar doch als hartnäckiger und gewissenhafter, als es die politische Führung in seiner Heimat erwartet hat. Hole gerät in ein immer komplexeres Geflecht aus Korruption, Gier, sexuellen Perversitäten und geschickt inszenierten Intrigen. 
Nesbø bleibt dabei eher an den Ermittlungen des ermordeten Botschafters als an der Persönlichkeit seiner Hauptfigur. Da erfahren wir nur von den Alkoholproblemen, der Vergewaltigung seiner Schwester, für die Hole noch niemanden zur Rechenschaft ziehen konnte, und seinem Ehrgeiz, den Fall in Bangkok um jeden Preis zu lösen. Vor allem im Finale erweist sich Nesbø als raffinierter Krimi-Autor. Wie er seinen Harry Hole die einzelnen Fäden entwirren und den komplexen Fall letztlich lösen lässt, ist einfach packend geschrieben und macht neugierig auf die nachfolgenden Harry-Hole-Abenteuer, in denen es dann hoffentlich auch wieder persönlicher wird.


John Irving – „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“

Sonntag, 24. Januar 2021

(Diogenes, 487 S., Tb.) 
Fred „Bogus“ Trumper leidet unter unspezifischen Problemen beim Wasserlassen. Nachdem ihm sein Vater, der Urologe ist, nicht weiterhelfen konnte, wendet sich Trumper in New York an den Franzosen Dr. Jean-Claude Vigneron, der seinem Patienten letztlich zwei Optionen anbietet, die seinem Leiden mit dem ungewöhnlich schmalen Urogenitaltrakt Abhilfe verschaffen könnten: eine Operation oder die Wassermethode, die vor allem darin besteht, vor und nach dem Geschlechtsverkehr viel Wasser zu trinken. Da Trumper sich nicht auf eine 48-stündige Schmerzphase nach einer Operation einlassen will, entscheidet er sich für die Wassermethode. 
Neben diesem gesundheitlichen Problem muss sich Trumper aber mit ganz existentiellen Nöten herumschlagen, nämlich seiner Doktorarbeit. Der Student der Sprachen an der University of Iowa plant, mit seiner Dissertation eine Übersetzung des Epos „Akthelt und Gunnel“ aus dem Altniedernordischen vorzulegen. Für einen Studienaufenthalt zieht es Trumper nach Österreich, wo er in Kaprun die erfolgreiche Skiläuferin Sue „Biggie“ Kunft kennenlernt. 
Als Biggie von Trumper schwanger wird und mit ihm nach Amerika zurückkehrt, streicht ihm sein Vater seine monetären Zuwendungen, so dass Trumper gezwungen ist, Aushilfsjobs wie das Verkaufen von Wimpeln in Sportstadien auszuüben. Die Beziehung zu Biggie geht in die Brüche, Trumper zieht es wieder nach Österreich, wo er seinen alten Freund Merrill Overturf besuchen will. Zwar findet er seinen Freund nicht, wird dafür aber in eine Drogengeschichte verwickelt. 
Die Rückkehr nach New York gelingt auf abenteuerliche Weise. Mit dem Drogengeld, das Trumper unerklärlicherweise zugesteckt bekommen hat, leistet er sich eine Taxifahrt nach Maine, wo Trumper seinen alten Freund Couth besuchen will. Dabei stellt er fest, dass Biggie und ihr gemeinsamer Sohn Colm bei Couth leben. Enttäuscht kehrt Trumper nach New York zurück. Ralph Tucker, für den Trumper schon früher als Tontechniker gearbeitet hat, will einen Dokumentarfilm über Trumper drehen und ihn „Der Griff in die Scheiße“ nennen. Bei den Dreharbeiten gerät auch Trumpers Beziehung zu seiner Freundin Tulpen ins Trudeln … 
„Er hatte Lust, nach Maine zu gehen, sich das neue Baby anzusehen und seine Zeit mit Colm zu verbringen. Er wusste, dort war er eine Zeitlang ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bleiben konnte. Er hatte auch Lust, nach New York zu gehen und Tulpen zu besuchen, aber er wusste nicht, wie er ihr entgegentreten sollte. Er stellte sich eine Art Rückkehr vor, die ihm gut gefallen würde: triumphierend, wie ein geheilter Krebskranker. Aber er war sich nicht klar, welche Krankheit er bei seinem Weggang gehabt hatte, und so konnte er auch schwerlich wissen, ob er nun geheilt war.“ (S. 456) 
Mit seinem zweiten, 1972 veröffentlichten Roman, erzählt John Irving („Das Hotel New Hampshire“, „Owen Meany“) die Geschichte eines Mannes, der nie wirklich etwas zu Ende gebracht hatte, der als Ringer schon kurz vor dem Triumph stand und dann doch noch seinen Kampf verlor; der vor den Frauen flüchtet, sobald sie ihm nur die leiseste Ahnung vermitteln, dass sie fremdgehen könnten; der sich letztlich ein Dissertationsthema aussucht, das ebenso uninteressant wie schwierig zu bewältigen ist. Als Leser fällt es einem schwer, Sympathien für diesen wankelmütigen Hallodri namens Fred „Bogus“ Trumper zu entwickeln. Bereits seine Einführung mit dem Problem seines verengten Urogenitaltrakt taugt nicht dazu, eine persönliche Bindung zu dem Protagonisten aufzubauen, der mal als Ich-Erzähler auftritt, dann als zu beobachtendes Objekt in der dritten Person oder auch als Rolle in einem Drehbuch. So munter wie Irving zwischen den Erzählperspektiven hin- und herspringt, so wechselt er auch die Zeitebenen, was es schwierig macht, der Geschichte zu folgen. Dazu lässt der US-Amerikaner immer wieder ausgiebige Zusammenfassungen der (fiktiven) altniedernordischen Saga in den Plot einfließen, die das Lesevergnügen weiter schmälern, was umso schmerzlicher ist, als dass Irving ein wirklich einfallsreicher, sprachlich versierter und witziger Autor mit einem Gespür für seine ungewöhnlichen Figuren ist.


James Patterson – (Women’s Murder Club: 9) „Das 9. Urteil“

Dienstag, 19. Januar 2021

(Limes, 350 S, HC) 
Um sich mit ihrer heimlichen Geliebten Heidi ein neues Leben aufbauen zu können, ist die Highschool-Lehrerin Sarah Wells unter die Juwelendiebe gegangen. Sie bricht dabei so erfolgreich in die Häuser bestens situierter Menschen ein, während diese im Erdgeschoss Partys veranstalten oder ihr Abendessen einnehmen, dass sie bereits von der Presse den Spitznamen „Hello Kitty“ verpasst bekommen hat. Als sie allerdings in das Haus der bekannten Hollywood-Schauspielers Marcus Dowling und seiner Frau Casey eindringt, kommt das Ehepaar allerdings früher ins Schlafzimmer zurück als erwartet, und Sarah muss sich im Kleiderschrank verstecken, wo sie zunächst einen Streit, dann den Versöhnungssex hörte, um dann endlich aus dem Fenster zu klettern, nachdem sie die regelmäßigen Atemgeräusche der Schlafenden wahrgenommen hatte. 
Obwohl sie dabei ein Wandtischchen umwirft und Casey dadurch aufweckt, gelingt Sarah die Flucht. Doch dann erfährt sie aus den Nachrichten, dass Casey erschossen wurde und sie selbst als Tatverdächtige gilt. Detective Lindsay Boxer und ihr Partner Rich Conklin übernehmen die Ermittlungen in diesem Raubmord übernehmen, haben es aber vor allem mit einer viel brutaleren Mordserie zu tun. Ein Mann, der in Parkhäusern belebter Shopping Malls junge Mütter und ihre Kinder tötet, hinterlässt jeweils das mit dem Lippenstift seiner Opfer geschriebene Kürzel FKZ in verschiedenen Kombinationen an den Tatorten. So bekommt Lindsay kaum Zeit, um die glückliche Beziehung mit Joe zu genießen, aber auch ihre Freundinnen, die Staatsanwältin Yuki Castellano, die Reporterin Cindy Thomas und die Pathologin Claire Washburn, bekommt sie kaum zu sehen. Schließlich wendet sich der Lippenstift-Mörder direkt an die Öffentlichkeit, verlangt zwei Millionen Dollar und bringt Lindsay als Überbringerin des Geldes in eine gefährliche Situation … 
„Ich gebe es zu. Für einen irrationalen Augenblick lang zuckte die Wut in mir auf. Das eigene Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, woran man glaubt, das ist eine Sache. Aber von einem Killer als Roboter benutzt zu werden, als Opfer bei einer Aktion, die man selbst für falsch, ja, für Wahnsinn hält … das ist etwas ganz anderes.“ (S. 201) 
Die Thriller-Serien, die James Patterson um den Polizeipsychologen Alex Cross und um den Club der Ermittlerinnen entwickelt hat, sind regelmäßig auf den vorderen Plätzen der internationalen Bestseller-Listen zu finden. Das bedeutet allerdings nicht, dass Patterson mit seinen Co-Autoren stets hochklassigen Lesestoff abliefert. „Das 9. Urteil“ – das Patterson wie seit dem 4. Band der Reihe um den Women’s Murder Club mit Maxine Paetro verfasst hat – baut vor allem auf rasante Action, die in meist zwei- bis dreiseitigen Kapiteln in großer Schrift abgehandelt wird. 
Dass bei zwei Fällen, die natürlich wieder miteinander zusammenhängen und jeweils Seriencharakter besitzen, auf 350 Seiten kaum Raum für die Schilderung detaillierter Ermittlungsarbeit noch feine Figurenzeichnung bleibt, dürfte jedem Leser bewusst sein. Ärgerlich wird es nur, wenn beide hier präsentierten Fallserien so unglaubwürdig in Motivation und Ausführung wirken. Eine verheiratete Highschool-Lehrerin wird auf einmal zu einer raffinierten Juwelendiebin, die in an sich hochgesicherte Privatanwesen eindringt und stets unentdeckt entkommt? Ein Kriegsveteran ist so traumatisiert, dass er Frauen und ihre Kinder umbringt? Allein diese Prämissen machen „Das 9. Urteil“ zu einem äußerst faden Ritt durch einen allein auf Action getrimmten Plot, dessen durchweg fehlende Glaubwürdigkeit durch immer neue abstruse Entwicklungen und Zusammenhänge getoppt wird. 
Kein Wunder, dass „Das 9. Urteil“ das vorletzte Buch der Reihe ist, das hierzulande in der Erstausgabe als Hardcover erschienen ist, ab Fall 11 nur noch als Paperback. 

Dan Simmons – „Das leere Gesicht“

Samstag, 16. Januar 2021

(Heyne, 350 S., Tb.) 
Der Mathematiker Jeremy Bremen verfügt über die seltene Gabe der Telepathie, die er glücklicherweise mit seiner Frau Gail teilt. Die intensive Art, wie sie einander Gedanken und Gefühle teilen, verbindet sie auf fast symbiotische Weise. Allein Gail ist auch in der Lage, mit den von ihr aufgebauten Gedankenschirmen für ihren Mann eine Art Schutzwall vor den unzähligen Gedankenströmen fremder Personen zu errichten, so dass er sich besser auf seine Arbeit konzentrieren kann. Als sie jedoch nach schwerer Krankheit stirbt und Bremen den Schutz durch seine Frau gegen das sogenannte Neurobrabbeln verliert, versinkt Bremen in eine tiefe Depression. 
Er lässt sich von der mathematischen Fakultät in Haverford freistellen, zündet das gemeinsame Haus an und begibt sich auf eine abenteuerliche Odyssee, bei der vor allem mit den fürchterlichen Gedanken und Begierden von Gewalt, Misstrauen, Hass, Neid und Gier in den Gedankenströmen der Menschen konfrontiert wird. Als Bremen in Miami in einer Fischerhütte strandet, beobachtet er, wie der Mafioso Vanni Fucci eine Leiche im Fluss entsorgt. Fucci bringt Bremen in seine Gewalt und will ihn als Zeugen von seinen Kollegen töten lassen, doch gelingt es dem Chaosforscher, in Disney World seinem Peiniger zu entkommen und mit dem Bus weiter nach Denver zu reisen. Dort wird er aber nach seiner Ankunft beraubt und krankenhausreif geschlagen. 
Mit Hilfe eines freundlichen Obdachlosen namens Soul Dad flieht er in einem geklauten 79er Pontiac, nachdem er den Vergewaltiger eines Mädchens fast zu Tode geprügelt hatte. Bremen landet schließlich auf der Farm von Miz Morgan, die ihn als Farmarbeiter anheuert, aber letztlich nur daran interessiert ist, Bremen mit ihrem Metallgebiss zu töten und in das Kühlhaus zu den anderen Leichen zu hängen. Erst als er nach Las Vegas flüchten kann und Dank seiner telepathischen Kräfte beim Pokern satte Gewinne einstreicht, scheint sich das Blatt für Bremen zu wenden. Doch in einem der Casinos erkennt Vanni Fucci den Zeugen aus Miami wieder und unternimmt einen zweiten Anlauf, Bremen unter die Erde zu bringen. Wieder einmal wird Bremen den schrecklich primitiven Gedanken menschlicher Wesen ausgesetzt … 
„Die meisten brutalen Menschen, die Bremen mit seinem Geist berührte, waren dumm – viele erstaunlich dumm, viele unterstützten ihre Dummheit durch Drogen -, aber der Dunstkreis ihrer Gedanken und Gedächtniszentren war nichts im Vergleich mit der blutwitternden Klarheit des Jetzt, der Unmittelbarkeit dieser Sekunden der Gewalt, die sie suchten und genossen, die das Herz schneller schlagen ließen und Erektionen bescherten. Die Erinnerungen an solche Taten waren weniger in den Köpfen als vielmehr in den Händen und Muskeln und Lenden gespeichert. Gewalt bestätigte. Sie schuf einen Ausgleich für die vielen banalen Stunden des Wartens, der Beleidigung und Untätigkeit, die Stunden vor dem Fernseher, wohl wissend, dass man keines der strahlenden Wunder besitzen konnte, die dort vorgeführt wurden …“ (S. 136f.) 
Nachdem sich Dan Simmons mit „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ als preisgekrönter Horror-Autor etabliert hatte, der mit dem zweibändigen Epos um „Hyperion“ auch die Science-Fiction erfolgreich erobern konnte, legte er 1992 mit dem Roman „The Hollow Man“, der zwei Jahre darauf bei Heyne in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das leere Gesicht“ veröffentlicht wurde, ein weitaus schwerer zugängliches Werk vor. Das betrifft nicht nur den ungewöhnlichen Aufbau des Romans, der mit dem Sterben von Bremens Frau Gail beginnt und von der Schilderung von Erinnerungen sowie ungewöhnlichen Erzählperspektiven geprägt wird, sondern auch den sehr ausführlich dargelegten wissenschaftlichen Hintergrund, der Bremens Forschung betrifft. Eine besondere Rolle nimmt dabei die schicksalhafte Begegnung mit dem Neuroforscher Jacob Goldmann ein, dessen Arbeit sich wunderbar mit Bremens eigener Forschung zum menschlichen Gedächtnis als sich fortpflanzende Wellenfront ergänzt. 
Simmons lässt Bremen und Goldmann endlos lange über die Probleme der Quantenmechanik, Parallelwelten, Kartographie des menschlichen Bewusstseins und Wahrscheinlichkeitswellen diskutieren, was den Fluss der Handlung nicht nur ausbremst, sondern in seiner Detailverliebtheit auch nicht unbedingt zum Verständnis der Geschichte nötig ist. So präsentiert sich „Das leere Gesicht“ als extrem heterogenes, höchst komplexes Werk, das sich als Road Trip mit Elementen aus Horror, Fantasy und Science-Fiction erweist, sich aber auch mit grundlegenden spirituellen und philosophischen Fragen beschäftigt. 
Zum Ende hin gewinnt die Handlung an Tempo und Spannung, schließt auch einzelne Handlungsfäden und Überlegungen zusammen, doch erreicht „Das leere Gesicht“ letztlich nicht die bestechende Qualität früherer Simmons-Werke.


Michael Connelly – (Harry Bosch: 9) „Letzte Warnung“

Montag, 11. Januar 2021

(Heyne, 416 S., Tb.) 
Seit Harry Bosch seinen Job beim Los Angeles Police Department hingeschmissen hatte, hat er sich wie die meisten anderen ehemaliger Polizei-Kollegen routinemäßig eine Lizenz als Privatdetektiv zugelegt und ermittelt nun auf eigene Faust, aber ohne offiziellen Status. Dabei widmet er sich einem Fall, der ihn schon vor vier Jahren beschäftigt hat, aber nie abgeschlossen wurde. Damals wurde die 24-jährige Hollywood-Produktionsassistentin Angella Benton vor ihrem Apartmenthaus tot aufgefunden. Sie arbeitete für Alexander Taylors Firma Eidolon Productions, die zu jener Zeit einen Film produzierte, der wegen eines bewaffneten Überfalls ebenfalls für Schlagzeilen sorgte: Da der Regisseur des Films darauf bestand, mit echtem Geld beim Dreh zu arbeiten, ließ er sich von BankLA zwei Millionen Dollar bringen, doch bei der Übergabe erbeuteten Gangster das teilweise registrierte Geld. 
Bosch war zu der Zeit wegen der Ermittlung im Fall der erwürgten Angella Benton am Tatort und konnte einen der Täter niederstrecken, das Geld blieb allerdings verschwunden – bis einer der registrierten Scheine bei einem mutmaßlichen Terrorverdächtigen sichergestellt wurde. Das rief die noch junge ,Rapid Response Enforcement and Counter Terrorism‘-Einheit auf den Plan, so dass der Polizei der Fall entzogen wurde. 
Dabei mussten schon Bosch und seine beiden Kollegen von der Hollywood Division, Kiz Rider und Jerry Edgar, zuvor den Fall bereits an die Robbery-Homicide-Division abgeben. Kaum hatten Jack Dorsey und Lawton Cross den Fall übernommen, wurden sie bei einem Raubüberfall in einer Bar ins Visier genommen. Dorsey erlag noch am Tatort seinen Verletzungen, Cross ist seitdem querschnittsgelähmt an den Rollstuhl gefesselt und wird von seiner Frau gepflegt. Harry Bosch lässt vor allem das Bild der getöteten Produktionsassistentin mit ihrem entblößten Körper, dem absichtlich platzierten Sperma und der wie flehend wirkenden Geste ihrer Hände nicht los. 
Eine weitere Spur seiner Ermittlungen führt zu der nach wie vor vermissten FBI-Agentin Martha Gessler, die ein Computer-Programm entwickelt hatte, um registrierte Geldscheine zu dokumentieren, bis sie in einem anderen Zusammenhang wieder auftauchten. Bosch muss sich zunächst auf die langsam zurückkehrenden Erinnerungen des damals ermittelnden Beamten Lawton Cross verlassen, da sowohl die Polizei als auch das FBI Bosch drängen, die Finger von der Sache zu lassen. Aber Bosch wäre nicht Bosch, wenn er sich durch solche Drohungen einschüchtern lassen würde. Schließlich kommt er auf einen Verdächtigen, den bislang niemand so recht auf dem Zettel hatte … 
„Ich hatte das Gefühl, dass Bewegung in die Sache kam, und das machte mich ganz kribbelig, denn instinktiv wusste ich, dass ich der Lösung des Rätsels ganz dicht auf der Spur war. Ich hatte zwar nicht alle Antworten, aber aus Erfahrung wusste ich, sie würden sich irgendwann von selbst ergeben. Was ich allerdings hatte, war die Richtung. Es war mehr als vier Jahre her, dass ich auf Angella Bentons Leiche hinabgeblickt hatte, und endlich hatte ich einen richtigen Verdächtigen.“ (S. 329) 
In seinem neuen Dasein als Privatdetektiv merkt Hieronymus „Harry“ Bosch sehr schnell, wie schwierig sich die Ermittlungen gestalten, wenn man bei Befragungen von Zeugen und Beamten anderer Dienststellen nicht mit seinem Abzeichen und Dienstausweis die entsprechende Befugnis bezeugen kann. Doch in seiner langjährigen Karriere als Detective beim LAPD hat Bosch eine Hartnäckigkeit entwickelt, die ihm auch bei dem noch unaufgeklärten Mord an einer jungen Filmproduktionsassistentin dienlich ist. 
Zwar legt sich Bosch nicht nur mit seinen ehemaligen Kollegen beim LAPD, sondern vor allem mit dem FBI an, doch kommt er nach und nach verschiedenen Umständen auf die Spur, die den Mord an Angella Benton mit den Raubüberfällen am Set und in der Bar sowie dem Verschwinden der FBI-Agentin Marty Gessler in Verbindung bringen. Dabei gerät Bosch sogar ins Visier der Täter und kann am Ende von Glück sagen, dass er lebend aus seinem Haus in Hollywood gekommen ist. 
Aber auch seine geschiedene Frau Eleonor, die mit offensichtlich großem Erfolg in Las Vegas professionell pokert, lässt Bosch nicht los. Michael Connellys neunter Band um Harry Bosch zählt zu den besten der langlebigen Thriller-Reihe, die ebenso erfolgreich als Serie von Amazon produziert worden ist. 
„Letzte Warnung“ enthält nämlich alles, was einen guten Cop-Thriller ausmacht, vor allem einen faszinierenden Fall, der immer weitere Komponenten und Querverweise auf andere Fälle aufweist, so dass sich ein komplexes Gerüst an Verwicklungen ergibt, die Bosch mit ebenso viel Geduld wie Hartnäckigkeit zu entwirren versteht. Dabei bringt Connelly gut zum Ausdruck, was die nach 9/11 auf den Weg gebrachten Antiterrormaßnahmen nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für andere Strafverfolgungsmaßnahmen für Folgen hat. Neben dem absolut packenden Plot mit vielschichtigen Wendungen bringt Connelly auch Boschs Privatleben gut zum Ausdruck, was sich zum einen in dessen Vorliebe für guten Jazz und seine nach wie vor tiefen Gefühle für seine Ex-Frau widerspiegelt.


Håkan Nesser – (Van Veeteren: 5) „Der Kommissar und das Schweigen“

Donnerstag, 7. Januar 2021

(btb, 318 S., HC) 
In dem idyllischen Touristenort Sorbinowo ist Polizeichef Malijsen gerade in den Urlaub gegangen, als sein Vertreter, Polizeianwärter Merwin Kluuge, Mitte Juli einem anonymen Hinweis auf ein verschwundenes Mädchen aus dem Lager des Reinen Lebens in Waldingen nachgehen muss. Doch die Nachfragen bei dem Sektenführer Oscar Jellinek und seinen Helferinnen und den meist sehr jungen Mädchen ergeben nichts. Kluuge beschleicht allerdings das Gefühl, dass mehr an der Sache dran ist, und erhält Unterstützung von Kommissar Van Veeteren, der nicht nur kurz davor steht, seinen geplanten Urlaub auf Kreta anzutreten, sondern mal wieder mit dem Gedanken spielt, den Polizeidienst zu beenden und sich stattdessen auf eine Stellenanzeige eines Antiquariats zu bewerben. 
Kaum ist er in Sorbinowo eingetroffen, wird ein zweites Mädchen als vermisst gemeldet, dann beide vergewaltigt und erwürgt im Wald aufgefunden. Bevor Jellinek zu den beiden Morden befragt werden kann, verschwindet auch er. Den Polizisten gelingt es allerdings nicht, brauchbare Informationen von den im Lager verbliebenen Frauen und Mädchen zu erhalten, so dass Van Veeteren mit Jung und Reinhart, die er als Verstärkung kommen ließ, die Nachforschungen auf die Nachbarschaft ausdehnt. Doch auch hier machen die Ermittler kaum Fortschritte … 
„Also: insgesamt gesehen fühlte Van Veeteren sich nicht sehr viel schlauer, als er schließlich nach dem letzten Gespräch wieder ins befreiende Menschengewimmel tauchen durfte. Aber auch nicht sehr viel dümmer, und was lag da näher, als den ganzen Nachmittag einfach in Klammern zu setzen und ihn zu den Akten zu legen. Eine unter vielen.“ (S. 232) 
Van Veeteren will einfach nur weg, seinen zynischen Gedanken zu seiner Exfrau und seinem Beruf entfliehen, und so folgt er notgedrungen dem Hilferuf aus einem benachbarten Revier, mit dessen Leiter er Mitte der 1970er Jahre Bekanntschaft gemacht hat. Zunächst gibt es ja keinen wirklichen Fall, den Van Veeteren und der durchaus fähig erscheinende Polizeianwärter Kluuge da zu bearbeiten haben, aber als sich die unbestätigten Vermisstenanzeigen von anonymer Seite als abscheuliche Morde erweisen, kommt die immer größer werdende Ermittlertruppe überhaupt nicht weiter, weil alle möglichen Zeugen entweder ganz schweigen oder nur sehr wortkarg auf die Befragungen der Ermittler reagieren. 
Leider dümpelt der Plot deshalb auch eher nichtssagend vor sich hin. Van Veeteren paddelt mit dem Kanu durch die Gegend, probiert die fünf Möglichkeiten zu essen im Ort aus, unterhält sich mit dem Chefredakteur der Zeitung, der sich zudem als Cineast entpuppt. 
Als Krimi taugt Nessers fünfter Van-Veeteren-Fall nur bedingt. Die Ermittlung kommt eigentlich nie so recht in Gang, der einzig Verdächtige im Fall der beiden ermordeten Mädchen ist selbst verschwunden, und so gibt sich der berufsmüde Kommissar vor allem den anregenden Gesprächen und kulinarischen Genüssen mit dem Redakteur Przebuda hin. Selbst die sporadisch eingeführte Perspektive des zunächst namenlosen Täters verleiht dem Roman keine Tiefe. 
Wenn am Ende letztlich ein Schreibfehler - und damit laut Van Veeteren der Zufall - dabei hilft, den Täter zu identifizieren, passt das zu dem seltsam lustlos konstruierten Roman, der den beiden schrecklichen Morden, die es zunächst aufzuklären gilt, überhaupt nicht gerecht wird. Aber diese Agonie ist es wahrscheinlich auch, die Van Veeteren nach einer anderen Berufung Ausschau halten lässt. 

Dan Simmons – (Hyperion: 2) „Das Ende von Hyperion“

Sonntag, 3. Januar 2021

(Heyne, 636 S., Tb.) 
M. Joseph Severn, ein vom TechnoCore künstlich geschaffener Cybrid, wird von Meina Gladstone, der Präsidentin der Hegemonie, nach Esperance auf Tau Ceti Center eingeladen, um an der wohl wichtigsten Party im Netz teilzunehmen, die den offiziellen Beginn des Krieges zwischen der Hegemonie und den Ousters feiert. Innerhalb der illustren Runde, zu denen neben der Präsidentin auch der Verteidigungsminister, zwei Stabschefs von FORCE, vier Senatoren und die Projektion des TechnoCor-Ratgebers Albedo zählen, soll Severn die Perspektive des Künstlers einbringen. Er ist nämlich ein Cybrid von John Keats‘ besten Freund Joseph Severn, der ihn in Rom bis zu seinem frühen Tod durch Schwindsucht pflegte. Indem er in der Lage ist, die Träume seines vorangegangenen Cybriden John Keats zu träumen, dessen Implantat die Privatdetektivin Brawne Lamia in sich trägt, kann er die Pilger ausspionieren, die sich auf dem Weg nach Hyperion befinden. 
Mit seiner Ansicht, dass es töricht wäre, die Stabilität der Hegemonie, die seit ihrer Gründung vor siebenhundert Jahren an keinem Krieg teilgenommen hat, durch den geplanten Schlag gegen die Ousters auf die Probe zu stellen, erntet Severn allerdings fast ausschließlich Spott und Unverständnis. Allein Gladstones engster Vertrauter Leigh Hunt ist an Severns Gedanken interessiert. Severn berichtet der Präsidentin, dass alle Pilger - außer vielleicht der verschwundene Tempelritter Het Masteen – noch am Leben seien, auch wenn Pater Hoyt durch das Tragen der Kruziform große Schmerzen erleidet, der Dichter Martin Silenus ständig betrunken ist, weil er seine an der Merlin Krankheit leidende und dadurch umgekehrt alternde Tochter Rachel dem Shrike opfern soll, und Oberst Kassad von der Suche nach der geheimnisvollen Frau namens Moneta besessen ist, und der Konsul damit klarkommen muss, dass er durch sein geheimes Treffen mit den Ousters die Hegemonie verraten hat, indem er dafür sorgte, dass die Zeitgräber geöffnet wurden. Aber ebenso wie der Konsul folgt auch Meina Gladstone ihren eigenen geheimen Plänen. 
„Gladstone dachte zum hunderttausendsten Mal, dass es noch Zeit war, alles aufzuhalten. Im derzeitigen Zustand war der totale Krieg nicht unvermeidlich. Die Ousters hatten noch nicht auf eine Weise zurückgeschlagen, die die Hegemonie nicht außer Acht lassen konnte. Das Shrike war nicht frei. Noch nicht. Wenn sie hundert Milliarden Leben retten wollte, musste sie nur in den Senat zurückkehren, drei Jahrzehnte Täuschung und Doppelspiel enthüllen, ihre Ängste und Unsicherheit bloßlegen …“ (S. 189f.) 
Mit „Hyperion“, dem 1989 veröffentlichten, nach einem Gedicht von John Keats benannten, mit einem Hugo Award und einem Locus Award ausgezeichneten Science-Fiction-Roman, feierte der US-amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Terror“) sein anspruchsvolles Debüt als Science-Fiction-Autor. Ein Jahr später ließ er mit „The Fall of Hyperion“ ein imponierendes Finale folgen, das sich in der Struktur gänzlich von dem ersten Roman unterscheidet. Während in „Hyperion“ die sieben Pilger im Fokus standen, indem jeder Teilnehmer der Fahrt nach Hyperion zum Tempel des Shrike seine Lebensgeschichte erzählte, lässt Simmons in „Das Ende von Hyperion“ den Blick in die ganze Welt der Hegemonie schweifen, wechselt die Perspektiven zwischen der Präsidentin und M. Joseph Severn auf der einen Seite, verfolgt durch die Träume des Künstler-Cybriden aber auch die Pilger auf ihrer Reise nach Hyperion. 
Ähnlich wie im ersten Teil des insgesamt über 1200-seitigen Epos bringt Simmons religiöse, philosophische, politische und literarische Themen in die Handlung einfließen, beschreibt unzählige Welten und Formen von Menschen, aber auch so viele Figuren, dass der Fluss der Handlung und die Spannungsdramaturgie immer wieder ins Stocken geraten und durch unnötig erscheinende Nebenhandlungen ausgebremst werden. 
Trotz der komplexen Struktur und der gelegentlichen Längen ist „Das Ende von Hyperion“ eine spannende Space Opera geworden, die den Blick auch darauf wirft, wie Menschen durch den Fortschritt der Technologie versklavt werden können. Insofern ist die „Hyperion“-Saga heute so aktuell wie nie zuvor.


Dan Simmons – (Hyperion: 1) „Hyperion“

Samstag, 26. Dezember 2020

(Heyne, 588 S., Tb.) 
Es ist eine jahrhundertealte Tradition, dass die Hegemonie eine Reise mit meist sieben Pilgern zum Shrike auf Hyperion organisiert, bei der alle bis auf einen umkommen. Dem Überlebenden gewährt das ebenso gefürchtete wie von seinen Jüngern verehrte Shrike angeblich die Erfüllung eines Wunsches. Die aktuelle Pilgerreise steht allerdings unter einem ungünstigen Stern, denn es hat den Anschein, als würden sich die Zeitgräber öffnen und so dem Shrike ermöglichen, seinen Bewegungsradius auszudehnen. Da Regierungschefin Meina Gladstone nicht sicherstellen kann, dass die Einsatztruppe von FORCE:Weltraum rechtzeitig eintrifft, um die Bürger der Hegemonie von Hyperion zu evakuieren, bevor ein Wanderschwarm der rebellischen Ousters dort aufschlägt, beauftragt sie den Hegemonie-Konsul, an der Pilgerfahrt auf dem Baumschiff Yggdrasil der Tempelritter teilzunehmen. 
Begleitet wird er von dem Kapitän des Baumschiffts, Het Matsteen, dem Dichter Martin Silenus, Pater Lenar Hoyt, dem Philosophen Sol Weintraub und seiner rückwärts alternden Tochter Rachel, dem legendären Ex-FORCE:Weltraum-Oberst Fedmahn Kassad und der Privatdetektivin Brawne Lamia. Um sich während der Reise einander besser kennenzulernen und um herauszufinden, warum jeder einzelne von ihnen für diese Pilgerreise ausgewählt worden ist, erzählen sie nach einer ausgelosten Reihenfolge ihre jeweiligen Geschichten. So erzählt Pater Lenar Hoyt, wie sein Mentor Paul Duré durch das Tragen der Kruziform zur Unsterblichkeit verdammt wurde und er selbst die Kruziform annahm. 
Der palästinensische Oberst Kassad berichtet anschließend, wie er während einer Kriegssimulation von einer geheimnisvollen Frau gerettet wurde, mit der er immer wieder an verschiedenen Kriegsschauplätzen zusammenkam, die ihm aber erst in der Stadt der Dichter auf Hyperion ihren Namen verriet: Moneta, bevor sie für immer aus seinem Leben verschwand. Der trinkfreudige Dichter Martin Silenus erzählt von seinem Erfolg, den er mit seinem ersten Gedichtband „Die sterbende Erde“ feiern durfte, mit seinen „Gesängen“ aber kläglich unterging und sich dann in seelenlosen Fortsetzungen seines Bestsellers aufrieb, bevor das Shrike zu seiner Muse wurde. 
Da der Tempelritter Het Masteen während der Reise spurlos verschwindet und nur seine blutgetränkte Kammer zurücklässt, ist Sol Weintraub an der Reise, seine Geschichte zu erzählen, die ganz im Zeichen eines beunruhigenden Traumes steht, in dem eine donnernde Stimme den Gelehrten dazu auffordert, seine einzige Tochter Rachel nach Hyperion zu bringen und sie dem Shrike als Brandopfer darzubringen. 
Nachdem die Privatdetektivin Brawne Lamie von ihrem Auftrag erzählt, den Mörder ihres Klienten, des Cybrids John Keats, ausfindig zu machen, lässt der Konsul seine Erinnerungen an seine geliebte Siri Revue passieren, die während seiner Reisen durch die Welten der Hegemonie auf ihrem Heimatplaneten Maui-Covenant rasch alterte. Mit dem Zusammenfügen der einzelnen Erzählungen ergibt sich ein Gesamtbild der Geschichte von Hyperion, dessen Schicksal in den Gesängen des Dichters vorherbestimmt zu sein scheint. 
„,Hyperion‘ war das erste ernste Werk, das ich seit vielen Jahren in Angriff genommen hatte, und es war das beste, das ich je schreiben würde. Was als komisch-ernste Hommage an den Geist von John Keats begonnen hatte, wurde zu meinem letzten Grund zu leben, eine epische tour de force in einer Zeit der mittelmäßigen Farce. ,Hyperionische Gesänge‘ wurde mit einem Geschick geschrieben, wie ich es nie hätte aufbringen können, einer Meisterschaft, derer ich nie fähig gewesen wäre, und es wurde mit einer Stimme gesungen, die nicht meine eigene war. Das Dahinscheiden der Menschheit war mein Thema. Das Shrike war meine Muse.“ (S. 280) 
Mit seinem 1989 veröffentlichten Science-Fiction-Werk „Hyperion“, das zwei Jahre später auch auf Deutsch erschien, löste sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons aus der Schublade eines Horror-Autors („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“) und etablierte sich als ernst zu nehmender Autor genreübergreifender Literatur, wobei sein erster Ausflug in die Science-Fiction gleich mit einem Hugo Award und einem Locus Award belohnt wurde. Dabei besticht „Hyperion“ als vielschichtige Space Opera mit verschiedenen Themenschwerpunkten, die durch die Erzählungen der Teilnehmer an der Pilgerreise nach Hyperion an Gestalt gewinnen. 
Jede dieser Geschichten böte das Potential für einen eigenständigen Roman, aber in dem straffen Substrat eröffnen sich verschiedenste Aspekte des Lebens in einer Ära, in der die Alte Erde längst der Vergangenheit angehört und Menschen, KIs und Cybride die hunderte Welten der Hegemonie bevölkern. So ergibt sich ein schillerndes Panorama aus Krieg, Glaube, Zeitreisen, Liebe und Verrat, das nur durch eine sehr rudimentäre Rahmenhandlung zusammengehalten wird, aber neugierig macht auf die Fortsetzung „Das Ende von Hyperion“, die Simmons kurz darauf folgen ließ.


Robert Bloch – „Ich küsse deinen Schatten“

Mittwoch, 16. Dezember 2020

(Diogenes, 296 S., Tb.) 
Bevor Robert Bloch 1947 mit „The Scarf“ („Der Schal“) seinen ersten Roman veröffentlichte, machte er sich bereits als produktiver Autor von Kurzgeschichten einen Namen, wobei er seine erste Story bereits 1930 im zarten Alter von 13 Jahren (!) veröffentlichte, 1939 kam er sogar auf 20 Geschichten. Kein Wunder also, dass der hierzulande vor allem durch die Romanvorlage für Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ bekannte Schriftsteller im Laufe seiner Karriere etliche Kurzgeschichten-Sammlungen publizierte, von denen zum Glück auch einige hierzulande erschienen sind, darunter die im Original 1960 veröffentlichte Sammlung „Pleasant Dreams, Nightmares“, die 1989 von Diogenes unter dem Titel „Ich küsse deinen Schatten“ für den deutschsprachigen Raum herausgebracht worden ist. 
In vierzehn Geschichten beweist der 1994 verstorbene Bloch, dass er zu den vielseitigsten Horror-Autoren seiner Zeit zählte. So erzählt er in der Auftaktstory „Zucker für die Süße“, warum eine Haushälterin die Stellung bei dem Bruder des Rechtsanwalts Sam Steever aufgegeben hat, nämlich weil ihr die achtjährige Irma, für die sie letztlich das Kindermädchen sein sollte, wie eine Hexe erschien, die aber auch von dem Vater des Kindes misshandelt wurde. Als sich der Rechtsanwalt selbst ein Bild von der Situation im Haus seines Bruders machen will, erscheint ihm Irma wie eine hübsche Puppe, doch ist sie tatsächlich alles andere als das … 
Eine schöne Geschichte über das alte Hollywood der Stummfilmzeit präsentiert sich mit „Die Traumfabrikanten“. Ein Reporter des „Filmdom“-Magazins soll eine Story über große alte Filmschauspieler abliefern. Dazu besucht er den einstmals großen Stummfilmregisseur Jeffrey Franklin, der allerdings nach seinem letzten Flop aus dem Jahre 1929, als der Tonfilm aufkam, keinen Film mehr gedreht hatte. Zusammen mit anderen Filmemachern und Schauspielern beschloss er vor gut einem Vierteljahrhundert, Hollywood den Rücken zu kehren, während andere, die nicht diese Weitsicht hatten, im Hollywood des Tonfilms unter die Räder kamen. Schließlich reift in dem Reporter die Idee, ein Drehbuch über die noch jung gebliebenen Altstars zu schreiben und Franklin die Regie führen zu lassen. Doch der Filmemacher agiert nach einem eigenen Drehbuch. 
In „Der Zauberlehrling“ erzählt ein buckliger Junge namens Hugo, wie er, nachdem er aus einem Heim geflohen war, von dem großen Zauberer Sadini als Assistent eingestellt wurde. Als Hugo allerdings feststellt, dass seine schöne Frau Isabel eine Affäre mit dem Möchtegern-Zauberer George Wallace unterhält, geraten die Dinge außer Kontrolle. 
Bloch hat nicht nur Geschichten, die auf dem „Cthulhu“-Mythos von H.P. Lovecraft basieren, geschrieben, sondern hat mit „Der Leuchtturm“ auch die letzte – unvollendete – Geschichte von Edgar Allan Poe zu Ende geschrieben. Es ist das am 1. Januar 1796 begonnene Journal eines Leuchtturmwärters, der nach elf einsamen Tagen feststellen muss, dass sich etwas ihm Unbekanntes verändert hat, und einer Frau begegnet, die geradezu seinen Träumen entsprungen zu sein scheint. 
„Ihr Fleisch war wirklich – kalt wie die eisigen Wasser, aus denen sie kam, aber greifbar und dauerhaft. Ich dachte an den Sturm, an zertrümmerte Schiffe und ertrinkende Menschen, ein ins Wasser geworfenes Mädchen, das sich schwimmend in Richtung Leuchtfeuer kämpfte. Ich dachte an tausend Erklärungen, tausend Wunder, tausend Rätsel und Gründe außerhalb aller Vernunft. Aber nur eine Sache zählte – meine Gefährtin war da, und ich musste einen Schritt vorwärts machen und sie in meine Arme nehmen.“ (S. 197) 
„Das hungrige Haus“ erzählt von einem Paar, das sich ein Haus gekauft hat und schließlich alle Spiegel auf den Dachboden verbannen, weil sie unabhängig voneinander in ihnen Angst einflößende Erscheinungen wahrnehmen, die der tragischen Geschichte des Hauses geschuldet sind, doch der im Bellman-Haus umtriebige Geist findet andere Wege, seinen Hunger nach Blut zu stillen … 
Robert Bloch (1917-1934) hat mit „Ich küsse deinen Schatten“ ein faszinierendes Zeugnis seiner Erzählkunst abgelegt. Ob Blutsauger, böse Geister, Vampire oder Hexen – Bloch findet stets einen interessanten Weg, das Grauen aus alltäglichen Situationen glaubwürdig auferstehen zu lassen und seine Geschichten mit wunderbaren, schwarzhumorigen oder auch schockstarrenden Pointen zu versehen.


John Katzenbach – „Der Bruder“

Donnerstag, 10. Dezember 2020

(Droemer, 623 S., Pb.) 
Kurz vor ihrem Abschluss erhält die junge Architekturstudentin Sloane Connolly einen handschriftlichen Brief von ihrer Mutter, zu der sie seit Monaten keinen Kontakt mehr hatte. „Vergiss nicht, was dein Name bedeutet. Es tut mir so leid.“ Dieser eine Satz reicht aus, um Sloanes vorherigen Gefühle für ihre Mutter – viel Wut und ein Rest von Liebe – einer umfassenden Beunruhigung Platz weichen zu lassen, doch jeglicher Versuch, Kontakt zu ihr aufzunehmen, scheitert. Sloane gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei findet in der absolut aufgeräumten Wohnung von Maeve O’Connor aber nur ein offensichtlich für Sloane gedachtes Präsent. Wenig später finden die Cops den Wagen von Sloanes Mutter sowie ihre Schuhe in der Nähe eines Wanderweges zum Ufer des Connecticut Rivers, in dem Taucher schließlich auch eine Jacke finden, die Maeve hätte gehören können, doch von ihr selbst fehlt jede Spur.
Als Sloane schließlich das Päckchen, das ihre Mutter hinterließ, öffnet, findet sie einen .45er Colt Halbautomatik darin vor und einen weiteren Hinweis, mit dem ihre Mutter Sloane auffordert, alles zu verkaufen, mit der Waffe lernen umzugehen und sofort wegzulaufen. Doch das erweist sich als schwierig. Zum einen will sich ihr betrügerischer Ex-Freund Roger nicht mit der Trennung abfinden und scheut auch vor Gewalt nicht zurück, um Sloane zurückzugewinnen. 
Und dann erhält Sloane über den gut situierten Anwalt Patrick Tempter einen außergewöhnlichen Auftrag: Im Namen des anonymen Auftraggebers, den der Anwalt vertritt, soll Sloane ein Denkmal für sechs Personen entwerfen, die eine besondere Rolle in seinem Leben gespielt haben. Der Auftraggeber erweist sich dabei als äußerst spendabel, lässt ihr ein schickes Büro einrichten, ein fettes Spesenkonto und Honorar springen. Doch Sloane stellt bei ihren Recherchen zu den sechs Personen, die sie in ihrem Denkmal verewigen soll, schnell fest, dass sie allesamt eines unnatürlichen Todes gestorben sind. 
 „Sie hatte eine Menge in Erfahrung gebracht, nur dass sich die Informationen nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfügten, geschweige denn, einen gemeinsamen Nenner erkennen ließen, die Grundlage für ein Denkmal. Was das alles für den Auftraggeber bedeutete, blieb ihr vorerst schleierhaft.“ (S. 224) 
Je mehr sich Sloane mit ihrem Projekt auseinandersetzt, desto deutlicher wird ihr bewusst, dass ihre spurlos verschwundene, offensichtlich tote Mutter ebenfalls eine Rolle bei diesem geheimnisvollen Auftrag spielen muss … 
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat mit Psycho-Thrillern wie „Die Anstalt“, „Der Patient“ und „Der Psychiater“ eindrucksvoll bewiesen, dass er außergewöhnliche Plots mit sorgfältig charakterisierten Figuren, sukzessivem Spannungsaufbau und raffinierten Wendungen zu kreieren versteht. Auch sein neues Werk „Der Bruder“ fasziniert mit einer mehr als ungewöhnlichen Ausgangssituation, die allerdings auch schon eine Schwäche in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Story offenbart. Lässt man sich als Leser aber erst einmal auf das Szenario ein, dass Katzenbachs sympathische Protagonistin sich gleichzeitig nicht nur gegen einen Stalker zur Wehr setzen und das Verschwinden ihrer Mutter verarbeiten muss, sondern es auch noch mit einem geheimnisvollen Auftraggeber zu tun bekommt, der ihr den Grundstein für eine beispiellose Karriere anbietet, wird man mit einer interessanten Schnitzeljagd belohnt, bei der die angehende Architektin nach und nach herausfindet, dass die sechs Personen, die durch ihr Denkmal geehrt werden sollen, nicht eines natürlichen Todes verschieden sind. 
Geschickt verwebt der Autor immer wieder Sloanes Ermittlungen mit den Querelen, die sie mit ihrem aufdringlichen Ex-Lover Roger hat, und den Kontakten zu ihrem Auftraggeber, die ausschließlich über dessen Anwalt laufen. Durch Katzenbachs detailreiche Schilderungen kommen dabei schon einige Längen auf, doch gipfelt der Plot in einem außergewöhnlichen Finale, das Psycho-Thriller-Fans begeistern dürfte. 

Stewart O’Nan – „Die Speed Queen“

Samstag, 28. November 2020

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Margie Standiford wartet in der Todeszelle eines Gefängnisses in Oklahoma auf ihre Hinrichtung durch eine Giftinjektion. Ihre letzten Stunden verbringt sie damit, dem Bestseller-Autor Stephen King, der über Margies Anwalt Mr. Jefferies die Rechte an ihrer Geschichte gekauft hat, ein Tape zu besprechen, auf dem sie die 114 Fragen beantwortet, die er ihr zu ihrer Lebensgeschichte gestellt hat. Das tut sie nicht nur, um ihren Sohn Gainey finanziell abzusichern, sondern vor allem ihre eigene Version der Geschichte zu veröffentlichen, die bereits ihre Freundin Natalie erfolgreich zu einem Buch vermarktet hatte, das aber eben – ihrer Meinung nach - nicht die Wahrheit erzählte. 
Der Fragenkatalog von Stephen King bietet ihr nun die Möglichkeit, ihre Version der Geschichte publik zu machen, wobei sie nach einer Einleitung mit ihrer Kindheit beginnt, mit dem Umzug aus der Nähe von Depew nach Kickingbird Circle in Edmond, wo ihr Vater Trainerassistent in einem Reitpark und ihre Mutter beim örtlichen Postamt beschäftigt waren. Margie verlebte eine ganz normale Kindheit, hatte Freundinnen und Spaß in der Schule, vor allem an Erdkunde, sang im Chor, spielte Softball, ging aber nicht in die Kirche – da sonntags die großen Pferderennen stattfanden. Am 26. Oktober 1984 lernte sie ihren späteren Mann Lamont kennen, als sie in einer Tankstelle arbeitete und sich die Zeit damit vertrieb, jede Nacht ein Fläschchen Wodka zu leeren. 
Lamont kam mit einem 442-Kabrio vorgefahren, verließ die Tankstelle, ohne zu bezahlen, kehrte dann aber zurück, um so Margie kennenzulernen. Mit ihm nahm auch Margies Drogenkonsum zu. Während sie zu High-School-Zeiten nur Bier und Wodka getrunken, an den Wochenenden Gras geraucht und bei Gelegenheit Downers eingeworfen hatte, kamen nun Acid und Speed dazu, dem sie schließlich ihren Spitznamen verdankte. Als sie wegen Drogenmissbrauchs sechs Monate in Clara Waters absitzen musste, lernte sie Natalie kennen, mit der sie eine Affäre begann, doch als Margie zu mutmaßen begann, dass Natalie auch mit Lamont schlief, kommt es zur Katastrophe. 
Bei einem gemeinsamen Roadtrip auf der Route 66 überfielen sie ein Schnellrestaurant, nachdem sie bereits ein älteres Ehepaar umgebracht hatten, schließlich erschossen sie sogar einen Polizisten, wofür sich Margie schließlich vor Gericht verantworten musste. 
„In der Zeitung bezeichnen sie die Morde immer als sinnlos. Die Leute waren vielleicht übel zugerichtet, aber zumindest gab’s einen Grund dafür. Dann ist das noch, dass sie uns als Serienmörder bezeichnen. Das ist einfach falsch – ein Serienmörder bringt immer nur einen um, aber das öfter. Das andere, was mich stört, ist die Bezeichnung ,mordlüstern‘. Ich glaub, das stimmt genausowenig. Lüstern hört sich an, als hätte uns die Sache gut gefallen, als wären wir ganz unbekümmert gewesen oder so, als hätt’s uns Spaß gemacht, während es in Wirklichkeit genau umgekehrt war.“ (S. 224) 
In seinem vierten, im Original 1997 veröffentlichten Roman „Die Speed Queen“ hat der aus Pittsburgh stammende Schriftsteller Stewart O’Nan eine eigenwillige Methode gefunden, die Geschichte seiner Protagonistin, der zum Tode verurteilten Marjorie Standiford, zu erzählen, nämlich als transkribierte Kassettenaufnahme, die der Bestseller-Autor Stephen King zu einem Roman formen soll, nachdem er der Todgeweihten einen Fragenkatalog zukommen ließ. Diese Form der Ich-Erzählung ist deshalb so interessant, weil die Leserschaft nur die schöngefärbte Perspektive der Erzählerin zu hören bekommt, die in ihrer Lebensgeschichte vor allem ihren Weggefährten Lamont und Natalie die Schuld an den Verbrechen zuschiebt, so als sei sie kaum beteiligt gewesen und habe sich nur um ihren Sohn gekümmert, während die beiden mutmaßlichen Verräter die Morde verübten. Die Fragen des – zwar an sich realen, in diesem Fall aber fiktiv eingebundenen – Autors Stephen Kings werden nicht aufgeführt, erschließen sich in der Regel aber aus der Art von Margies Antworten. 
„Die Speed Queen“ erweist sich als die tragische Geschichte einer sehr durchschnittlichen Frau, die sich mit Mindestlohn-Jobs über Wasser hält und voll in den Beziehungen zu Lamont und später auch Natalie aufgeht. Wie sie im späteren Verlauf ihnen die Schuld an den tödlichen Verbrechen gibt, wirkt wie ein Racheakt, weniger wie eine wahrheitsgetreue Aufarbeitung. Der Roman thematisiert aber auch den Umgang der Medien mit Gewalt und fehlgeleiteter Berühmtheit. Stephen King fungiert hier als Stellvertreter für ein mächtiges Sprachrohr, der mit seinen Millionenauflagen auch Margies letztlich bemitleidenswerte Geschichte möglichst breit bekannt machen soll. 
Auch wenn die sehr einfache Sprache, mit der O’Nan seine Protagonistin ihre Geschichte erzählen lässt, zunächst gewöhnungsbedürftig ist, entwickelt die Story bei allen Zeitsprüngen einen starken Sog, mit dem eine an sich unauffällige Figur an Persönlichkeit gewinnt.