Die achtundzwanzigjährige Trudy ist im achten Monat schwanger, lebt aber von ihrem Noch-Ehemann, dem erfolglosen Dichter und Verleger John, schon seit einiger Zeit getrennt. Dafür liebt sie Johns drei Jahre jüngeren, intellektuell nicht ganz so potenten, dafür aber sexuell umso agileren Bruder Claude. Während John nach wie vor vergeblich versucht, Trudy mit rezitierten Gedichten zurückzugewinnen, reift in ihr und ihrem Geliebten der Plan, den Störenfried aus dem Weg zu räumen, damit ihnen Johns wertvolles, wenn auch heruntergekommenes Haus in bester Londoner Innenstadtlage eine sorgenfreie Zukunft bescheren kann.
Es muss nur ein wenig Glykol in seine so geliebten Smoothies gemischt werden. An einem Selbstmord dürfte in Johns verzweifelter Lage dann niemand zweifeln.
Beobachtet und erzählt wird dieses Komplott aus der Perspektive des ungeborenen Kindes, das sich durch die unzähligen Radiosendungen (mit Vorliebe Reportagen, weniger Musiksendungen), Hörbücher und Podcasts in den schlaflosen Nächten der Mutter ein nahezu akademisch profundes Wissen angeeignet hat, das von Ratgebern („Werde Weinkenner“), Biographien von Dramatikern des 17. Jahrhunderts bis zu Klassikern der Weltliteratur reicht.
Es macht aber auch immer wieder unliebsame Bekanntschaft mit dem Penis des Liebhabers der Mutter, der stets gefährlich dicht an den Schädel des Fötus vordringt, und mit erlesenen Weinen, mit denen sich das Paar abfüllt. Am liebsten möchte das ungeborene Kind seiner Mutter von dem mörderischen Plan abraten.
„Denk doch, möchte ich ihr zurufen, wenn schon nicht an die Moral, dann an die Unannehmlichkeiten: Gefängnis oder Schuldgefühle, möglicherweise auch beides. Überstunden, Wochenend-, Nachtschichten, dein Leben lang. Keine Bezahlung, keine Vergünstigungen, keine Rente, nur Reue. Sie macht einen Riesenfehler.“ (S. 117)Ian McEwan ist zwar durch die erfolgreiche Verfilmung seines Romans „Abbitte“ weltberühmt geworden, der mehrfach preisgekrönte britische Autor hat sich aber schon in ebenfalls verfilmten Werken wie „Der Trost von Fremden“ und „Der Zementgarten“ als versierter Erzähler mit psychologischen Scharfsinn erwiesen.
Sein neuer Roman „Nussschale“ steht ganz offen in der Tradition von Shakespeares Drama „Hamlet“, aus dem er eingangs zitiert, schließlich sind auch die beiden Ehebrecher Trudy und Claude Hamlets Figuren Gertrude und Claudius nachempfunden. Interessanter als die Geschichte der mörderischen Intrige ist die Perspektive, aus der das Geschehen erzählt und interpretiert wird. Sieht der Leser von der Unmöglichkeit ab, dass ein ungeborenes Kind solch feinsinnige Beobachtungen und Analysen tätigt, wird er unmittelbarer und stets unerkannter Zeuge eines Verbrechens, dessen gnadenlose Effizienz ebenso erstaunt wie McEwans erzählerische Brillanz.
Dabei spricht aus dem analytisch brillanten, aber letztlich hilflosen Fötus natürlich der Autor selbst, der die Möglichkeit dieser ungewöhnlichen Erzählperspektive nutzt, seinen Kommentar zu den Krisen der Welt (Flüchtlinge, Umwelt, Armut) beizusteuern. Und so funktioniert „Nussschale“ ebenso als eigenwillige Variation des bekannten Brudermord-Themas wie als geschickt inszeniertes literarisches Experiment, dem ein wenig Gesellschaftskritik beigemengt wird.
Leseprobe Ian McEwan - "Nussschale"
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