Wallace Stroby – (Crissa Stone: 4) „Der Teufel will mehr“

Samstag, 23. Februar 2019

(Pendragon, 316 S., Pb.)
Nach einem Jahr Pause juckt es der Berufsverbrecherin Crissa Stone in den Fingern. Durch ihren Vermittler Sladden in Kansas City erhält sie das Angebot, für den Kunstsammler Emile Cota einen LKW voll geplündeter Skulpturen aus dem Irak zu entführen, damit er diese an einen Interessenten verkaufen kann, bevor sie von Long Beach aus die längst organisierte Rückführung in den Irak antreten. Während Cotas rechte Hand Randall Hicks mit einigen seiner ehemaligen Kameraden bei den Marines für die Beschaffung der Waffen zuständig sind, soll sich Crissa um die Logistik kümmern.
Bevor Crissa sich entscheidet, besucht sie ihren 18 Jahre älteren Freund Wayne, der sie einst aus dem Kleinkriminellen-Milieu herausgeholt und in die richtige Richtung gebracht hat und nun in Texas eine 15-jährige Gefängnisstrafe wegen bewaffneten Raubs und krimineller Vereinigung absitzt. Bevor sie einen Job annimmt, holt sie sich regelmäßig das Okay von ihm, aber diesmal ist die Entscheidung schon vorher gefallen, was ihm Sorgen bereitet.
Crissa heuert sie ihren alten Kumpel Chance als Fahrer sowie die beiden Iren McBride und Keegan an, die Planung des Überfalls nimmt immer konkretere Formen an. Doch vor Ort ziehen Hicks und vor allem sein hitzköpfiger Kumpel Sandoval auf einmal ihr eigenes Ding durch und wollen möglichst wenige Zeugen und Teilhaber an der Beute zurücklassen …
„Sie sah zu Hicks, fragte sich, wie viel er ihm erzählt hatte. Er schaute geradeaus. Sie wollte hier raus, weit weg von den beiden. Und ihr wurde jetzt klar, wie dumm sie gewesen war. Sie hatte geglaubt, alles im Griff zu haben, jedes Detail, alles unter Kontrolle. Dann war alles vor ihren Augen aus den Fugen geraten.“ (S. 190) 
Bereits zum vierten (und vielleicht letzten?) Mal lässt der ehemalige Polizeireporter, Buch- und Filmkritiker Wallace Stroby seine ungewöhnliche Heldin Crissa Stone einen abenteuerlichen Coup aushecken. Nachdem sie schon eine illegale Pokerrunde geplündert, eine Lufthansa-Maschine ausgeräumt und einen Drogenboss um seine Beute gebracht hatte, lässt sie sich in „Der Teufel will mehr“ auf einen dubiosen Kunstsammler und seinen habgierigen Handlanger Hicks ein, mit dem sie sogar ihr Bett für eine Nacht teilt. Dass er und Sandoval aber auf eigene Rechnung den Coup abschließen wollen, überrascht die sonst übervorsichtige Crissa dann doch.
Stroby gelingt es wie in seinen drei vorangegangenen Crissa-Stone-Thrillern einmal mehr, ohne große Einführung schnell zur Sache zu kommen, Crissa und ihren Auftraggeber an einen Tisch zu bringen und die Einzelheiten akribisch zu planen. Dabei hält sich der Autor nicht mit feinen Charakterisierungen auf, sondern treibt den Plot vor allem durch authentisch wirkende, knackige Dialoge und entsprechende Action voran. Dass der Überfall auf den LKW nicht so läuft wie geplant, leitet die obligatorische Wende ein und damit den eigentlichen spannenden Teil, denn natürlich steuert das Drama auf ein Duell zwischen Hicks und Stone zu.
Alles in allem bietet „Der Teufel will mehr“ rasante Thriller-Kost mit einer sympathischen Protagonistin, die man trotz ihrer verbrecherischen Ader ins Herz schließt, weil sie sich um ihre Leute kümmert, um den inhaftierten Lover Wayne ebenso wie um ihre Mitstreiter, die sie ebenso wie sich selbst in den Schlamassel hineinmanövriert hat. Die Handlung verläuft bis zum Schluss in absolut vorhersehbaren Bahnen, dafür entschädigen die pointierten Dialoge und die lebendig geschilderte Action.

Stewart O’Nan – „Stadt der Geheimnisse“

Donnerstag, 21. Februar 2019

(Rowohlt, 220 S., HC)
Nicht nur seine Frau Katja und seine kleine Schwester Giggi, die gesamte Familie des lettischen Juden Brand ist im Holocaust umgekommen. Er selbst hatte Glück, war jung und konnte Motoren reparieren, hat die Internierung durch die Deutschen und Russen überlebt und landete Mitte der 1940er Jahre mit einem maltesischen Frachter in Palästina, wo er vom Untergrund aufgenommen, mit einem Taxi und neuen Papieren ausgestattet worden ist. In Jerusalem kutschiert er Touristen und führt sie zu den Sehenswürdigkeiten, dient aber auch der zionistischen Gruppe Hagana mit ihrer Untergrund-Armee Irgun im Kampf gegen die britische Mandatsregierung von Palästina für einen unabhängigen jüdischen Staat Israel.
Da die Tommys den meisten Holocaust-Überlebenden die Zuflucht verweigert, wehrt sich der zionistische Untergrund mit Sprengstoffanschlägen, für die Jossi in seinem Peugeot mit doppelbödigem Kofferraum die Waffen und Sprengstoffe schmuggelt. Dabei wird Jossi immer mehr gegen seinen Willen in einen neuen Krieg hineingezogen. Während er von Asher seine Instruktionen erhält, um einen Zug zu überfallen und dabei die Löhne der britischen Soldaten zu erbeuten, spioniert seine als Prostituierte arbeitende Freundin Eva im King David Hotel die Gäste aus. Dort findet Jossis Leben eine entscheidende Wendung.
„Die Lager hatten einen egoistischen, argwöhnischen Menschen aus ihm gemacht. Dass jetzt jemand Gutes über ihn dachte, war ihm unangenehm, weil er die Wahrheit kannte. Er war nach Jerusalem gekommen, um sich zu ändern, sich zu bessern. Als sei es ein Grund zur Hoffnung, dass Eva ihm ihr Kopftuch gab, dass Asher seinen Arm drückte. Nachdem er so lange ein Tier gewesen war, glaubte er nicht, je wieder ein Mensch sein zu können, doch wenn sie an ihn glaubten, war es vielleicht möglich.“ (S. 114) 
Es ist immer wieder erstaunlich, was für eine breite Palette an Sujets der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan in seinen Romanen entwickelt. Während er in „Der Zirkusbrand“ das historische Feuer thematisierte, bei dem 1944 in O’Nans Heimatstadt Pittsburgh 167 Menschen ums Leben kamen, wandelte er in der Geistergeschichte „Halloween“ und in dem Roman „Speed Queen“ auf den Pfaden seines Freundes Stephen King, erzählte in „Die letzte Nacht“ von der Schließung eines kleinen Restaurants und in „Eine gute Ehefrau“ von einer schwangeren jungen Frau, die sich an ein neues Leben gewöhnen muss, als ihr Mann wegen eines Einbruchs mit Todesfolge ins Gefängnis muss. Nach dem epischen Generationenportrait „Der Abschied von Chautauqua“ und der Liebesgeschichten von F. Scott und Zelda Fitzgerald in „Westlich des Sunset“ arbeitet O’Nan in „Stadt der Geheimnisse“ den Bombenanschlag auf das King David Hotel vom 22. Juli 1946 in Jerusalem auf. Im Mittelpunkt des kurzen Romans steht der lettische Holocaust-Überlebende Jossi Brand, der auch in seiner neuen Wahlheimat nicht zur Ruhe kommt.
Immer wieder wird er von den Erinnerungen an seine getötete Frau Katja und den Verrat an seinen Mithäftlingen heimgesucht. Seine Mission, ein besserer Mensch zu werden, droht in den Attentaten, an denen er in dem zionistischen Untergrund mitwirkt, kläglich zu scheitern.
O’Nan überzeugt vor allem in der Schilderung der gesellschaftspolitischen Lage im Jerusalem der Nachkriegszeit und in der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Qual der Erinnerungen, die verzweifelte Suche nach moralischer Integrität, die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe werden so einfühlsam geschildert, dass Brand dem Leser durchaus ans Herz wächst. Auf der anderen Seite bleiben Brands Weggefährten, selbst seine Freundin Eva ungewöhnlich blass und konturlos. „Stadt der Geheimnisse“ gefällt als politischer Thriller, dem allerdings mehr an atmosphärischer Stimmigkeit als an Spannung gelegen ist, weshalb der Roman einen recht zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Stadt der Geheimnisse"

James Sallis – „Willnot“

Montag, 18. Februar 2019

(Liebeskind, 224 S., HC)
In der amerikanischen Kleinstadt Willnot stößt der Jäger Tom Bale mit seinem Hund Mattie eines frühen Morgens auf eine Grube voller Leichen. Der örtliche Sheriff Hobbes und seine Leute werden ebenso zum Tatort gerufen wie die State Police und Lamar Hale, ein ortsansässiger Arzt, der nicht nur seine eigene Praxis hat, sondern auch im Krankenhaus arbeitet. Auffällig ist der Kalkgeruch, aber die Identität der Opfer ist ebenso unklar wie das Motiv für die grausame Tat.
Zurück in seiner Praxis erhält Hale Besuch von Brandon „Bobby“ Lowndes, der im Alter von sechzehn Jahren als Folge eines Jungenstreichs ins Koma gefallen und von Hale ein Jahr lang wieder aufgepeppelt worden war, bevor er der Stadt den Rücken kehrte und jetzt unangekündigt zurückgekehrt ist. Auch hier liegen die Gründe für den Arzt im Dunkeln, denn Freunde und Familie besitzt Bobby in der Stadt nicht, der sich nach eigener Auskunft auch nur auf der Durchreise befindet und Hallo sagen wollte.
Als sich aber die FBI-Agentin Theodora Odgen nach ihm erkundigt, überschlagen sich die Ereignisse in dem sonst so beschaulichen Ort. Bobby, der nach FBI-Informationen ein Elitekiller der Marines sei, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt haben soll, wird selbst angeschossen, kann aber aus dem Krankenhaus fliehen, bevor er zu dem Vorfall befragt werden kann, doch scheint er immer wieder wie ein Gespenst mal hier, mal dort in der Stadt aufzutauchen und ebenso schnell wieder unterzutauchen.
„Menschen in Willnot neigen dazu, auf dem schmalen Rand von Landkarten zu verweilen, mehr als nur ein paar von ihnen starren dem Tiger ins Auge. Liegt etwas in ihrer Natur, das sie dorthin zieht, sie dort hält? Oder sickert das im Laufe der Zeit durch den Kontakt, die Beziehungen ein? Lass sie sich in einer geraden Linie aufstellen, und sie stehen schief da.“ (S. 77) 
James Sallis, der durch seine Romanreihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin bekannt geworden ist und 2008 für seinen Roman „Driver“ mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde, beginnt „Willnot“ zwar mit der Entdeckung eines Verbrechens, aber die darauf folgenden Ermittlungen nehmen dann nur noch einen rudimentären Teil des Plots ein. Vielmehr lässt der amerikanische Autor seinen Ich-Erzähler Lamar Hale, der mit dem zum Schulleiter beförderten Lehrer Richard liiert ist und zusammenlebt, über die Lebensumstände in Willnot philosophieren, wobei die Erinnerungen an seinen Vater eine wesentliche Rolle spielen, der als Schriftsteller vor allem im Science-Fiction-Genre erfolgreich gewesen ist.
Aus den erinnerten Zusammenkünften mit anderen Schriftstellern auf Kongressen und den phantastischen Geschichten, die Hale in all den Jahren gelesen hat, dringen immer wieder Erkenntnisse über die menschliche Natur, über Leben und Tod, über die Wege, die ein Leben einschlagen kann, durch. So erinnert sich Hale an einer Stelle an die Geschichte „Der Biograf“ über einen Mann, der Menschen aus ihrem Leben herausnimmt, ihren Platz einnimmt, Dinge tut, die sie selbst nie tun würden, um sie dann wieder in ihr Leben zurückzubringen, wo sie mit den neuen Erfahrungen, die sie geerbt haben, ihrem Leben eine ganz neue Richtung geben.
So geht es dem Leser bei „Willnot“ immer wieder. Durch die Querweise auf reale oder fiktive andere Romane aus dem Umfeld von Lamar Hales Vater durchziehen regelmäßig philosophische Betrachtungen die Handlung, die nur als Katalysator für weitere Gedankengänge zu dienen scheint. Sallis gelingt es, vor allem Lamar und Richard sorgfältig und einfühlsam zu charakterisieren und sie als Mittelpunkt der Geschichte zu etablieren. Dazu sorgen die lebendigen Dialoge, Hales tiefsinnige Betrachtungen und der ungewöhnliche Plot für ein Lesevergnügen der besonderen Art.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 9) „Nacht über dem Bayou“

Samstag, 16. Februar 2019

(Pendragon, 464 S., Pb.)
Nach dem Mord an dem berühmten schwarzen Bürgerrechtler Ely Dixon dauerte es ganze 28 Jahre, bis Aaron Crown von einem Geschworenengericht schuldig gesprochen wurde und im Angola seine 40-jährige Haftstrafe verbüßt, nachdem er die Tat nicht geleugnet hatte. Doch nun verlangt er über seinen Anwalt, Detective Dave „Streak“ Robicheaux zu sprechen, nachdem ein Filmteam die Geschichte aufgegriffen hat und ein Justizirrtum aufzudecken versucht.
Gouverneurs-Anwärter Buford LaRose und seine Frau Karyn, mit der der Detective mal eine kurze Affäre unterhielt, weist Robicheaux darauf hin, dass er sich nicht allzu sehr für Crowns Geschichte erwärmen sollte, aber eine frühere Begebenheit, die er in Zusammenhang mit Crown und dessen Tochter erlebt hatte, lässt den Cop tatsächlich daran zweifeln, dass Crown ein kaltblütiger Mörder sein soll. Es sieht so aus, als bekäme Robicheaux dafür einen Posten bei der State Police angeboten, so wie er das Gespräch mit dem Mafia-Killer Mingo Bloomberg deutet.
Tatsächlich interessiert sich nicht nur das Filmteam für die Geschichte. Zunächst wird der Dokumentarfilmer Dwayne Parsons im French Quarter im Beisein einer Prostituierten im French Quarter ermordet, dann bekommt Robicheaux gezwitschert, dass zwei Klanmitglieder für den Mord an Dixon verantwortlich gewesen sein könnten, wobei einer womöglich bei der Highway Patrol gewesen war. Als auch der Filmregisseur Lonnie Felton und Jerry Joe brutal getötet werden, steckt Dave Robicheaux schon mitten im Sumpf aus politischer Korruption und Mafia-Machenschaften. Nachdem Crown aus dem Gefängnis fliehen konnte, treiben sich mit ihm und Mookie Zerrang gleich zwei unberechenbare Killer im Iberia Parish herum, die mit ihren Aktivitäten immer mehr in Robicheaux‘ familiäres Umfeld vordringen. Doch davon lassen sich der Cop und sein alter Kumpel Clete Purcel nicht beeindrucken und setzen vor allem Buford LaRose immer stärker zu.
„Als Polizist findet man sich damit ab, dass man aller Wahrscheinlichkeit nach eines Tages in eine Situation gerät, in der man einer bestimmten Sorte Mensch nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügt. Sicher, sie sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich, unbelehrbar trotz aller Vorhaltungen, Menschen, die im biblischen Sinn die Natter an ihrer Brust nähren. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, dass man das ausführende Organ ist, dass man irgendwann in ihr Leben tritt wie einst der Scharfrichter auf dem Schafott und ihnen ein Los bereitet, das nicht gnädiger ist als jenes, für das im Mittelalter der Mann mit der Maske und dem Beil zuständig war.“ (S. 396) 
Wie in den meisten Romanen um den Vietnam-Veteranen, ehemaligen Cop beim New Orleans Police Department und trockenen Alkoholiker Dave Robicheaux taucht der zweifach mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichnete James Lee Burke in „Nacht über dem Bayou“ wieder tief in das komplexe Geflecht aus mit Verbrechen überschatteten politischen Ambitionen und durchgeknallten Killern, die im Auftrag des Mobs auch im Iberia Parish ihren Geschäften nachgehen.
Von Beginn an macht der Ich-Erzähler Dave Robicheaux keinen Hehl daraus, was er von Buford LaRoses Vorgehen hält, der nächste Gouverneur von Louisiana zu werden, kann ihm aber nicht nachweisen, was LaRose konkret für Dreck am Stecken hat. Aber auch das Verhalten von Aaron Crown und dem schwarzen Riesen Mookie Zerrang, der eine Spur aus Toten hinterlässt, gibt Robicheaux Rätsel auf.
Burke erweist sich wieder als Meister der atmosphärisch dichten Beschreibung des Lebens, wie es sich im Frühherbst am Bayou zeigt, mit all dem Nebel über den Sümpfen, aus dem Wasser springenden Barschen und den überfluteten Zypressen, aber auch die lebendigen Dialoge und die familiären Szenen mit Robicheaux‘ Frau Bootsie, seiner fast erwachsenen Adoptivtochter Alafair und seinem Angestellten Batist unterstreichen die menschlichen Dimensionen in einem Roman, in dem es vor allem um die Aufklärung eines alten Verbrechens und das skrupellose Ausräumen von Hindernissen auf dem Weg zur Macht geht. Die Umstände, mit denen es Robicheaux hier zu tun hat, sind vertrackt genug, um die Spannung gleichbleibend hoch zu halten. Es ist zwar nicht der beste unter all den hochklassigen Romanen der Reihe, sorgt aber wie immer für ein kurzweiliges, sprachlich geschliffenes Krimivergnügen mit gut charakterisierten Figuren und einem gut durchdachten Plot.

Simon Beckett – (David Hunter: 6) „Die ewigen Toten“

Dienstag, 12. Februar 2019

(Wunderlich, 478 S., HC)
Seit der forensische Anthropologe David Hunter vor einigen Jahren von einer psychotischen Frau namens Grace Strachan mit einem Messer angegriffen worden war und fast vor seiner eigenen Haustür verblutet wäre, plagen ihn immer noch Albträume. Mittlerweile lebt er ungemeldet auf Ballard Court, dem luxuriösen Zweitwohnsitz eines Arztkollegen seines Freundes Jason, mit seiner Freundin Rachel zusammen. Bevor Rachel für einen Forschungsauftrag für drei Monate nach Griechenland reist, wird Hunter von Detective Chief Inspector Sharon Ward zum Londoner Stadtteil Blakenheath gerufen, wo in dem seit über zehn Jahren stillgelegten und bereits zum Abriss vorgesehenen Krankenhaus St. Jude eine in Plastikfolie eingewickelte, teilweise mumifizierte Leiche auf dem Dachboden gefunden wurde.
Doch bei dem Versuch, die Leiche zu bergen, stürzt der forensische Rechtsmediziner Professor Conrad durch den Boden, worauf die Polizeibeamten auf ein fensterloses Krankenzimmer stoßen, das auf keinen Bauplänen verzeichnet ist und in dem weitere Leichen geborgen werden. Bei der Obduktion der ersten Leiche bestätigt sich der fürchterliche Verdacht, dass es sich um eine schwangere Frau handelt. Bei den weiteren Ermittlungen hat es Hunter nicht nur mit dem überheblichen David Mears von BioGen zu tun, einer privaten Firma, die verschiedene forensische Experten beschäftigt, sondern auch mit dem aufdringlichen Journalisten Francis Scott-Hayes, dem kommunalen Aktivisten Adam Oduya und der mürrischen Lola Lennox, die immer wieder in der Nähe von St. Jude zu sehen ist und zuhause ihren schwerkranken Sohn Gary pflegt, und dem mit dem Abriss beauftragten Unternehmer Jessop, den die Verzögerungen durch die polizeilichen Ermittlungen schwer treffen. Die Hinweise scheinen auf Gary Lennox zu deuten, doch dann werden zwei der Beteiligten von einem Auto angefahren und dabei getötet bzw. schwer verletzt …
„Es lässt sich an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft die Zeit zäh dahinfloss, während ich an einer Ermittlung beteiligt war. Viel öfter ist das Gegenteil der Fall, und ich tauche aus einer Tätigkeit auf, nur um festzustellen, dass mal eben ein ganzer Tag vergangen war. Doch im St. Jude schien die Zeit regelrecht zu gefrieren.“ (S. 202) 
Seit der britische Schriftsteller Simon Beckett mit dem 2006 in Deutschland veröffentlichten ersten Roman um den forensischen Anthropologen David Hunter, „Die Chemie des Todes“, zum internationalen Bestseller-Autoren avancierte, sind vier weitere Titel in der Reihe erschienen, zuletzt „Totenfang“ (2016). Drei Jahre später scheint Beckett nicht mehr so recht zu wissen, wie er die Geschichte um seinen berühmten Protagonisten weiterspinnen soll.
Nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter gibt die Beziehung zu Rachel in „Die ewigen Toten“ nicht viel mehr her als Trennungsängste und Rachels Sorge um das Leben ihres Liebsten. Also konzentrieren sich sowohl Beckett als auch sein Protagonist ganz auf den mal wieder ganz außergewöhnlichen Fall mysteriöser Leichenfunde in einer Krankenhausruine. Hier nimmt sich der Autor alle gebührende Zeit, die Fertigkeiten der Forensik-Koryphäe David Hunter zu demonstrieren. Leider verliert er dabei die Charakterisierung seiner Figuren aus den Augen, die in allen Belangen sehr hölzern wirkt. Einzig die schrullig-missgelaunte Lola Lennox fällt hier etwas aus dem Rahmen, doch eine Identifikationsfigur sucht der Leser in „Die ewigen Toten“ vergebens.
In der Regel werden im Thriller-Genre solche Defizite durch einen rasant vorangetriebenen, spannungsreichen Plot ausgeglichen, aber auch damit kann der neue Hunter-Thriller nicht dienen. Stattdessen reibt sich Hunter in enervierenden Konkurrenzkämpfen auf, suhlt sich nach einer Kränkung auch mal im Selbstmitleid, versucht durch gebratene Leckereien zu der abweisenden Lola Lennox vorzudringen und muss sich der Avancen sowohl eines aufdringlichen Journalisten und eines Aktivisten erwehren, mit denen Hunter im Grunde nichts zu tun haben will. Währenddessen kommen die Ermittlungen so schleppend voran, dass der gelangweilte Leser immer wieder versucht ist, das Buch aus der Hand zu legen, doch mit der vagen Hoffnung, dass doch noch irgendwann was passieren muss, bleibt man am Drücker und wird im letzten Viertel mit einigen Ereignissen konfrontiert, die dem Genre gerecht werden.
Davon abgesehen erweist sich Simon Beckett als routinierter Erzähler mit einem gefälligen, auf Dauer aber etwas spröde wirkenden Schreibstil. Er nimmt sich viel Zeit, die Details der Ermittlungen zu beschreiben, aber der Spannungsbogen bleibt auf konstant niedrigem Niveau, bis der zuweilen arg konstruiert wirkende Zwist im Finale den Roman die Kurve bekommen lässt.
Leseprobe Simon Beckett - "Die ewigen Toten"

John Niven – „Kill ´em all“

Sonntag, 3. Februar 2019

(Heyne, 384 S., HC)
Seit Steven Stelfox 1994 seine Karriere als A&R-Scout bei Unigram begonnen hat und als ausführender Produzent der Talent-Show „American Pop Star“ seinen Reichtum vervielfachen konnte, genießt der 47-Jährige den beruhigenden Wohlstand, der mit einem 300-Millionen-Dollar-Vermögen einhergeht, und stellt sich nur noch sporadisch für fürstliche Honorare als Berater zur Verfügung. Gerade als Unigrams Aktien weiter zu fallen drohen, muss Stelfox seinem alten Freund James Trellick, mittlerweile CEO bei Unigram, aus der Patsche helfen. Sein erfolgreichster Künstler Lucius Du Pre, der gerade einen Marathon von zwanzig Konzerten im New Yorker Madison Square Garden und ebenso vielen in der Londoner O2-Arena vorbereitet, um seine immensen Schulden wieder einzuspielen, hat eine Vorliebe für kleine Jungs. Mit denen tobt er nicht nur in seinem Vergnügungspark herum und guckt mit ihnen seine Lieblings-DVD „Fantasia“, sondern stellt mit ihnen Sachen an, die besser nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Das denken sich auch die Eltern von Connor, als sie eine blutbefleckte Unterhose unter dem Bett ihres Sohnes finden, denn statt mit ihrem Verdacht zur Polizei zu gehen, verstecken sie eine Kamera in Connors Mütze und filmen so den nächsten sexuellen Übergriff des drogenverseuchten und abgehalfterten Pop-Stars.
Natürlich denken Stelfox und die Leute bei Unigram nicht daran, auf die absurd hohen Forderungen von Connors Eltern und ihrem Anwalt einzugehen. Stattdessen entwickelt Stelfox einen teuflischen Plan, bei dem zumindest er selbst am Ende als der große Gewinner dastehen wird. Aber da droht ihm ausgerechnet Du Prez einen Strich durch die Rechnung zu machen …
„Bis jetzt hatte ich nie wirklich verstanden, was es heißt, ,die Medikamente abgesetzt‘ zu haben. Fraglos erfüllten die atemberaubenden Mengen pharmazeutischer Aufputsch- und Beruhigungsmittel, die Lucius über Jahre genommen hat, die Funktion einer Art Sicherungsschraube … oder von einem Sperrkreis zur Unterdrückung störender Frequenzen. Von ihnen befreit, ist der Wichser durchgeknallter geworden als ein Plattenbau voller Scheißhausratten.“ (S. 311f.) 
Nach „Kill Your Friends“ und „Gott bewahre“ hält uns der schottische Schriftsteller John Niven einmal mehr in Gestalt des großkotzigen Selfmade-Arschlochs Steven Stelfox der Welt das ungetrübte Spiegelbild vor Augen, in dem Donald Trump wie eine Karikatur die Geschicke des mächtigsten Landes der Welt lenkt und junge Frauen, die sich für ihren Traum von einer Karriere in Hollywood als menschliche Toilette missbrauchen lassen, wie ein Hohn auf die #MeToo-Debatte wirken. Wer in diesem Roman eine sympathische Identifikationsfigur sucht, wird bitterlich enttäuscht, denn der Großteil von „Kill ´em all“ ist aus der Perspektive von Steven Stelfox geschrieben, der von Beginn keinen Hehl daraus macht, was er von den „Losern“ hält, die es in ihrem Leben zu nichts bringen. Aus der gesicherten Position seines Reichtums heraus hält es Stelfox wie Präsident Trump: Er versucht gar nicht erst, bei den Minderheiten zu punkten, sondern nur seine ureigenen Interessen durchzusetzen – weil er es kann, ohne für seine Rücksichtslosigkeit belangt werden zu können. Wer sich auf den sehr zynischen Blick auf eine Welt, in der Musikfans selbst den billigst produzierten Scheiß zu Hits machen, einlassen kann, wird auf höchst unterhaltsame Weise auch mit den Schattenseiten des Reichtums vertraut, wenn es immer nur noch darum geht, mehr Geld zu scheffeln, größere Yachten zu besitzen als David Geffen und seinen Fuhrpark um imposantere Luxus-Karossen zu erweitern. Das wirkt auf der einen Seite extrem oberflächlich und klischeebeladen, aber hinter den großkotzigen Sprüchen und Gedanken, die Stelfox hier reihenweise vom Stapel lässt, liegt immer mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.
Leseprobe John Niven - "Kill 'em all"

Stephen King – (Der dunkle Turm: 3) „tot.“

Samstag, 2. Februar 2019

(Heyne, 454 S., Pb.)
Roland von Gilead, der ehemalige Junkie Eddie Dean und die aus den beiden schizophrenen Persönlichkeiten Odetta Susannah Holmes und Detta Susannah Walker hervorgegangene Susannah Dean ziehen vom Westlichen Meer ins Landesinnere von Mittwelt, wo Roland in einem großen, alten Wald seinen beiden Gefährten nicht nur das Schießen, sondern auch den Kodex der Revolvermänner beibringt. Zum Glück lernen Eddie und Susannah schnell, denn sie werden von einem kolossalen Bärroboter angegriffen, eines der Tiere, die das Alte Volk dafür abgestellt hat, die zwölf Portale der sechs Balken zu beschützen, die in der Mitte zusammenlaufen und dort den Dunklen Turm stützen.
Nachdem Susannah die Antenne auf dem Kopf des Bären getroffen hat, können die drei Gefährten des Ka-tet dem Pfad des Balkens in die Richtung des Dunklen Turms fortsetzen, allerdings scheint Roland langsam den Verstand zu verlieren. Indem er nämlich den Killer Jack Mort davon abgehalten hat, den jungen Jake Chambers in New York vor ein Auto zu stoßen, wodurch Jake schließlich in dem Gasthaus in Rolands Welt gelandet ist, blieb Jake am Leben und in seiner eigenen Welt, aber Roland erinnert sich nach wie vor an Jakes Grenzübergang in Rolands Mittwelt.
Ähnlich ergeht es auch dem Jungen. Er hat keine Erinnerung daran, wie er seinen Abschlussaufsatz geschrieben hat, und als er ihn zurückbekommt und entdeckt, was für einen Nonsens er unter dem Titel „Mein Verständnis von Wahrheit“ abgeliefert hat, versteht er noch weniger, dass eine besondere Auszeichnung dafür erhält. Drei Wochen später ist Jake irgendwie bewusst, dass er gar nicht leben dürfte, und macht sich auf den Weg durch die Straßen von New York, bis er auf einem Baugelände eine einzelne Rose entdeckt, die er zu beschützen gedenkt, denn in ihr sieht er ein Symbol des Guten. Als er das heruntergekommene Haus auf dem Gelände betritt, begegnet Jake einem fürchterlichen Dämon, der ihn fast tötet, aber durch einen von Eddie geschnitzten Schlüssel gelingt es Roland, Jake im letzten Moment zu retten in seine Welt hinüberzuziehen. Zusammen mit dem Billy Bumbler Oy, einem rudimentär sprechenden Hundewesen, folgt das Ka-tet weiter dem Pfad des Balkens zum Dunklen Turm und muss sich mit der tückischen, rätselbegeisterten Einschienenbahn Blaine der Mono arrangieren, um einer Bande zu entkommen, die dem Ka-tet in einer von Krieg verwüsteten Großstadt mächtig zusetzen …
„Es war nur ein weiterer Showdown auf einer verlassenen Straße. Das war alles, und das war genug. Es war Khef, Ka und Ka-tet. Dass es immer zu dieser Konfrontation kam, zum Showdown, war ein Eckpfeiler seines Lebens und die Achse, um die Ka sich drehte. Dass der Kampf diesmal mit Worten ausgefochten werden würde und nicht mit Kugeln, spielte keine Rolle, es würde dennoch ein Kampf um Leben und Tod werden.“ (S. 445) 
Mit seinem dritten von insgesamt acht Bänden umfassenden Epos von Rolands Reise zum Dunklen Turm fügt Stephen King eine weitere turbulente Etappe hinzu, die in „Schwarz“ mit Rolands Jagd nach dem Mann in Schwarz begann und in „Drei“ mit Rolands Rekrutierung seiner drei Begleiter fortgesetzt wurde. In „tot.“ haben sowohl Roland als auch Jake vor allem mit dem Paradoxon zu kämpfen, wie Jake in seiner eigenen Welt und in Mittwelt sein kann, nachdem Roland Jakes Mörder vor dem einschneidenden Ereignis töten konnte. Aber vor allem lernt das Ka-tet das Landesinnere von Mittwelt kennen, die liebenswerten Einwohner von River Crossing ebenso wie die batteriegesteuerten Tierwächter der Portale und die Kriminellen in der Stadt, die wie ein postapokalyptisches New York aussieht, und natürlich der Einschienenbahn Blaine der Mono, der Jake bereits in einem Kinderbuch begegnet ist.
Der Roman entwickelt dabei eine mythische Wucht wie Tolkiens „Der Herr der Ringe“ und zuvor die großen mythischen Reisen unbedarfter, aber mutiger Helden zu ihrer Bestimmung. Dabei entwickelt King ein immenses Maß an Ideenreichtum, das weit über die Grenzüberschreitungen der beiden Welten und einiger interessanter Fabelwesen und Monster hinausgeht, aber er fordert von seinen Lesern auch einiges ab, was die komplexen Zusammenhänge, Zeitsprünge und Erinnerungen an merkwürdige Ereignisse angeht.
Im Vergleich zu „Drei“ fällt „tot.“ wegen seiner allzu verschachtelten Konstruktion etwas ab, aber die einfühlsame Entwicklung der sympathischen Figuren, die andauernden Unwägbarkeiten einer phantastischen Reise und der Cliffhanger sorgen am Ende dafür, die Spannung und das Interesse des Lesers aufrechtzuerhalten.
Leseprobe Stephen King - "tot."