Joachim B. Schmidt – „Ósmann“

Sonntag, 30. März 2025

(Diogenes, 288 S., HC)
Seit der in der Schweiz geborene Joachim B. Schmidt als Teenager erstmals nach Island gereist ist, hat er sich in die Insel verliebt und sich selbst versprochen, wiederzukommen, zunächst als Tourist, aber dann folgte auch ein Jahr mit Jobs in einer Gärtnerei und auf einem Bauernhof, bis er im Jahr 2007 entschied, dorthin auszuwandern. Mit seinen Erzählungen und Romanen wie „Kalmann“, „Tell“ und „Kalmann und der schlafende Berg“ hat Schmidt seit 2010 nicht nur zahlreiche Preise gewonnen, sondern auch ein feines Gespür für seine Wahlheimat entwickelt, die auch in seinem neuen Roman „Ósmann“ zum Ausdruck kommt.
Im Jahr 1862 wird Jón Magnússon Ósmann auf einem Bauernhof in Nordisland geboren, lernt von seinem Vater Magnús den Fährbetrieb und übernimmt diesen später. „Nonni“, wie er liebevoll von seinem Vater genannt wird, kommt allerdings mehr nach seiner Mutter Sigurbjörg, die ihren Mann um ein paar Daumenbreiten überragte und dafür verantwortlich sein dürfte, das Nonni ein so hünenhafter, kräftiger Mann geworden ist. Er ist ein geselliger Kerl, der gern ein Schwätzchen mit den Fahrgästen hält, sie zum Aufwärmen in seine Hütte einlädt, wo er ihnen einen Platz am Feuer, Kaffee und Robbenfleisch anbietet. An einem Sommermorgen im Jahr 1904 tritt Ósmann wie gewöhnlich splitternackt und hustend vor seine Hütte, grüßt das nebelverhangene Bergmassiv Tindastóll, die sagenumwobene Insel Drangey weit draußen im Fjord, die Eiderenten und träge dahinrauschende Gletscherwasser, um dann ins eiskalte Wasser des Ós einzutauchen, um dann den Tag damit zu verbringen, die Reisenden mit der Seilfähre über den Ós zu bringen. Doch bevor er sein eiskaltes Bad nehmen kann, bemerkt er flussaufwärts den nackten Körper einer angeschwemmten Frau. Er trägt den leblosen Körper in seine Hütte und stellt fest, dass die Frau noch lebt. Er gibt ihr zu trinken und etwas zu essen, lässt sie schlafen. Doch als er mit einem Bündel Kleider zurückkommt, ist die Frau spurlos verschwunden. Es kommen andere Frauen, die nicht wie im Märchen auftauchen und verschwinden, sie bereiten Ósmann allerdings größeren Kummer, vor allem aber der Tod seines Erstgeborenen.

„Der Tod schien eine willkürliche Angelegenheit zu sein, manche starben eben früher, andere später. Und darum verlor man auch über Ósmanns Erstgeborenen kein Wort. Als hätte es Páll Jónsson nie gegeben. Denn das Leben gehörte den Lebenden, und die Toten, nun ja, die ließ man am besten in Ruhe tot sein – etwas, das ich selbst nur zu gut wusste.“ (S. 127)

Mit „Ósmann“ erzählt Joachim B. Schmidt die Lebensgeschichte des isländischen Fährmanns Jón Magnússon Ósmann (1862-1914), wobei ein Mann, der sich als Freund von Ósmann bezeichnet, als allwissender Erzähler fungiert, die Erlebnisse und Ereignisse nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge zum Besten gibt. Doch die Jahreszahlen zu Beginn des Kapitels zusammen mit besonderen Wetterbedingungen und der Anzahl der Winter, die Ósmann bereits überlebt hat, helfen dabei, den Überblick zu behalten. „Ósmann“ erzählt aber nicht allein die Lebensgeschichte eines ebenso engagierten wie hilfsbereiten und kommunikativen Fährmanns, sondern das Leben in diesen oft einsamen, kalten Sphären vor dem Hintergrund der Mythen und Sagen, die im Dasein der Isländer eine ebenso große Rolle spielen wie die Menschen, die dort leben. Schmidt erweist sich als stilsicherer Autor, der mit seiner Sprache ebenso die unwirtliche Landschaft, das eiskalte Wasser, die weißen Berge und die Mentalität der Menschen zu beschreiben versteht wie die spezielle Poesie, zu der sich Ósmann immer mal wieder hinreißen lässt und seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, seiner Lebensfreude und Liebe ebenso wie der im Verlauf seines Lebens zunehmenden Trauer und Verzweiflung.

Garrett Carr – „Der Junge aus dem Meer“

Freitag, 28. März 2025

 (Rowohlt, 416 S., HC)
Mit seinem Sachbuch „The Rule of the Land: Walking Ireland’s Border“ durfte sich der im irischen Donegal geborene Garrett Carr rühmen, bei BBC Radio 4 ein „Book of the Week“ vorgelegt zu haben, hierzulande ist der Dozent für Kreatives Schreiben an der Queen’s University und Autor für „The Guardian“ und „The Irish Times“ noch gänzlich unbekannt. Das wird sich allerdings mit seinem nun veröffentlichten Debütroman „Der Junge aus dem Meer“ schnell ändern.
In der Donegal Bay leben die paar Tausend Männer, Frauen und Kinder vor allem von der Fischerei. Sie arbeiteten hart, um ihre Hypotheken abzubezahlen, Erstbesitzer eines Autos zu sein und den Kindern all das mitzugeben, um später selbst eine Familie gründen zu können und ein Auskommen zu haben. Das Leben in der Küstenstadt nimmt eines Freitagmorgens eine eigenartige Wendung, als Mossy Shovlin mit einem Baby im Arm zur Filiale der Ulster Bank bringt, wo er verkündet, dass der Kleine, den er in den Armen hält, ein Geschenk aus dem Meer sei und in einem Fass gelegen habe. Der Fischer Ambrose Bonnar erklärt sich schnell bereit, sich zusammen mit seiner Frau Christine des niedlichen Babys anzunehmen. Sie nennen es Brendan und adoptieren es. 
Doch nicht alle sind von der wundersamen Ankunft des Babys entzückt, am wenigstens Brendans zwei Jahre älterer Bruder Declan, aber auch Christines Schwester Phyllis, die sich um ihren gemeinsamen, zunehmend pflegebedürftigen Vater kümmert, sieht mit Besorgnis, dass sich Christine nur noch um Brendan kümmert und die eigentliche Familie vernachlässigt. Vor allem Ambrose ist aber ganz vernarrt in das Kind, was der Rivalität zwischen den Brüdern in den kommenden Jahren neue Nahrung gibt. In dem Bemühen, es seinem Vater recht zu machen, verlässt Declan schließlich die Schule und lässt sich auf dem Schiff seines Vaters zum Fischer ausbilden. Brendan dagegen ist schon als Kind seine eigenen Wege gegangen, ist durch die Gegend gestromert und hat Hausbesuche gemacht, um die Menschen zu segnen.

„Tatsächlich war es so, dass viele von uns etwas Tiefergehendes spürten, wenn Brendan uns segnete, unter seiner Berührung wurde uns unsere eigene Bedeutungslosigkeit bewusst, wir waren Fässer, die im Meer trieben, doch zugleich hatten wir das Gefühl, dass hier eine wohlwollende Kraft am Werk sein könnte, eine hilfreiche Strömung, und das war tröstlich. Also ließen wir uns von ihm segnen, und eine Woche später dann vielleicht wieder.“

Doch als die Segnungen ihren Reiz einbüßen, sieht sich Brendan gezwungen, sich einen eigenen Platz in der Gemeinschaft zu schaffen, die ihn so wohlwollend aufgenommen hat…
Garrett Carr ist mit „Der Junge aus dem Meer“ ein besonders einfühlsamer Roman über das Leben in einer irischen Küstenstadt gelungen, in der durch die schicksalhafte Aufnahme eines Findelkindes die besten und die schlechtesten Seiten in den Menschen hervorgekehrt werden. Aus der Perspektive eines nicht ganz außenstehenden, aber mit den Ereignissen auch nie direkt verbundenen Erzählers wird beschrieben, wie „der Junge aus dem Meer“ über zwanzig Jahre lang die Geschicke in Donegal beeinflusst, wie Familienbande zerrüttet und wieder geflickt werden, wie viel Geld verdient wird, große Häuser gebaut und Fischfangquoten mit immer größeren Schiffen gebrochen werden, wie Eifersucht, Trauer, Fürsorge, Glaube, Hoffnung, Verzeihen und Liebe die Menschen voneinander weg treibt, um sie dann wieder nur umso enger wieder zusammenzuführen. „Der Junge aus dem Meer“ zieht den Leser bereits mit den ersten Seiten in den Bann, da es der Autor versteht, mit ausdrucksvollen Bildern die nicht nur physische, sondern auch die seelische Topografie von Donegal zu beschreiben, wo das Herz der Menschen am Ende doch am rechten Fleck zu sitzen scheint. Mit feinfühligen Charakterisierungen und deutlicher Sympathie für seine Figuren ist Carr ein großer irischer Roman gelungen, der stets den richtigen Ton trifft.

Niall Williams – „Das ist Glück“

Donnerstag, 27. März 2025

(Ullstein, 464 S., HC)
Der aus Dublin stammende und an der irischen Westküste lebende Schriftsteller Niall Williams hat bereits mit Romanen wie „Geschichte des Regens“ und „Das Alphabet der Liebe“ auch hierzulande Anhänger der irischen Literatur für sich gewinnen können. Ein besonders einfühlsamer Roman ist ihm 2019 mit „This Is Happiness“ gelungen, der auf der Shortlist für den Irish Book Awards Book of the Year und auf der Longlist für den Walter Scott Prize stand und mit einigen Jahren Verspätung nun als deutsche Erstveröffentlichung „Das ist Glück“ erscheint.
Der 78-jährige Noel blickt zu dem Sommer im Jahr 1958 zurück, als er eine Glaubenskrise nutzte, um das Priesterseminar in Dublin im Alter von siebzehn Jahren zu verlassen und zu seinen Großeltern Doady und Ganga nach Faha zu fahren. Dort lernt er Christy kennen, einen weitgereisten Mann, der im Auftrag für die Regierung dafür sorgen soll, dass auch Faha an das Stromnetz angeschlossen wird, und als Untermieter bei Noels Großeltern einzieht. Noel heuert als Gehilfe bei Christy an, der ihn mit einer Vielzahl von unglaublichen Geschichten versorgt. Schließlich kennt er sich auf den Straßen der Welt ebenso aus wie auf den Meeren, hat Nord-, Mittel- und Südamerika bereist und als Koch, Frisör, Handelsmatrose, Buchhändler, Schiffsbauer, Holzfäller und Schusterlehrling gearbeitet. Wie Noel erfahren soll, hat Christy noch einen weiteren Grund, um nach Faha zu kommen. Anna Mooney war vor fünfzig Jahren die Liebe seines Lebens gewesen, doch dann hat er sie am Altar stehengelassen und fühlt sich nun verpflichtet, um Verzeihung bei den Menschen zu bitten, die er im Verlauf seines Lebens verletzt hatte. Allerdings sucht Christy nicht den direkten Weg zu der Witwe des Apothekers, sondern lässt Noel die Vorarbeit verrichten.

„Er war ins nächste Stadium seines Plans vorgedrungen. Er hatte Annie Mooney ausfindig gemacht, war nach Faha gekommen, und nun hatte sie ihn gesehen. Mehr noch, sie hatte ihn wiedererkannt und offenbar gelächelt. Nach Art der Liebenden ließ er sich diesen Gedanken Nahrung sein, und im Gegenzug nährte er ihn mit österlicher Zuversicht und der altersschwachen Fantasie, es könnte jemals etwas nach Plan laufen.“

Bereits mit den ersten Seiten, wenn er die unterschiedlichen Arten des Regens beschreibt, der Faha ganzjährig im Griff zu haben scheint, unterstreicht Niall Williams nicht nur den virtuosen Umgang mit der Sprache, sondern beschreibt damit auch ein Dorf, das weder mehr noch weniger als jeder andere vergleichbare Ort war, der von Geschichten lebte, vom religiösen Leben, von der Landwirtschaft und natürlich von der Liebe. Zwar bildet die besondere Beziehung zwischen dem jungen Noel und dem weitgereisten, lebenserfahrenen Christy den Ausgangspunkt für eine alte Liebesgeschichte, doch folgt dieser nicht den gängigen Publikumserwartungen. Vielmehr als das Rätsel um diese unvollendete Liebe aufzulösen, dient die enge Bande zwischen dem Jungen und Christy dazu, Noel den Weg zu ebnen für die ersten eigenen romantischen Gefühle, die ebenso wie die seines neuen Freundes unorthodoxe Wege einschlagen. Williams beschreibt seine Figuren mit großem Einfühlungsvermögen und ehrlicher Sympathie. So verschroben die Bewohner von Faha auch sein mögen, Noels Großeltern vorneweg, so herrscht ein fürsorgliches Miteinander, das durch die sonntägliche Messe ritualisiert wird und durch die lebens- und liebeshungrigen jungen Leute beim Knutschen vor allem im Kino gelebt wird. Seinen Ich-Erzähler lässt Williams mit Humor und Altersweisheit über die Ereignisse in jenem Sommer des Jahres 1958 berichten, was der Geschichte jedoch nicht ihre jugendliche Unbekümmertheit nimmt, in die sich der 78-jährige Noel noch immer gut hineinversetzen kann. So schlicht der Buchtitel „Das ist Glück“ auch wirken mag, erzählt der hinreißend geschriebene Roman doch eine typisch irische Geschichte vom Erinnern und Verzeihen, von der Magie des Geschichtenerzählens und der Liebe.

Stephen King – „Das Bild – Rose Madder“

Dienstag, 25. März 2025

(Heyne, 588 S., HC)
Stephen King hat seit seinen frühesten Veröffentlichungen immer wieder starke Frauen in den Mittelpunkt seiner Erzählungen gerückt, am bekanntesten dürften wohl „Carrie“, „Sie“ und „Dolores“ sein, aber auch in dem weniger bekannten, weil verständlicherweise noch nicht verfilmten Roman „Das Bild – Rose Madder“ stellt der „King of Horror“ eine zunächst über Jahre gedemütigte Hausfrau in den Fokus einer Geschichte, die abgesehen von dem übernatürlichen Element keine großen Überraschungen präsentiert.
Seit vierzehn Jahren ist Rose mit dem Polizisten Norman Daniels verheiratet, doch die Ehe erweist sich seit ihrem achtzehnten Lebensjahr als Hölle auf Erden. Immer wieder tickt ihr Mann regelrecht aus und verprügelt sie nach Strich und Faden, wobei er eine besondere Vorliebe für ihre Nieren entwickelt. Bei einem seiner Gewaltausbrüche erleidet Rose eine Fehlgeburt, doch eines Tages genügt ein einzelner Blutstropfen auf dem Bettlaken, der Rose zur Besinnung kommen lässt. Sie nimmt die BankCard ihres Mannes an sich, hebt 300 Dollar vom Konto ab und marschiert zwei Stunden durch die Stadt, bis sie sich mit dem Taxi zum Busbahnhof Portside bringen lässt und mit dem nächstmöglichen Bus in eine 500 Meilen entfernte Stadt fährt. In der Hoffnung auf Hilfe und Orientierung wendet sich Rose an einen Mitarbeiter von Traveller’s Aid, der ihr die Adresse eines Frauenhauses gibt, das von dessen Ex-Frau Anna Stevenson geführt wird. Während Rose ihren Mädchennamen McClendon angenommen hat und trotz ihrer Angst vor ihrem Mann ihr Leben langsam in den Griff bekommt, lässt Norman Daniels natürlich nichts unversucht, um mit Rose mal wieder „aus der Nähe“ zu sprechen, wobei ihn sein detektivischer Instinkt tatsächlich bis zu Daughters and Sisters führt. Doch bis es so weit ist, hat Rose bereits eine eigene Wohnung, einen einträglichen Job als Hörbuch-Sprecherin und einen Verehrer namens Bill gewonnen, in dessen Pfandleihhaus sie ihren Ehering ging ein Bild eingetauscht hat, das sich in Roses Wohnung zu verändern scheint. Aber auch Norman macht auf der Suche nach Rose eine fundamentale Veränderung durch, als in einem Park einem Jungen die Stiermaske wegnimmt, die zu einem unauslöschlichen Teil seiner selbst wird…

„Wie kann das sein? fragte er sich bestürzt. Wie kann das möglich sein? Es ist doch nur ein alberner Jahrmarktspreis für Kinder! Ihm fiel keine Antwort auf diese Frage ein, aber die Maske löste sich nicht, wie fest er auch daran zog, und ihm wurde mit übelkeiterregender Deutlichkeit bewusst, wenn er die Nägel hineingraben würde, würde er Schmerzen verspüren. Er würde bluten. Und tatsächlich hatte die Maske nur noch eine Augenöffnung, die mitten ins Gesicht gewandert war. Seine Sicht durch diese Öffnung war dunkler geworden; das zuvor helle Mondlicht schien wolkenverhangen zu sein.“ (S. 535)

Mit „Rose Madder“, so der schlichte Originaltitel, der sich in erster Linie auf die Signatur des mysteriösen Bildes bezieht, das für den märchenhaften Subplot verantwortlich zeichnet, erzählt Stephen King in erster Linie die natürlich tragische, ansonsten leider sehr gewöhnliche Geschichte einer in der Ehe brutal missbrauchten Frau, wobei sowohl Rosie als auch ihr Mann Norman erschreckend klischeehaft gezeichnet sind. Erschwerend für die Glaubwürdigkeit der Geschichte kommt aber der Gegenentwurf des braven, zuvorkommenden Bill hinzu, der wie ein Ritter in strahlender Rüstung erscheint und die Geschichte zu einem zuckersüß kitschigen Ende führt. Und auch die Episode mit dem Bild, das sich vor den Augen seiner Besitzerin verändert und Rose schließlich mitten in die gemalte Szenerie zieht, wirkt eher wie ein Fremdkörper, der nur eingefügt wurde, um der trivialen Geschichte einen mythischen King-Touch zu verleihen. Leider geht der Schuss hier nach hinten los. „Das Bild – Rose Madder“ zählt so leider zu den langweiligeren Büchern von Stephen King.

Johan Harstad – „Unter dem Pflaster liegt der Strand“

Montag, 3. März 2025

(Claassen, 1152 S., HC)
Der 1979 im norwegischen Stavanger geborene Johan Harstad hat sich zumindest in seiner Heimat seit seinem 2005 veröffentlichten und 2006 auch auf Deutsch erschienenen Romandebüt „Buzz Aldrin wo warst du in all dem Durcheinander“ zu einem preisgekrönten Kult-Autor entwickelt, der sich bereits mit dem über 1200-seitigen letzten Roman „Max, Mischa & die Tet-Offensive“ nur mit einer kleinen Gruppe von Menschen beschäftigte, die er allerdings über einen Zeitraum von vierzig Jahren begleitete und dabei große Themen des 21. Jahrhunderts wie die Haltung zu Heimat, Kunst, Moral, Krieg und individuellen Vorstellungen von Glück und Geborgenheit abhandelte. Ähnlich ambitioniert präsentiert sich Harstads neues Epos mit dem vertrauten Titel „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, der auf die revolutionären Utopien der Pariser Mai-Unruhen und die politische Aufbruchsstimmung um 1968 verweist.
Der norwegische Wissenschaftler Ingmar Olsen nimmt im Jahr 2018 an einer Konferenz rund um den Umgang mit radioaktivem Abfall in Warschau teil, wo er auch Edvard Hella wiedertrifft, den Vater von Ebba, mit der Ingmar in seinen Jugendzeiten viel abhing. Ebbas Vater hatte Ingmar einst zum Studium der Kernphysik und Geologie animiert. Schließlich sind Ingmar und seine Freunde Jonatan, Peter und Ebba in Forus aufgewachsen, einem Vorort von Stavanger, der eigentlich als Sitz der meisten Ölfirmen in Finnland bekannt ist und wo mithilfe eines sogenannten Kubikel-Reaktors Energie gewonnen werden sollte. Ingmar, der seit elf Jahren in Finnland lebt und arbeitet, wird während der Konferenz von einem Mann namens Cecil Bjornsen angesprochen, der in Virginia, Minnesota arbeitet und Forus ebenfalls kennt. 
Das Gespräch lässt Ingmar daran erinnern, wie erst Peter, dann Ebba und schließlich Jonatan und Ingmar 1998 den Ort für immer verlassen haben, dann führen die Erinnerungen weiter zurück zu dem Zeitpunkt, als der Kernphysiker Edvard Halla mit seiner Familie nach Forus zieht, im dort das Kubikel-Projekt zu leiten. So lernen die drei Freunden Hallas Tochter Ebba kennen, mit der sie nicht nur abhängen, sondern sich auch in sie verlieben, aber zunächst ist es Jonatan, der mit Ebba zusammenkommt und nun Ingmar von einem Containerschiff aus anruft. Jonatan hat auch im Keller eines merkwürdigerweise leerstehenden Hauses eine unliebsame Begegnung mit einem schwarzen Artefakt gemacht, das ihn in den Wahnsinn trieb. 
Aber nicht nur Jonatan hat diesen radioaktiven Stein berührt, auch ein Meteorologe leidet nach dem Kontakt mit ihm unter dem außergewöhnlichen Blick in die Zukunft und den Lauf der Geschichte. Später sind Agenten verschiedener Nationen auf der Jagd nach diesem mysteriösen Stein. Die Handlung erstreckt sich über Jahrzehnte und teils bis hin zu exotischen Orten wie Insel Tristan da Cunha im Südatlantik, doch kehrt der Ich-Erzähler Ingmar immer wieder zu den Jahren seiner unvergesslichen Jugend zurück…

„Es kommen unglaublich viele Dinge zusammen, aber unangemessen vereinfacht und kurz gefasst geht es vor allem um das Gefühl an jenem Abend, wir hätten eingesehen, dass unsere Leben, wie wir sie kennen und endlich lieben gelernt hatten, für immer vorbei wären und dass wir von nun an alle guten Tage damit vergleichen würden, wie es uns ging, als wir noch nicht darüber nachdachten, wie es uns ging, und dass sie bestenfalls auf dem zweiten Platz landen könnten.“

Johan Harstad hat mit „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ einen monumentalen, fast schon monströsen Roman vorgelegt, an dem er immerhin acht Jahre gearbeitet und mit allerlei (teils wirklich unnützen) Fakten beispielsweise zur Berechnung der Lastenverteilung von Containern auf den Schiffen oder amüsanten Anekdoten wie der zum Wohnen einladenden Haarpracht von Europe-Sänger Joey Tempest gefüllt hat. 
Thematisch packt der Autor nicht weniger als eine sorgfältige Aufarbeitung der Atomenergie an, von der Erfindung über die verheerende Verwendung als Kampfmittel im Krieg und die Katastrophen wie dem Reaktorunfall in Tschernobyl bis zu den (fiktiven) Experimenten des Kubikel-Reaktors. Zusammengehalten wird der weitverzweigte Plot durch die Coming-of-Age-Geschichte der Freunde Ingmar, Peter, Jonatan und Ebba, die sich nach 1998 in alle Winde – sogar bis nach Mexiko – verstreuen und die viel miteinander durchgemacht haben. Es ist dabei nicht immer leicht, den manchmal seitenlangen (!) Sätzen zu folgen oder die Sprünge durch Zeit und Raum mitzumachen. 
Kaum hat man sich in einen neuen Subplot eingelesen und eingelebt, ploppt schon das nächste Kapitel im Irgendwo und Irgendwann auf. Wer allerdings die Muße und Geduld hat, sich durch dieses imposante Werk zu wühlen, wird mit durchaus klugen und anregenden Gedanken zur Selbstreflexion belohnt, über die Art und Weise, wie wir in Zukunft leben wollen.

Colin Higgins – „Harold und Maude“

Samstag, 1. März 2025

 (Diogenes, 182 S., HC)
Hal Ashbys Film „Harold und Maude“ (1971) darf getrost als Klassiker der Filmgeschichte betrachtet werden und ist nicht nur durch das kongeniale Zusammenspiel von Bud Cort als Harold und Ruth Gordon in den Titelrollen, sondern auch durch den ikonischen Soundtrack von Cat Stevens zu internationaler Berühmtheit gelangt. Das Drehbuch stammt vom Australier Colin Higgins und stellte dessen Abschlussarbeit eines Drehbuchseminars an der Universität Los Angeles dar. Im selben Jahr brachte Higgins die Geschichte um Harold und Maude auch als Roman heraus, den der Diogenes Verlag nun in seiner neuen Reihe „Modern Classics“ wiederveröffentlicht.
Der 19-jährige Harold Chasen hat schnell adaptiert, dass er die Aufmerksamkeit seiner Mutter vor allem dann auf sich zieht, wenn er seinem Leben ein Ende zu setzen scheint. Doch als er sich mit einer Schlinge um den Hals mit Musik von Chopin im Hintergrund vom Stuhl stößt, rügt sie ihn nur wegen seines unangemessenen Verhaltens, schließlich kämen die Crawfords heute zum Abendessen. So sehr sich die wohlhabende Mrs. Chasen auch bemüht, ihren wohlerzogenen Sohn zur Vernunft zu bringen – weder der Psychiater Dr. Harley noch ihr als Brigadegeneral bei der Armee fungierende Bruder Victor können in dieser Hinsicht Erfolge verbuchen -, denkt sich Harold immer weitere Arrangements für vorgetäuschte Selbstmorde aus, die seine Mutter zunehmend verzweifeln lassen. Als letzten Ausweg sieht sie in einer Partnervermittlung, die Harold mit drei potenziellen Hochzeitskandidatinnen versorgt, die allerdings weder Harold noch seine wählerische Mutter zufriedenstellen. Doch dann lernt Harold bei einer Beerdigung die lebenslustige Maude kennen, die während ihres 79-jährigen Lebens zwar schon schwierige Zeiten durchmachen musste, aber nie ihre Zuversicht und den Lebensmut verloren hat. Mit ihr zusammen lernt Harold endlich, worauf es im Leben wirklich ankommt.

„,Ja. Ich weine. Ich weine um dich. Ich weine um das hier. Ich weine angesichts der Schönheit, eines Sonnenuntergangs oder einer Möwe. Ich weine, wenn ein Mann seinen Bruder quält … wenn er Reue zeigt und um Vergebung bittet … wenn Vergebung verweigert wird, ebenso, wie wenn sie gewährt wird. Wir lachen. Wir weinen. Dass sind zwei einzigartige menschliche Eigenschaften. Und das Wichtigste im Leben ist, dass man keine Angst davor hat, ein Mensch zu sein, mein lieber Harold.‘“ (S. 145)

Wer den Film wie ich bereits mehrere Male gesehen hat, wird beim Lesen des Romans immer wieder die dazu entsprechenden Bilder des Films vor Augen haben, was vor allem auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, dass der 1988 im Alter von 47 Jahren in Beverly Hills an Aids verstorbene Autor sein Drehbuch einfach in eine knackige Romanform gegossen hat, die die Filmhandlung nahezu identisch abbildet und insofern keine Überraschungsmomente bereithält. Es ist allerdings ebenso wenig verwunderlich, warum „Harold und Maude“ zur Pflichtlektüre für Englischschüler avanciert ist, denn die kurzweilige Novelle präsentiert nicht nur eine unorthodoxe Liebesgeschichte, sondern thematisiert auf humorvolle Art die Konventionen und Erwartungen von Mitglieder der sogenannten besseren Gesellschaft und die bedingungslose Liebe zum Leben von Menschen, die zu viel Schlimmes in ihrem Leben erlebt haben, um sich über die Misslichkeiten des Alltags oder allzu einengende Vorschriften zu beschweren. „Harold und Maude“ ist auch über fünfzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ein jederzeit vergnügliches wie kluges Büchlein über die Liebe und den Tod, Freundschaft und Freiheit, Poesie und Musik, und begeistert durch seine beiden schrulligen Hauptfiguren.